Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 30. Dezember 09

Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften im August in Berlin sind ganz sicher das spektakulärste Ereignis im Jahr 2009 gewesen, das sich mit unserem Sport in Verbindung bringen läßt. Doch es bleibt nicht mehr als eine Erinnerung; Folgen hat es für uns nicht. Eine Entscheidung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes dagegen hat praktische Auswirkungen: Der DLV hat für das Jahr 2010 keine Deutsche Meisterschaft im 100-km-Lauf, der wichtigsten Ultradisziplin, vergeben. Gewiß, die DUV wird in die Bresche springen; der Wettbewerb der Elite wird stattfinden. Doch, aus welchen Gründen und für welche Zeit auch immer, – der DLV hat Anlaß gesehen, sich vom Ultramarathon zurückzuziehen. Damit ist ein von den Gründervätern der DUV als wichtig erachtetes Bindeglied zwischen dem Verband der Ultraläufer und dem Dachverband der Läufer zerbröselt. Es wird nie wieder so sein, wie es war; Harry Arndts Visionen sind dahin.

Müßig, nach den Ursachen der Verweigerung forschen zu wollen. Die DUV hat kein schlechtes Gewissen. Selbst wenn der DLV im Jahr 2011 wieder einer Veranstaltung den Segen einer Deutschen Meisterschaft erteilen sollte, wird Unsicherheit bleiben. Vor allem auch Unsicherheit darüber, ob es noch gelingen könnte, andere Ultradisziplinen wie den 24-Stunden-Lauf meisterschaftsfähig zu machen.

Für mich selbst ist das negative Ereignis keine Überraschung. Ich bedauere, daß ein wesentlicher Motivationsbestandteil für die Elite weggefallen ist, der Glanz einer offiziellen Meisterschaft. Doch wir sollten uns mit der Entwicklung vertraut machen: Sport zerfällt endgültig in den Showsport und in das, was wir treiben (oder getrieben haben), den Sport für jedermann. Zu diesem Thema weise ich auf das jüngste redaktionelle Editorial von LaufReport hin. Ist es für uns wirklich wichtig, daß keiner von uns außerhalb der Verpflegungszone Verpflegung zu sich nimmt? Gehört es zum Wesen unseres Sportes, daß wir nicht mit Musik Wettkämpfe bestreiten? Ich selbst bin immer ohne Musik gelaufen, aber ich halte Musik nicht für Doping.

Sehen wir das Positive! Ein Blick auf die Statistik der DUV-Internetseite läßt erkennen, daß der Ultralauf weiter Zulauf erhalten hat. Beim Marathon ist dies nicht so. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß das Läuferpotential beim Marathon insgesamt abbröckelt. Bei der Vielzahl der Marathon-Veranstaltungen liegt es einfach nahe, daß sich der Kuchen der Veranstalter breiter verteilt. Einige wenige Veranstaltungen haben nach wie vor Zuwächse. Mag auch der Halbmarathon attraktiver erscheinen, so ist es für viele Halbmarathon-Veranstalter doch sinnvoll, im Angebot einen Marathon als Lokomotive zu haben. Grundsätzlich ist, wie man das frühzeitig in Biel und auch in Davos getan hat, bei Veranstaltungen eine Tendenz zu einem differenzierten Angebot zu beobachten. Der Schwäbische-Alb-Marathon zum Beispiel hat sich dem nicht verschlossen.

Neue Initiativen entwickeln sich. Der Thüringen-Ultra in Fröttstedt ist keine Eintagsfliege. Der Ulmer Ultra, so unglücklich die Terminierung des ersten Laufes auch gewesen ist, hat dem kritischen Blick standgehalten. Klassiker der Szene gehen erhobenen Hauptes in Jubiläumsjahre, und sei es nur das erste Jahrzehnt wie in Würzburg. Zwar hat es sich fast schon eingebürgert, zwei Jahrzehnte als Jubiläum zu nehmen, aber das 25-Jahr-Jubiläum ist damit noch nicht abgeschafft. Zum 25. Mal findet der Swiss Alpine statt, und wieder einmal überrascht uns Andrea Tuffli. Zum K78 kann man nun auch zwei Stunden früher starten. Wenn wir es recht überlegen, folgt er damit einer Tendenz. Ursprünglich wohl waren es einzelne Läufer wie Walter Stille, die sich in Absprache mit dem Veranstalter vor dem allgemeinen Start auf den Weg machten. Vor Jahren schon hat Heinrich Kuhaupt in Bad Arolsen den um eine Stunde vorgezogenen Frühstart erlaubt. In dem griechischen Ort Marathon erhalten Walker die Gelegenheit, zwei Stunden früher zu starten. Vielleicht sollte man diese Tendenz auch in Biel im Hinblick auf die 100 Kilometer aufmerksam beobachten, mag es hier auch auf den ersten Kilometern mit der Streckenführung schwieriger sein. Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Laufweg.

Das ganz große Jubiläum haben die Griechen vereinnahmt: 2500 Jahre Schlacht von Marathon. Es ist nicht so, daß sie damit aus einem Mythos historische Fakten machen wollen; doch bei dem Jubiläum der Schlacht von Marathon denkt jeder zwangsläufig an den angeblichen Botenlauf von Marathon nach Athen. Der Marathon auf der klassischen Strecke diesmal am 1. November wird damit einen beträchtlichen Zulauf erhalten. Das Jahr 2010 hat seinen historischen Höhepunkt.

Was macht der Tagebuch-Schreiber im Jahr 2010? Er wird sich weiter durchschlagen und sich Rosinen herauspicken, die für ihn, den Walker, zugänglich sind. Das ist der Marathon des Rennsteiglaufs, für den man neun Stunden Zeit hat. Biel bietet mit seinen drei Etappenzielen die Möglichkeit zu schauen, wie weit man kommt. Das Jubiläum des Swiss Alpine hat eine breite Auswahl an Strecken. Und wenn die Kondition für den Wettbewerb nicht mehr reicht, so reicht sie doch zum Wandern.

Eintragung vom 22. Dezember 09

Der Tag wäre schön gewesen zum Laufen oder Walken, doch ich enthielt mich. Das Thermometer zeigte minus 13 Grad. Ich denke Jahrzehnte zurück, da bin ich auf Langlaufski auch bei minus 20 Grad unterwegs gewesen. Doch in den letzten Jahren ist die gefühlte Kälte gewachsen. So kam es, daß ich aus dem Auto heraus die junge Läuferin wahrnahm, ohne Emotionen damit zu verbinden. Schön, daß sie lief; ebenso richtig, daß ich das Walking habe ausfallen lassen.

Man muß das Maß selber setzen. Das ist mir auch in der Korrespondenz mit H. W. deutlich geworden. Ich pflege mich zu rechtfertigen, daß ich nicht mehr laufe, sondern zur Zeit nur noch walke. H. W. hat mich getröstet; doch es war wohl gar nicht als Trost gedacht, sondern nur seine ehrliche Meinung. Es komme doch gar nicht darauf an, wie schnell man unterwegs sei.

Gewiß doch, ich bin nie ein schneller Läufer gewesen. Andere haben auf die Zahl meiner Marathonläufe geblickt, sich innerlich verneigt oder selbst meine Zahl um einiges übertroffen. Nach meinen 24-Stunden-Läufen bin ich gefragt worden, und zum Bestehen des Spartathlons ist Hochachtung bezeigt worden. Gut, aber den Western States bin ich nicht gelaufen und auch nicht auf Réunion; ich habe keinen Europalauf mitgemacht und erst recht nicht die USA durchquert. Es ist mein Läuferleben gewesen. Es gibt keinen Anlaß, es bedauern oder an ihm korrigieren zu wollen. Heinrich Gutbier ist vor kurzem die 10 Kilometer in 1:06 Stunden gelaufen; er ist zwei Jahre älter als ich. Ich, der jüngere, müßte mich sehr anstrengen, wenn ich die 10 Kilometer in anderthalb Stunden zurücklegen wollte. Die Talente sind ungleich verteilt, die Ambitionen unterschiedlich. Was wir tun können, ist, einen Maßstab für uns selbst zu setzen.

Die weiße Pracht, auf der ich am Montag gegangen bin, ist innerhalb eines einzigen Tages geschwunden; heute ist alles wieder grau gewesen. Während ich am Montag in Wanderschuhen unterwegs war, war unser Sohn im Zug zum Flughafen in Frankfurt. Der Abflug nach Bangkok war mit zweieinhalb Stunden Verspätung angekündigt. Doch unser Sohn gehörte zu den achttausend, die im Flughafen oder für einige Stunden in Hotels die Nacht verbringen mußten. Er war am falschen Ort zur falschen Zeit.

Eintragung vom 15. Dezember 09

Ich trage das, was Läufer tragen; doch überwiegend walke ich. Dennoch beobachte ich, daß mich Läufer grüßen. Kennen sie mich von früher? Wenn nicht, mache ich vielleicht einen sportlichen Eindruck? Doch, es gibt einen Grund: Ich walke nicht mit Stöcken. Andererseits aber grüßen mich auch Walker. Natürlich, denn ich walke ja ebenso. Sie sehen mich als einen der ihren an. Ich sollte mich freuen; die Grüßenden unterscheiden nicht mehr zwischen Laufen und Walken. Wir gehören einer gemeinsamen Lebenswelt an. Worüber ich nachsinne, ist mein individuelles Problem, das des Läufers, der zum Walker geworden ist.

Irgendwie sind wir ja rührend. Als Arthur Lambert im 91. Lebensjahr nach seiner Magenoperation wieder zu laufen versuchte, führte er mir das vor. Auf seinem Grundstück lagen Kiefernzapfen; er ergriff einen und warf ihn. Diese Strecke legte er dann im Laufschritt zurück. Motivation ist alles.

In der sechsten Stunde am Nachmittag – oder ist das schon Abend? – bewegen wir uns durch eine wieder illuminierte Welt. Viele Häuser oder Gärten sind mit Lichterketten geschmückt. Alles Mögliche kommt vor: LED-Girlanden in den Bäumen, an Lichtergirlanden empor kletternde Weihnachtsmänner – oder sind es noch Nikoläuse? –, beleuchtete Sterne in den Fenstern, Lichterbrücken, Haus- und Balkonumrahmungen; manche Fenster sind dunkelrot angeleuchtet wie die Fenster von Freudenhäusern. Die dunkle Adventszeit hat sich in eine bengalische Weihnachtskulisse verwandelt.

Da fällt es nicht schwer, den Blick wandern zu lassen: Am Sonntag, 13. Dezember, hat der Honolulu-Marathon stattgefunden. Der Zufall hat es gewollt, daß ich mich mit ihm fast genau 25 Jahre, nachdem ich ihn gelaufen bin, beschäftigt habe. Die Siegerzeiten – 2:12:14 Stunden durch den Kenyaner Patrick Ivuti, der damit eine reichliche Minute über dem Rekord seines Stiefbruders aus dem Jahr 2004 blieb, jedoch seine Siegerzeit vom vorigen Jahr unterbot, und 2:28:34 durch die 39jährige Russin Svetlana Zakharova – haben mich nicht so interessiert wie die Zeiten am Schluß der Tabelle von 23.248 gemeldeten Teilnehmern, davon 60 Prozent Japanern.  

Ich habe entdeckt, daß es sich um einen Lauf handelt, den man sich gut fürs Alter gönnen könnte. Selbst ich würde da nicht auffallen. Fast die Hälfte ist auf der flachen Strecke mehr als sechs Stunden unterwegs gewesen. Nur 223 Läuferinnen und Läufer sind ausgeschieden, darunter auch ein Kenyaner, dessen 10-Kilometer-Zeit mit 30 Minuten ausgewiesen ist. Mit Verwunderung habe ich die Liste entlanggescrollt, wie wir Internet-Nutzer sagen. Der Zehntausendste ist 5:50:54 gelaufen, mit dieser Zeit kann man bei manchem deutschen Provinzmarathon nicht mehr in die Liste; hier aber folgten noch weitere über zehntausend. Sechs Stunden, für die meisten Marathons der Zielschluß, sieben Stunden, zu lang für den Berlin-Marathon, acht Stunden, neun – die Schlußzeit des für Senioren ausgewiesenen C 42 des Swiss Alpine –, zehn, elf, zwölf... Der Letzte war der Japaner Ito (M75), auf dem 20.321. Platz mit 14:20:04 Stunden. Mit den anderen im Morgengrauen um fünf Uhr gestartet, in abendlicher Dunkelheit angekommen. Hervorgehoben sei: Seine Zeit ist gewertet worden, auch der professionelle Photograph hat ihn, jedenfalls an der ersten Station, abgewartet. Es scheint, daß die Infrastruktur bei dieser Veranstaltung bis zum Schluß erhalten bleibt. Offenbar wird der Honolulu-Marathon insbesondere von den japanischen und den amerikanischen Altersläufern ins Auge gefaßt, vorzeitiges Ausscheiden wird dabei akzeptiert. Von den 25 Teilnehmern der M75 sind nur elf nach 42,195 Kilometern angekommen. Die Klasse der Achtzig- bis Vierundachtzigjährigen war mit 16 Teilnehmern besetzt, von denen nur sechs die Strecke komplett zurücklegten. In der Klasse der Fünfundachtzig- bis Neunundachtzigjährigen starteten immerhin neun; jedoch nur ein einziger soll die ganze Strecke absolviert haben, wobei sowohl die Endzeit von netto 4:23.18 Stunden als auch fehlende Zwischenzeiten zu Zweifeln Anlaß geben. 16 amerikanische und japanische Frauen waren in W75 am Start, keine jedoch aus eigener Kraft am Ziel; in W80 kamen zwei der gestarteten acht ans Ziel.

Was also lehrt uns das? Der Honolulu-Marathon, erstmals 1973 mit 161 Teilnehmern ausgetragen, hat trotz der Spitzenzeiten das Zeug zu einem Altersmarathon. Allerdings wäre zu wünschen, daß auch die alten Teilnehmer eine bessere Selbsteinschätzung an den Tag legen und durchhalten sollten.

Eintragung vom 7. Dezember 09

Über die Katastrophe beim Zugspitzlauf am 13. Juli 2008 ist das Urteil gesprochen: Freispruch für den Veranstalter. Zur Erinnerung: Damals war bei dem 16 Kilometer langen Extrem-Berglauf eine Wetterverschlechterung eingetreten. Eine Anzahl Läufer war darauf nicht eingestellt. Unterkühlung führte zu katastrophalen Zuständen. Zwei der etwa 700 Teilnehmer starben unterhalb des Ziels, andere mußten ins Krankenhaus gebracht werden. Welche Verantwortung trifft den Veranstalter? Damit hat sich das Amtsgericht zu Garmisch-Partenkirchen auseinandersetzen müssen.

Ein knappes Jahr nach dem Unglück hatte der Veranstalter, Peter Krinninger, einen Strafbefehl über 13.500 Euro nicht akzeptiert. Damit hat er recht getan, obwohl er bei Annahme als nicht vorbestraft gegolten hätte. Sein Einspruch führte zu einer fünftägigen Verhandlung vor dem Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen. Das Gericht ist, wie seit einigen Tagen in LaufReport zu lesen ist, zu der Erkenntnis gekommen, daß Krinninger kein Verschulden treffe. Es sprach ihn von dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung in zwei Fällen und der fahrlässigen Körperverletzung in neun Fällen frei. Das Kernwort der Begründung lautete: Die Teilnehmer hätten sich „eigenverantwortlich selbst gefährdet“.

Das Gericht vertritt damit die Ansicht, die wir an dieser Stelle nach dem Unglück veröffentlicht haben. Der 54jährige, erfahrene Skilehrer Krinninger hat sich nicht schuldig gemacht; er hat die Teilnehmer korrekt über die Lage informiert. Die beiden, die tödlich verunglückt sind, wären nach Ansicht des Gerichts in der Lage gewesen, das Rennen abzubrechen. Viele Teilnehmer seien zum Teil nicht angemessen bekleidet gewesen oder hätten aus sportlichem Ehrgeiz das Rennen trotz der schlechten Wetterlage bis zum Gipfel fortsetzen wollen.

Damit hat das Gericht ein praxisgerechtes Urteil gefällt. Veranstalter können nur informieren, die angemessene Infrastruktur bereitstellen und die den Verhältnissen entsprechenden Maßnahmen treffen, wie das beim Zugspitzlauf geschehen ist. Keinesfalls aber können sie die Verantwortung für die richtige Bekleidung oder für höhere Gewalt wie das Wetter übernehmen. Jede menschliche Aktivität, erst recht ein Wettbewerb, enthält Risiken. Keine touristische Organisation ist verantwortlich zu machen, wenn ein Alpinwanderer vom Weg abkommt und abstürzt. Veranstalter von Laufwettbewerben pflegen in ihren Ausschreibungen ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß sie keine Haftung übernehmen können. Im allgemeinen wird dies auch so von den Teilnehmern respektiert. Im Gegenteil, – wenn Veranstalter einen Wettbewerb vorsichtshalber abbrechen oder verkürzen, erregt dies oftmals Unwillen. Das war auch beim Zugspitzlauf im Jahr 2007 der Fall, als Krinninger wegen der Wetterverhältnisse die Strecke verkürzt hatte.

Ein Veranstalter ist auch nicht in der Lage, individuelle Risiken, zum Beispiel eine Infektion, abschätzen zu können. Andererseits ist auch das in einigen Ländern geforderte ärztliche Attest für Wettbewerbsteilnehmer sinnlos; es kann nur den Befund zum Zeitpunkt der Untersuchung wiedergeben. Vierzehn Tage später kann eine ganz andere Situation vorhanden sein. Nach wie vor muß von denjenigen, die sich einem Wettkampf unterziehen wollen, verlangt werden, daß sie nicht nur ihre Chancen, sondern auch ihre Risiken real einschätzen und sich den Verhältnissen entsprechend vorbereiten. Dazu zählen sowohl die Kondition und der individuelle Gesundheitszustand als auch die Bekleidung.

Das Amtsgericht, das über den Fall Krinninger zu befinden hatte, hat eine reale Abwägung der Interessen wahrgenommen. Nach wie vor liegt es bei uns, wie wir uns verhalten. Im Grunde ist es jedoch so, daß Beschränkungen des Wettbewerbs, die der Veranstalter trifft, von den Teilnehmern meistens kritisch wahrgenommen werden. Ich selbst nehme mich davon nicht aus. Insofern muß der Prozeß in Garmisch-Partenkirchen für uns alle, für Veranstalter wie für Teilnehmer, immer wieder Anlaß sein, unsere eigene Position zu überdenken.

Eintragung vom 30. November 09

Der Frühlingsnovember ist zwar nicht so recht geeignet gewesen, Trainingsläufe ausfallen und Laufen dafür verstärkt in der Planung fürs nächste Jahr stattfinden zu lassen; aber nun fordert der Kalender doch sein Recht. Ambitionierte Läufer schlagen Faden für die Planung. Erst jetzt, da ich mich ihr ziemlich enthoben sehe, ist mir bewußt geworden, daß viele von uns zu wenig planen, nämlich immer nur für das folgende Jahr. Allerdings gab es vor dreißig Jahren vergleichsweise nur im Ansatz attraktive Laufveranstaltungen, zu denen man eine Reise unternahm. Heute hingegen finden sich in aller Welt so viele Anlässe, zum Laufen zu verreisen, daß man tatsächlich ein ganzes Läuferleben danach planen kann, um nicht zu sagen: planen sollte.

Ich zum Beispiel bedauere, daß ich den Marathon des Sables nicht gelaufen bin. Sein Anfang, 1986, fiel gerade in die Zeit, da ich mit dem Spartathlon beschäftigt war. Im nächsten Frühjahr, vom 2. bis zum 12. April 2010, wird er zum 25. Mal ausgetragen.

Ich bin auch nie in Japan gelaufen, und das sollte man, ist doch Japan eine der führenden Marathon-Nationen. Manche Laufveranstaltungen wie Dubai sind für mich einfach zu spät erfunden worden, manche wie den Graubünden-Marathon habe ich nur mit Ach und Krach bewältigt oder, wie den Zermatt-Marathon, nur noch ohne Zeitnahme. Wenn ich zurückblicke, würde ich heute nicht nur für ein oder zwei Jahre planen, sondern für ein ganzes Läuferleben.

So wie man im Training einen Makro- und einen Mikrokosmos berücksichtigt, sollte man unbedingt auch ein Läuferleben entsprechend strukturieren. Vielleicht erleichtert eine solche Planung auch, sich rechtzeitig von Laufveranstaltungen zu verabschieden. Man muß nicht Jahre lang zum Spartathlon fliegen, wenn man ihn einmal bewältigt hat. Oder auf niedrigerer Ebene: Es reicht unbedingt, ein einziges Mal die klassische Strecke von Marathon nach Athen gelaufen zu sein; man muß einen solchen Lauf, dessen Attraktion allein aus der Idee besteht, nicht wiederholen. Schon gar nicht sollte man eine Marathon-Karriere damit beginnen, da gibt es bessere Möglichkeiten.

Heute, da sich das Laufen dermaßen ausdifferenziert hat, kann man tatsächlich in dieser Hinsicht eine Lebensplanung treffen. Dazu gehört, verschiedene Strecken rechtzeitig auszuprobieren: den Marathon, den Ultra, den Berglauf, den exotischen Lauf, den Triathlon. Dann weiß man rechtzeitig, was man persönlich meiden und was man bevorzugen sollte. Denn kaum jemand kann ein Leben lang in allen Sätteln zu Hause sein.

Nur eben, da die meisten von uns kein Sportlerleben von Jugend an hinter sich haben, besteht die Schwierigkeit darin, überhaupt anzufangen. Erst wenn man über alle Möglichkeiten informiert ist, kann man seine Auswahl treffen. Man muß sie auch nicht so ernst betreiben wie die Berufswahl. Es reicht ja, sich beim Blick auf den Laufkalender, der uns in diesen Wochen von den verschiedensten Institutionen präsentiert wird, von der Lebensplanung leiten zu lassen.

Sollte man im nächsten Jahr den ersten Marathon probieren? Wenn ja, welchen? Es muß nicht Berlin sein, erst recht nicht New York. Von solchen City-Marathonen hat man ganz sicher mehr, wenn man schon ein Minimum an Wettkampf-Erfahrung hat und mit klimatischen Veränderungen umgehen kann. Fühlt man sich zum Ultralauf herausgefordert, müssen es nicht gleich die 100 Kilometer sein. Im Gegensatz zu früher gibt es kürzere Ultras, auf denen man sich bewähren kann. Unsere Lauflandschaft ist inzwischen so reich, daß wir unser Läuferleben methodisch aufbauen können.

Eintragung vom 24. November 09

 

Im Grunde denke ich jeden Tag an ihn, an Dr. Max Otto Bruker, weil ich versuche, nach seinen Erkenntnissen zu leben. Der 16. November wäre sein Tag gewesen; es war sein 100. Geburtstag. Der Mediziner Bruker, geboren 1909 in Reutlingen (Südwürttemberg), war einer der großen deutschsprachigen Gesundheitslehrer. In seiner über sechzigjährigen medizinischen Praxis hat er immer versucht, nach den Ursachen einer Erkrankung zu fragen, statt nur zu diagnostizieren. Diese Ursachen fand er vor allem in der Ernährung und darin, daß Menschen falsch lebten; er unterschied daher zwischen ernährungs- und lebensbedingten Krankheiten.

Brukers Grundthese war, daß Ärzte in Gesunderhaltung unzureichend ausgebildet würden. Es ist daher kein Zufall, daß er mit anderen Gesundheitslehrern wie Kneipp oder Bircher-Benner das Schicksal der Anfeindung teilte. Selbst der 100. Geburtstag am 16. November 2009 war für die Medien kein Anlaß, ihn zu würdigen.

Brukers Verdienst besteht darin, daß er die wissenschaftliche Erkenntnis des Hygienikers und Bakteriologen Professor Werner Kollath in die Praxis umsetzte und an die Erfahrungen seines Schweizer Kollegen Maximilian Bircher-Benner anknüpfte. Kollaths großes Thema waren „Zivilisationsbedingte Krankheiten und Todesursachen“, ein Thema, das er von Anfang an gesundheitspolitisch verstand. 1924 hatte er begonnen, den Einfluß der Nahrung auf die Gesundheit zu erforschen und den Ursachen chronischer Erkrankungen nachzuspüren, soweit sie nicht durch bakterielle oder virale Infektionen zu erklären waren. Dabei entdeckte er, daß die übliche Zivilisationskost, früher bürgerliche Küche genannt, chronische Mangelzustände hervorruft. Lebensnotwendige Substanzen werden dann vom eigenen Körper gewissermaßen zur Notversorgung abgebaut. Dieses „halbwertige“ Dasein, demonstriert an Tierversuchen, bezeichnete Kollath als Mesotrophie.

In einem innerhalb der Menschheitsgeschichte sehr kurzen Zeitraum, nämlich gerade 150 Jahren, waren die Lebensmittel vom Acker und aus dem Garten durch die industrielle Produktion denaturiert worden, charakterisiert durch zwei verhängnisvolle Entwicklungen: Ende des 18. Jahrhunderts gelang es, den bis dahin importierten und nur an hochherrschaftlicher Tafel verwendeten Rohrzucker durch raffinierten Zucker aus der Rübe, pure Kohlenhydrate, zu ersetzen. Bis dahin war auf den Kopf der Bevölkerung in Europa gerade 1 Kilogramm Zucker im Jahr entfallen. Heute beträgt der Konsum 35 bis (in den USA) 47 Kilogramm. Durch die industrielle Mahltechnik wurde das Getreide zu einer „Mehlkonserve“ gemacht. Alles, was die Lagerfähigkeit von Mehl beeinträchtigte, Keim und Randschichten des Getreides, konnte nun im Mahlprozeß entfernt werden. Damit war eine wichtige Quelle von Vitaminen und Spurenelementen versiegt. Der schweizerische Arzt Dr. Maximilian Bircher-Benner (1867 - 1936) hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts den Wert der Frischkost betont. Professor Kollath systematisierte Lebens- und Nahrungsmittel in sechs Wertstufen, die von natürlich, mechanisch verändert, fermentativ verändert bis zu erhitzt, konserviert und präpariert absteigen. Obwohl seine „Ordnung unserer Nahrung“ im Jahr 1942, als es nur noch darum ging, überhaupt Nahrung zu beschaffen, in nur 1200 Exemplaren erschien, wurde das Buch stark beachtet. Eine breitere Zielgruppe erreichte es, nun erheblich erweitert, jedoch erst nach dem Krieg, im Jahr 1950.

Den Staffelstab übernahm Dr. med. Max Otto Bruker (1909 - 2001), der an den von ihm geleiteten Krankenhäusern die Theorie in die alltägliche Ernährung umsetzte. Er artikulierte die auf Bircher-Benner und Kollath beruhenden Erkenntnisse in wenigen, aber umfassenden Ernährungsregeln, die noch heute das Prinzip der vitalstoffreichen, vollwertigen Ernährung nach Bruker bilden. Danach solle man täglich verzehren: 1. Vollkornbrot, 2. einen Frischkornbrei. Unerhitzte Getreidekost hatten bereits Bircher-Benner mit dem nach dem ihm benannten Müsli und Kollath mit dem Kollath-Frühstück für notwendig erachtet. Da die Nahrungsmittelindustrie inzwischen ihre hocherhitzten Getreideflocken als „Müsli“ bezeichnete, wählte Bruker den Terminus „Frischkornbrei“. Jahrtausende lang hat die Getreidekost dem Menschen wichtige Vitalstoffe geliefert, die erst im 20. Jahrhundert definiert werden konnten. Mit dem abwertenden Begriff „Körnerfresser“ wurden Vollwertköstler von vielen Medien in den Winkel der Sektierer gestellt, nicht anders als einige Jahr zuvor die Läufer. Die 3. Grundregel: Täglich mindesten ein Drittel der Nahrungsmenge als unerhitzte Frischkost, also Salate und Obst, tunlichst aus schadstoffreiem, nämlich biologisch-dynamischem Anbau verzehren. Über diese Regel muß man keine Worte mehr verlieren. Allenfalls, daß man hinzufügen sollte: Salat sollte wegen der Verdauungsleukozytose bereits vor einer gekochten Mahlzeit verzehrt werden. 4. Zum täglichen Verzehr gehören naturbelassene Fette, nämlich Butter und durch Pressung gewonnene, unraffinierte Öle. Diesen vier Regeln steht eine ebenso einfache Negativliste gegenüber: Alle Auszugsmehlprodukte wie Graubrot, Weißbrot, Teigwaren, Pudding und Kuchen meiden, ebenso alle Zuckerarten, die industriell hergestellt werden, sowie alle Genuß- und Nahrungsmittel, die damit gesüßt sind, alle raffinierten Fette einschließlich aller Margarinesorten und gewöhnliche Öle. Magen-, Darm und Galleempfindliche sollten zusätzlich alle Säfte aus Obst und Gemüse meiden. Fleisch und Fisch sind nach diesen Regeln nicht verboten; doch sie gelten nicht als vollwertige Lebensmittel. Da Dr. Bruker keineswegs nur die Ernährung im Auge hatte – er war zum Beispiel, mit dem Megaphon in der Hand, auch ein früher Atomkraftgegner –, lehnte er aus ethischen, ökologischen und sozialen Gründen den Fleisch- und Fischverzehr ab. Wer heute Vegetarier wird – 9 Prozent der Deutschen ernähren sich vegetarisch –, läßt in der Regel nicht bloß das Fleisch weg, sondern bemüht sich um vollwertige Ernährung.

Max Otto Bruker, Sohn eines Lehrers, verlebte seine Jugend in Reutlingen, Neuenstadt am Kocher und Esslingen am Neckar. Hier war er auch, nach dem Medizinstudium in Tübingen, München, Berlin und Wien, als Medizinalpraktikant und als Assistenzarzt des Städtischen Krankenhauses beschäftigt. 1936 wechselte er nach Schwerte an der Ruhr, wo er eine chirurgische Ausbildung genoß, und dann an eine homöopathisch-biologische Anstalt nach Bremen. Als Facharzt für innere Krankheiten übernahm er dort von einem jüdischen Kollegen die Praxis, heiratete, wurde jedoch bereits bei Kriegsbeginn zum Militär eingezogen; zunächst war er in Paris, dann bis zum Ende des Krieges in Lazaretten in Lappland und Norwegen tätig. Nach Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft Anfang November 1945 fand er in Lemgo/Lippe seine Frau wieder, die mit ihren Kindern aus dem kriegszerstörten Bremen dorthin gebracht worden war, und übernahm die ärztliche Leitung der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptiker, Eben-Ezer. Hier machte er in großem Umfang seine klinischen Erfahrungen mit vollwertiger Ernährung. Von 1975 bis 1977 leitete er die Psychosomatische Abteilung der Kliniken am Burggraben in Bad Salzuflen und wechselte dann an die Klinik Lahnhöhe in Lahnstein.

Bereits in den fünfziger Jahren war er einer breiten Öffentlichkeit durch seine Aktionen gegen den „Fabrikzucker“ bekannt geworden. Damals führte die Zuckerindustrie Prozesse gegen ihn. Heute sind die Warnungen vor dem industriell gefertigten Zucker so zahlreich, daß der juristische Weg nicht mehr beschreitbar ist. Wahrscheinlich war Dr. Bruker der erste deutsche Arzt, der öffentlich vor der Atomenergie warnte. 1978 gründete er die Gesellschaft für Gesundheitsberatung und später den emu-Verlag (E = Ernährung, M = Medizin, U = Umwelt). Brukers Bücher haben an Auflage die 4 Millionen weit überschritten. Die Gesellschaft hat bisher etwa 4000 Gesundheitsberater ausgebildet und veranstaltet Seminare und Ärztekurse. Nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl befaßte er sich insbesondere mit den Folgeschäden für Kinder. Die Universität von Kiew berief ihn für den Lehrschwerpunkt „Atomare Strahlenschäden“ zum Honorarprofessor.

In früheren Jahren hatte Dr. Bruker versucht, seine Gedanken über Gesundheitserziehung und Prophylaxe politisch durchzusetzen. Er hatte der Freien Sozialen Union (FSU) angehört, war Vorsitzender des Deutschen Naturheilbundes und Präsident des Weltbundes zum Schutze des Lebens (WSL) und versuchte immer wieder, institutionelle Kontakte herzustellen. Dabei traf er wohl nicht immer eine glückliche Wahl. Auf diese Weise machte er es Jutta Ditfurth leicht, in ihrem „Entspannt in die Barbarei“ einen „Ökofaschisten“ zu porträtieren. Auf einem sogenannten Schnellerfassungsbogen der Reichsärztekammer fand sie zudem den Vermerk „SA“. Bruker hat bestritten, der SA angehört zu haben. Dazu würde auch schlecht gepaßt haben, daß er nach der Praxisübernahme in Bremen jüdischen Patienten zur Emigration verholfen hat. Dr. Bruker selbst hat sich von rechtsextremen Aktivitäten in WSL-Gruppierungen sofort und endgültig distanziert.

Im Jahr 1994 entstand in Lahnstein das Max-Otto-Bruker-Haus, ein Seminargebäude mit einem ausgedehnten Garten. In diesem Haus wirkte Bruker bis ins 90. Lebensjahr, erst dann zog er sich zurück. Wenige Wochen nach seinem 91. Geburtstag ist er am 6. Januar 2001 in Lahnstein gestorben.

Ich selbst war in den siebziger Jahren durch die Läuferzeitschrift „Condition“ auf Max Otto Bruker gestoßen. Damals war es auch zu einer öffentlichen Diskussions-Begegnung von Bruker und van Aaken gekommen. Zum Anhänger Brukers bin ich jedoch erst 1981 nach dem von Professor Klaus Jung betreuten Deutschlandlauf geworden.

Max Otto Bruker hat noch erleben können, daß seine Hinterlassenschaft in die rechten Hände gekommen ist. 1976 war eine Patientin, der ein Schulmediziner nur noch ein halbes Jahr Lebenszeit gegeben hatte, zu ihm gereist. Sie wurde zu seiner rechten Hand; inzwischen hat sie, Ilse Gutjahr-Jung, die Geschäftsführung an ihren Sohn abgegeben und widmet sich dem Brukerschen Erbe als Autorin und Beraterin sowie als Vorsitzende der GGB. Von den vier Kindern Brukers sind zwar zwei Söhne selbst Chefärzte geworden, aber zu einer mehr als nur vorübergehenden Zusammenarbeit mit dem Vater ist es nicht gekommen. Dafür praktizieren im Bruker-Haus ein Arzt für Naturheilverfahren, Dr. med. Jürgen Birmanns, und ein Psychotherapeut, Dr. phil. Mathias Jung, der den emu-Verlag um etliche Titel bereichert hat. Beide sind auch immer wieder auf Vortragsreisen unterwegs. Weitere Mitarbeiter bieten Seminare und Therapien, Kochkurse und Vorträge an. Die Aktivitäten spiegeln sich in der Zeitschrift „Der Gesundheitsberater“.

Der Ernährungswissenschaftler Professor Claus Leitzmann hat dann mit Mitarbeitern versucht, die Vollwertkost universitär anzubinden. Die von ihm mitgegründete UGB (Unabhängige Gesundheitsberater) in Gießen hat sich jedoch von Brukers Gedanken partienweise entfernt. Wie auch immer man Brukers Impulse wertet, – seine Bedeutung ist kaum zu unterschätzen. Ähnlich wie bei Kneipp und Bircher-Benner wird es noch einige Jahrzehnte dauern, bis dies erkannt wird.

Eintragung vom 15. November 09

So überwältigend am Abend des Ankunftstages auch war, zum Abendessen im Freien zu sitzen, so bitter war es dann am Morgen des Marathontages: Zum Frühstück gegen 6 Uhr prasselte der Regen auf den Asphalt. Im Nu bildeten sich Wasserlachen. Zur Busabfahrt vor dem antiken Stadion sollten es vom Hotel zwar nur etwa zehn Geh-Minuten sein, aber wir entschlossen uns, selbst für den reichlichen Kilometer doch lieber ein Taxi zu benützen. Um diese Zeit war es auch im Handumdrehen zur Stelle. Vor dem Stadion ein ziemliches Chaos, aber irgendwie fanden wir einen Autobus. Im Nu war er gefüllt, und wir rollten nach Marathonas.

Das Startgelände dort hatten wir uns Tags zuvor angesehen. Jetzt bemerkten wir, daß die Bauten auf dem Sportgelände vorzüglich geeignet sind, sich unterzustellen. Am Schluß des Feldes konnten wir bis wenige Minuten vor dem Startschuß unter Dach bleiben. Ich erinnerte mich an die Starts 1975 und 1976. Da war das alles noch freie Fläche. Damals wurde im Oktober gestartet; der Marathon-Tag war heiß. Schön war die Strecke auch damals nicht.

Den Lauf hatte seinerzeit – in den Jahren 1974 bis 1985 – der BV Teutonia 1920 Dortmund-Lanstrop organisiert. Vor mir liegt der Bericht, den Otto Hosse, der Volkslaufwart im DLV, über die zweite Veranstaltung geschrieben hat: „Der 2. Internationale Volksmarathonlauf auf der traditionellen Strecke Marathon – Athen war mit 1002 aktiven Teilnehmern aus 17 Nationen der freien Welt, darunter etwa 630 Deutschen, das Tagesereignis der 2,5-Millionen-Stadt Athen. Mit vielen Schlagzeilen und Bildern in der griechischen und europäischen Presse und im Fernsehen wurde er zu einer weithin sichtbaren Demonstration für eine neue Aera im Sport: dem Freizeitsport moderner Menschen, für die Volkstümlichkeit unserer Leichtathletik, aber auch für die weltbekannte Genauigkeit deutscher Organisation, mit der wir hier neue Freunde aus vielen Ländern gewonnen haben. ... Wie im Vorjahr wurden Kisten voll Verpflegung, Sporttrikots in den Bundesfarben, Medaillen, Urkunden usw. aus Deutschland eingeflogen und von Herrn Niemeyer mit viel Mühe durch den etwas orientalischen Zoll geschleust. Nur Eingeweihte wußten, daß die Organisation für diese Tage ein volles Jahr Arbeit für die zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter aus Dortmund bedeutete.“

Gerhard Niemeyer klagte damals über ausländische Reiseveranstalter, die Marathon-Gäste nach Athen brachten, ohne zuvor mit dem griechischen Verband oder mit Teutonia Kontakt aufzunehmen. 1974 waren im Stadion die Silber- und Goldmedaillen gestohlen worden, im Jahr darauf die Keramik-Ehrenpreise für die Erstplacierten. Nicht weniger als 53 Teilnehmer büßten durch Diebstahl ihre Medaillen ein, die sie auf der Hochsprungmatte abgelegt hatten. Das Engagement der Dortmunder endete, als der griechische Sportverband SEGAS 100.000 DM Organisationsgebühren verlangte. Nach Darstellung Gerhard Niemeyers hat Teutonia Dortmund-Lanstrop etwa 20.000 Teilnehmer und Begleiter auf die klassische Strecke gebracht. In einer Buch-Veröffentlichung wird der Dortmunder Verein als der Erfinder des professionellen Lauftourismus bezeichnet.

Nachdem zunächst ein Athener Reisebüro die Organisation besorgt hatte, begann der griechische Leichtathletikverband SEGAS, den Lauf zu organisieren. Zur klassischen Strecke, auf der 1896 Michel Bréals erster Marathonlauf stattgefunden hat, sind ein 5- und ein 10-km-Lauf hinzugekommen. Doch nach wie vor ist die Zahl der Marathon-Teilnehmer größer als die der „Kurzstrecken“-Läufer; 3853 Marathon-Läufer und Walker wurden im Ziel, dem Panathinaikon-Stadion in Athen, registriert. Die Organisation kann man heute als rundherum professionell bezeichnen.

Die Strecke freilich ist nicht schöner geworden. Im Gegenteil, sowohl Athen als auch die anderen Orte haben sich entlang der Strecke ausgeweitet. Man hat das Gefühl, sich von Anfang bis zum Ende durch bebautes Gebiet zu bewegen. Wäre dies nicht die antike Route, müßte man sich fragen, worin der Sinn dieser Streckenführung liegen sollte. Auch die Benennung der Straße in „Marathon-Avenue“ weckt keine heiligen Gefühle. Genau genommen beginnt der Kurs bereits bei Kilometer 7,5 zu steigen und dann wieder bei Kilometer 18 unaufhörlich bis Kilometer 32. Es sind zwar maximal nur 40 Höhenmeter, aber sie sind zu spüren.

Obwohl es schätzungsweise über eine Stunde lang regnete, war es nicht kalt. Zu schaffen machte die Luftfeuchtigkeit von 92 Prozent. Über den Rennverlauf weiß ich nichts – außer dem, was in der noch immer inoffiziellen Liste steht. Bei den Männern war es ein Rennen der Kenianer. Auch die Siegerzeiten – Josephat Kipkurui in 2:13:44 Stunden, Akemi Ozaki (Japan) in 2:39:56 Stunden – lagen höher als sonst.

Mein persönlicher „Rennverlauf“ läßt sich so wiedergeben: Mein Ziel war, möglichst stark unter 7 Stunden zu bleiben. Doch sehr bald merkte ich, daß ich dazu nicht die mindeste Chance hatte. Es konnte nur darauf ankommen, das Stadion zu erreichen. Sehr bald war auch der Letzte des Feldes meinen Augen entschwunden. Die blaue Linie leitete mich verläßlich um den Grabhügel der 192 bei Marathon gefallenen Athener und Eleer. Da die Strecke des olympischen Marathons von 1896 nur 40 Kilometer lang ist, hat man sie, um die 1921 beschlossene Norm von 42,195 Kilometern zu erreichen, um das Grabgelände geführt. Noch vor der Halbmarathon-Marke wurde ich von der Straße gewiesen, der Verkehr sollte freigegeben werden. Doch Gehwege waren hier nur in Ansätzen vorhanden. Eine blaue Linie war nicht mehr verfolgbar. Ich war auf mich allein gestellt. Das machte mir auch ein Funktionär deutlich.

Der Zweite, der mich ansprach, kannte mich vom Spartathlon her, den ich vor wenig mehr als zwanzig Jahren regelgerecht beendet hatte. Das erwies sich als Glücksfall. Der flutende Verkehr in Athen machte mir die Orientierung schwer. Doch umsichtig geleitete mich ein Sanitätsfahrzeug durch die Stadt. Bedanken konnte ich mich nicht mehr. Ich mußte die breite Straße überqueren, wurde allerdings nicht mehr ins Stadion gelassen. Eine Zeitnahme fand nicht statt, auch vorher schon waren die Matten abgebaut gewesen; auf jeden Fall bin ich in etwas unter 8 Stunden angelangt. Wieder hatte ich Glück; der Spartathlon-Kamerad, der an der Organisation des Athener Marathons beteiligt ist, sprach mich abermals an. Er hatte meinen Läuferbeutel verwahrt, und er hängte mir eine Medaille um. Obendrein transportierte er mich fast bis vors Hotel.

 

Zu Recht hat er mich gefragt, weshalb ich nicht als Walker gemeldet hätte. Doch da hätte ich aufs Frühstück verzichten und bereits vor 5 Uhr zur Busabfahrt gehen müssen. Die Walker durften um 7 Uhr starten, der letzte Zieleingang wurde 13 Minuten nach 15 Uhr registriert. Vielleicht hätte ich ja beim Frühstart mehr von der Veranstaltung mitbekommen, allerdings auch weit mehr Regen.

Deutlich waren bereits die Anzeichen des Jubiläums 2500 Jahre Schlacht von Marathon im nächsten Jahr zu erkennen: Dank Unterstützung durch das Olympische Komitee in Lausanne ist das Marathon-Museum in Marathon neugestaltet und am Vortag des Marathons wiedereröffnet worden.

Eintragung vom 3. November 09

Die Idee lag nahe – ich hatte sie ebenfalls, nämlich auf den Spuren der Berliner Mauer entlang zu laufen. Vier Marathonstrecken hatte ich mir für die Umrundung Westberlins vorgestellt. Doch der organisatorische Aufwand wäre beträchtlich gewesen. Ich hätte in Berlin oder wenigstens in der Nähe wohnen müssen. Da der Gedanke eines Mauerlaufs in der Tat nahelag, ist er mehrfach umgesetzt worden. Eines Tages wird man die Geschichte der Mauerläufe schreiben müssen. Meine Recherche ist eher zufällig; ich habe Google angeklickt und einige Hinweise gefunden.

Am 6. Juni 2009 hat eine Gruppe die 165 Kilometer in einem Staffellauf mit 17 Etappen zurückgelegt. Der zeitliche Ablauf von 4 Uhr morgens bis zehn Uhr abends, der sich auf den Websites spiegelt, läßt eine präzise professionelle Organisation erkennen. In den Jahren 2007 und 2008 hatte Gero Mensel einen je zweitägigen „Lauf der Erinnerung“ unternommen; nach seiner Messung betrug die Streckenlänge 156 Kilometer. Auch in diesem Jahr, am 7. November, will er wieder dazu starten, und zwar um 7 Uhr am Brandenburger Tor; Begleiter sind willkommen. Wenn ich das richtig sehe, hat Gero Mensel bereits im Jahr 2004 den Mauerweg abschnittsweise zurückgelegt.

Im Jahr 2010 soll in einer Aktion zum Welt-Down-Syndrom-Tag, dem 21. März, die Strecke erlaufen werden. Dazu wird sich am 20. März eine Stafette von Down-Syndrom-Läufern in Bewegung setzen (das Down-Syndrom ist eine nach dem britischen Apotheker John Langton-Down benannte Chromosomen-Aberration). Der Staffellauf wird von Anita Kinle organisiert. Der Lauf auf dem Mauerweg hat für die Beteiligten einen stark symbolischen Charakter: Mit dem Ausdauersport wollen die vom Down-Syndrom Betroffenen und ihre Familien oder Betreuer Mauern überwinden.

Am 8. November 2009, dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls, will sich in Berlin die Langstrecken-Laufgemeinschaft Mauerweg e. V. (LLG) gründen. Die beiden Läufer Dr. Ronald Musil und Alexander von Uleniecki haben sich im Februar auf der Anreise zu einem Marathonlauf kennengelernt, waren auf dem Mauerweg unterwegs und haben beschlossen, eine Laufgemeinschaft ins Leben zu rufen, die nicht nur dem Laufen auf dem Mauerweg, sondern auch der Dokumentation der Mauer und des Mauerwegs einen Platz geben will (www.mauerweglauftreff.de).

Sicherlich ist auch früher schon auf der Trasse der Mauer gelaufen worden. Doch da die Anlagen sehr rasch abgebaut oder zerstört worden sind und der Verlauf der Mauer schon infolge von Baumaßnahmen nicht mehr erkennbar war, bedurfte es der Einrichtung eines Mauerwegs, die Trasse für Läufer und Walker attraktiv zu machen. Der Mauerweg ist im großen ganzen in den Jahren 2002 bis 2006 angelegt und gekennzeichnet worden. Die Strecke ist in 14 zwischen sieben und 21 Kilometer lange Abschnitte eingeteilt; Anfangs- und Endpunkte der Abschnitte sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln bequem erreichbar.

Auf etwa 20 Kilometern ist der Verlauf der ehemaligen Mauer durch Doppelreihen von Granitsteinen oder eine aufgemalte rote Linie markiert. An historisch bedeutenden Orten sind Informationsstelen errichtet und an etwa 600 Standorten Schilder angebracht worden. Denkmale für tödlich verletzte Flüchtlinge sind einbezogen.

Die Läufe über diese Route – etwa 43 Kilometer zwischen Ost- und Westberlin und etwa 112 Kilometer zwischen Westberlin und der DDR – machen deutlich, daß die Geschichte des Laufens ein neues Stadium erreicht hat. Das erste Stadium hatte darin bestanden, den Laufsport überhaupt erst einmal aus dem Stadion herauszuführen. Im zweiten Stadium wurden die Strecken entdeckt; Laufveranstaltungen finden dort statt, wo den Teilnehmern Landschaften präsentiert werden sollen oder, wie insbesondere bei den Stadtmarathonen, dort, wo Publikum zu erwarten ist. Im jüngsten Zeitabschnitt sind es nicht mehr allein Landschaften oder Städte, die eine Route bestimmen; es kommen – typisch der Mauerweg – geschichtliche Inhalte dazu.

Eintragung vom 27. Oktober 2009

Sehr viel habe ich mit dem Schwäbische-Alb-Marathon nicht zu tun gehabt – außer daß ich mit den anderen in Schwäbisch Gmünd gestartet bin. Mir war zwar klar, daß ich der Letzte sein würde, aber daß ich die anderen Walker schon vor der ersten Kilometer-Marke aus den Augen verlieren würde, hatte ich mir nicht so recht vorstellen können. Nun ja, die Strecke kenne ich ja, meinte ich. Der Schluß-Radfahrer gab sich’s zufrieden und ließ mich allein.

Zum Wäscherschlößle ging’s ja auch gut. Doch dann, an der Einmündung der Straße, wies die Bodenmarkierung nach links. War ich nicht beim letztenmal vor sieben Jahren nach rechts abgebogen? Sei’s drum, ich wußte, daß ich den Höhenrücken erreichen mußte. Als ich Markierungen vermißte, erschien es mir zu spät umzukehren – ich stieg bergan und schaffte es tatsächlich, wieder auf die Originalstrecke zu kommen, wenngleich offenbar mit einem Umweg. Auf dem Hohenstaufen war kein Posten mehr, doch wenigstens standen noch die Schilder und waren die Markierungsbänder nicht abmontiert worden. Aber dann, im Ort Hohenstaufen, passierte es; beim Abstieg hatte ich die Markierung verloren. Jetzt bereute ich schmerzlich, keine Karte mitgenommen zu haben. Ich fand eine Markierung des Schwäbischen Albvereins und ging bergab. Der Weg führte zu einem Wanderparkplatz an der Straße nach Göppingen. Mir wurde klar: Noch einige Kilometer, und ich würde in Göppingen sein. Also kehrte ich um, der Aufstieg nach Hohenstaufen fiel um so schwerer. In der Gegenrichtung entdeckte ich den Weg zum Rechberg, dem zweiten der drei Kaiserberge, die auf der 50-Kilometer-Strecke zu queren sind. Für uns Walker sollte jedoch eine direkte Strecke nach Schwäbisch Gmünd abzweigen. Sie blieb mir verborgen; ich befand mich auf dem 50-km-Kurs.

Nun war’s auch gleich – es kam nur noch darauf an, irgendwie nach Schwäbisch Gmünd zurück zu gelangen. Als der Weg zum Rechberg anstieg, wußte ich nur das eine: Dies wäre die falscheste Lösung. Also zweigte ich auf die talwärts führende Straße ab und gelangte nach Lenglingen. Das war die zweitfalscheste Lösung. Hier stieß ich jedoch auf einen markierten Radweg; es war die Trasse der ehemaligen Bahnverbindung Schwäbisch Gmünd - Göppingen, auf die der 50-km-Kurs einmündet. Das tut er jedoch erst in Straßdorf, davor sind etliche Kilometer zurückzulegen.

Es war ein schöner Tag, tags zuvor hatte es lange geregnet. So aber hatten wir riesiges Glück. Die Landschaft zeigte sich in ihrer ganzen Pracht. Hätte ich eine Karte mitgehabt, und sei es auch nur die Karte der Ausschreibung, hätte ich erkannt, daß auch der Walkingkurs einige hundert Meter über diesen Radwanderweg führt. An der Verpflegungsstation hätte ich dann abbiegen müssen. Doch es gab keine Verpflegungsstation mehr. Die Abbiegung blieb unentdeckt. Ich wanderte weiter auf dem Radweg. In Straßdorf endlich, da wo die 50-km-Läufer von Waldstetten her einmünden, befand sich tatsächlich noch eine Verpflegungsstation. An der Straße  standen sogar noch Verkehrsposten.

 

In der Tat überholten mich hier noch drei 50-km-Läufer. Höchstwahrscheinlich haben sie auf dem Marktplatz in Gmünd noch die Bibchip-Reflektoren passiert. Als ich hingegen eintraf, war der Abbau des Zielbereichs in vollem Gange. Im Prediger, in dem die Siegerehrung stattfand, erhielt ich jedoch noch eine Medaille. Für meine Zeit, knapp acht Stunden, interessierte sich niemand mehr. Ich wäre ja auch in ziemliche Beweisnot geraten. Mit Sicherheit bin ich alles in allem einen Marathon marschiert.

An der Siegerehrung im Prediger hätte ich gern noch teilgenommen; doch im Auto wartete Markus, der zwei Stunden früher die 50-km-Runde beendet hatte. Da ihm die Autofahrt galt, empfand ich mein einsames Walking nicht als mißlungene Laufveranstaltung.

Eintragung vom 20. Oktober 09

Nur ein reichliches Jahr ist es her, daß ich an dieser Stelle den Unfug der Kundenkarten glossiert habe, mit denen man Punkte sammeln kann. Der aktuelle Bezug bestand seinerzeit darin, daß ich eine neue SüdBest-Karte zugesandt bekommen hatte. SüdBest ist das sogenannte Kundenbindungsprogramm des Energielieferanten EnBW, eines der Monopolisten, die sich die Stromverbraucher der Bundesrepublik Deutschland aufgeteilt haben. Meine kritischen Einwände gegen Kundenkarten, aufgehängt an der von SüdBest, werden offenbar von nicht wenigen geteilt. SüdBest hat mich wissen lassen, daß es SüdBest nur noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres geben werde. Es klang durch, daß solche Programme offenbar Schwierigkeiten haben. Mit anderen Worten: Nun haben offenbar auch die dafür Verantwortlichen erkannt, daß man mit einem Rabatt, der sich in der Regel wohl auf nur wenige 10-Cent-Münzen im Monat beschränkt, kaum Kunden gewinnen kann. Mag sein, daß solche Kundenkarten vor einigen Jahren noch einen immateriellen Wert verkörpert hatten; doch diese Zeit ist längst vorbei. Adieu, SüdBest!

An meiner Trainingsrunde ist mir jetzt aufgefallen, wieviel Mais angebaut wird. Im Gegensatz zu den Äckern mit Getreide, das längst geerntet worden ist, stehen die Maisstauden noch; sie trocknen vor sich hin, und manchmal verfängt sich der Wind in ihnen. Vielleicht fällt mir die Zunahme des Maisanbaus erst jetzt eindrücklich auf, seit ich weit mehr walke statt laufe. Amerikanisierung der Landwirtschaft?

Mit öffentlichen Mitteln wird der Milchpreis gestützt. Bei allem Verständnis für die geprellten Milchbauern: Zeigt sich nicht an dem Preisverfall, daß wir schlicht zuviel Milch produzieren? Wenn dem so ist, kann das nur bedeuten, auf Dauer den Anteil der Milchbauern zu verringern. Nicht dadurch, daß Bauernhöfe verschwinden, sondern daß öffentliche Mittel zur Umstellung solcher Betriebe verwandt werden.

Wieder einmal offenbart sich die Kurzsichtigkeit europäischer Agrarpolitik. Auf dem Erdball leben ganze Völker, denen tierische Milch als Nahrungsmittel unbekannt ist. Die meiste Milch und die meisten Milchprodukte werden in Europa verzehrt. Ungefähr jeder zehnte Europäer hat jedoch eine Laktose-Intoleranz; er verträgt keine Milch. Calcium kann aus Milch nur mit Hilfe von Vitamin D gewonnen werden; die Milch selbst enthält dazu nicht genügend Vitamin D. Beträchtliche Vitamin-Anteile werden durch die Haltbarmachung der Milch zerstört.

Eintragung vom 12. Oktober 09

Nochmals der Berlin-Marathon. Zur Nachbereitung habe ich die Äußerungen darüber im Forum der Website gelesen. Geklagt wird über das Gedränge im Hauptfeld. Das kann ich gut verstehen. Zwar bietet Berlin sehr gute Laufbedingungen, aber mit 36.000 Marathon-Teilnehmern ist sicher die Grenze erreicht. Für ihre persönliche Bestzeit werden sich die meisten eine andere Strecke aussuchen müssen. Vielleicht sollte der Block H nochmals geteilt werden – in Erst-Marathonläufer und in Mehr-als-Fünf-Stunden-Läufer.

Im Forum ist über eine "Krücken-Oma" zu lesen. Dabei handelt es sich um Daniela Zahner, eine Schweizer Läuferin, die seit einem Auto-Unfall vor dreißig Jahren ihre Beine nicht mehr normal gebrauchen kann. Daniela hat vor über zehn Jahren in Peru einen Marathon begründet, mit dem Bauern dort geholfen werden soll. Ein Läufer tadelt, daß er die Krücken-Oma zweimal überholt habe. Ein anderer Läufer greift den Begriff auf, ohne sich Gedanken über die "Krücken-Oma" zu machen. Bei einem Lauf wie in Berlin dürfte es auch im hinteren Hauptfeld unmöglich sein, die Strategie einer behinderten Läuferin durchgängig zu beobachten. Daniela läuft in W 50. Ich glaube nicht, daß sie die Strecke abgekürzt hat. Ihre Zeit: 5:43:42 Stunden.

Wer den Ausdruck "Krücken-Oma" gebraucht, ist wahrscheinlich auch sonst nicht sehr feinfühlig. Da muß man sich nicht wundern, daß es beim Berlin-Marathon zu Rempeleien kommt.

Eintragung vom 5. Oktober 09

Was in den im Bundesgebiet verbreiteten Tageszeitungen nur eine Meldung gewesen ist, das haben am Marathonsonntag in Berlin Zehntausende auswärtiger Marathon-Teilnehmer und -Besucher mitgekriegt: den Skandal um die S-Bahn. Für Berlin wie für andere Großstädte ist die S-Bahn das Kernstück der Verkehrs-Infrastruktur. Infolge der Behebung verkehrsgefährdender Mängel an den Zügen sind in Berlin ganze Linien eingestellt worden, darunter die über den Hauptbahnhof führende von Westkreuz bis Alexanderplatz. Der S-Bahn-Verkehr ist auf etwa ein Viertel der Kapazität geschmolzen. Für die Teilnehmer des Berlin-Marathons war eigens eine 12seitige Verkehrsinformation herausgegeben worden. Beobachter des Berliner Verkehrs wollen eine Zunahme des individuellen Autoverkehrs erkannt haben.

Da ich von meinem Hotel in der Nähe der Station Tiergarten von der Stillegung der S-Bahnlinie betroffen war, hatte ich bereits vor der Abreise nach Alternativen gesucht. Die eine wäre gewesen, mit der U-Bahn – 10 Minuten Fußweg – zum Bahnhof Zoo, also in entgegengesetzter Richtung, zu fahren und von dort mit dem Regionalexpreß über die S-Bahn-Station Tiergarten (hätte man dort die Züge nicht halten lassen können?) zum Hauptbahnhof; die andere wäre, mit der U-Bahn wie mit der Kirche ums Dorf zu fahren. Bei beidem hätte ich ein ungutes Gefühl gehabt, weil ich mich vom Ziel noch weiter entfernt hätte. Doch am S-Bahnhof Tiergarten entdeckte ich, daß es zum Hauptbahnhof einen Ersatzverkehr mit Bussen gab, alle zehn Minuten sollte einer vom Bahnhof Zoo über die Station Tiergarten zum Hauptbahnhof verkehren. Ich verließ mich nicht auf den Fahrplan, sondern konsultierte am Abend vor dem Marathon den Fahrer eines Busses. Im Brustton der Überzeugung versicherte er: „Wir fahren rund um die Uhr.“ Am Marathonmorgen wollte ich den Bus um 7.04 Uhr nehmen, verließ das Hotel jedoch so rechtzeitig, daß ich noch den Bus um 6.54 Uhr erblickte. Etwa 100 Meter trennten mich von der Abfahrt, doch der Fahrer ignorierte – na ja, pflichtgemäß – mein Winken. Macht nichts, der nächste Bus mußte bald kommen. Eine Läuferin wartete mit mir. Um 7.04 kam kein Bus, auch um 7.14 Uhr nicht. Die Läuferin entschloß sich, zu Fuß zum Start zu gehen, etwa 3 Kilometer. Ich wartete noch weitere Minuten, dann ergriff mich beträchtliche Unruhe, nun wollte ich es doch nicht mehr darauf ankommen lassen, und auch ich machte mich auf den Fußweg.

So also sah die Vorsorge der S-Bahn-Betriebsverwaltung, mehr noch: so also sah die Vorsorge des Berliner Senats für den Marathon aus, der für Berlin, wie errechnet worden ist, einen zusätzlichen Umsatz von etwa 60 Millionen Euro für Nächtigungen, Essen, Dienstleistungen und Waren generiert hat.

Der Berliner S-Bahn-Skandal hat eine politische Dimension. Eine ältere Läuferin aus dem Ostteil Berlins kommentierte murrend: „Im Sozialismus war das nicht vorgekommen.“ In der Tat, die von der Reichsbahn betriebene S-Bahn wirkte zwar ziemlich heruntergekommen, aber sie funktionierte. Soviel zum vergangenen Tag der deutschen Einheit.

Wir erleben – das ist im Tagebuch schon einmal angeklungen –, daß sich der Staat, die öffentliche Hand überhaupt, immer mehr von Aufgaben für die Gemeinschaft zurückgezogen hat. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Staat, das Deutsche Reich, begonnen, alles an sich zu ziehen, erst die von den Ländern betriebene Post, dann nach dem Ersten Weltkrieg die Eisenbahn. In der Reichspost wie in der Reichsbahn repräsentierte sich der Staat, und er drückte das auch architektonisch aus. Heute wird der Postverkehr in verwinkelten Kramläden abgewickelt. Nicht nur einmal mußte ich vor einem solchen Laden, einer Postagentur, unverrichteter Dinge umkehren, weil ein Zettel an der Tür hing, wonach die Agentur geschlossen sei, oder ich hatte vergessen, daß es Mittwochnachmittag war, und da ist die Agentur immer geschlossen und am Samstag von 11 Uhr an auch. Seit Jahren ist in unserer Stadt ein Stadtteil auf 6800 Einwohner gewachsen, eine Postagentur gibt es hier nicht. Ganz früher ging ich mit einem Paket 200 Meter zum Postamt, jetzt fahre ich mit dem Auto 2 Kilometer weit und stelle es gegenüber der Postagentur auf den Gehweg, weil die Postagenturen häufig keine Parkplätze haben.

Nach der Post hat der Bund seine Eisenbahn zu einer Aktiengesellschaft gemacht, er besitzt zwar die Aktien, aber er trägt keine politische Verantwortung mehr. Die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Eisenbahnzüge ist seit langem schon zum Teufel. Was die Privatisierung und das Schielen auf den Gang des Mutterkonzerns zur Börse angerichtet hat, wird uns nun eindrucksvoll an der Berliner S-Bahn demonstriert. Wohin eine solche Verkehrspolitik führt, hätte man längst in England studieren können.

Statt für die Bürger und ihre Grundbedürfnisse zu sorgen, schickt die Bundesrepublik ihre Soldaten in alle Welt und führt Krieg am Hindukusch. Auch ich will nicht, daß dort Frauen gesteinigt werden. Nur sagt mir meine Lebenserfahrung, daß noch kein Krieg die Verhältnisse im Land verbessert hat. Statt Terrorismus zu verhindern, haben wir ihn uns ins Land geholt.

Eine zentrale Aufgabe des Staates ist das Bildungswesen. Die Gründer der Bundesrepublik haben sie, in Verkennung der Folgen, den Bundesländern zugewiesen. Und dort kocht jede Regierung ihr eigenes Süppchen – mit dem Ergebnis, daß der Anteil der Studenten aus privilegierten Elternhäusern gestiegen ist, statt daß man dem Ziel gleicher Bildungschancen für alle wenigstens ein Stück näher gekommen wäre. Die Studiengebühren haben die Schwelle nochmals erhöht.

Was auf Bundesebene geschehen ist, hat sich in den Ländern und den Gemeinden fortgesetzt, die Vernachlässigung von Gemeinschaftsaufgaben. Statt die Schulen instandzuhalten, haben die Gemeinden unnötige Bauwerke wie Stadthallen, die hohe Folgekosten verursacht haben, errichtet. Statt die Bildung zu fördern, belegen sie Bildungswillige – auch das Lesen eines Unterhaltungsromans bedeutet Bildung, nämlich Leseförderung – mit Gebühren für die Ausleihe aus der öffentlichen Bücherei. Neuerdings erhebt das Land Baden-Württemberg eine nicht geringe Jahresgebühr für die Benützung seiner wissenschaftlichen Bibliotheken, deren Bestände durch Pflichtexemplare von den Verlagen kostenlos aufgestockt werden. Die Straßen nähern sich dem Zustand in der ehemaligen DDR an. Nochmals: Tatenlos haben die Gemeindeaufsichtsbehörden zugesehen, wie kommunale, mit Steuergeldern finanzierte Einrichtungen in die USA verkauft wurden. Seit sich der Katzenjammer eingestellt hat, bemühen sich die Stadtkämmerer, diese krummen Geschäfte rückgängig zu machen. Entweder weigern sich die Käufer oder die Rückabwicklung ist, wie bei der baden-württembergischen Landeswasserversorgung, mit Verlusten verbunden. Andererseits betreiben die Länder wirtschaftliche Geschäfte, die nicht ihre Aufgabe sind. Das Land Baden-Württemberg unterhält eine Staatsbrauerei, deren Chef kein Braumeister, sondern ein Politiker ist, sowie ein Staatsweingut. Das Land ist einer der drei Miteigentümer der Landesbank Baden-Württemberg, deren neuer Chef nun für 1,1 Millionen Euro Gehalt im Jahr die Milliarden-Verluste zu reduzieren versucht. Auf einmal reift dort die Erkenntnis, daß man sich aufs Kerngeschäft beschränken sollte. Mein Mitleid mit den Angestellten, denen gekündigt wird, hält sich in Grenzen; sie sind Teil von Belegschaften, die uns unter dem Vorwand der Beratung verlustreiche Bankprodukte verkauft haben.

Während ich dies schrieb, hat mir einer meiner Leser eine elektronische Nachricht über widersinnige Subventionen geschickt – ein Zeichen dafür, daß Leser dieses Tagebuchs durchaus nicht nur übers Laufen lesen wollen. In einer Geschichte, für Kinder konzipiert, weil eine einfache Ausdrucksweise die Wahrheit nicht verschleiern kann, wird von einem Herrn M. (den Namen lasse ich weg, weil meine Rechtsabteilung unterbesetzt ist) erzählt. Herr M. ließ in Sachsen ein Milchwerk bauen. Das brauchte man zwar nicht, weil es schon zu viele gibt, aber die Europäische Union und das Land Sachsen finanzierten es mit 70 Millionen Euro. 158 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Doch weil es, wie man weiß, zuviel Milch gibt und man keine neuen Milchwerke braucht, schloß Herr M. eines in Niedersachsen, 175 Menschen verloren ihre Arbeit. Der Verfasser der wahren Geschichte, ein Universitätsprofessor, rechnet vor: Herr M. hat 17 Arbeitsplätze weniger geschaffen, als er abgebaut hat. Dafür hat er 70 Millionen Euro bekommen, also fast 4 Millionen Euro für jeden abgebauten Arbeitsplatz.

Da beklagen Medien, daß bei der jüngsten Bundestagswahl die größte Partei die der Nichtwähler gewesen sei. Merken sie und die Politiker noch immer nicht, daß sich hier ein gewaltiger Protest ausdrückt? Daß sich immer weniger Menschen, nicht nur Unterprivilegierte, mit ihrem Vaterland identifizieren. Komme mir keiner mit staatspolitischen Argumenten! Schon in den frühen sechziger Jahren hatte mein Chef, der Herausgeber der „Stuttgarter Zeitung“, Professor Josef Eberle, die Wahlenthaltung als legitimes Mittel des Protestes angesehen. Und dies, obwohl er wegen seiner jüdischen Frau und seiner eigenen Opposition gegen Hitler seine Stellung beim Rundfunk verloren hatte und in einer jungen Demokratie freie Wahlen als überaus hohes Gut ansehen mußte. Doch zu einer Demokratie gehört eben auch, daß man sich nicht an die Wahl-Urne zwingen lassen darf. Ob man damit etwas erreicht, kann diskutiert werden. Doch Nichtwähler, wie geschehen, zu beschimpfen, bedeutet, demokratische Freiheiten in Frage zu stellen.

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