Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 31. März 15

Offen gesagt, am Anfang hielten wir uns – mich eingeschlossen – für die besseren Menschen, gehörten wir doch zu einer kleinen erlesenen Gemeinschaft von Sportkameraden, die in ihrer Aktivität auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden waren. Doch dieser euphorische Zustand, beim Laufen sozial in einer glücklichen Welt zu leben, hielt nicht gar so lange an. Wir mußten erkennen, daß auch wir Läufer nur Menschen sind, Menschen mit Eigenheiten, Unarten, Schwächen. So wie heute auch von Gerichts wegen Kriminalisierte in der Strafanstalt laufen – zum Glück –, gibt es auch Läufer, die auf freiem Fuß kriminell sind. Gemeint ist nicht die „Laufkriminalität“, das betrügerische Verkürzen von Wettbewerbsstrecken. Durch die Medien geht gegenwärtig der Name eines Menschen, der uns in tiefe Bestürzung, Entsetzen und Trauer gestürzt hat.

Das dramatische Ende eines Flugzeuges der Lufthansa-Tochter Germanwings in den französischen Alpen ist nach den sich immer mehr verdichtenden Erkenntnissen der französischen Staatsanwaltschaft willentlich vom Kopiloten verursacht worden. Der Kopilot der A 320 von Barcelona nach Düsseldorf ist Läufer gewesen, ein ganz normaler Läufer (mir liegt seine Zeit vom 9. Frankfurter Lufthansa-Halbmarathon vom 13. März 2011 vor: 1:48 Stunden, im Jahr zuvor 1:34). Wir wußten, daß auch Laufen nicht vor dem Suizid bewahren kann; doch daß ein Lebensüberdrüssiger nicht davor zurückschreckt, 149 ihm anvertraute Menschen mit in den Tod zu reißen, hat unser Vorstellungsvermögen gesprengt.

Laufen kann zwar therapeutisch wirken – auch gegen eine Depression –, aber es ist keine Lebensversicherung. Auch Läufer haben Selbstmord begangen. Ich erinnere mich an einen Fall in Nordhessen; mit dem Betreffenden war ich sogar einige Male gelaufen. Nie hätte ich gedacht, daß er – durch einen Bolzenschußapparat – den Tod suchen würde. Nach der Wiedervereinigung hat sich ein prominenter Läufer aus der DDR umgebracht, offenbar weil er keine Zukunft mehr für sich sah; der Fachbegriff lautet „Bilanzselbstmord“.

Mit der zunehmenden Motorisierung ist das Auto zu einem wenngleich selten beweisbaren Suizidmittel geworden. Ich war jedoch schon als Schüler Zeitgenosse eines Suizidanten, der den Suizid durch einen Autounfall zu verdecken bemüht war. Dem Bannführer in Görlitz, dem örtlich Ranghöchsten in der nationalsozialistischen Jugendorganisation, war vorgeworfen worden, er sei homosexuell. Auf dem Weg zur Zentrale in Breslau, wo er sich rechtfertigen sollte, erschoß er sich während der Autofahrt. Ich erinnere mich, daß offenbar gezielt ein Gerücht über das angebliche Motiv verbreitet wurde; ein Mitschüler, der mir die Todesnachricht übermittelte, flüsterte wie unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit: „Zwei Weiber liegen im Krankenhaus…“ Als ob die Wahl unter zwei gebärenden Frauen ein Suizidgrund wäre…

Bei willentlich herbeigeführten Autounfällen ist es auch schon vorgekommen, daß der Suizidant absichtlich in ein entgegenkommendes Fahrzeug fuhr, sei es, um die Wirkung des Aufpralls zu verstärken, sei es, „um andere mitzunehmen“. Doch sind solche Fälle ziemlich selten. Öfters kommt der „erweiterte Selbstmord“ vor, nämlich die Absicht, Abhängige wie Kinder oder Pflegebedürftige nicht allein zu lassen. Angeblich gibt es unter den jährlich 10.000 Selbsttötungen in Deutschland nur 4 Prozent „erweiterte Selbstmorde“.

Auch mit dem Flugzeug sind schon Suizide begangen worden. Bei solcherart abgestürzten Verkehrsflugzeugen kann man jedoch nur Vermutungen aussprechen. Anders die Katastrophe vom 24. März. Hier ist die Auswertung des Flugschreibers anscheinend schlüssig. Offen wird die Frage bleiben: Was mag sich im Kopf des Kopiloten abgespielt haben? Wie kann jemand auf die ungeheuerliche Absicht kommen, mit dem eigenen Tod den Tod von 149 anderen Menschen herbeizuführen?

In den siebziger Jahren durfte ich den prominentesten Suizidologen, Professor Dr. Erwin Ringel, in Wien zu einem Gespräch besuchen. Ringel hat aus der Untersuchung von 745 Suizidanten, die einen Suizidversuch überlebt haben, das „präsuizidale Syndrom“ entwickelt. Danach kommt es bei jemandem, der den Tod sucht, zu drei Entwicklungsstufen: der Einengung, der Aggressionsumkehr und schließlich zu Suizidphantasien. Unter „Einengung“ verstand Ringel die Reduzierung von menschlichen Wahlmöglichkeiten, entweder nur in der Vorstellung des Betreffenden oder in der Realität. Der Suizid erscheint dann als die einzige Möglichkeit der Problemlösung. Aggressionsumkehr bedeutet, daß sich eine vorhandene Aggression, häufig eine starke, aber gehemmte Aggression, am Ende gegen den Betreffenden selbst richtet. Die Suizidphantasien schließlich entspringen einer Scheinwelt, in die sich der Suizidant flüchtet, so daß er nur noch den Tod als Ausweg sieht.

Ich kann mir vorstellen, daß die Aggressionsumkehr beim Kopiloten nicht vollständig war. Es blieb vielleicht, denke ich, noch ein hohes Maß an Aggression gegen andere. In der Einengung seiner Gedankenwelt, in die möglicherweise auch reale Befürchtungen wegen einer psychischen Erkrankung oder einer Sehbehinderung hineinflossen, spielte der Tod von 149 anderen Menschen keine Rolle mehr. Das jedoch sind meine laienhaften Überlegungen.

Wem der Name des Suizidforschers Ringel (1921–1994) nichts sagt: Er war, was in Österreich viel bedeuten will, ein entschiedener Gegner der Nazis, die ihn auch vorübergehend festnahmen. Er habilitierte sich, gründete das erste Selbstmordforschungszentrum der Welt, schrieb an die 20 Bücher und brachte dabei mit seinem Buch „Die österreichische Seele“ weite Teile der tonangebenden Gesellschaft gegen sich auf. Doch das kritische Buch ist vor Jahren schon in 13. Auflage erschienen.

Bei meinem Besuch in Wien habe ich versucht, bei ihm, dem körperbehinderten Professor, und seinem Assistenten Dr. Gernot Sonneck Interesse an psychischen Vorgängen beim Laufen zu wecken. Doch das lag wohl zu stark abseits seiner Arbeitsgebiete, und Sonneck war Radfahrer. Es war in den siebziger Jahren ungewöhnlich, daß ein Arzt alle Wege in der Stadt mit dem Fahrrad zurücklegte und das Rad abends im Korridor seiner Wohnung abstellte. Professor Sonneck hat Ringels Arbeit weitergeführt; auch er ist jetzt emeritiert.

Wer da meint, nun hätte ich mich allzu sehr von meinem Thema entfernt, dem sei entgegengehalten: An den Schnittstellen von Mensch und Maschine hat sich allemal der Mensch als das schwächere Glied erwiesen. Man kann daher gar nicht genug tun, nicht allein auf die Technik zu vertrauen und jede Gelegenheit zu nutzen, Licht in die düsteren Windungen des menschlichen Geistes zu tragen.

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Eintragung vom 24. März 15

Nun stehe ich nicht mehr allein – mit meinem vor Jahren schon erörterten Vorschlag, die Laufbewegung möge sich vom DLV trennen und sich auf eigene Füße stellen (www.laufen-und-leben.de, Essays). In einem nur muß ich mich korrigieren: Ich hatte das Zerflattern eines „Läuferbundes“, zu dem es Lauffreunde aus der DDR nach der Wiedervereinigung Deutschlands gedrängt hatte, als gescheiterte Vision bezeichnet und damit den Eindruck der Endgültigkeit hervorgerufen. Es gibt jedoch Indizien dafür, daß jetzt auch andere Läufer die Gründung eines Verbandes und damit die Loslösung der Läufer vom DLV für möglich halten. Die Verfasserin eines Beitrags in den „Kieler Nachrichten“, Karin Jordt, eilt dabei mit dem Teil einer Überschrift der Realität weit voraus: „Neue Verbandsgründung geplant“.

Dies habe ich der Website von germanroadraces.de vom 19. März entnommen. Karin Jordt hat danach in den „Kieler Nachrichten“ über den Widerstand gegen die „Lauf-Maut“ des DLV berichtet, aufgehängt an der Kritik aus den Reihen der Organisation des Krooger Waldlaufs. Dabei handelt es sich um eine jener Veranstaltungen, die von der Erhöhung der DLV-Zwangsabgabe auf 1 Euro je Finisher besonders betroffen sind, einen Lauf mit dem Kern eines 10-Meilen- und eines 10-Kilometer-Laufs in Kiel. Er wird am 31. Mai zum fünften Mal ausgetragen. Bisher haben die Veranstalter 25 Cent je Finisher an den DLV überwiesen. Gegen die Vervierfachung der Gebühr hat der Hauptverantwortliche für die Organisation des Krooger Waldlaufs, Thorsten Schmidt-Didlaukies, heftig protestiert.

Ich zitiere ihn aus der Website von germanroadraces.de: „Wir Volkslaufveranstalter haben über diesen Konflikt erkannt, daß wir den Deutschen Leichtathletikverband (DLV) im Kern für die Durchführung unserer Veranstaltungen nicht mehr brauchen. Wir können ohne Kostensteigerung ohne weiteres einen neuen Volkslaufverband bilden.“ Dieser Meinung, schreibt die Berichterstatterin in den „Kieler Nachrichten“, hätten sich mittlerweile bundesweit zahlreiche Veranstalter von Volksläufen angeschlossen und planten die Gründung eines eigenen Verbandes. „Wir werden unseren Lauf im nächsten Jahr nicht beim DLV anmelden“, habe auch Jens Meier vom Lauftreffverein Kiel-Ost, Organisator des Ostufer-Fischhallen-Laufs, angekündigt. Der Verein sei wegen der Gründung eines neuen Verbandes bereits mit vielen anderen Laufveranstaltern im Gespräch.

In meinen Ohren klingt das ganz gut; doch ich mache mir nichts vor, vom Protest zur Absicht und von ihr zur Realisierung ist ein weiter Weg. Mag also sein, daß eine Anzahl von Volkslauf-Veranstaltern nun an die Gründung eines Läuferverbandes denkt, so wie ich ja schon vor Jahren daran gedacht habe. Außer den Ordnungsämtern brauchen wir keine Genehmigungsbehörde. Kein Läufer wird seine Teilnahme davon abhängig machen, ob die ausgewählte Veranstaltung das DLV-Zeichen „Genehmigter Volkslauf“ trägt. Er läuft auch eine Marathonstrecke von 43,5 Kilometern statt 42,195, er läuft den Swiss Alpine, auch wenn die Streckenlänge nicht präzise vermessen ist, er läuft den Spartathlon oder eine der vielen anderen Strecken, in die der Arm des DLV nicht reicht. Die Altersklassen hat der DLV nicht erfunden, sondern übernommen und beschlossen. Kein Veranstalter muß sie übernehmen, er hat dann vielleicht nur keinen „genehmigten“ Lauf. Ein unabhängiger Läuferverband kann internationale Beziehungen genauso unterhalten wie der DLV. Die Sieger der großen Marathons, Ultramarathons und Bergläufe stehen uns näher als die letztjährigen Deutschen Meister.

Ich zweifle nicht im mindesten daran, daß all die enthusiastischen Volksläufer mit fliegenden Fahnen zu einem Läuferverband eilen würden. Doch ich zweifle daran, daß sich Frauen und Männer finden, die das Heft in die Hand nehmen, den Verband gründen und in ihm organisatorisch arbeiten würden. Läufer wollen laufen, und wenn sie schon organisieren, dann muß es eine thematisch oder regional überschaubare Unternehmung sein.

Das ändert jedoch nichts daran, daß wir den Gedanken einer Laufverbandsgründung nicht aufgeben sollten. Wenn die große Aktion nicht gelingt, so sind es vielleicht die kleinen Schritte, die zum erhofften Erfolg führen. Ein Schritt wäre schon einmal sich zu überlegen, ob wir unbedingt bei einem „genehmigten Volkslauf“ starten müssen.

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Eintragung vom 17. März 15

Den Griechen wird vorgeworfen, sie hätten jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Abgesehen davon, daß dies – nach meinem seit 1975 zehnmaligem Besuch Griechenlands – auch meine Meinung ist; über unsere Verhältnisse haben sicher auch wir in der Bundesrepublik gelebt. Nur daß wir uns das eher leisten konnten. Ich denke an überflüssige und nicht genügend reflektierte Baumaßnahmen. Wenn man nur alt genug ist, kann man sich an alles erinnern. Dazu eine Anzahl Beispiele aus meiner Umgebung. Leser mögen sich an den für sie fremden Ortsnamen nicht stören; es kommt auf die Charakteristik der Fälle an.

In Neuhausen auf den Fildern, 4,5 Kilometer von meinem Wohnort, wird gegenwärtig ein großer Baukomplex geschleift, die Sparkassenakademie. Dabei war diese bereits eine Notlösung gewesen. Denn an jener Stelle war Anfang der siebziger Jahre ein Hallenbad geplant und zum Teil errichtet worden. Doch während der Bauarbeiten tauchten Bedenken auf, denn wenige Autominuten entfernt entstanden weitere Hallenbäder. Da entschloß sich die Gemeinde Neuhausen, lieber das Freibad zu erneuern und das im Bau befindliche Hallenbad umzuwidmen. Die Sparkassen-Finanzgruppe Baden-Württemberg kaufte das Projekt und errichtete aus dem Hallenbad die Sparkassenakademie als zentrale Bildungseinrichtung. Nur die Lage draußen im Grünen, gegenüber meinem einstigen Trainingsgebiet, dem Sauhag, war in zunehmendem Maße nicht gerade zentral. Vom Stuttgarter Hauptbahnhof mußte man 30 Minuten mit der Stadtbahn fahren und dann für 10 bis 15 Minuten ein Taxi nehmen. Da die weitaus meisten Akademiebesucher mit der Bahn kommen und die Zahl der eintägigen Kurse erhöht worden ist, errichtete die Sparkassen-Finanzgruppe am Stuttgarter Hauptbahnhof, bei dem dank Stuttgart 21 große Flächen frei geworden sind, für etwa 85 Millionen Euro ein neues Akademiegebäude. Wir haben‘s ja. Das alte hätte für etwa 20 Millionen Euro erneuert werden müssen; die Brandschutzbestimmungen und die energetische Sanierung hätten dies erfordert. Wir lernen: Nach weniger als 40 Jahren ist ein Neubau Schrott. Das Akademiegelände in Neuhausen ging an die Gemeinde zurück.

Doch was macht man mit einem Gebäudekomplex samt 220 Betten? Denn der Gemeinderat hat erst 2013 bestätigt, daß das 5,4 Hektar große Akademieareal planungsrechtlich ein „Sondergebiet“ sei, das nicht für die Wohn- oder Gewerbebebauung zugelassen sei. Nun geht auf einmal, was vordem unmöglich gewesen wäre: Wohnungen bauen. Das Siedlungswerk Stuttgart wird hier 700 bis 800 Menschen Heimat bieten. Wir lernen: Wenn es für die Gemeinde darauf ankommt, geht alles.

Mein Wohnort Ostfildern ist ein Verwaltungszusammenschluß von vier ehedem selbständigen Gemeinden. Drei davon hatten den Anspruch erhoben, ein Hallenbad zu besitzen. Zwei davon bauten es Mitte der siebziger Jahre im Abstand von 2 Kilometern ungefähr gleichzeitig. Ein Lehrschwimmbecken in meinem Ortsteil gab es obendrein. Und die Jugend- und Sportleiterschule hat ebenfalls eine Schwimmhalle, wenngleich nicht für die Öffentlichkeit. Nach dem Zusammenschluß zu Ostfildern wurde als erstes das Lehrschwimmbecken umgewidmet. Für das Hallenbad in Ostfildern-Ruit – jährlicher Zuschußbedarf etwa 300.000 Euro – war später kein Geld da. Ein privater Verein übernahm den Betrieb der Anlage; dann jedoch waren seine Mittel aufgebraucht. So kam es, daß das Hallenbad noch keine 40 Jahre nach der Eröffnung abgerissen worden ist. Gegenwärtig wird auf dem Gelände für etwa 10 Millionen Euro eine Schule gebaut, weil man sich damit die Erneuerung einer anderen ebenfalls in der Nachkriegszeit errichteten Schule ersparen kann.

Das älteste Hallenbad ist nur sehr eingeschränkt benutzbar. Aus dem Hallenbad im Zentralort ist die Sauna entfernt worden. Gespart wird an der Heizung.

Die Stadthalle, gebaut Ende der siebziger Jahre, ist mit gewaltigem Aufwand umgebaut worden; sie dient nun als Mensa, als Restaurant, als Stadtbücherei und als Versammlungsstätte. Die Halle der eingestellten Straßenbahn kann seit dem Umbau ebenfalls Versammlungen aufnehmen. Dazu ist vor einigen Jahren ein „Stadthaus“ gebaut worden; der „Wasservorhang“ an dem mit einem Architekturpreis ausgezeichneten Gebäude ist alsbald stillgelegt worden. Der Kindergarten, der an unser Gärtchen angrenzt und in dem viele Jahre unbenützte Räume als Wohnraum vermietet worden sind, ist nach etwa 35 Jahren abgerissen und durch einen Neubau ersetzt worden.

Ein Bach, die Körsch, ist denaturiert worden. Seit einiger Zeit werden diese Baumaßnahmen im Sinne des Umweltschutzes rückgängig gemacht.

Blicken wir nach Esslingen am Neckar, der Nachbarstadt meines Wohnorts! Da ist vor Jahren die in den siebziger Jahren errichtete Stadthalle abgerissen worden; an ihrer Stelle steht nun ein Kongreßzentrum mit Hotel. Eine aufwendige Fußgängerbrücke – auch sie in den siebziger Jahren gebaut – ist wegen zu hoher Schäden stillgelegt, eine andere Fußgängerbrücke schlicht abgerissen worden. Brücken über den Neckar, über die verkehrsreiche Straßen führen, haben sich als erheblich schadenbehaftet erwiesen. Das Problem der Sanierung oder des Neubaus ist noch ungelöst. In einem Esslinger Teilort ist das „Zentrum Zell“, eine Versammlungsstätte, die wahrscheinlich die seinerzeitige Eingemeindung schmackhaft machen sollte, abgerissen worden. Der Abriß einer weiteren Halle in einem anderen Teilort ist zumindest erwogen worden.

Was lehren uns diese Beispiele? Kommunen, nämlich Verwaltungen und Gemeinderäte, blicken nicht in die Zukunft. Manchmal – wirklich nur manchmal – ist das auch gar nicht möglich, wie zum Beispiel beim Stuttgarter Fernsehturm, der für Besucher geschlossen ist, weil der Brandschutz der fünfziger Jahre nicht mehr ausreicht, oder bei den Feuerwachen, die an die heutigen Erfordernisse angepaßt werden mußten. Verkehrslösungen im Sinne einer „autogerechten Stadt“ sind vielfach rückgängig gemacht worden. Verkehrsplanern ist eingefallen, daß die jahrelang angelegten Haltestellenbuchten für Autobusse Fußgänger in Gefahr bringen; also sind die Straßenführungen wieder geändert worden. Jahrelang waren Kreisverkehrslösungen in Deutschland vielfach für unzweckmäßig gehalten worden; jetzt sind sie zweckmäßig.

Alle Baumaßnahmen haben Geld gekostet, ihr Abriß oder ihre Änderung ebenfalls; die dritte Ausgabe betraf dann den Neubau. Als in den siebziger Jahren Hallenbäder und Versammlungshallen gebaut worden sind, hat keiner daran gedacht, daß jedes Bauwerk Unterhaltskosten verursacht und die Zeiten auch einmal schlechter werden könnten.

Die nächste Lehre: Mißtrauisch sein gegen Fachleute! Sie haben uns den Beton schmackhaft gemacht und Asphalt verwendet, den wir nun um jeden Preis aufspüren und vernichten. Jetzt stellt sich heraus, daß der Spannbeton eben nicht für die Ewigkeit haltbar ist – nicht einmal für vierzig Jahre. Gut, daß der Kölner Dom oder das Ulmer Münster nicht aus Beton errichtet werden konnten.

Eintragung vom 10. März 15

Es wäre an der Zeit, die jahreszeitlichen Veränderungen an der Strecke zu beschreiben, und zwar fast jeder Trainingsstrecke, das allmähliche Abschmelzen der Schnee- und Eisreste, die ersten Schneeglöckchen. Die folgenden weiteren Frühlingsblüher muß ich mir mangels botanischer Kenntnis – Schande! – ersparen. Die ersten „kurz“ laufenden Läufer gesehen und immer mehr Hochaltrige, die wie ich vorgeben zu walken, nur daß sie zum Ausweis dessen Stöcke mit sich schleifen.

Eine meiner letzten Trainingsrunden war in anderer Hinsicht bemerkenswert. Mehrfach muß ich relativ belebte Straßen überqueren. Bei der ersten Überquerung gibt es eine Insel für Fußgänger, damit man dort den Verkehr der anderen Richtung abwarten kann; ein Überweg ist nicht gekennzeichnet. Ich hatte also die eine Fahrbahn überquert und wartete auf der Fußgängerinsel auf die nächste Lücke im Fahrzeugverkehr der Gegenrichtung. Doch bereits das erste Fahrzeug minderte die Geschwindigkeit und hielt. So etwas kommt schon öfter vor. Doch der Fahrer holte am Lenkrad zu einer weit ausholenden Armbewegung aus – keine kurze Geste, erst recht kein Befehl „Nun mach‘ schon!“ Nein, eine freundliche intensive Einladung. Sie wirkte wie eine Gebärde der Hochachtung. Ob es daran lag, dass ich über dem Trainingsanzug einen Mantel trug und auf dem Kopf eine Baskenmütze? Vielleicht hätte man in mir einen Franzosen oder Spanier vermuten können? Und zu denen ist man höflich. Die Geste kam auch nicht aus einem üppigen Oberklasse-Modell, das gewöhnlich von einem gut erzogenen Oberschicht-Angehörigen befehligt wird, sondern aus einer unauffälligen Mittelklasse. Wie auch immer – es war überraschend. So überraschend, daß ich es im Tagebuch festhalten muß. Höfliches Signalisieren des Vortritts kommt zwar immer wieder einmal vor – ich meine, daß sich hier im deutschen Straßenverkehr einiges geändert hat –, aber diese großzügige geradezu ehrerbietige Aufforderung, die Straße zu passieren, habe ich zuvor noch nie erlebt. Bin ich schon so alt?

Wie der Zufall es wollte, – das Gegenstück, der Ausdruck höchstmöglicher Muffigkeit, folgte nur einen Kilometer später. Ich begegnete einer Hundehalterin, die ihren Hund frei laufen ließ. Der Hund, einer von der kleineren Sorte, näherte sich mir; ein Zuruf der Halterin blieb unbeachtet. Meine Gehgeschwindigkeit ist ohnehin nicht hoch. Vorsichtshalber blieb ich stehen; die Erfahrung von zwei Hundebissen veranlaßt mich in solchen Fällen dazu. Der Hund wich nicht von mir, die Rufe der Halterin verhallten. Erst als die einige Meter entfernte Halterin sich umgewandt hatte und auf den Hund zukam, bequemte sich dieser, sich von mir zu entfernen. Die Halterin setzte ebenfalls ihren Weg fort; das „Weiter!“ galt dem Hund. Für mich hatte sie kein Wort, keine Entschuldigung, keine Ausrede, nicht mal „Er will nur spielen“ – nichts. Das wurmte mich. Ich rief ihr nach: „Entschuldigung, daß ich stehenbleiben mußte!“ Ob sie die Ironie kapiert hat? Wenn nicht, so habe doch wenigstens ich damit ein wenig Luft abgelassen, auch wenn mich der Vorfall noch einen Kilometer lang – und jetzt auch wieder – beschäftigte.

Ich habe ja nichts gegen Hunde – nur man sieht ihnen selten an, ob sie gleichgültig zu Passanten sind oder nur neugierig oder vielleicht doch heimtückisch. Den Menschen sieht man es auch nicht an.

Eintragung vom 3. März 15

Für die Kulturteile aktueller Medien ist’s ein Ereignis: die Ausstellung über Oskar Schlemmer in der Staatsgalerie Stuttgart. Ein Ereignis schon deshalb, weil der Maler Oskar Schlemmer – versuchen wir’s witzig – der vielleicht unbekannteste unter den bekannten Künstlern der Bauhaus-Zeit ist. Erst nach bald vierzig Jahren seit der letzten ist eine umfassende Ausstellung, nämlich die in Schlemmers Geburtsort Stuttgart, zustandegekommen. Das hat seinen Grund darin, daß Rechtsstreitigkeiten mit den Erben die Museen vor dem Wagnis zurückschrecken ließen. Nach Ablauf der Urheberfrist, siebzig Jahre nach dem Tod eines Urhebers, hat jedoch sogar das Museum of Modern Art in New York sein Schlemmer-Bild, das es 1933 als erstes von Schlemmer ins Ausland verkauftes Bild erworben hat, für die Stuttgarter Ausstellung ausgeliehen; es ist Schlemmers wahrscheinlich berühmtestes Bild, die Bauhaustreppe, sieben junge Menschen von hinten auf einer schmucklosen Treppe zeigend.

 

Falls jedoch nun im LaufReport die Leserstimmen „Thema verfehlt!“ zum Chor anschwellen, sei darauf hingewiesen, daß Schlemmer durchaus eine Beziehung zum Sport gehabt hat, nicht nur dadurch, daß er selbst Sport trieb und bei der Erziehung seines Sohnes Leonid Wert auch auf dessen körperliche Bildung legte. Auch das macht die Stuttgarter Ausstellung, die den Rang einer Landesausstellung hat, deutlich.

Zuvor noch eine Einordnung: „Mit der Großen Landesausstellung Oskar Schlemmer Visionen einer neuen Welt würdigt die Staatsgalerie Stuttgart einen wegweisenden Pionier der Klassischen Moderne“, schreibt der baden-württembergische Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, im Grußwort zum Katalog, der im Grunde ein Kompendium über Schlemmer ist. „Durch den weltweit größten Bestand an Werken Schlemmers in einem Museum und das hier angegliederte Schlemmer-Archiv ist die Staatsgalerie prädestiniert und verpflichtet, dieses Oeuvre immer wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu machen und die Früchte dieser Arbeit der Öffentlichkeit zu präsentieren. Auf dieser Grundlage hat die wissenschaftliche Leiterin der Staatsgalerie, Ina Conzen, über Jahre hinweg an Schlemmer gearbeitet“, äußert Christiane Lange, die Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart.

Die Ausstellung schlägt einen großen Bogen; sie umspannt Wirken und Bedeutung Schlemmers (1888-1943) als Maler der verschiedensten Varianten, Skulpteur, Wandgestalter und Bühnenkünstler. Sie soll „die visionäre Leistung dieses Pioniers eines modernen, Technik und Kunst, Mensch und Zivilisation, Körper und Geist versöhnenden Weltverständnisses würdigen. Und auch die Tragik dieses Weltverständnisses“, das dem Totalitarismus der Nazizeit kaum etwas entgegensetzen konnte. Schlemmers Briefe dokumentieren den tiefen Zwiespalt, dem er sich ausgesetzt sah und der vielleicht zu seinem frühen Tod führte; Bilder von ihm wurden als „entartete Kunst“ klassifiziert, andererseits bemühte er sich, bei den Nazis gut Wetter zu machen.

Eine der sechs Sektionen der Ausstellung lautet: „Der Mensch: Sportler und kosmisches Wesen“. Es spiegelt sich – so läßt uns der Katalog wissen – „hier deutlich wider, daß Schlemmers körperliches Ideal sich zunehmend nicht allein auf die großen kunsthistorischen Prototypen, sondern auch auf die Lebensreformbewegungen bezog, die nach der Jahrhundertwende als körperbezogener Gegenentwurf zu Industrialisierung und Mechanisierung aufgekommen waren. Die Leibesertüchtigung, die während der Weimarer Republik immer mehr zu einer breiten Volksbeschäftigung geworden war und in Massenveranstaltungen zelebriert wurde, spielte auch im Bauhausunterricht eine wichtige Rolle“. Die unbekleideten Körper sind gleichermaßen sowohl vom Naturalismus als auch von der Abstraktion entfernt; sie scheinen in einem Dialog zu stehen, und sie betonen das Kollektiv. Eine Vision?

Die Ausstellung, die ausführlich auch Schlemmers Bühnen-Ambitionen darstellt, ist täglich außer montags bis zum 6. April 2015 geöffnet.

Eintragung vom 24. Februar 15

Meine Reaktion ist: Gähnen. Doch im Internet rührt sich einiges, voran der „Spiegel“: „US-Mediziner geben Entwarnung bei Cholesterin“. Na, also.

Meine bescheidene Geschichte: Das Jahr 1981 brachte mich dazu, mich mit Dr. Max Otto Bruker zu beschäftigen; ich las fortan von ihm ein Buch nach dem anderen. Zwar hätte ich das einige Jahre früher haben können, als Hans Jürgensohn die beiden Ernährungskontrahenten Ernst van Aaken und Max Otto Bruker in einer Diskussionsveranstaltung zusammenführte (die „Condition“ hat seinerzeit darüber berichtet) und wiederum etwas später eine Kollegin, eine Graphikerin, die sich mit Naturheilweisen beschäftigte, mich auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Aber erst der Deutschland-Lauf, den Professor Klaus Jung 1981 auf Initiative von Gisela Requate nach den Prinzipien der Brukerschen Vollwertkost organisierte, weckte in mir das starke Informationsbedürfnis.

  Um zum Thema zu kommen: Ich erfuhr, als ich mich danach zum Gesundheitsberater (GGB) – Gesellschaft für Gesundheitsberatung – ausbilden ließ, daß Cholesterin keineswegs das Schreckgespenst ist, als das pharmazeutische und Lebensmittel-Industrie es ausgaben. In meinem Bücherregel steht seit 1991 von Dr. med. M. O. Bruker und Ilse Gutjahr „Cholesterin der lebensnotwendige Stoff. Der Cholesterinrummel und seine Hintergründe. Cholesterin macht nicht krank. Cholesterin – keine Gefahr für Leib und Seele“ (10. Auflage, 2011). Ich habe jetzt wieder darin geblättert. Dr. Bruker, der schon die Zuckerindustrie gegen sich aufgebracht hatte, hat bereits vor Jahrzehnten die Rolle des lebensnotwendigen Cholesterins dargestellt – in Antworten auf Patienten-Anfragen und schließlich in seinem Buch. Dies zu einer Zeit, in der Ärzte massenhaft Cholesterin-Senker verschrieben und die Lebensmittel-Industrie sich nicht genug damit tun konnte, in der Werbung für bestimmte Produkte, insbesondere Margarinesorten, darauf hinzuweisen, wie „cholesterinarm“ diese seien. Andere kritische Bücher wie „Der große Cholesterin-Schwindel“ von dem Australier Anthony Colpo und „Die Cholesterin-Lüge“ von Prof. Dr. Walter Hartenbach folgten erst Jahre nach Brukers Buch.

Als ich bei meinem neuen Hausarzt – er hatte sich gerade erst niedergelassen – meinen ersten Gesundheitscheck machte, war er ganz zufrieden – bis auf das nach seiner Meinung zu hohe Cholesterin. Ich winkte ab. Jahrelang ging das so. Allerdings habe ich in den letzten Jahren den Eindruck gehabt, als habe er meinen Cholesterin-Gehalt – um 240, aber auch schon mal 275 – akzeptiert. Er verlor kein Wort darüber. Möglicherweise war ihm nicht entgangen, daß inzwischen eine Diskussion über Sinn und Unsinn einer Cholesterin-Senkung eingesetzt hatte, beginnend in den USA, wo ja auch der Cholesterinrummel begonnen hatte.

Beim nächstenmal werde ich meinen Doktor ansprechen, denn nun ist es heraus: „Jetzt aber machen US-Experten in ihren Empfehlungen eine Kehrtwende: Sie schätzen Cholesterin aus Lebensmitteln nicht mehr als Gefahr für die menschliche Gesundheit ein. Künftig soll in den offiziellen Ernährungsratschlägen des Landes nicht mehr vor Speisen mit hohem Cholesteringehalt gewarnt werden.“ Bisher stehe, so schreibt der „Spiegel“ (spiegel.de vom 20. Februar), in den Ernährungsrichtlinien die Empfehlung, täglich nicht mehr als 300 Milligramm Cholesterin zu sich zu nehmen, was etwa dem Gehalt von gut hundert Gramm Butter oder zwei kleinen Eiern oder einem 300 Gramm schweren Steak entspreche. Der Direktor der Helios-Klinik für Gastroenterologie in Wuppertal, Christian Prinz, kommentierte laut „Spiegel“, es sei zumindest für gesunde Menschen quasi unmöglich, Cholesterin über die Nahrung überzudosieren. Na also. Genau darauf hatte Max Otto Bruker, damals Klinikleiter, vor Jahrzehnten hingewiesen.

Einer, der den Cholesterinrummel wissenschaftlich unterfüttert hatte, der renommierte Professor Gotthard Friedrich Schettler (u. a. Großes Bundesverdienstkreuz, Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft, Dr. h. c. mult.), hat diese Wende nicht mehr erleben können. Bruker schrieb: „Der Cholesterinrummel macht deutlich, wie weit die Gesundheit der Bevölkerung abhängig ist von den zeitbedingten Launen, dem Kenntnisstand und der Bestechlichkeit einzelner ,Wissenschaftler‘.“ Die Zeitschrift „Öko-Test“ schob später mit einer eigenen Untersuchung nach: Das verteufelte Cholesterin ist … kein Herzkiller. Die angebliche Gefahr, die Millionen Menschen das Essen verleidet hat, tauge nicht viel als Risikofaktor. Die Anti-Fett-Aktion von Prof. Volker Pudel, die „Pfundskur“ – mit Beteiligung der AOK –, ist vergessen. Es folgte die „Ehrenrettung“ des Fettes zu Lasten der Kohlenhydrate.

Bei all diesen Diskussionen wird jedoch meistens versäumt, bei den Produkten die Qualität sowohl von Fetten als auch von Kohlenhydraten zu werten. Auch hier hat Dr. Bruker die Lösung präsentiert, die von der Gesellschaft für Gesundheitsberatung in Publikationen und Ausbildung verbreitet wird: Allein eine vollwertige Ernährung (was vollwertig ist, hat Prof. Werner Kollath in seiner „Ordnung unserer Nahrung“ definiert) gewährleistet eine gesunde Ernährung.

Photo: Sonntag

Siehe dazu auch 2 Leserzuschriften sowie Werner Sonntags Klarstellung

Eintragung vom 17. Februar 15

Das Buch ist noch nicht geschrieben, eine wissenschaftliche Arbeit liegt nach meiner Kenntnis nicht vor. Wir müssen uns behelfen. Was sind Fun Runner? Nein, nicht die speziellen in Gladbeck. In engerem Sinne sind wohl die meisten von uns Fun Runner. Wir streben vielleicht zwar die Verbesserung der persönlichen Bestzeit an, aber häufig sind wir in einem Alter, in dem das nicht mehr möglich ist. Außerdem melden wir wahrscheinlich auch bei Laufveranstaltungen, bei denen uns von vornherein klar ist, daß wir dort wegen der Höhenmeter, der Wegbeschaffenheit oder schlicht wegen eines Unwettereinbruchs keine gute Zeit erreichen werden.

In engerem Sinne – so meine Definition – geben sich Läufer als Fun Runner durch Kostümierung zu erkennen. Wir sind – Helau! – beim aktuellen Thema. Wie ist es zur Kostümierung von Läufern gekommen? Ich muß die Antwort schuldig bleiben. Ich kann nur meine Beobachtungen aus fast einem halben Jahrhundert Laufgeschichte zusammentragen.

Der erste, der mir ob seines Auftretens bei deutschen Volksläufen auffiel, war Alfred Pohlan. Er lief grundsätzlich in einem Tigerhöschen, gegen das Herrenbadehosen von heute durch Stoffverschwendung auffallen. Dazu Laufschuhe, sonst nichts. Ich erinnere mich an einen Olympia City Marathon im April 1985 in München, bei dem Schneeflocken über Pohlans muskulären Oberkörper tanzten. Alfred Pohlan war ein Münchner Architekt, der es sich leisten konnte, seine Steckenpferde, unter anderem das Motorradfahren, exzessiv zu reiten. Auf Volksläufen ließ sich dieser „Tarzan“ von einer Jane im Tiger-Badeanzug begleiten, die er sich vorher ausgesucht hatte. Alfred Pohlan kommt das Verdienst zu, 1977 als Vorsitzender des Jahn München den ersten jedermann zugänglichen Marathonlauf in München, den Oktoberfest-Marathon, ins Leben gerufen zu haben.

 

Die ersten kostümierten Läufer habe ich nach meiner Erinnerung 1978 beim New York-Marathon gesehen; einer zum Beispiel hatte sich als Freiheitsstatue verkleidet. Damals tauchten hier auch schon zwei Schweizer Läufer in Tracht und mit Kuhglocke auf. Offenbar hat sich die Kostümierung mit der Entwicklung des City-Marathons – in Deutschland von 1981 an – verbreitet. Verschiedentlich nutzten Firmen Laufveranstaltungen zur permanenten Werbung; sie ließen einen Läufer sich als ihr Produkt darstellen.

Ich denke, dass es auch zur Beeinflussung durch Cheerleader-Groups gekommen ist. Warum sollten beim Honolulu-Marathon nur Mädchengruppen am Streckenrand kostümiert posieren? Dieser Marathon, den ich 1984 gelaufen bin, ist mir ebenso wie der London-Marathon im selben Jahr einschlägig in Erinnerung; da liefen nicht nur wenige Einzelne verkleidet mit.

Möglicherweise haben auch rheinische Karnevalsbräuche eine Wirkung auf die deutsche Laufszene gehabt. Allerdings, närrische Dreigestirne in Laufschuhen habe ich nicht gesehen. Auch die schwäbisch-alemannische Fasnet habe ich bei Laufveranstaltungen nicht entdecken können, was wahrscheinlich auch mit der jeweiligen Jahreszeit zusammenhängt. Ganz sicher jedoch haben sich Läufergruppen in den Fasnachtstagen (Fasnacht ohne t, weil das Wort von „Fasenacht“ herrührt und nicht vom Fasten) kostümiert zum Laufen getroffen. In Wien habe ich das 1985 im Prater erlebt.

Im Jahr 1985 ist die Kostümierung gewissermaßen institutionalisiert worden; da wurde der erste Médoc-Marathon veranstaltet. Von den sechs Initiatoren waren vier Mediziner. Sie wollten eine Veranstaltung schaffen, die nicht nur sportlich orientiert war, sondern ebenso die Gesundheit, die Gastlichkeit und das Feiern betonen sollte. Der Gesundheit dient seit einigen Jahren ein Fachkongreß für Mediziner. Gastlichkeit und Feiern, beides von vornherein geplant, haben sich weltweit als Attraktion erwiesen. Die Weingüter, die auf dieser Strecke passiert werden, bieten Proben an, und zwar nicht die schlechtesten. Der Médoc-Marathon ist wahrscheinlich der erste Lauf, bei dem den Teilnehmern die Verkleidung empfohlen worden ist. Die Mehrzahl hält sich daran. Es ist im Grunde ein karnevalistischer Lauf, bei dem es nur für eine kleine Elite um Bestzeiten geht.

 

Dennoch, man sollte sich nicht täuschen. Auch wenn die Weinproben keineswegs Besäufnisse sind, als die sie der „Spiegel“ einmal dargestellt hat, – der kennerische Genuß der Proben, auch mal vielleicht ein Tänzchen zwischendurch, das Vergnügen, einen Marathon ohne Leistungsdruck zu laufen, erfordern Zeit; mehr als sechseinhalb Stunden bis zum Zielschluß gibt es nicht. Der Médoc-Marathon ist das Modell für den Trollinger-Marathon in Heilbronn gewesen, den alle zwei Jahre veranstalteten Marathon Deutsche Weinstraße und den Bottwartal-Marathon. Die Atmosphäre des Médoc wird jedoch von keinem anderen der genannten Läufe erreicht. Da die Zahl der ausländischen Teilnehmer stark limitiert ist, empfiehlt sich die Anmeldung ein Jahr vorher.

Im Jahr 1988 ist bei uns ein Markenartikel entstanden, da lief Michel Descombes seinen ersten Marathon in Verkleidung.

 

Michel, ein Franzose, der im Alter von 28 Jahren nach Frankfurt am Main kam, ursprünglich ein Weitspringer, hatte 1984 zum Marathon gefunden. Obwohl er ein guter Läufer war – auf Anhieb 3:23 Stunden, persönliche Bestzeit 2:54 Stunden – , genügte ihm der Leistungscharakter nicht; er betätigte sich als „Animateur“. 1988 lief er in Berlin erstmals in einem frankophilen Kostüm, das die Zuschauer ansprechen sollte. Im Jahr darauf legte er zum Gedenken an die französische Revolution 200 Jahre zuvor die Strecke von Paris nach Berlin in 60-km-Etappen zurück, verkleidet als „Jakobiner“, sammelte Geld für die UNICEF und übergab in Berlin Botschaften französischer Staatsmänner. Bei der Verkleidung und dem Spendensammeln ist es geblieben. Michel Descombes denkt sich jedes Jahr ein neues Phantasiekostüm aus, läuft darin verschiedene Marathons – über 200 sind es inzwischen – , wobei er betont bummelt, nämlich das Publikum anspricht und Spenden für caritative Zwecke sammelt. Inzwischen freilich steht er im 74. Lebensjahr, und er muß schauen, daß er noch einigermaßen im Strom der Läufer mitschwimmt.

Michel Descombes, ein früherer Banker, der den Clown spielt, war Vorbild für den Bayern Dietmar Mücke. Auch er, jetzt im 53. Lebensjahr, ist ein Unter-Drei-Stunden-Läufer.  Auch er trägt eine rote Clownsnase. Ich muß eine Wissenslücke gestehen. Mücke tritt immer im selben Kostüm auf, nämlich als „Pumuckl“, und ich wußte lange Zeit, nämlich bis zum Erscheinen von Wikipedia, nicht, daß Pumuckl eine literarische Figur aus den sechziger Jahren ist. Da der Kobold Pumuckl barfuß erscheint, entschloß sich auch Mücke später, fortan barfuß zu laufen. Sein bevorzugter Erscheinungsort sind Läufe, die von vornherein als Benefizläufe ausgewiesen sind. Entsprechend hoch ist auch sein Spendenaufkommen.

Beide Läufer haben also ihre Eigenart; sie sind „Fun Runner“ der reinsten Art, sie bereichern – wahrscheinlich zum Verdruß der frühen Laufleistungssportler – die deutsche Laufszene.

Photos (2): Werner Sonntag

Eintragung vom 10. Februar 15

Der illegale Handel mit Dopingmitteln habe inzwischen eine alarmierende Dimension erreicht. Wir reden nicht über den Medikamentenmißbrauch im russischen Sport, der seit einigen Wochen, genau seit einer Fernsehsendung, zum Medienthema geworden ist; wir sprechen über Doping im deutschen Sport. „Es gibt organisierte Vertriebswege und Händlerstrukturen, die denen im organisierten Rauschgifthandel vergleichbar sind. Die Händler verschaffen sich Dopingmittel aus dem Ausland oder von Untergrundlaboren und veräußern diese mit enormen Gewinnspannen im Internet.“ So lautet in aller Kürze die Bestandsaufnahme in einem Referentenentwurf dreier Bundesministerien, der am 10. November 2014 Eingang in einen Gesetzentwurf gefunden hat.

Mit diesem Entwurf eines „Gesetzes gegen Doping im Sport“ (AntiDopG) wird sich der Bundestag voraussichtlich im April dieses Jahres befassen. Erstmals wird in Deutschland mit einem Gesetz versucht, eine Grauzone, in der bisher die Kompetenz bei den Sportverbänden gelegen ist, zu justifizieren. Der Gesetzentwurf sieht eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe für diejenigen vor, die ein Dopingmittel herstellen, mit ihm Handel treiben oder sonstwie in den Verkehr bringen oder verschreiben, sowie diejenigen, die ein Dopingmittel oder eine Dopingmethode bei anderen Personen anwenden, erwerben, besitzen oder verbringen, und diejenigen, die ein Dopingmittel oder eine Dopingmethode bei sich anwenden oder anwenden lassen. Weitere Bestimmungen konkretisieren die Tatbestände, zum Beispiel wer die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen gefährdet, einen anderen der Gefahr des Todes oder einer schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit aussetzt oder aus grobem Eigennutz für sich oder einen anderen Vermögensvorteile großen Ausmaßes erlangt. Die Freiheitsstrafe dafür reicht von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

So wäre denn, wenn das Gesetz angenommen wird, woran kaum ein Zweifel besteht, alles in schönster Ordnung? Jedoch, man sollte sich über die Begrenztheit der juristischen Erfassung keine Illusionen machen. „Nach Absatz 1 Nummer 4 und Absatz 2 (Anmerkung: oben wiedergegeben) wird nur bestraft, wer 1. Spitzensportlerin oder Spitzensportler des organisierten Sports ist; als Spitzensportlerin oder Spitzensportler des organisierten Sports im Sinne dieses Gesetzes gilt, wer als Mitglied eines Testpools im Rahmen des Dopingkontrollsystems Trainingskontrollen unterliegt oder 2. Aus der sportlichen Betätigung unmittelbar oder mittelbar Einnahmen von erheblichem Umfang erzielt.“

Nichts also mit dem Altersklassensieger beim Großstadtmarathon, der seinen Körper manipuliert hat – er fällt nicht unter das Gesetz. Genau genommen fallen unter das Gesetz an aktiven Sporttreibenden in Deutschland nur etwa 7000 Sportler.

Wir sollten uns also von der Gesetzesinitiative nicht zuviel erwarten. „Eine Kriminalisierung des reinen Amateursports ist dabei aber nicht vorgesehen“, betont der Referentenentwurf. Eingeschränkt wird zudem: „Es ist verboten, ein Dopingmittel … in nicht geringer Menge zum Zwecke des Dopings beim Menschen im Sport zu erwerben, zu besitzen oder in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu verbringen.“

Dennoch, eine Grauzone wird nun zu einem politischen Thema. Es wird darüber gesprochen werden. Zudem, das zu erwartende Gesetz ist nicht der einzige Ansatz. Ein anderer ist die Aufklärungsoffensive des Deutschen Olympischen Sportbundes. Er hat im vorigen Jahr damit begonnen, „Vereine für Medikamentenmißbrauch (zu) sensibilisieren“ (German Road Races). In Stuttgart und in Hamburg haben Kurse für „Mißbrauchsbeauftragte“ in vereinseigenen Gesundheits- und Fitness-Studios stattgefunden; diese Aktion soll in diesem Jahr fortgesetzt werden. Das Qualitätssiegel „Sport pro Fitness“ stehe damit laut German Road Races auch für ein hohes Engagement gegen Doping und Medikamentenmißbrauch im Verein. Allerdings, die Zahl der mit „Sport pro Fitness“ zertifizierten Studios ist leicht überschaubar; in Stuttgart zum Beispiel sind es drei.

Welchen Ansatz man bei der Bekämpfung von Doping und Medikamentenmißbrauch im Sport auch nimmt, – es bleibt ziemlich viel zu tun. Die Laufszene ist dabei noch völlig außen vor.

Eintragung vom 3. Februar 15

Richard von Weizsäcker, ein Bundespräsident, der wie kaum ein anderes deutsches Staatsoberhaupt die Geschichte der Bundesrepublik einschließlich ihrer Wandlung entscheidend geprägt hat, ist im Alter von 94 Jahren gestorben. Ein Nachruf an dieser Stelle scheint in Anbetracht der Fülle von Kondolenzen überflüssig zu sein. Ich möchte jedoch einen Aspekt seines Lebens, der in Anbetracht der Fülle seiner Aufgaben zunächst sehr nebensächlich zu sein scheint, herausgreifen: den sporttreibenden Richard von Weizsäcker.

Er hat Sport nicht als bloß repräsentative Aufgabe eines Bundespräsidenten begriffen. Anders als sein Vorgänger Walter Scheel, der sich den Trainingsanzug überstreifte, um vor den Kameras den damals so bezeichneten „Trimm-Trab“ zu demonstrieren, lebte Richard von Weizsäcker den Sport. Er brüstete sich nicht mit sportlichen Aktivitäten, stellte Sport nicht dar, sondern praktizierte ihn wie die meisten von uns.

In seinen jungen Jahren war er der Leichtathletik zugetan und hatte auch Feldhockey und Tennis gespielt. Im Alter von 65 Jahren, als er im Jahr zuvor zum Bundespräsidenten gewählt worden war, begann er, die Bedingungen des Deutschen Sportabzeichens zu erfüllen. Zehnmal legte er es ab, ohne – außer einigen Fernsehaufnahmen – viel Aufhebens davon zu machen.

Er stellte sich im Alter auf Langlaufski. Es ist anzunehmen, daß ihm durch die Loipen zu gleiten Vergnügen gemacht hat und er diesen Ausdauersport vor allem mit dem Naturerlebnis verband. Seine ironische Begründung jedoch lautete: Seine Kinder hätten gemeint, auf dem Fahrrad sehe er nicht mehr sehr elegant aus; da habe er zu den Langlaufski gegriffen. Er betrieb Schwimmtraining. Er war ein Amateursportler wie die meisten von uns. Sportliche Aktivität gehörte zu seinem Leben.

Insofern war er, ohne das beabsichtigen zu wollen, auch auf diesem Gebiet ein Vorbild. Das Lebensalter von 94 Jahren ist ganz sicher die Frucht seiner aktiven Lebensweise.

Eintragung vom 27. Januar 15

Dies ist die dritte und die letzte Tagebucheintragung über den Indoortrail in der Dortmunder Westfalenhalle. Nach drei Veranstaltungsjahren ist die „Weltpremiere“ sang- und klanglos eingestellt worden. Offenbar entsprachen die wirtschaftlichen Fakten nicht den Erwartungen.

Damals schrieb ich: „Ich kann verstehen, daß man fernab der Alpen in einer Halle Ski fahren möchte. Aber warum muß man einen Trail nachbauen, wenn es doch Naturpfade auch in Großstädten gibt?“ Ich habe weiter gefragt: „Mal sehen, ob die künstliche Laufstrecke von 1,2 Kilometern mit Einbeziehung von Treppen und Gängen so interessant ist, daß sie Teilnehmer zur Wiederholung lockt und neue Interessenten anzieht?“ Trotz steigender Teilnehmerzahlen (zuletzt 3413 Starts), verlautete der Organisator, die Agentur B in München, seien die hochgesteckten Ziele nicht erreicht worden. Das Echo des Publikums blieb eher schwach. „Der ,Event‘-Faktor machte sich bezahlt – aber wohl nicht ausreichend“, kommentierten die Ruhr-Nachrichten. „Runner‘s World“, das vor drei Jahren als Mitveranstalter noch kräftig in die Posaune gestoßen hatte, hielt sich nun auffallend zurück.

Die Agentur Plan B, die den ecco-indoor-trail organisiert hatte, hielt für seine Interessenten Trost bereit: Vielleicht werde der eine oder andere auf „echten Trails“ wiederzutreffen sein. Eben!

Eintragung vom 20. Januar 15

Hinter uns liegen Tage der Trauer, einer Trauer, die zu einem einzigartigen Bekenntnis zur Solidarität geworden ist. Etwa 1,2 Millionen trauernde Menschen auf den Straßen von Paris, über fünfzig Staats- und Regierungschefs vereint in einem zentralen Trauermarsch, etwa 2,5 Millionen Menschen auf weiteren Trauermärschen in Frankreich, Demonstration am Brandenburger Tor, der völlige Ausverkauf von 7 Millionen Exemplaren nach dem Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“… Den einhelligen Kommentaren muß ich keinen weiteren anfügen.

Dagegen scheint mir ein Hinweis auf den „Todestrieb“, den Thanatos, angebracht zu sein. Er ist nach Sigmund Freud der Gegenspieler zur Libido, des Lebens- oder Liebestriebes. Nicht selten ist er unterschätzt worden. Der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und die weiteren Anschläge sind jedoch wieder einmal eindeutige Beweise des Todestriebs. Die Attentäter – dazu die große Zahl der Täter von Selbstmord-Anschlägen – wollten sterben.

Dieses Tagebuch bedarf einer Erklärung. Die letzte Eintragung ist im Jahr 2014 geschehen. Das hat seinen Grund. Normalerweise informiere ich darüber, wenn es zu einer Verzögerung kommt. Das war diesmal nicht möglich. Am 2. Januar mußte ich mich wegen eines urologischen Eingriffs als Notfall im Krankenhaus behandeln lassen. Der Eingriff ist geglückt, erforderte jedoch eine vierzehntägige Antibiotika-Behandlung. Die Folgen: Völlige Appetitlosigkeit, Durchfall, Müdigkeit. Wie es weitergeht, bleibt abzuwarten.

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