Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 27. Juni 11

Aus irgendeinem Grunde suchte ich neulich im Internet nach einem 100-km-Lauf. In einem Maße, das mich überrascht hat, bin ich fündig geworden. Eine Zeitlang hatte es im Hinblick auf deutsche Ultraläufe zappenduster ausgesehen, nachdem traditionelle Veranstaltungen wie zum Beispiel in Rodenbach eingestellt worden waren. Da war der GutsMuths-Rennsteiglauf der einzige Jedermanns-Ultra in Deutschland.

Heute hingegen haben wir eine ganze Anzahl von Ultra-Veranstaltungen, und das Anforderungsprofil ist immer weiter gestiegen. Die Zahl der jeweiligen Teilnehmer ist, wenn man die Bieler Lauftage als Maßstab nimmt, allerdings relativ niedrig. Der Lauf mit der maximalen Anforderung ist ein Einladungslauf, nämlich die TorTour de Ruhr. Die Strecke folgt dem Verlauf der Ruhr und beträgt 230 Kilometer. Doch das Ultra-Angebot ist nun derart breit gefächert, daß alle möglichen Ansprüche abgedeckt werden.

Hinter uns liegen außer den gering besetzten 24. Deutschen 100-km-Straßenlaufmeisterschaften am 30. April in Jüterbog, dem Rennsteiglauf im Mai und den Bieler Lauftagen im Juni der Eulenburg Trail, ein 100-Meilen-Lauf mit 5555 Höhenmetern (Start und Ziel in Osterode im Harz, Alternativstrecken von 32 und 64 km), der Fidelitas-Nachtlauf in Karlsruhe (80 km) am 25./26. Juni und der erstmals veranstaltete Zugspitz-Ultratrail vom 24. bis zum 26. Juni, eine Strecke von 101 Kilometern mit 5474 Höhenmetern und einer Alternative von 68,8 Kilometern und 3120 Höhenmetern.

Wem es nun also am 17. und 18. Juni in Biel zu naß war, kann sein Glück vierzehn Tage später versuchen. In den Thüringen Ultra, der am 1./2. Juli zum fünftenmal ausgetragen wird, ist erstmals eine 100-Meilen-Strecke aufgenommen worden; in sie sind 90 Kilometer der 100-Kilometer-Strecke integriert. Die Zahl der Höhenmeter steigt bei den 100 Meilen auf etwas über 3000. Dem Ruf der 100 Meilen sind für dieses Jahr bisher 106 Läuferinnen und Läufer gefolgt; den 100 Kilometern bleiben bisher 147 Teilnehmer. Die Ulmer Laufnacht, nun zum drittenmal, hat ein breites Angebot. Man kann wie bisher am 1. Juli in Blaustein zu den 100 Kilometern starten. Wer nur 50 Kilometer zurücklegen möchte, hat die Wahl des Startortes: Blaustein oder Ulm, mit anderen Worten die erste oder die zweite Hälfte der 100-Kilometer-Strecke.

Am selben Wochenende findet die dritte deutsche 100-km-Veranstaltung statt, der 3. Ultra-Bodenseelauf. Ausgetragen wird er auf einer 2,4-km-Runde in Immenstaad, er mag also auch als Vorbereitung auf einen 24-Stunden-Lauf dienen. Das Leistungsniveau ist durch die vorgesehene Laufzeit von voraussichtlich zwölf Stunden vorgegeben. Wie bei den anderen Veranstaltungen sind auch hier Staffeln zugelassen. Wer sparen muß, ist gut bedient: Einzelläufer zahlen ganze 5 Euro. Eine weitere 100-Kilometer-Veranstaltung am Sonntag, 3. Juli, ist der Preußen-100er in Bochum. Seinen Namen hat der um den Kemnader See führende Lauf vom hundertjährigen Bestehen des Vereins DJK Preußen Bochum 1911. Ein Volkslauf über eine 5-km-Runde, der um 6 Uhr morgens gestartet wird.

Am 16./17. Juli findet der 3. Saale-Orla-Hunderter statt; der Start der 100 Kilometer ist am Samstag um 10 Uhr in Tanna (Vogtland), Zielschluß nach 24 Stunden, geeignet also vornehmlich für Wanderer. Zwei weitere Strecken über 23 oder 50 Kilometer sind möglich. Der Hinweis "Geführt oder individuell nach Karte" läßt Rückschlüsse auf ein Minimalprogramm zu. Startgeld: 10 Euro.

Am 29./30. Juli, dem Wochenende des Swiss Alpine, spielt sich der 7. Chiemgauer ab, ein höchst anspruchsvoller 100-Kilometer- und 100-Meilen-Lauf, ein Bergultra mit 6750 Höhenmetern (100 Meilen). Der Veranstalter beschreibt ihn so: "Der Chiemgauer 100 Bergultra ist ein Natur-Trail-Erlebnislauf, der hauptsächlich alpine Wander- und Forstwege benützt und mehrere nennenswerte und technisch sehr schwierige Anstiege und Abstiege aufweist. Er ist den härteren amerikanischen 100 Meilen-Landschaftsläufen nachempfunden, die Hauptstrecke beträgt jedoch ,nur' europäische 100 km. Ein ,Vorspann' mit eigener Versorgung für eine Verlängerung auf 100 Meilen ist möglich. Der Lauf findet seit 2005 nahezu unverändert statt." Verkürzungen auf 66 oder 80 Kilometer sind möglich.

Wenig später, am 13. August, werden in Leipzig zum 22. Mal die 100 Kilometer ausgetragen, eine leistungsorientierte Meisterschaft auf einer 10-Kilometer-Runde am Auensee. Zeitlimit 13 Stunden. Auch ein Wettbewerb über 50 km ist möglich. Am selben Wochenende gibt es in Belgien das Gegenstück, den Dodendocht Marathon. Der Name täuscht; es ist kein "Todesmarsch", sondern für Läufer über zehn Stunden und für Marschierer geeignet. Anlässlich des 50. Jahrestags des Mauerbaus finden am 20./21. August die 100MeilenBerlin statt, der erste 100-Meilen-Lauf in der Hauptstadt!

Am 3. September um 20 Uhr wird im Herderstadion zu Unna ein nostalgischer Lauf gestartet, ein Lauf annähernd auf der Trasse des einstigen 100-Kilometer-Laufs von Unna. Es ist keine öffentliche Veranstaltung, aber sie ist Interessenten zugänglich. Der Oxfam Trailwalker im September in Osterode im Harz erfordert verschiedene Voraussetzungen: Starten dürfen nur Teams mit 4 Personen, und die Teams müssen zuvor mindestens 2000 Euro für Oxfam gesammelt haben. Zum Walking über 100 Kilometer hat man 30 Stunden Zeit. Oxfam ist eine 1942 in Oxford gegründete Hilfsorganisation gegen Hunger und Armut, die in der Nachkriegszeit auch in der Bundesrepublik Fuß gefaßt hat.

In diesem Jahr erwarten uns noch am 20. Oktober der Schwäbische-Alb-Marathon (50 km), am 30. Oktober der 11. Röntgenlauf in Remscheid (63,3 km) und am 6. November der RWW-Ultramarathon in Bottrop (50 km). Der 28. Januar 2012 wird vom 50-km-Lauf in Rodgau beansprucht, der 5. März von "Rund um die Steinmühle" in Marburg. Weiterhin gibt es einen 50-km-Lauf in Eschollbrücken bei Pfungsheim und einen in Rengsdorf im Westerwald. Den Reigen der deutschen 100-Kilometer-Läufe wird der Internationale 100-Kilometer-Lauf von Kienbaum (Berlin) eröffnen; er wird auf einer 5-km-Runde ausgetragen. Im Mai oder Juni wird die 27. Horizontale in Jena folgen, eine Langstreckenwanderung über 100 Kilometer oder 35 Kilometer durch das Mittlere Saaletal in Jena. Den 8. Mai muß man sich für den Rennsteiglauf freihalten.

Soweit meine Internet-Recherche. Hinzuzurechnen wären noch die Mehrere-Stunden-Läufe einschließlich der 12- und 24-Stunden-Läufe, dazu weitere Veranstaltungen im benachbarten Ausland. Bedauerlicherweise hat die Bieler Organisation den Termin fürs nächste Jahr nicht auf der Website genannt. Fazit der Recherche: Die Szene der Ultra-Veranstaltungen bietet ein vielfältiges Bild. Die Tendenz zu 100 Meilen ist eindeutig. Maßgebend dafür dürfte weniger das Bestreben nach Internationalisierung sein, als vielmehr der Wunsch nach immer gewaltigeren Herausforderungen. Davon sollte sich jedoch der "gewöhnliche Ultraläufer" nicht beeindrucken lassen. Wer von der Marathon- in die Ultramarathonszene wechselt, hat heute eine beträchtliche Auswahl an Gelegenheiten. Der Sprung vom Marathon zu den 100 Kilometern kann durch kürzere Wettbewerbe in Etappen vollzogen werden.

*

Die Zeilen Martin Grünings (Leserbrief vom 21. Juni) haben mir deutlich gemacht, daß ich mich in der Eintragung vom 20. Juni mißverständlich ausgedrückt habe. Meine Klage, ich sei aus der Bieler Familie herausgefallen, bezog sich allein darauf, daß ich in Biel nicht mehr aktiv sein kann oder nicht mehr als Aktiver wahrgenommen werde, nicht hingegen auf mangelnde Kommunikation. Jährlich werde ich zudem zum Empfang vor dem Start eingeladen; schon das ist ein Zeichen dafür, daß ich mich in die Familie eingeschlossen fühlen kann. Das alles sehe ich, ändert jedoch nichts daran, daß ich aus biologischen Gründen die 100 Kilometer nicht mehr und den Halbmarathon allenfalls als Letzter im Walking zurücklegen kann.

Eintragung vom 20. Juni 11

Auf der Heimfahrt am Sonntag vermißte ich diesmal das vertraute Gefühl, die Hochstimmung. Immer habe ich sie nach Biel gehabt, selbst nach den beiden Abbrüchen der 100 Kilometer. Auch die 56 und die 76 Kilometer hatten ausgereicht, am nächsten Tage das euphorische Hochgefühl zu produzieren. Was ist diesmal in Biel geschehen? Auf der Autobahn versuchte ich zu analysieren.

Ich habe den Eindruck gehabt, aus der Bieler Familie herausgefallen zu sein, wiewohl es „die“ Familie immer nur für eine gewisse Zeit gegeben hat. Immer haben nur einzelne einer Familienkonstellation überlebt. Es wäre also ganz natürlich, wenn der Wandel der Bieler Teilnehmerschaft nun auch mich erreichte.

 

Da ich mir nicht mehr zutrauen kann, die 100 Kilometer innerhalb von 21 Stunden zu beenden, hatte ich mich für die kleinste und, wie mir schien, solideste Lösung entschieden, Walking auf der Halbmarathonstrecke bis Aarberg. Am Start vor dem Kongreßhaus hatte ich mich einsichtig ganz hinten aufgestellt; in der Tat entschwanden bald die Geher vor mir. Darauf war ich vorbereitet. Die Markierung war wie gewohnt einwandfrei; ich konnte mich bequem von Posten zu Posten hangeln. Doch dann ein Schock: Ich war nicht mehr allein, vor mir bewegte sich das Feld der 100-Kilometer-Läufer.

Dieses Feld war fünfzehn Minuten vor uns gestartet! Ich hatte den Zugang zu der – im Vergleich zur 100-Kilometer-Strecke – zusätzlichen Runde durch Biel verpaßt! Ich war gewillt umzukehren und den richtigen Zugang zu benützen. Hilfesuchend wandte ich mich an einen Posten – er war ratlos. Ich ließ ihn stehen und sprach eine Postenfrau an, offenbar eine Polizeibeamtin. Sie erkannte zwar mein Problem, wußte aber auch nicht, wo die Zusatzrunde der Halbmarathon- und Marathonläufer begann. Sie versuchte, sich auf einem digitalen Gerät, dessen Technik ich nicht durchschaute, zu informieren – ergebnislos. Sie riet mir daher, einfach den 100-Kilometer-Läufern zu folgen. Ich wies dies zunächst empört zurück. Da nichts geschah, warf ich ihr harsch vor, ich würde hier meine Zeit verplempern. Sie hielt mir entgegen, sie habe die Strecke nicht gemacht – sie sagte es ganz sachlich. Ich muß sie um Entschuldigung dafür bitten, daß ich sie so angefahren habe. Und dann tat ich, wozu sie mir geraten hatte: auf der 100-Kilometer-Strecke weiterzugehen. Mir war es außerordentlich peinlich, nun von einigen mir bekannten 100-Kilometer-Läufern und -Läuferinnen eingeholt zu werden. Sie mußten annehmen, daß ich im falschen Feld gestartet sei oder eigenmächtig abgekürzt hätte. Erst Stunden später erfuhr ich in Biel, daß mein vermeintlicher Irrtum kein individuelles Problem gewesen war, sondern wir alle gemeinsam 7,5 Kilometer zu wenig gelaufen oder gegangen waren.

Auf der Strecke jedoch hatte ich fortan das ungute Gefühl, Unrechtes getan zu haben. Allenfalls die Wetterbedingungen lenkten mich davon ab. Vor dem Start hatte ich noch das kurzärmelige Hemd gegen ein langärmeliges, wärmeres eingetauscht und statt der dünnen Regenjacke die gefütterte angezogen. Das Ergebnis war zunächst: O weh, ich bin zu warm gekleidet. Die Abkühlung folgte bald. Es regnete. Ein starker Wind kam auf. Zwar fand ich, in der Erinnerung an frühere Jahre, daß die Strecke nun die eines Straßenlaufs war, aber die langgezogene Steigung, die ich früher hinaufgelaufen war, machte mir zu schaffen.

Auf der Ebene fühlte ich mich schutzlos dem Wind ausgesetzt. Ich spürte körperlich, daß ich keine Kraftreserven mehr hatte. Als Läufer hätte ich dem Wind meine Aktivität entgegengesetzt. Als Geher fühlte ich mich wie festgenagelt. Als ich 100 Kilometer lief, war Aarberg das erste, leichte Etappenziel, jetzt war es das herbei gesehnte Ende. Das Kilometerschild zeigte die 15. Ich log mich darüber hinweg, daß es viel zu früh kam; ich war keine 15 Kilometer gegangen. Wie war ich froh, als eine Baumreihe Schutz vor dem Wind bot!

 

Allein war ich nicht, die später gestarteten Staffelläufer überholten mich flott. Das Abenteuer von einst – heute ist es eine Sportveranstaltung, freilich eine, bei der man möglichst präzise die Balance zwischen Ausdauer und Geschwindigkeit halten muß. In Aarberg – der Posten winkt nach links. Die vertraute Holzbrücke, Wahrzeichen, Ankündigung des nahen Ziels auf dem Marktplatz. Das Ziel bereits unbesetzt, doch der Posten eilt herbei und hängt mir die Medaille um. Um so enttäuschter war ich, daß ich mich in Biel nicht auf der ausgehängten Liste fand. Dies mag wohl die Ursache des seltsamen Gefühls auf der Heimfahrt gewesen sein, nicht mehr dazu zu gehören, die Ursache des fehlenden Hochgefühls. Erst zu Hause im Internet fand ich mich in der Liste der Walker mit der Zeit von drei Stunden registriert. Doch das Hochgefühl blieb weiterhin aus.

In Biel erfuhr ich, daß wir um 7,5 Kilometer geprellt worden waren. Die rasche Reaktion der Organisatoren – Freistart im nächsten Jahr – las ich daheim auf der Internet-Seite.

Wenn ich mir meinen Kampf gegen die Witterungsunbill auf den im Grunde läppischen 13,6 Kilometern vergegenwärtige, erfüllt mich Hochachtung vor denjenigen, die ihr 100 Kilometer lang getrotzt haben. Bis zum Nachmittag stand ich immer wieder im Zielbereich und beobachtete den Einlauf. Insgesamt mögen die Leistungen nicht besser sein als in meiner Zeit; aber ich habe den Eindruck, daß die 100-Kilometer-Teilnehmer weit besser vorbereitet sind als wir damals. Wer sich im Zielbereich oder auf dem Parkplatz umgeschaut hat, fühlte sich nicht mehr wie einst in einer Krankenabteilung.

  Gesprächen und dem Gästebuch habe ich entnommen, daß der Abschied vom Eisstadion akzeptiert worden ist. Das Ambiente am Bieler See ist unvergleichlich schöner. Die Organisation ist übersichtlicher, die Parkmöglichkeiten reichen offensichtlich aus; die Wege vom Auto oder vom Campingplatz am See zu den Zelten sind kurz. Ein angenehmes Restaurant steht auch zur Verfügung.

Die Duschgelegenheiten müßten, so habe ich entnommen, noch verbessert werden. Zum Start allerdings muß man gut einen Kilometer gehen und dabei den Bahnhof durchqueren.

In der Nacht freilich ist der Bahnhof geschlossen. Diese Erkenntnis kam so: In Aarberg holte ich in der nahen Schule meinen Laufrucksack ab und erkundigte mich nach dem Shuttle-Bus. Ich wurde zur Busstation am Bahnhof gewiesen. Dort fanden sich eine weitere Walkerin und ein Läufer ein. Wenig später kam der Autobus. Doch die Fahrerin verlangte 7 Franken. Offenbar waren wir in einem Linienbus. Wer hätte in dieser Situation den Bus verlassen, wenn er es etwa mangels Barschaft nicht gemußt hätte? Der Nachteil: Der Bus verkehrte nur bis zum Bahnhof in Biel. Den Rückweg zum Expo-Gelände mußten wir zu Fuß antreten. Aber der Bahnhof war verschlossen. Fragen und Suche nach einer Unterführung, die uns auf die andere Seite der Bahnlinie bringen würde. Wir fanden die Route, und so gelangten wir zum Zielgelände, wo die Shuttle-Busse auf die nächste Fahrt warteten.

Trotz allem: Das Faszinosum Biel ist geblieben.

Photos (3): Sonntag

Eintragung vom 13. Juni 11

In Runners Vote klingt der Gedanke an: Trail-Run ist viel Wind um nichts Neues. 30 Prozent von 70 Abstimmenden stimmen dem zu. Ich halte den gegenwärtigen angeblichen Trail-Trend für eine Werbe-Aktion eines Schuhherstellers. Eine solche Werbeaktion ist legitim, zumal da als zumindest federführend die Firma Salomon dahinter steckt. Salomon ist schließlich der wohl bekannteste Hersteller von Skilanglaufschuhen. Die Ausweitung auf das Gebiet von Laufschuhen ist sinnvoll, ist das Gebiet von Geländelaufschuhen doch vordem unterrepräsentiert gewesen.

Wenn man die Aktivität der Firma Salomon akzeptiert, bedeutet das noch nicht, daß man den publizistischen Jahrmarkt um den Begriff „Trail“ unterstützen muß. „Runner’s World“ hat einen „Großen Trail-Guide“ an die Kioske und an seine Heft-Abonnenten gebracht. Die Kooperation mit Salomon ist offensichtlich. Da mögen schon manche Konsumenten die Mundwinkel nach unten ziehen. Einspruch ist jedoch gegen den Untertitel einer neuen Buchveröffentlichung, „Trailrunning“, zu erheben: „Die neue Art zu laufen“.

Am Trailrunning, dem Laufen auf Pfaden oder wild durchs Gelände, ist nichts neu, außer vielleicht den Schuhen. Das ist sogar dem Herausgeber des Bandes und des einschlägigen Magazins „Trail“ klar. Man muß gar nicht tief in die Geschichte gehen, etwa zu den Ägyptern; der Chefredakteur von „Runner’s World“ selbst erinnert im Juni-Heft in seinem Editorial an den Sedfestlauf (ägyptisch hb-sd), jenes Erneuerungsritual ägyptischer Herrscher, das Wolfgang Decker in „Sport und Spiel im Alten Ägypten“ darstellt. Man muß nicht an die antiken Botenläufer denken, die sich ihre Pfade selbst suchen mußten, an die berühmten Fernläufe im 19. Jahrhundert oder an die Lauf-Anfänge im Grunewald zu Diems Jugendzeit. Der Bieler 100-km-Lauf ist zwar kein Trail, enthält aber seit 52 Jahren einen Trail-Abschnitt, den Ho-Chi-Minh-Pfad; in der Vergangenheit bot er auch sonst einige kürzere Abschnitte, die den Charakter einer Cross-Strecke hatten. Der Supermarathon des Rennsteiglaufs war zu DDR-Zeiten ein Trail, nämlich „der längste Crosslauf in Europa“; er ist es heute nicht mehr, wird jedoch nach wie vor im Kalender der Trail-Veranstaltungen so aufgeführt.

Ich erinnere mich, daß wir 1979 beim Läufertreff auf Teneriffa durch Kakteenfelder liefen. Zum Kopfschütteln mancher Touristen unternahmen wir bei dieser Gelegenheit Läufe auf den Teide (3718 m), dessen Vulkangestein ziemlich unwegsam, jedoch nicht absturzträchtig ist (die Seilbahn ignorierten wir). Ich bin während des Wanderurlaubs in den Niederen Tauern gelaufen, die Neiße entlang und in den Anden, jedesmal auf „Trails“. Professor Alexander Weber lief mit seinen Gruppen in Hornumersiel durch den Sand der Küste, ohne daß dies als Trailrunning angekündigt worden wäre. Es gibt eine Anzahl Landschaftsmarathone wie den Monschau-, den Hochgrat- und den Graubünden-Marathon, die stellenweise auf Pfaden verlaufen und im Trail-Kalender genannt sind.  

Der K 78 und der K 42 des 25 Jahre alten Swiss Alpine und auch die vormalige Strecke über den Sertigpaß enthalten einen Trail-Abschnitt. Der Lauf von Sierre nach Zinal, der wohl älteste der klassischen Bergläufe, ist nach heutigen Begriffen ein Trail; er wird seit 1974 gelaufen. Der Osterfelder Berglauf, ein früher deutscher Berglauf, ist dreißig Jahre alt.

Im Jahr 1985 erschien Michael Rieländers „Gesund durch Geländelauf“; daran war zwar vieles auszusetzen, aber die Idee, doch bitte mehr auf Naturpfaden zu laufen, hat ihre Berechtigung gehabt. Vor zehn Jahren fand die erste Deutsche Meisterschaft der DUV im Cross- und Landschaftslauf statt.

Neu an dem vorgeblichen Trend ist also nur die Anglifizierung in „Trail“. Wir nannten unsere Läufe abseits des Asphalts Landschaftsläufe, Erlebnisläufe oder, wenn es sich um einen Wettbewerb handelte, Cross und, als es in Wettbewerben bergauf ging, Bergläufe. In der Tat jedoch war das, was wir, die erste Generation der „Volksläufer“, machten, eine Gegenbewegung zum Straßenlauf. Wir wehrten uns zumindest innerlich dagegen, daß der offizielle Sport von unseren Bedürfnissen, zum Beispiel vom Ultralauf, nicht Kenntnis nahm. Wir suchten Alternativen; der Lauf auf der klassischen Strecke von Marathon nach Athen, den der TV Dortmund-Landstrop für uns eröffnete, war eine. Der „1. Touristiklauf“, den ich 1978 von der Donau bis zum Bodensee veranstaltete, wenngleich auf dem damals gerade eröffneten Radwanderweg, der Deutschlandlauf und der Donaulauf östlich von Passau bis nach Hainburg enthielten eine Vision, die des „Wanderlaufs“ oder „Laufwanderns“. Auf Teneriffa praktizierten wir, außer dem Wettbewerb der IGÄL, in den siebziger Jahren das Laufen in einer nicht dafür präparierten Landschaft.

Umgekehrt, als sich das Laufen abseits der Straße und das Laufen „mehr als Marathon“ emanzipierten, drückte ihm der offizielle Sport den Stempel der Bestimmungen auf. Auf den 100 Kilometern in Biel wurde die Sekundenmessung eingeführt. Ich sehe ja ein, daß man sie für die Elite im Wettkampf braucht; wir aber, die Masse der Teilnehmer, brauchten sie nicht.

  In dem Verlag, in dem „Trailrunning“ erschienen ist, war ich bis 1991 vornehmlich Touristikredakteur. Im März 1980 veröffentlichte ich in der Auto-Zeitschrift, für die ich tätig war, einen vierseitigen Beitrag „Im Laufschritt über Teneriffa“. Da kam zwar auch das Auto vor – ich hatte mir einen Mietwagen genommen –, aber in der Hauptsache handelte der Text von dem Laufurlaub der IGÄL, der jedoch jedermann offen stand. Für diesen Beitrag tadelte mich mein Verleger nach Jahren noch. Jogging – das Thema schien ihm touristisch zu entlegen zu sein.

Nun habe ich den Band „Trailrunning“ von Stephan Repke und Denis Wischniewski durchgeblättert. Sympathisch berührt mich die Einleitung: „Die einschlägigen Sport- und Laufzeitschriften überschlagen sich mit Superlativen, um eine vermeintlich revolutionär neue und unglaubliche Sportart unters Volk zu bringen. Eben das besagte Trailrunning. ... Tatsache ist, die Sportindustrie hat das Trailrunning zwar wiederentdeckt, aber genau genommen ist es die ursprünglichste aller Fortbewegungsarten, seit dem Tag, an dem der Mensch vor sehr, sehr langer Zeit beschloß, aufrecht zu gehen. Die ersten Trailrunner jagten Mammuts und Säbelzahntiger.“ Und dann, auf den Seiten 92 bis 99, was finde ich da? Eine Laufdurchquerung Teneriffas, über den Teide, versteht sich. Unter den Informationen teilt Stephan Repke mit: „Teneriffa bietet eine Vielzahl von abwechslungsreichen sowie technisch anspruchsvollen Trails, die landschaftlich, botanisch und geografisch einzigartig sind.“ Ich erkenne: Ich war in dem Verlag, in dem ich angestellt war, 31 Jahre zu früh dran.

Photos (5): Sonntag

Eintragung vom 7. Juni 11

Bewegung und Begegnung – das Motto erscheint wie gemacht für Laufveranstaltungen. Deren Medium ist die zum Wettbewerb gesteigerte Bewegung. Was die meisten von uns zur Teilnahme verlockt, ist die Begegnung. Lassen wir es gelten, auch wenn "Bewegung und Begegnung" aus anderem Anlaß geprägt und benützt wird, nämlich als Titel der 3. Sächsischen Landesausstellung: "Via regia – 800 Jahre Bewegung und Begegnung".

Dies ist kein wilder Gedankensprung, der vielleicht beim "assoziativen Laufen" untergekommen wäre, sondern entspringt einer schlichten chronologischen Verbindung. Vom Rennsteig-Marathon Neuhaus – Schmiedefeld, beendet in Masserberg, bin ich mit einem Umweg in meine Heimatstadt Görlitz gefahren. Zwar habe ich dort nur wenig mehr als 20 Lebensjahre verbracht, aber ich bin in Görlitz geboren und fühle mich dort – wieder! – heimisch. Am Tage nach dem Rennsteig-Marathon ist in Görlitz die Sächsische Landesausstellung eröffnet worden. Ihr Thema bildete einen starken Anreiz zum Besuch.

Die "Via regia", die Königsstraße, auch als "Hohe Straße" übersetzt, war erwiesenermaßen seit dem 14. Jahrhundert der zentrale Handelsweg zwischen Breslau und Erfurt, im Osten erweitert bis Krakau, im Westen nach Frankfurt am Main, jeweils mit Verzweigungen. Nicht historisch, wohl aber ideologisch ist der Begriff Via regia in unserer Zeit auf das ganze mitteleuropäische Straßensystem, konkret von Kiew bis nach Santiago de Compostela, übertragen worden. Wem fiele da nicht der Jakobsweg ein!

Dieser 4500 Kilometer lange Handelsweg hat unter dem Gedanken der europäischen Einigung aktuelle Bedeutung erhalten. Der Europarat hat ihn bereits im Jahr 2005 zur Europäischen Kulturstraße ernannt. Die 3. Sächsische Landesausstellung macht die Straße nun zum Erlebnis.

 

Der zentrale Ausstellungsplatz ist der Kaisertrutz, eine der Bastionen um den mittelalterlichen Kern von Görlitz. Die Stadtmauer ist im 19. Jahrhundert größtenteils geschleift worden. Der Kaisertrutz, einst ein Bollwerk gegen die kaiserlichen Belagerer, ist erhalten worden. Um 1850, bevor das Bauwerk die preußische Militärwache aufnahm, sind die beiden Ecktürme und der Arkadenvorbau hinzugefügt worden. Anfang der dreißiger Jahre, als ich ein Kind war, ist der Kaisertrutz als Museum eingerichtet worden.

Für die Sächsische Landesausstellung ist das Bauwerk nun zwei Jahre lang von Grund auf saniert und um ein Treppenhaus samt Aufzug erweitert worden.

Im Erdgeschoß wird die Via regia digital dargestellt. Die wichtigen Stationen der Straße kann man anklicken und sich jeweils ausführlich informieren lassen. Im neugewonnenen Untergeschoß und in den Obergeschossen wird an Hand wertvoller Exponate gezeigt, welche Güter und welche Ideen transportiert worden sind und welche Menschen dabei eine Rolle gespielt haben. Mit Sonderausstellungen sind das Schlesische Museum samt dem polnischen Lausitz-Museum und das Senckenberg-Naturkunde-Museum beteiligt, nämlich mit einer Ausstellung über die Migration, "Lebenswege ins Ungewisse", sowie einer Ausstellung "Die Straße der Arten". Das Kulturhistorische Museum Ecke Neiß- und Weberstraße, ein prächtiges Barockhaus, wo ich in meiner Kindheit im "Wareneinkaufsverein" eingekauft hatte, soll ebenfalls eine Sonderausstellung bieten; jedoch kann es nach einer umfassenden Sanierung erst Ende Juli wiedereröffnet werden. Dann wird auch die historische Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft für Wissenschaften wieder am alten Platz sein. Die Ausstellung Via regia und die Sonderausstellungen sind bis zum 31. Oktober geöffnet.

Vermag denn die Nachricht über eine Ausstellung Läuferinnen und Läufer nach Görlitz zu locken? Sicher nicht, obwohl es das kulturhistorische Thema verdient hätte. Doch Görlitz hat auch einen Marathonlauf, der auch über die Neiße in den polnischen Teil der Stadt, durch Zgorzelec, führt. Die 8. Veranstaltung dieser Art hat am 5. Juni stattgefunden. Die 5- und die 10-km-Runde sind eigens an die historische Via regia gelegt worden. Der "Europa-Marathon" kann ein Anlaß sein, Görlitz zu besuchen und damit eine im Krieg glimpflich davongekommene Stadt mit einer einzigartigen und weitläufig restaurierten Bausubstanz von der Gotik bis zum Jugendstil kennenzulernen. Als ich an einem warmen Frühlingstag durch die Straßen bummelte – die Altstadt hat keinen Durchgangsverkehr –, war ich überrascht von dem südländischen Flair, das sich hier in den letzten Jahren eingestellt hat. Zwar habe ich aus meiner Jugend noch immer den Wind in Erinnerung – im Jahr 2006 hat er gar das Marathon-Tor umgeworfen –, aber Görlitz hat dennoch inzwischen eine ausgeprägt touristische Note bekommen. Der Europa-Marathon könnte ein Reise-Tip sein. Freilich, es ist ein kleiner Marathon. Ins Marathon-Ziel sind am Sonntag gerade einmal 145 Teilnehmer gelaufen, darunter eine Anzahl Polen und Tschechen aus der Nachbarschaft. Beim Halbmarathon waren es 307 Teilnehmer und beim 10-km-Lauf 350. Die nächste Veranstaltung findet am 3. Juni 2012 statt.

"Bewegung und Begegnung" auf der Via regia heute müßte unbedingt das Laufen einbeziehen, vielleicht sogar eines Tages ganz konkret als einen kulturhistorischen Lauf von Krakau nach Frankfurt am Main.

Eintragung vom 31. Mai 11

Wolfgang schrieb auf meine jüngste Eintragung: "Ich bin schockiert!" Darüber, daß ich in meinem Rennsteig-Marathon am Masserberg-Turm bei Kilometer 18 aufgegeben habe? Ach nein. Aufgeben ist nicht schockierend, sondern Teil des Wettbewerb-Risikos. Vielmehr: "Da lese ich Deine letzte Eintragung vom 24. Mai. Und finde kein ,SZ' mehr. In keinem ,daß', wo es hingehört und beim Lesen von ,ausserdem und ausserordentlich' bekomme ich Augenkrebs."

Tatsächlich, man hat es bemerkt, und Wolfgang hat sich geäußert. Wie ihm, muß ich nun öffentlich eine Erklärung abgeben: Nein, ich stelle meine Orthographie nicht um. Zudem, wenn ich das täte, müßte ich "außerdem" und "außerordentlich" mit SZ schreiben, "daß" jedoch nicht. Es war ein simples technisches Problem. Ich bin mit meinem Schweizer Sportfreund Markus beim Rennsteig-Marathon gestartet und habe mit ihm eine Rundreise unternommen. Markus hat einen Laptop, den ich immer als Läptopf eindeutsche, mitgeführt und ihn mir zum Schreiben und Übermitteln meiner Eintragung zur Verfügung gestellt. Da es sich jedoch um ein in der Schweiz gekauftes Gerät handelt, enthält die Tastatur kein SZ. In der Schweiz schreibt man die Buße, die man tut, genauso wie den Plural des Autobusses, nämlich "Busse". Erst beim Schreiben habe ich den Mangel des SZ bemerkt, glaubte jedoch flugs, mich für diesmal durchmogeln zu können.

Aber nein, bei den Lesern, die ich habe, geht das wohl nicht. Also, ich werde weiterhin an der konservativen Orthographie festhalten. Zu den Gründen, die mich dazu bewogen haben, sind weitere hinzugekommen. Ich habe den Eindruck, daß der Wegfall des SZ bei "daß" die Unterschiede zwischen dem sächlichen Artikel und der Einleitung eines Nebensatzes durch "dass" verwischt hat. Es sind nicht nur Schüler, die nicht mehr über "das" und "daß" nachdenken. Gestern habe ich den Fehler auf einer kommunalen Website, der vom badischen Gernsbach, entdeckt: "Eines der letzten intakten Hochmoore Mitteleuropas erwartet Sie auf dem Kaltenbronn, dass jeden Wanderer mit seinen Wegen durch die Flora und Fauna dieses einzigartigen Naturschutzgebietes begeistern wird."

Die Rücknahme von Änderungen durch die Rechtschreibreform hat die Umstellung nicht einfacher gemacht. Ist die Rechtschreibreform nun "aufwändig" oder ist sie wieder "aufwendig"? Auf meine Tageszeitung kann ich mich in solchen Fragen nicht verlassen. Obwohl der "Alpdruck" zu Recht in einen "Albdruck" umgewandelt worden ist, weil er von Alben und nicht von den Alpen ausgeübt wird, hält meine Lokalzeitung entgegen der Rechtschreibreform am "Alpdruck" fest. Ob es diesetwegen Abbestellungen gibt? Ich glaube nicht. Daher hoffe ich, daß mein Beharren auf einer sich in langen Jahren entwickelten Orthographie akzeptiert wird.

Eintragung vom 24. Mai 11

Wer seinen ersten Marathon oder Ultramarathon laufen möchte und nun voller Bedenken ist, ob er sich das zutrauen dürfe, den kann ich beruhigen: Diejenigen, die sich überschätzen, kommen wohl erst in unseren Klassen vor. Ein Läufer bemerkte am 21. Mai in Schmiedefeld sachlich, aber dennoch zweifelnd, es sei auch einer in M 85 beim Marathon gestartet. M 85 beim Marathon – er sprach das Ausrufezeichen mit. Ich sehe ja alles ein. Ich bin nicht Josef Galia und auch nicht Adolf Weidmann, der mit 85 die 100 Kilometer in Biel in 21 Stunden zurückgelegt hat. Und wenn ein hundertjähriger Inder aus Grossbritannien beim Halbmarathon startet, bedeutet das ja nicht, dass das jeder Fünfundachtzigjährige nachtun könnte.

Eine solche Einleitung kann nur eines ankündigen, nämlich dass ich beim letzten Marathon, den ich laufen -laufen? – wollte, ausgestiegen bin. Gewiss, es gab Gründe, zweimal verlaufen und dann das Gewitter, halten wir uns nicht lange damit auf. Die falsche Abbiegung hat mich, bevor mich der Besen-Motorradfahrer informierte, vielleicht fünf Minuten gekostet, beim zweitenmal war das Absperrband, das uns zum Abbiegen veranlassen sollte, von irgend jemanden weggenommen worden.

Im vorigen Jahr hatte ich die erste Hälfte des Marathons von Neuhaus nach Schmiedefeld in 4:04 Stunden zurückgelegt. Für dieses Jahr hatte ich beabsichtigt, dabei noch einige Minuten einzusparen; doch ich erkannte schon vor Masserberg, dass es mir wieder noch schwerer fiel, die Steigungen hinaufzukommen, als im vorigen Jahr. Keine Rede davon, die Halbmarathonmarke noch in 4:04 zu erreichen. Kurz vor dem Aussichtsturm von Masserberg brach das Gewitter herein. Ich führte zwar den Regenanzug im Rucksack bei mir, aber die Jacke, die ich noch überzog, war im Nu klitschnass. Im Verpflegungszelt stellte ich mich unter. Einer der Posten schlug mir vor, den "Lauf" zu beenden. Nicht das Auto, das wenige Schritte von uns bereitstand, überzeugte mich, sehr wohl aber das Argument, der Beinamputierte und ich, die wir uns in der Position des Letzten abwechselten, würden den ganzen Betrieb an der Strecke aufhalten. Vor allem aber, der Hohlweg, der uns noch bevorstand, sei überschwemmt und ausserdem ausserordentlich rutschig. Der Beinamputierte stieg ins Auto, verliess es jedoch später wieder; er wollte die Prothese weiter ausprobieren. Dafür lasen wir einen weiteren Teilnehmer auf.

Um diese Zeit hatten die ersten der 2854 Gestarteten (2732 Finisher) längst geduscht; Alexander Frisch (GER) lief 2:40:42 Stunden, Anja Jakob (GER) 3:23:44. Die Supermarathonstrecke ist von zwei Österreichern am schnellsten zurückgelegt worden, von Klemens Huemer in 5:29:34 Stunden und Carla Bendl-Tschmiedel in 6:36:12 Stunden. Man sieht, der Rennsteiglauf hat – mit Teilnehmern aus 34 Nationen – längst internationalen Status erreicht.

Auf der Fahrt nach Schmiedefeld fuhren wir verschiedentlich an Läufern vorbei. Ich habe den Eindruck gehabt, als sei die Strecke mindestens einmal aus dem Wald auf die (gesperrte) Strasse verlegt worden. Auch das konnte mir nicht mehr helfen. Vor etwa zwanzig Jahren hatte ich erkennen müssen, dass ich den Spartathlon nicht mehr schaffen würde. Dann war es der Supermarathon des Rennsteiglaufs, den ich am Grenzadler beenden musste, danach die 100 Kilometer, bei denen ich in Bibern ausschied; der Berlin-Marathon, den ich zur Hälfte auf dem Gehweg zurücklegen musste, zeigte mir neuerlich die Grenzen, blieb im vorigen Jahr noch der Marathon des Rennsteiglaufs. Der Zieleinlauf knapp unter 9 Stunden war das jüngste Warnsignal. Nun also ist auch hier die Schlussmarke erreicht.

Können wir daraus etwas lernen? Ich meine, wir sollten solange Herausforderungen suchen, wie es nur möglich erscheint. Wir sollten dann die Realität erkennen – ohne Bitterkeit und in dankbarer Erinnerung.

Eintragung vom 16. Mai 11

Es sieht zwar so aus, als werde die Teilnehmerzahl des GutsMuths-Rennsteiglaufs am 21. Mai wieder die Höhe wie im vorigen Jahr erreichen; aber nicht zu übersehen ist, daß der Lauf vor Jahren schon seinen Kulminationspunkt hinter sich gelassen hat. Dies teilt er mit vielen Veranstaltungen einschließlich des Bieler 100-Kilometer-Laufs. Zu Panik ist kein Anlaß; der Rückgang beim Marathon wird in der Marathon-Analyse von LaufReport mit 10 Prozent angegeben. Vom Höchststand allerdings hat sich die Marathon-Teilnehmerzahl im Laufe der Jahre um fast 30 Prozent reduziert. Hans-Georg Kremer, einer der Begründer und der Öffentlichkeitsarbeiter des GutsMuths-Rennsteiglaufs, hat sich daher an die Freunde der Veranstaltung mit der Bitte gewandt, darüber nachzudenken, wie dem Rückgang beim Supermarathon und beim Marathon entgegen zu steuern sei.

Dieser Tage hat er zehn Zuschriften veröffentlicht. Die Pläne sind vielfältig; sie reichen von der Halbierung der Startgebühr für Erststarter oder einer Belohnung für die Gewinnung von Neulingen über eine extra Seniorenwertung, die Einführung von zusätzlichen Wertungen wie Familien- und Betriebs-Teams bis zur Einführung einer neuen Strecke über 35 Kilometer und eine 10- oder 15-km-Strecke eventuell als Rundkurs um Schmiedefeld, Verbesserung der Verkehrsanbindung, Zerlegung in Teilstrecken und damit Gewinnung von Mannschaften, Verbesserung der Streckenführung und bezahlbaren Erinnerungsstücken oder auch Gratiserinnerungen. Ich gestehe: Überzeugt hat mich im Hinblick auf die Effizienz keiner der Vorschläge. Eine Reduzierung der Startgebühr scheint mir nicht angebracht, zumal da ja schon die Mitglieder des Rennsteiglaufvereins und die Vielfach-Teilnehmer nur die Hälfte zahlen.

Wahrscheinlich gibt es überhaupt kein Mittel, den Rückgang aufzuhalten, da er ja nicht spezifisch mit dem Rennsteiglauf verbunden ist. Diese Meinung soll die Realisierung von Verbesserungsvorschlägen nicht aufhalten; aber einen Teilnehmergewinn sollte man sich davon nicht versprechen. Wenn ich an die vorzügliche Öffentlichkeitsarbeit denke, die sich auch in zahlreichen Veröffentlichungen niederschlägt, so hat man im Thüringer Wald ja keinesfalls die Hände in den Schoß gelegt. Die Organisatoren der "Bieler Lauftage" könnten sich in dieser Hinsicht manches abschauen.

Zum siebentenmal bereits sind die Halbmarathon-Interessenten aufgerufen: "Geh aufs Ganze!" Der Halbmarathon ist mit 4242 Zielläufern die beliebteste Strecke des Rennsteiglaufs. Die "Allgemeinen Informationen" des Rennsteiglaufs schreiben ihm "ca. 6000 Teilnehmer" zu. Die Teilnehmerzahl beim Supermarathon wird nach wie vor mit ca. 2000 angegeben, die Teilnehmerzahl des Marathons mit ca. 3200. Doch das war einmal vor acht Jahren, und beim Supermarathon waren es im Jahr 1990 einmal 1743 Zielläufer, höhere Zahlen gab es nur zu DDR-Zeiten. Mein Vorschlag wäre also: Ehrlichkeit in der Werbung. Doch das bringt wahrscheinlich auch keine zusätzlichen Läufer.

Fürs nächste Jahr braucht man sich in Schmiedefeld jedoch nicht zu sorgen; da findet am 12. Mai der vierzigste Rennsteiglauf statt. Erfahrungsgemäß ist ein Jubiläum immer der Grund, daß die Kurve der Teilnehmerzahl nach oben steigt.

Eintragung vom 9. Mai 11

Meine Lokalzeitung hat die Nachricht unter der Kolumne „Am Rande“ auf Seite 1 veröffentlicht: Ein neunjähriger Junge hat den Weg von Zwickau nach Bernsdorf, dem elterlichen Wohnsitz, zu Fuß zurückgelegt. Ungefähr 20 Kilometer seien das, steht in der dpa-Meldung. Die Fakten: Ein Vater aus Bernsdorf war mit seinem Sohn, eben dem Neunjährigen, in Zwickau einkaufen. Gegen Mittag verloren sich die beiden aus den Augen. Der Neunjährige, nicht faul, machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Rechtzeitig zum Abendessen, gegen 18.45 Uhr, war er zu Hause. Ende.

Zuerst wunderte ich mich – nicht über die Fußstrecke, sondern daß dieser Heimmarsch sowohl der „Freien Presse“ als auch der Deutschen Presse-Agentur eine Meldung wert war, und nun auch dem Redakteur meines Lokalblattes die Veröffentlichung. Meine Verwunderung brach sich in „Na und?“ Bahn.

Ich erinnerte mich an meine Kindheit. Jahrelang besuchten wir jedes Jahr meine Großeltern im Riesengebirge. In der warmen Jahreszeit unternahmen wir mit meinem Großvater längere Wanderungen. Nach meiner Erinnerung begann das für mich im Alter von vier Jahren; auf diese Weise gelangte ich auf den Gipfel der Schneekoppe. Meine Großeltern wohnten in Schmiedeberg. Das bedeutete: Wir machten uns um 8 Uhr morgens auf den Weg nach Krummhübel. Auf der Riesengebirgskarte, die ich aus dem Jahr 1928 habe, sind das etwa 10 Kilometer. Da der Maßstab 1 : 130.000 ist, läßt sich die Entfernung nicht präzise bestimmen. Von Krummhübel wanderten wir durch den Melzergrund auf den Kamm und von dort über den Jubiläumsweg auf den Gipfel, das mögen 4 Kilometer sein. Die Luftlinie von Krummhübel zum Kamm beträgt 2,3 Kilometer; so lang nämlich ist die Seilbahn, die heute zum Kamm führt. Schmiedeberg liegt 430 Meter über dem Meeresspiegel, die Schneekoppe ist 1602 Meter hoch, sie war damals die höchste Erhebung der deutschen Mittelgebirge. Als Vierjähriger mußte ich also fast 1200 Höhenmeter meistern. Auf der Rast gab es vermutlich einige mit Margarine bestrichene Scheiben Brot aus der Brotbüchse und zwei gekochte Eier, auf dem Gipfel mit Sicherheit eine Limonade. Zum Essen einkehren konnten wir nicht; mein Vater war arbeitslos, mein Großvater, vordem Provinzial-Beamter, erhielt eine nicht gerade üppige Pension. Die Frauen, meine Großmutter, meine Mutter und ihre Schwester, waren einkommenslose Hausfrauen.

Ja, und diese 14 Kilometer, nur eben jetzt mit etwa 1200 Metern Gefälle, mußten auch wieder zurück nach Hause bewältigt werden. Verkehrsmittel, das Postauto von Krummhübel nach Schmiedeberg, durften aus Kostengründen nicht benützt werden. Meine Erinnerung an diese Tageswanderung ist verständlicherweise nicht sehr scharf, aber ich erinnere mich sehr wohl, daß ich todmüde in Schmiedeberg ankam und sofort ins Bett sank.

Ich bin weit davon entfernt, eine solche strapazenreiche Wanderung für Familien mit Kindern zu empfehlen. Aber beim Lesen besagter Zeitungsmeldung drängt sich mir das Resümee auf: Auch ohne Schneekoppe war ein Sonntagsausflug über 20 Kilometer in meiner Kindheit so ungewöhnlich nicht. Niemand wäre damals auf die Idee verfallen, eine Zeitungsmeldung zu verfassen, wenn ein neunjähriger Knabe eine 20-Kilometer-Wanderung beendet hatte.

Blicke ich auf mein Leben zurück, so waren es nur wenige Jahre, nämlich als ich mir 1954 eine Vespa gekauft hatte und 1960 einen Volkswagen, daß ich, bevor ich mit dem Laufen begann, nicht auch schon ganzjährig trainiert war. Die strapaziöse Wanderung als Vierjähriger von Schmiedeberg, heute Kowary, auf die Schneekoppe (Sniezka), hat mir keineswegs die Lust am Wandern verdorben. Als Schüler unternahm ich extensive Wanderungen, auch wieder ohne Verkehrsmittel, denn das Taschengeld war knapp. Im Berufsleben war fast jeder Urlaub ein Wander-, ein Radwander- oder ein Skiurlaub.

Ich bilde mir nicht ein, daß ich – vor dem Beginn der Massenmotorisierung – eine Ausnahme gewesen sei. Das Erscheinen der Meldung unter dem Titel „20-km-Heimweg“ hat mir vor Augen geführt, was wir alle verloren haben. Doch haben wir denn etwas verloren? Es liegt schließlich an uns selbst, ob wir unsere Füße gebrauchen. Beim Kultur-Run in Oberhausen am 29./30. April, einem 24-Stunden-Lauf, war unter den Damen eine, die 92 Kilometer zurücklegte. Das ist für einen 24-Stunden-Lauf nicht so sehr viel; doch die „Dame“, Sarah Hildebrand, ist zwölf Jahre alt. Weshalb nur ist dies nicht als dpa-Meldung verbreitet und von meinem Blatt gedruckt worden?

Eintragung vom 2. Mai 11

Schneller werden kann ich seit etwa dreißig Jahren nicht mehr. Verletzungen habe ich nicht, zumindest keine, die mich Rat suchen ließ. Daher interessieren mich in "Runner's World" primär Reflexionen über das Laufen. Kann auch ein bißchen Klatsch sein. Irgendwie habe ich daher im vorigen Jahr erfahren, daß Dieter Baumann beabsichtigt, in diesem Jahr die 100 Kilometer in Biel zu laufen. Im Februar-Heft brachte Dieters RW-Kolumne die Bestätigung: "Nach Biel 2011 kommt London 2012". Dieter Baumann macht sich darin über die verzweifelten Bemühungen lustig, Läufer für den deutschen Marathon-Kader der Olympischen Spiele 2012 zu finden. Er, der 45 Jahre alte Dieter Baumann, stehe bereit... Das ist der (gelungene) Scherz. Die andere Information hingegen ist Realität: "Ich werde in anderen Dimensionen denken (ich sage nur: 100 Kilometer in Biel)."

Wer sich vielleicht als Lauf-Anfänger über den Wahrheitsgehalt dieser Information im Februar-Heft nicht im klaren war, ist im folgenden März-Heft aufgeklärt worden: "Wenn ich beispielsweise einen langen Lauf mache, um mich für die 100 Kilometer von Biel vorzubereiten..." Kein Zweifel, Dieter wird in Biel starten, und zwar nicht zum Halbmarathon nach Aarberg, sondern zum 100-Kilometer-Lauf. Man kann's ja auch checken; er steht in der Bieler Startliste unter M 45 mit dem Vermerk: (Startgebühr) bezahlt.

Aller guten Dinge sind drei. Dieter Baumanns Kolumnentitel im April-Heft von "Runner's World" lautet "Entschleunigung heißt die Devise", denn die Kolumne handelt von Baumanns Vorbereitung auf Biel. Nun wurde es für mich spannend. Könnte Biel doch noch einmal ein Thema abgeben? Es kann, dieser Ansicht ist auch Dieter Baumann. Seine Kolumne im Mai-Heft ist überschrieben mit: "Fünf-Minuten-Schnitt". Der Vorspann erklärt: "Der 5000-Meter-Olympiasieger versucht weiterhin, zum Langsamläufer zu werden, um die 100 Kilometer von Biel zu schaffen."

Vier Mal hintereinander die 100 Kilometer von Biel im Heft. Das hat selbst das Fünfzig-Jahr-Jubiläum des Schweizer Ultralaufes im Jahr 2008 nicht vermocht. Da kam das Wort Ultra in den ersten fünf Heften überhaupt nicht vor, dann aber im Juni-Heft, im Bieler Jubiläumsmonat, ein Ultra-Thema, jedoch nicht über Biel, sondern die Reportage eines amerikanischen Autors über einen amerikanischen Ultralauf. In einem Kasten sind die zehn schönsten Ultraläufe ausgewählt; hier endlich ist auch der Veranstaltungstermin von Biel genannt und sein Fünfzig-Jahr-Jubiläum. Das wär's. Im November-Heft schildert dann ein Läuferpaar seinen ersten Hunderter in Biel. Da wird das Fünfzig-Jahr-Jubiläum erwähnt.

Was lernen wir daraus? Fünfzig Jahre eines Laufes, mit dem die Ultralaufbewegung in Europa begründet worden ist, eines Laufes, der vier Jahre älter ist als der erste deutsche Volkslauf, waren kein Thema. Wenn jedoch Dieter Baumann die 100 Kilometer angehen will, ist das ein Thema, eines in bisher vierfacher Variation.

Nun beginnt, mich die handwerkliche Seite, die laufjournalistische Planung, zu interessieren. Kann Dieter Baumann im Juni-Heft nochmals über Biel plaudern? Wenn ja, dann würde jedoch vom 18. Juni, 19 Uhr, an ein unaktuelles Heft im Kiosk hängen. Wie ist es mit der Berichterstattung? Das Juli-Heft liegt dann bereits gedruckt vor, wenn die Bieler Lauftage stattfinden. Kann man jedoch im August-Heft noch über ein Ereignis am 17./18. Juni berichten? Das vielleicht nicht, aber ein Kolumnist könnte durchaus noch erzählen, wie er in jener Nacht zum erstenmal die 100 Kilometer bewältigt habe. Denn viermal hintereinander seine Absicht ankündigen und dann nach dem Ereignis schweigen, das geht doch wohl auch nicht.

Wie gut hatten wir es doch früher! Man startete in Biel, kam an oder auch nicht – wen interessierte das? Wir hatten nur den eigenen Druck auszuhalten, nicht den der Öffentlichkeit.

Für die Bieler Lauftage ist auf jeden Fall die Teilnahme Dieter Baumanns ein Segen. Wie anders hätte es die Veranstaltung sonst geschafft, in vier Heften nacheinander abgehandelt zu werden!

Eintragung vom 25. April 11

  Fred Lebow hat auch in dieser Beziehung eine glückliche Hand gehabt: Im Jahr 1978 lud er auf Empfehlung seines früheren Sponsors Finnair die 25jährige Grundschullehrerin Grete Waitz zum New York City Marathon ein. Sie galt zwar als die beste Mittelstreckenläuferin in Europa, war aber noch nie einen Marathon gelaufen. Die längste Strecke, die sie bis dahin im Leben gelaufen war, betrug 20 Kilometer. Lebow ging das Wagnis ein. Am Ziel erlebte er, wie Martha Cooksey, Anwärterin auf einen Rekord, auf allen vieren über die Ziellinie rutschte – 2:41:48. Sie war die Zweite, die Erste hatte die Ziellinie bereits nach 2:32:30 passiert und war verschwunden. Es war Grete Waitz.

Sie war weder auf der Liste der Champions gestanden noch hatte sich irgend ein Journalist um sie gekümmert. Ihre Zeit war damals ein neuer Frauen Weltrekord.

Den Marathon-Weltrekord hatte zuvor Christa Vahlensieck, die von Ernst van Aaken geförderte Läuferin, mit 2:34:48 gehalten. Über Ernst van Aaken, den weltweiten Pionier des Frauen-Laufsports, habe ich sie kennengelernt. Grete Waitz bin ich, obwohl ich den Marathon 1978 in New York ebenfalls gelaufen bin, erst zehn Jahre später in Wien begegnet.

Grete Waitz, geboren am 1. Oktober 1953 in Oslo als Grete Andersen, hatte mit dem Marathon in New York ihre erfolgreiche Laufkarriere beenden wollen. Sie hatte schließlich, nachdem sie als Sechzehnjährige die norwegischen Juniorenmeisterschaften im 400- und 800-Meter-Lauf gewonnen hatte, ein Jahr später mit 8:46,6 min einen Weltrekord über 3000 m aufgestellt. Ihr Marathon-Weltrekord spornte sie jedoch an, zum New York City-Marathon zurückzukehren. Sie verbesserte zwar in den folgenden Jahren ihre Zeit, die erste Frauen-Zeit unter 2:30 Stunden, auf 2:27:33 und 2:25:42; aber bei einer Nachmessung erwies sich die Strecke als um 150 m zu kurz (laut Wikipedia). 1982 jedoch erreichte sie auf der korrekt vermessenen Strecke 2:27:14. Neunmal gewann sie den City-Marathon – eine einzigartige Leistung. 1990, zum Abschluß ihrer leistungssportlichen Laufbahn, wurde sie Vierte. Nicht nur durch ihre kontinuierliche Spitzenleistung in New York entwickelte sich ein enges Verhältnis zu Fred Lebow, der das Ehepaar Waitz – Grete hatte 1975 ihren Trainer Jack Waitz geheiratet – mehrmals besuchte. Das New Yorker Publikum und die amerikanischen Medien schätzten ihre Natürlichkeit.

1980 hatte sie ihren Beruf aufgegeben und widmete sich ganz dem Sport. Beim London-Marathon 1983 lief sie den Frauen-Weltrekord von 2:25:29. Sie startete beim Marathon der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Helsinki, beim ersten olympischen Frauenmarathon in Los Angeles, wo sie nach Joan Benoit die Silbermedaille gewann, beim Marathon in Stockholm und beim Marathon der Olympischen Spiele in Seoul, wo sie jedoch wegen einer Verletzung ausscheiden mußte. In Deutschland nahm sie 1986 am Paderborner Osterlauf teil; sie beendete die 25 Kilometer in der damaligen Weltbestzeit 1:22:28 (Wikipedia).

Nach ihrem Ausscheiden aus dem Hochleistungssport widmete sich Grete Waitz insbesondere der Förderung des Frauenlaufsports und der Jugendarbeit. Der von ihr begründete Grete-Waitz-Lopet entwickelte sich zum größten Frauenlauf der Welt ("Runner's World"). Ein Ereignis, das die ganze Sportwelt emotional tief bewegte, war, als sie 1992 den sechzigjährigen Fred Lebow, bei dem ein Hirn-Tumor diagnostiziert worden war, bei seinem ersten und einzigen Lauf auf "seiner" Strecke, dem New York City Marathon, begleitete. 13 Jahre später wurde bei ihr selbst, die außer einer Streßfraktur niemals krank gewesen war, Krebs diagnostiziert. Dieser Erkrankung ist sie nun, im Alter von 57 Jahren, erlegen; sie starb in der Nacht zum Dienstag, 19. April, im Ullevål-Krankenhaus in Oslo, Jack Waitz war bei ihr.  

Wir trauern um eine der bedeutendsten Pionierinnen des Frauenmarathons.

Eintragung vom 18. April 11

Nicht über den London-Marathon möchte ich reflektieren, wie wohl... am gestrigen Sonntag hat der einunddreißigste mit 34.710 Finishern stattgefunden. Ich erinnere mich: 1981 war der London-Marathon wohl der erste City-Marathon in Europa, wenige Wochen vor dem in Frankfurt‑Hoechst. Im Jahr 1984 bin ich ihn gelaufen. Immer wollte ich das wiederholen, denn ich hatte das Unglück, mir zuvor am Abendessen in London den Magen zu verderben. Auf einem Klo-Häuschen an der Strecke hörte ich, wie die Läuferinnen und Läufer hundertweise vorbei trappelten. Es reichte dann, als ich mich entleert hatte, noch zu 3:41:32.

Eine Marathon-Übertragung ist die einzige Gelegenheit, daß ich schon am Vormittag fernsehe. Am Sonntag mußte ich zwischen Eurosport und ORF wechseln, denn überwiegend gleichzeitig wurden der London- und der Vienna City Marathon übertragen. Zwar bin ich selbst immer lieber einen Marathon in einer einzigen Runde oder von A nach B gelaufen, aber als Zuschauer, gestehe ich, schätze ich an einem Marathon in zwei identischen Runden, daß man sowohl die besten Zieleinläufe als auch die Masse sehen kann, die sich gerade auf die zweite Runde begibt. Haile Gebrselassie ist zwar nicht den Marathon, sondern in 60:18 Minuten den Halbmarathon gelaufen, hat aber die Berichterstattung dominiert. Er war mit einem Handicap von 2 Minuten gestartet und überholte bei Kilometer 11,5 die Marathon‑Spitze. Über den Wien-Marathon wird hier fachkundig an anderer Stelle berichtet.

Richtig, ich will ja über einen anderen Marathon reden – nein, nicht den Zürich-Marathon ebenfalls am 17. April, und auch den Boston-Marathon am heutigen Montag will ich nur erwähnen. Vielmehr habe ich an den Spreewald-Marathon gedacht. Dafür gibt es mehrere Gründe. Den ersten im Jahr 2003 bin ich selbst gelaufen.

  Dennoch kenne ich – man wird sich wundern – die Strecke nicht. Damals sind wir in Cottbus gestartet und fanden in Burg das Ziel. Den Streckenlauf hat man in einen Zweirunden‑Lauf mit Start und Ziel in Burg umgewandelt. Die zweite Runde umgeht allerdings das Ziel großräumig, so daß die ersten 5 Kilometer der zweiten Runde neu sind. Ich vermute, daß man auf diesen beiden Runden der Spreewald-Landschaft näher ist als auf der einstigen Streckenroute.

Dies ist der zweite Grund für mich: ein Landschaftslauf, der tatsächlich typische Eindrücke der Landschaft vermittelt. Allerdings, bei meinem Spreewaldlauf bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß man den Spreewald unbedingt mit dem Kahn bereisen sollte. Daher empfehle ich, die Marathon-Teilnahme mit einer tunlichst längeren Kahnfahrt am Samstag oder am Montag zu verbinden.

Der Spreewald war, wenn man von den Besuchen bei meinen Großeltern im Riesengebirge absieht, mein erstes touristisches Ziel im Leben gewesen. Ich war elf Jahre alt, und der Schule war eine Sonderfahrt wahrscheinlich nach Lübbenau mit einigen Stunden auf dem Kahn angeboten worden. Dauerhaftes Wissen hat mir dieser Ausflug nicht vermittelt, wohl aber das Bedürfnis im Erwachsenenalter, die Kahnfahrt im Spreewald zu wiederholen. Dieser Wunsch steigerte sich im Jahr 2003, als ich zwar den Spreewald‑Marathon lief, aber das Kahnfahren versäumte. Im vorigen Jahr, als Markus und ich am Rennsteig-Marathon teilnahmen, unternahmen wir einen Abstecher nach Lübbenau. Die – mit Mittagspause – etwa dreistündige Kahnfahrt weckte den Wunsch nach mehr. Wir beschlossen, in diesem Jahr in Lübbenau zu übernachten und möglichst einen ganzen Tag auf dem Kahn zu verbringen. Dies scheint allerdings gar nicht so einfach zu sein; neun‑ bis zehnstündige Fahrten werden selten gebucht. Wir arbeiten noch dran.

Von Anfang an ist der Spreewald ein Multisportereignis gewesen, das sich über die ganze Landschaft erstreckt. Es werden nicht weniger als 32 Wettbewerbe an unterschiedlichen Orten angeboten – ein weiterer Grund, auf dieses Ereignis, das am Sonntag zum neuntenmal veranstaltet worden ist, hinzuweisen. Wo gibt es das – zwei Halbmarathone auf unterschiedlichen Strecken? Man kann auch skaten, walken, wandern, radfahren, und man kann paddeln oder sich in anderen Wasserfahrzeugen fortbewegen. Das Marathon‑Ziel haben nur wieder 361 Läufer erreicht; doch alles in allem waren es bei steigender Tendenz etwa 8.500 Teilnehmer an den Sportveranstaltungen. Die zuständige Ministerin Dr. Martina Münch eröffnete nicht nur das Ereignis, sondern lief auch selbst den Halbmarathon in Burg.

Eigenständig wie die gesamte Veranstaltung sind auch die „Medaillen“: gußeiserne Gurken. Bevor die Motorisierung eingesetzt hatte, waren auf den größeren Bahnstationen im Spreewald Gurken, eines der Haupterzeugnisse im Spreewald, als Reiseverpflegung angeboten worden.

Der Bericht über den Spreewald‑Marathon und die ersten Bilder haben meine Freude auf meine nächste Reise in den Spreewald am 23. Mai erheblich gesteigert.

Eintragung vom 11. April 11

In den letzten Wochen hat sich mein Horizont erheblich erweitert – nicht gerade in symbolischem Sinne, sondern ganz real. Wenn ich aus den Fenstern im ersten Stock schaue, erblicke ich eine Baugrube und über ihr, in etwa 100 Metern Entfernung, unseren Lauf- und Radweg. Der war sonst durch das Gebäude des Kindergartens und einige Bäume verborgen. Der Kindergarten ist abgerissen, die Bäume sind gefällt. Über der Baugrube wird sich ein Neubau erheben. Bis es jedoch soweit sein wird, kann ich vom Fenster aus Läufer und Walker beobachten.

Da ist mir etwas aufgefallen. Seither blicke ich sehr oft aus dem Fenster und finde meine frühere Beobachtung bestätigt. Sie hat keinen Beweiswert, doch meine Beobachtung ist auch nicht abzutun.

Vor fast acht Jahren ging durch die Blätter – wahrscheinlich tatsächlich durch alle Blätter, voran die Laufzeitschriften – die Nachricht des AOK-Bundesverbandes über eine Laufstudie, die im Auftrag der Allgemeinen Ortskrankenkassen von der Sporthochschule in Köln angestellt worden ist. Die Nachricht ließ zwei Reaktionen zu. Die einen, die Nichtläufer, konnten sich in die Brust werfen und verkünden, sie hätten es schon immer gesagt; die anderen – wir, die Läufer – schüttelten den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Der Tenor lautete: Die deutschen Freizeitläufer laufen zu schnell. Das "Deutsche Ärzteblatt" formulierte: "Deutschlands Freizeitläufer neigen dazu, sich zu überfordern. Einer aktuellen Studie der AOK zufolge beanspruchen fast die Hälfte aller Jogger ihren Körper so stark, daß das Laufen nicht mehr ihrer Gesundheit dient" (Zur Sprachpflege: Korrekt wäre das Verb im Singular – "...beansprucht fast die Hälfte...").

 

Auf diese Studie ist in den folgenden Jahren immer wieder einmal Bezug genommen worden. Sie erweckt schließlich den Anschein geballter Kompetenz. Die AOK leitete damit die Einräumung eines Bonus-Tarifs ein. Allerdings, bei Läufern weckte der Auftraggeber Mißtrauen. Hatte doch die AOK elf Jahre zuvor in ihrem Mitgliederblatt "Gesund leben" (3/92) erhebliche Kritik an den Marathon-Veranstaltungen, dem "Marathon-Wahnsinn", geübt und allen Ernstes behauptet, 1 bis 2 Prozent der Teilnehmer würden ihren Lauf mit dem Leben bezahlen, entweder noch während der Veranstaltung oder "kurz danach". Niemandem außer den Läufern ist aufgefallen, daß dies beim Berlin-Marathon jeweils einer Quote von 300 bis 600 Todesopfern entspräche. Nun ja, später hat die AOK ja wohl die Konsequenz gezogen, den Chefredakteur und Autor abgelöst und das Blatt neu konzipiert. Nicht nur das, die regionalen oder örtlichen AOK unterstützen auch Laufveranstaltungen, einschließlich der ehemals tödlichen Marathone; im Jahr 2008 erhielt ich in Freiburg i. B. eine Medaille, auf deren Band die Werbung steht: "AOK – Die Gesundheitskasse für Läufer". Genau dieser Aspekt, wir Marathon-Teilnehmer ruinierten die Gesundheitskasse, war 1992 gerügt worden. Der Bundesverband hat Herbert Steffny die Betreuung von "Laufend in Form" übertragen.

Immerhin, im Bewußtsein der älteren Läufer hat sich der unqualifizierte Angriff der AOK auf den Marathon erhalten. Doch da ist der seriöse Partner Sporthochschule. Die Kölner Wissenschaftler wählten erstmals einen interdisziplinären Ansatz, nämlich eine Analyse des Laufverhaltens sowohl unter medizinischen als auch unter psychologischen Aspekten. Im Mediendienst des AOK-Bundesverbandes heißt es: "Getestet wurde das Laufverhalten in vier verschiedenen ,Bewegungswelten', im Fitneß-Studio, als Einzelläufer, in Gruppen bei einem Lauftreff und während eines Volkslaufs." Da wundere ich mich. Wie kann man im Fitneß-Studio Laufverhalten realistisch testen? Wie kann man kritisieren, daß jemand bei einem Volkslauf "zu schnell" läuft? Auch Volksläufe sind sportliche Wettbewerbe.

Die Probanden waren 171 Läufer aus Bonn und Umgebung, im Alter von 16 bis 85 Jahren, später erweitert um 150 Läufer aus Berlin und Dresden, im Alter von 11 bis 74 Jahren. Heraus kommt: "Deutschlands Freizeitläufer neigen dazu, sich zu überfordern" ("Deutsches Ärzteblatt"). Für Erkenntnisse dieser grundlegenden Art scheint mir die Probandenzahl denn doch zu gering zu sein.

Die Studie liegt über acht Jahre zurück. Doch immer wieder einmal wird sie zitiert, und immer als gewissermaßen wissenschaftlicher Beweis dafür: "Deutschlands Jogger überfordern sich".

Deshalb also schaue ich aus dem Fenster, um den Laufweg zu beobachten. Ich suche nach ihnen, den Joggern, die sich überfordern. Doch ich mache dieselbe Beobachtung wie in all den Jahren als Läufer und Walker. Ich finde, daß sie alle dem Anschein nach angepaßt laufen. Bei manchen, denen ich begegne, kann man es hören – sie unterhalten sich.

Nur, was mache ich mit meiner Beobachtung? Niemand druckt mir, was ich zu berichten habe. Dagegen kann ich sicher sein, daß die im Auftrag der AOK 2003 ausgeführte Studie der Sporthochschule weiterhin zitiert wird: "Jogger sollten kürzer treten" ("Deutsches Ärzteblatt").

Eintragung vom 4. April 11

Wahrscheinlich entspricht es dem Wesen des Menschen, einen Zeitablauf zu strukturieren. Früher war es die Landwirtschaft, die das Erleben eines Jahres bestimmte. Manche religiösen Bräuche haben darin ihren Ursprung. Ein Beispiel: Ich denke an den Osterritt der Sorben, jenes slawischen Volksstammes in der Lausitz. Doch die Landwirtschaft wird heute als Industrie betrieben; die Mehrzahl der Bauern ist zu Spezialisten der Lebensmittelerzeugung geworden. Kein Boden mehr für die in der Landwirtschaft wurzelnden Bräuche. Und gläubig sind nur noch die wenigsten von uns. Doch wenn ich mir den Kalender anschaue, entdecke ich andere Zeitmarken, nämlich bestimmte Lauftermine.

Am gestrigen Sonntag war einer davon, der Termin des Freiburg-Marathons. Es ist die pure Einbildung: Wenn in Freiburg Marathon und Halbmarathon gelaufen worden sind, dann ist Frühling. Wenn die Bieler Lauftage sind, beginnt der Sommer. Der Schwäbische-Alb-Marathon kennzeichnet den ausgehenden Herbst. Silvesterläufe liegen in unserer Vorstellung im tiefsten Winter.

Unsere Vorstellungen haben mit der Realität wenig zu tun. Wir laufen das ganze Jahr hindurch. Der gefühlte Frühlingsmarathon ist in die Türkei verlegt, mag die Natur am Lauftag, dem 6. März, mit Regengüssen unser Spiel auch nicht mitgespielt haben. Im März wird auch in Kandel gelaufen, mag ja sein; aber erst Freiburg markiert den Frühling.

All das muß gar nicht stimmen. Wer an der Ostseeküste lebt, den interessiert Freiburg im Breisgau wenig. Wer reist schon nach Biel, sofern er nicht die 100 Kilometer beabsichtigt? Vielleicht ist die jahreszeitliche Strukturierung geographisch unterschiedlich? Daß sie in unseren Köpfen besteht, möchte ich mir nicht ausreden lassen.

Freiburg hat ja auch etwas Frühlingshaftes. In Südbaden bricht der Frühling am frühesten aus. Hier ist es wärmer als anderswo. Am 4. April war es allerdings so warm, daß der Frühlingsmarathon ein Sommermarathon war. Dies auch mit medizinischen Folgen.
Der Freiburger Marathon hat ein eigenes Profil, zum einen durch die 42 Bands auf der Straße, zum anderen durch die Einbindung der Schulen. Beides ist bemerkenswert; dennoch: In unserer Vorstellung repräsentiert Freiburg den Frühlingsmarathon.

Zu weiteren Tagebuch-Eintragungen:
Zurück zur den aktuellen Eintragungen HIER
Zu weiteren aktuellen Inhalten bei LaufReport.de