Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintrag vom 20. 3.  03

Beim Laufen denken wir nicht ans Laufen, häufig selbst beim Marathon nicht. Heute habe ich unterwegs gedacht, worüber auch beim Friseur gesprochen worden ist: Krieg. Als ich im September 1945 aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrte, war ich mir sicher, ich würde keinen Krieg mehr erleben. Schon zuvor, Mitte Mai, im Güterzug, der uns aus einem Sammellager nach Auschwitz in die Kriegsgefangenenlager brachte, unterhielt uns ein Kamerad mit seiner visionären Idee. Wenn es wieder einmal zu Auseinandersetzungen kommen sollte, würden die Führer der gegnerischen Staaten von einer Art Weltgericht in eine Arena geführt,  und dort müßten sie mit Knüppeln aufeinander einschlagen, die Vertreter der Völker aber würden zuschauen. Wir hatten gegen diese Idee nichts einzuwenden. Wer weiß, ob der Kamerad, der diese Phantasie entwickelte, zurückgekehrt ist. Denn die Züge, die später in Auschwitz  zusammengestellt wurden, fuhren nicht nach Deutschland, wie uns die Russen vorlogen, sondern nach Sibirien.

Dreimal war ich schon in einem solchen Transportzug, zweimal mußte ich wegen Ruhrverdachts ins Lager zurück, beim drittenmal täuschte ich den Verdacht vor, log mich in die gerade gegründete Jugendkompanie, indem ich mich für siebzehn, nämlich um ein Jahr jünger, ausgab und gehörte zu den Nichtarbeitsfähigen, die schon im September 1945 entlassen wurden. Als ich mit zwei anderen von Frankfurt an der Oder nach Spremberg tippelte – in Lieberose durfte ich mich zum erstenmal nach Monaten dank einer Pilzsuppe wieder sattessen – , war uns klar: Mit uns würde man Krieg niemals mehr machen können. Mit mir konnte man es schon vorher nicht machen, denn im Gegensatz zu einem Bataillonskommandeur namens Ernst von Weizsäcker und anderen, aus denen später Adenauer sein Personal rekrutierte, hielt ich den Krieg für verloren und trachtete allein danach zu überleben. Ich höre noch die Stimme eines Feldwebels, der mich anschrie: „Sonntag, Sie bringe ich vors Krieggericht!“ Es ergab sich, daß ich auf dem ungeordneten Rückzug ohnehin versprengt wurde und drei Tage bei menschlich anständigen Polen lebte. Ich wäre damals ohne Wimperzucken desertiert, wie mir die polnische Familie nahelegte, doch ich traute den Russen nicht. Mein pazifistisches Profil schärfte sich dann noch, als in der DDR die Ideologie vom „gerechten Krieg“ verkündet wurde. Wer damals die DDR verließ, weil er keinen Krieg für gerecht hielt, dem wurde das von der verlogenen damaligen Bundesrepublik – verlogen, weil sie genau dieser Ideologie ebenfalls folgte – als Fluchtgrund anerkannt. 1954, als die SPD-Ortsgruppe in Schwäbisch Gmünd wie überall auf die Adenauersche Wiederbewaffnung eingeschworen wurde, meldete ich mich als junger Redakteur, der eigentlich nur zuzuhören hatte, zu Wort. Natürlich habe ich nichts bewirkt, nicht einmal Nachdenklichkeit. Dennoch, die jetzigen Reaktionen in Deutschland auf den Angriff durch den amerikanischen Präsidenten Bush gegen den Irak geben mir Hoffnung. Das Trauma der Katastrophe Nazireich und zweiter Weltkrieg wirkt offenbar auf die folgenden Generationen in Deutschland nach. Der Verlust eines Drittels des Reichsgebietes läßt sich nicht unter die Decke kehren. Frauen vergewaltigen, Männer für Jahre verschleppen oder schlicht sterben lassen, nach Kräften Beute machen – in einem gerechten Krieg ist alles erlaubt, handelt es sich doch um Wiedergutmachung. Die Deutschen wissen, für einen Diktator und seine Hausmacht muß allemal das Volk büßen. Warum läßt es sich auch gleichschalten? Von einer Schicht Unbelehrbarer abgesehen. Ich zähle mich dazu.

Die Trainingsstrecke ist zu kurz, alle Gedanken zu Ende zu führen. Zudem, wer liest das, mag so etwas lesen, wenn er doch laufen will? Ich denke, Geschichte läßt sich an Biographien festmachen; in den Büchern stehen nur die Fakten, nicht die Leiden. Vielleicht würde mich die Bitterkeit, die beim Erinnern aufkommt, überfluten, gäbe es nicht die Therapie Laufen.

Eintrag vom 12. 3. 03

Die erste Schwalbe, die noch keinen Sommer macht... Aber immerhin ein Ereignis. So ähnlich ist das, wenn man zum erstenmal wieder in kurzer Hose laufen kann.

Der Titel deutet auf ein sehr spezielles Thema hin: „Zur Geschichte des Sports an der Universität Jena“. Gut, daß die Neugier größer ist  als der innere Widerstand, möglicherweise für mich Überflüssiges zu lesen. Ich gehöre zu den unprofessionellen Journalisten, die ein Buch, das sie besprechen wollen, tatsächlich komplett lesen. Auf diese Weise habe ich auch diesmal wieder einiges gelernt. Hans-Georg Kremer breitet in diesem Band „Materialien, Geschichten, Bilder“ aus der Friedrich-Schiller-Universität aus. Wie wohl nur wenige Universitäten ist die Universität Jena seit ihrer Gründung im Jahr 1558 den Leibesübungen und dem späteren Sport verbunden. Zwar schien das Fechten die Hauptrolle zu spielen, aber einer Urkunde aus dem Jahr 1567 ist zu entnehmen, daß die Studenten auch Ballspiele betrieben, kegelten, Pikenwerfen, Fahnenschwingen, Reiten und Zielschießen übten. Solch sportliche Aktivität liegt schon deshalb nahe, weil zu dieser Zeit Unterhaltung durch Leibesübungen auch im Volk beliebt war. Die ältesten Darstellungen sportlicher Übungen aus der Handschriftenabteilung  der Friedrich-Schiller-Universität belegen denn auch fürs 15. Jahrhundert Ringen und Werfen. Später waren Leibesübungen ein Motiv von Stammbuchbildern; das älteste derartige Jenaer Stammbuchbild aus dem Jahr 1619 enthält außer fechtenden Studenten auch Läufer in den Weinbergen. Solche Fakten machen deutlich, daß dieser Band, der zunächst nur von lokalgeschichtlichem Interesse zu sein scheint, einen durchaus relevanten Beitrag zur allgemeinen Sportgeschichte darstellt. In den letzten Jahren ist in Jena ein umfangreiches Bildarchiv aufgebaut worden, aus dem Kremer erstmalig in dieser Fülle (etwa 500 Abbildungen) schöpfen konnte. Wiewohl Kremer nicht im geringsten den wissenschaftlichen Pfad verläßt, finden sich immer wieder anekdotenhafte Züge. Zum Beispiel: Im ersten Jahrhundert der Universität kamen nicht weniger als 42 Studenten bei Raufereien und Duellen ums Leben, zehn ertranken in der Saale und sieben tranken sich zu Tode. Ein Lehrbeispiel ist die Indoktrination der Universität während der Nazizeit. Ein Dr. Carl Krümmel, Leiter des dem Erziehungsministerium unterstellten Amtes für Körperliche Ertüchtigung, forderte von den Studenten eine sportliche Leistungsprüfung nach dem 4. Semester: „Da muß der Student nachweisen, daß er einen aus dem Wasser holen und einem anderen in die Fresse hauen kann. Das ist allgemeine Bildung.“ So wesentlich wie der Sport für die gesundheitliche Prävention ist, so bedenklich ist die bereits 1925 beurkundete Einführung des Pflichtsports an der Jenaer Universität, der ersten im Deutschen Reich, bedenklich, weil sie den Nazis die Plattform zur Ideologisierung und zum Wehrsport bot.

Was den Band für Ultraläufer zu einer Primärquelle macht, ist ein eigenes Kapitel über den Rennsteiglauf. Kremer schildert darin authentisch den Hintergrund und die Entstehung des GutsMuths-Rennsteiglaufs, der in den ersten Jahren insbesondere mit den Orientierungslaufgruppen der Betriebssportgemeinschaft Lokomotive Weimar und der Hochschulsportgemeinschaft Jena verbunden ist. Ein kürzerer Abschnitt ist dem Jenaer Kernberglauf gewidmet.

Nun weiß ich, wo ich im Bedarfsfall nachschlagen kann. Gut wäre, wenn das Sportmuseum in Berlin, das ja das Laufmuseum der Internationalen Vereinigung der Marathonveranstalter ist, einen solchen Titel „verschlagwortete“ (ich weiß: grausig, aber auch die Fachsprache der Bibliothekare ist gegen Sprach-Verunstaltungen nicht gefeit). Mit anderen Worten, den Worten von uns potentiellen Benutzern: Beim Stichwort „Kernberglauf“ möchten wir dann – dank archivarischer Aufbereitung – eben auf Kremers Publikation hingewiesen werden.

Eintrag vom 1. 3. 03

Im Garten liegt noch Schnee. Die Hamamelis, im Frost erblüht, ist davongekommen, wir hatten befürchtet, sie würde eingehen. Zum Laufen war der Monat gar nicht schlecht. Im Wetterbericht habe ich erfahren, dieser Februar sei der mit den meisten Sonnenstunden seit 1887 gewesen. Nur hat mir die Sonne vorgetäuscht, es sei wärmer, als es tatsächlich war. L 4 nahm übel und raubte mir mit schrillem Schmerz den Schlaf. Einreibungen, Muskelrelaxans, der Orthopäde, Physiotherapie.

Wäre das nach dem Entwurf der neuen Krankenkassenleistungen ein Sportunfall? Aber nein, es gab ja kein traumatisches Ereignis. Aber ja, vielleicht hätte ich bei den Minusgraden nicht laufen sollen. Es wird sich zeigen: Die beabsichtigte angebliche Senkung des Krankenkassenbeitrags wäre pure Kosmetik. Da die Leistungen zurückgefahren werden, wird endlos darüber gestritten werden, welche Leistungen von der Leistungspflicht ausgenommen bleiben. Die Folgen von Sport- und Freizeitunfällen sollen nicht mehr von den Krankenkassen getragen werden. Das bedeutet: Wer auf dem Crosspfad stürzt und sich eine Prellung zuzieht, verschweigt dies lieber und markiert anderntags im Betrieb einen Sturz auf der Treppe. Diese Behandlung müßte die Kasse zahlen, die Behandlung des Freizeitunfalls hingegen nicht. Warten wir’s ab. Fest steht: Auch durch die nächste Gesundheitsreform werden wir nicht gesünder, nicht einmal die Krankenkassen..  

Vor einem Haus in der Nachbarschaft, in dem eine Lauftreffleiterin wohnt, hängt nach schwäbisch-alemanischem Fasnachtsbrauch Wäsche auf der Leine. Sonst merke ich als Läufer nichts von der Fasnachtszeit. Die Läufer, denen ich begegne, tragen keineswegs eine Pappnase oder eine Verkleidung. Woanders habe ich das durchaus erlebt. Doch Alt-Württemberg hat keine Fasnachtstradition. Wer sich verkleiden möchte, wartet bis zur Teilnahme am Medoc-Marathon. Oder vielleicht auch nur bis zum Heilbronner Trollinger-Marathon. Der ist am 25. Mai, am selben Tage wie der Schönbuch-Marathon. Beide eine Autostunde voneinander. Die Zielgruppe ist, schon regional, ziemlich dieselbe. Ich weiß nicht, was man sich in Heilbronn gedacht hat und ob überhaupt. Fair finde ich’s nicht, den kleineren Partner, der immerhin den 29. Marathon veranstaltet, an die Wand zu drücken. Denselben Unfug erleben wir seit einigen Jahren in der Schweiz. Der anspruchsvolle Marathon in Liechtenstein findet Jahr für Jahr zum Termin der Bieler Lauftage statt. Dort läßt man sich in diesem Jahr mit der Aussendung der Ausschreibung viel Zeit. Das läuferische Lebenswerk von Franz Reist hat es nicht verdient, daß es verschlampt wird.

Eintrag vom 21. 2. 03

Eine Reklamation zum Tagebuch, offenbar zum wiederholten Mal. Kaum jemals habe ich mich über eine Reklamation so gefreut wie jetzt. Sportfreunde haben Anstoß genommen an dem Apostroph in „Sonntag’s Tagebuch“. Dies völlig zu Recht. „Sonntags Tagebuch“ steht im Genitiv, und es gibt nicht den mindesten Grund, vor dem Genitiv-S einen Apostroph, ein Auslassungszeichen, anzubringen, denn da wird ja nichts ausgelassen. Weshalb habe ich es dann im Oktober 2002, als ich mit „Laufen, schauen, denken“ begann, getan? Ich bin dem Sog der Zeit erlegen. Der Apostroph entspricht der angloamerikanischen Schreibweise. „Runner’s World“ ist korrekt. Übrigens hat die deutsche „Runner’s World“ nun ihren Internet-Auftritt. Da freilich fällt der Apostroph weg, weil er in den Internet-Adressen nicht gelesen werden kann. Notgedrungen wird also hier, bei www.runnersworld.t-online.de die deutsche Genitiv-Schreibweise verwendet. Aber könnte das S bei runners nicht ein Plural-S sein? Man sieht, der Apostroph im Englischen ist nicht unbedingt ein Unfug. Im Deutschen freilich ist er es, und ich bekenne mich zu der Sünde, dem Sog des angloamerikanischen Sprachgebrauchs nicht widerstanden zu haben. Bei der Präposition „für“ wäre mir das nicht passiert. Immer wieder entdecke ich die falsche Schreibweise „für’s“. Bei „fürs“ wird zwar der Artikel ausgelassen, so daß man damit „für’s“ begründen könnte; aber falsch ist es dennoch, auch wenn es immer wieder in Zeitungen, selbst in Buchtiteln vorkommt. Der Apostroph steht, genau genommen, für einen weggelassenen Laut, üblicherweise das E, nichts sonst. „’s ist nun mal so“, das ist korrekt.

Mir ist zwar bei der Reklamation der Duden vorgehalten worden, aber der Duden ist für mich nicht maßgebend; er ist eine Konvention, nichts weiter, und er stellt keine unumstößlichen Regeln auf, sondern wird opportunistisch dem jeweiligen zeitgenössischen Sprachgebrauch angepaßt. Ein Beispiel: Trotz und dank stehen von Haus im Dativ – logisch, ich trutze jemandem, ich danke jemandem –, dann wurde der Genitiv als gleichberechtigt zugelassen, und heute haben wir die Situation, daß trotz und dank im Dativ nahezu als falsch gelten. Umgekehrt jedoch beobachten wir das Schwinden des Genitivs. Neulich ist in meiner Zeitung wieder „dem“ Todestag des Philosophen Gadamer gedacht worden. Ich fürchte, daß der Duden eines Tages auch hier den Dativ als gleichberechtigt anerkennen wird. Ursprünglich war „nichtsdestotrotz“ ein linguistischer Scherz, zusammengesetzt aus nichtsdestoweniger und trotzdem. Der Scherz ist dermaßen häufig wiederholt worden, daß „nichtsdestotrotz“ schon in den Sprachgebrauch übergegangen ist. Das gespreizte „ansonsten“ hat seit den siebziger Jahren das schlichte „sonst“ verdrängt. Der Duden macht jeden Unsinn mit. Deshalb ist er für mich nicht kompetent.

Statt vordem schleichender Verschlimmbesserung ist Orthographie durch einen Verwaltungsakt festgelegt worden, nämlich durch den Beschluß der Kultusministerkonferenz über die neue Rechtschreibung. Als ich mich damit beschäftigte, fielen mir sofort die unlogischen Änderungen auf, zum Beispiel der Wegfall der Zusammenschreibung. „Was der Herr tut, das ist wohlgetan.“ Jeder weiß was gemeint ist. Die Kultusminister und ihre sogenannten Experten verschlimmbesserten es in „Was der Herr tut, ist wohl getan.“ Unweigerlich stellt sich die Betonung auf getan ein, mit dem Sinn, der Herr habe es wahrscheinlich getan. Gerade das ist nicht gemeint, sondern was der Herr tue, sei rechtgetan, sei gutgemacht, wohlgetan eben. Wohltun bringt Zinsen, nicht das bloße Tun in Wohl tun bringt Zinsen. Statt zu vereinfachen, ist in der neuen Rechtschreibung kompliziert worden: Selbstständig mit zwei st zum Beispiel. Und da, wo es vernünftig wird, richtet sich keiner danach. In den fünfziger Jahren, als ich in die „Stuttgarter Zeitung“ eintrat, gab es eine Hausorthographie; sie sah den „Albtraum“ vor, weil er ja nichts mit Alpen zu tun hat, sondern mit Alben, die einem schwer auf der Brust liegen. Die Rechtschreibreform hat sich dieses Argument zu eigen gemacht, eine der wenigen Vernünftigkeiten. Nur – nirgendwo finde ich den „Albtraum“. Nach wie vor wird „Alptraum“ geschrieben. Ein Verstoß gegen die neue Rechtschreibung. Daran und an anderen Beispielen zeigt sich, daß die Rechtschreibreform die Orthographie nicht erleichtert, sondern schlicht orientierungslos gemacht hat. Als man „daß“ mit ß schrieb, war auf den ersten Blick klar, daß es sich um die Einleitung eines Nebensatzes handelte. Beim „dass“ kommt allzuleicht vor, daß ein S des Doppel-S vergessen wird, und dann schleicht sich Verwirrung ein, zum Beispiel „das (statt daß) fluktuierendes Lesen“ einer Orientierungshilfe beraubt wird. Nimmt man dazu die zahlreichen Anglizismen einschließlich der Pseudo-Anglizismen wie „Handy“, dazu unterschiedliche Schreibweisen – die englische Vokabel tip müßte ich auf Deutsch „Tipp“ schreiben – , zeigt sich, daß der Kanon der Orthographie in Auflösung begriffen ist. Das Internet mit den hingerotzten e-mails hat die Degeneration in Riesenschritten beschleunigt. Zwischen „seit“ und „seid“ wird schon kein Unterschied mehr gemacht.

Die Sensibilität für Sprache habe ich mir nicht in vielsemestrigem Philologiestudium erworben. Vielmehr hat schon meine Mutter den Grund dazu gelegt. Sie hat, aufgewachsen mit acht Geschwistern, allein die Volksschule besucht. Offenbar war es damals noch möglich, an einer Volksschule einwandfreies Deutsch zu lernen, das ich heute bei manchen Universitätsprofessoren vermisse. Die Lektüre von Karl Kraus hat mich sensibilisiert. Deutsch gelernt habe ich dann über Erich Schairer, den Gründer und Chefredakteur der Württembergischen Sonntagszeitung, nach dem Krieg Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“. Ein Erinnerungsband mit einer Auswahl seiner Briefe ist unter dem Titel „Ein Journalist, nichts weiter“ vor kurzem erschienen. Ich habe Schairer nicht mehr persönlich kennengelernt. Doch Schairers Sprachlogik wurde kompromißlos vertreten von meinem Chef, Professor Dr. Josef Eberle. Ein sprachlicher Schnitzer konnte Thema einer Redaktionskonferenz werden. Ein älterer Kollege, berüchtigt ob seiner rigiden Beachtung von Sprachnormen – zwischen uns stand immer die Goldwaage, auf die jedes Wort gelegt wurde –, sorgte für die Umsetzung in die Praxis.

Für mich ist Sprache zu wertvoll, als daß ich sie wie einen Haufen Dreck behandelte. Es versteht sich, daß ich an der konservativen Rechtschreibung festhalte. Ich brauchte daher nicht wie die FAZ, die von der neuen Rechtschreibung reumütig zur konservativen zurückgekehrt ist, eine Kehrtwendung zu machen. Ich hoffe, die Gegner von „Sonntag’s Tagebuch“, der Schreibweise vielmehr, erkennen mich nun als einen der Ihren, und sie verstehen, daß ich mich über ihr Monitum gefreut habe.

Eintrag vom 14. 2. 03

Nun bin ich unversehens in den Grenzbereich des Zielschlusses gekommen; ich muß eine Laufveranstaltung darauf prüfen, ob sie mir Zeit genug läßt. Das Problem ist wohl so alt wie der Volkslauf. Ende der sechziger Jahre oder später hatte in Kaufungen Walter Stille im Pensionsalter zum Laufen gefunden. Wenn er beredt die Wirkungen des Laufens pries, betonte er den Wert des langsamen Laufens. Das war nicht verkehrt, und das haben vor und nach ihm einige getan. Doch Walter Stille zog es auch zu Volksläufen. Und da er für einen Marathon eben Zeit brauchte, vereinbarte er mit dem Veranstalter, daß er eine Stunde vor dem offiziellen Start lostraben durfte. In den neunziger Jahren war es Alfred Pohlan aus München, „Tarzan“, der sich einen vorgezogenen Start erbat. Es gab auch einige andere, weniger bekannte, die sich vor den anderen auf die Strecke schicken ließen. Eine solche Lösung lehne ich für mich ab. Ein Marathon ist ein Wettlauf unter gleichen Bedingungen. Ich hätte ein schales Gefühl, wenn ich meine Wertung einer Bevorzugung verdankte. Abgesehen von den Problemen, die ein für Einzelne vorgezogener Start aufwürfe. Man muß sich Läufe aussuchen, die einen nicht unter Druck setzen und das Ziel erst nach fünfeinhalb oder sechs Stunden schließen. Es gibt sie ja. In Rom hat man gar sieben Stunden Zeit. In New York kann man gar wandern. Dann allerdings, wenn man die Marathonstrecke nicht mehr im Prinzip laufend bewältigen kann, sollte man auf die Ultralangstrecke gehen.

Udo Möller feiert Geburtstag, einen Marathon-Geburtstag; er wird 42 Jahre und 195 Tage alt. Ich erinnere mich, daß auch andere schon statt des vierzigsten ihren Marathon-Geburtstag gefeiert haben. Nur auf Außenstehende mag das komisch wirken. Im Grunde ist jede Geburtstagsfeier nur eine Konvention. In katholischen Gegenden ist früher nur der Namenstag gefeiert worden. Warum also nicht ein Marathon-Geburtstag! Udo Möller begeht ihn am 15. März in Hannover mit einem Lauf über 14,065 Kilometer. Die Pasta-Party findet danach statt. Was wünscht man einem, der seine Marathonreife im Lebens-Lauf feiert? Möge er auch den klassischen Ultramarathon-Geburtstag, den hundertsten, in Gesundheit feiern!

Eintrag vom 5. 2. 03

Erst der Regional-Expreß, dann hatte ich je 20 Minuten Verspätung. Erst brach die Verbindung nach Bad Füssing zusammen, anderntags wäre beinahe mein Marathon zusammengebrochen. Mit dem Auto hätte es mir gereicht, mir die „Knochen des Läufers“, moderiert von Professor Manfred Steinbach, anzuhören. Wegen der Verspätung des Regional-Expresses kriegte ich den IC in Ulm nicht mehr, sondern einen späteren, worauf ich den Bus nach Bad Füssing nicht mehr bekam. Aber wenigstens weiß ich, wo die Abfahrt in München ist. Nach Bad Füssing? Das sieht schlecht aus, sagte man im Reisezentrum (das noch der Anglifizierung harrt). Nach Mühldorf und dann nach Pocking, Ankunft 19.03 Uhr. Von dort mit dem Taxi nach Bad Füssing. Macht von zu Hause alles in allem achteinhalb Stunden. In der Zeit wäre ich in Paris, in Dänemark, in Mailand oder in Wien gewesen. Der Taxi-Chauffeur versuchte, mit mir über eine Handballmannschaft zu plaudern. Doch ich wußte nicht, daß da ein offenbar wichtiges Spiel stattgefunden hatte. Über die Columbia-Katastrophe wiederum verlor er kein Wort, davon erfuhr ich erst nach dem Abendessen bei n-tv. Auch am Abend danach war der Weltraum kein Gesprächsthema, sondern am Nachbartisch die Frage: Ersatzrad beim Mercedes oder tirefit. Übrigens habe ich mich fürs Ersatzrad entschieden.

„Hotel?“ fragte der Fahrer. „Königshof“, sagte ich. Da setzte er mich beim Kurhotel Königshof ab. Dort jedoch suchte man unter den Reservierungen vergeblich, nein, ich sei im anderen Hotel Königshof, das habe aber den Namen geändert. Hatte ich in der Wegbeschreibung „beim“ Zentrum für chinesische Medizin verstanden? Jedenfalls suchte ich in der chinesischen Nachbarschaft vergeblich, eine Autofahrerin ebenfalls. Da fragte ich nebenan im Hotel Ludwig Thoma. Der Rezeptionist wies mich, mit deutlich ausländischem Akzent, weiter in die Nachbarschaft. Auch der Autofahrerin begegnete ich hier auf der Suche nach dem ehemaligen Königshof wieder. Als ich mich schon wieder dem falschen Kurhotel Königshof näherte, entschloß ich mich umzukehren. Ob mir die chinesische Medizin helfen würde? Ich rechnete nicht damit, daß das chinesische Zentrum noch geöffnet haben würde. Doch es hatte, und die Dame an der Rezeption schaute mit der größten Selbstverständlichkeit in ihrer Liste nach. Ich befand mich im ehemaligen Haus Königshof, von dem ich durch die Marketingabteilung der Reha-Kliniken AG & Co. KG die Buchungsbestätigung erhalten hatte. Die Dame freute sich, daß ich da war; nun konnte sie nach Hause gehen. Einem Handzettel entnahm ich, daß ich außer im Zentrum für chinesische Medizin auch im Hotel Phönix war. Nun verstehe ich, weshalb dank soviel Verschleierungstechnik Herr Zwick senior vor den Steuerschulden in die Schweiz enteilen konnte. Ein Gast am Frühstückstisch, dem ich das erzählte, meinte vorwurfsvoll, ich hätte das Haus doch an der Hausnummer erkennen können. Dummerweise war ich jedoch nicht darauf eingerichtet, in Bad Füssing mein Quartier mit der Taschenlampe suchen zu müssen.

Nachrichten und Hintergrund der Columbia-Katastrophe. Man soll halt im Fernsehen nur die fiktion-Katastrophen sehen und nicht die Realität der nonfiktion. Ich schlief schlecht. Macht aber nichts. Wie angenehm, nur fünf Minuten zur Startnummernausgabe zu gehen. Nachdem  ich ausprobiert hatte, welches die richtige Bekleidung bei den Minustemperaturen war – Kopfzerbrechen machte die Kopfbedeckung –, hatte inzwischen im Bad mächtiges Gedränge eingesetzt. Also schaffte ich, statt mich zur Kleideraufbewahrung durchzuschieben, meine nicht benötigten Sachen lieber zurück ins Hotel, ins Phönix wohlgemerkt, und ging dann direkt zum Start. Scharfe Luft, man möge nicht so schnell laufen, riet der Sprecher. Daran hielt ich mich, und ich fühlte mich wirklich wohl dabei, wenn nur die Nase nicht schneller als ich gelaufen wäre. Ich war nicht einmal der letzte. Allerdings merkte ich zu spät, daß die hinter mir nur den Halbmarathon liefen. Dreimal mehr als die Marathonläufer hörten nach der ersten Runde auf. 477 am Start zum 10-km-Lauf, 1046 beim Halbmarathon und 347 beim Marathon, auf der Einlaufliste stehen nur 308. Beim Halbmarathon kann man sich zur Not fünf Stunden Zeit lassen. Logisch ist’s nicht, aber praktisch.

Winterkalte Landschaft am Inn, die Bäume wie überzuckert. Sobald ich einen Tee nahm, beschlug die Brille. Bei einem Spitzenläufer würde das Sprachklischee lauten: Er lief ein einsames Rennen. Mir war gar nicht einsam, es war ein schöner Lauf mit mir allein. Als mich der Marathonsieger kurz vor seinem Ziel, meiner Halbmarathon-Marke, überrundete, kamen mir freilich Bedenken. Ich war für das, was angedacht war, zu langsam. Und richtig, nach etwa 10 km, nahmen zwei Fahrzeuge offenbar eine Lagebesprechung vor. Und wieder ein Stück weiter, faßte sich der ältere Fahrer eines älteren Mercedes ein Herz und bedeutete mir, mich aus dem Rennen nehmen zu müssen. Da kennt er aber die Abgebrühtheit eines noch älteren Läufers nicht. „Sie kommen nicht ans Ziel!“ warnte er. Meine trotzige Antwort: Doch. Ich hängte ihn, als er sein Fahrzeug verließ, in einem lockeren Sprint ab und verschärfte mein Tempo auf einen km-Schnitt von 7 Minuten. Es war wohl der erste Marathon, bei dem ich das letzte Viertel schneller als die ersten drei Viertel gelaufen bin. Bei soviel Unvernunft mußte eine Lösung gefunden werden. Fortan begleitete mich das Schlußfahrzeug. Am Ziel entschuldigte ich mich in aller Form. Aber man fährt nun einmal nicht so weit wie nach Paris, Dänemark, Mailand oder Wien, um bei einem Marathon „durch die schöne Rottaler Naturlandschaft und ihre idyllischen Ortschaften“ aus dem Rennen genommen zu werden.

Es wäre mir peinlich gewesen, der Zeitersparnis wegen an Verpflegungsstellen vorbeizulaufen; doch sah ich mich davor bewahrt, die Stände waren zu Recht abgebaut. Die Matten am Ziel auch, dazu hatte ich 10 Kilometer zuvor selbst geraten, um den Jock Semple von Bad Füssing milde zu stimmen (Jock Semple war derjenige, der Kathrine Switzer wegen verbotenen Geschlechts aus dem Boston-Marathon zu nehmen trachtete). Der Fahrer des Schlußfahrzeuges schrieb mir die Ankunftszeit auf, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Wer wird sein Herz an eine Medaille hängen? Nach der ersten Runde hätte ich eine bekommen. Bei dieser Kälte bleibt keiner länger draußen, als er nach dem Reglement muß. Auch ich nicht. Ich verbrachte die Zeit der Siegerehrung in der Badewanne des aus dem Königshof erstandenen Phönix. Womöglich hätten manche versehentlich geklatscht, wenn ich aufs Podium gerufen worden wäre. Denn ich mag’s noch so dumm anstellen, wenn sonst keiner da ist, siege ich zwangsläufig in meiner AK. Und die anderen aus meiner Altersklasse, die besser sind als ich, liefen hier Halbmarathon. Da komme ich mir mit meinem einsamen Marathon richtig raffiniert vor. Niemand wird mich dereinst fragen, wann in Bad Füssing Zielschluß war und wie meine AK besetzt war.

Eintrag vom 22. 1. 03

Dr. Detlef Kuhlmann hat mir Bilder vom Berliner Literaturmarathon letztes Jahr geschickt. Eines davon verführt zur Selbstironie. Ich schrieb ihm: Wie schön, daß ich beim Lesen gerade noch über den Tisch gucken kann.

Schröder hat man bei solcher Gelegenheit, einem Interview, auf ein kleines Podest gestellt, damit er in Augenhöhe mit seinem Interviewer war. Jemand, der mir dieses Bild kurz vor der Bundestagswahl geschickt hat – wahrscheinlich um mich zu beeinflussen –, schrieb dazu: Wahre Größe zeigt sich im Verborgenen. Insofern bleibt auf dem Bild meine wahre Größe von 165 cm abzüglich 1 cm Altersschwund durch eingegangene Bandscheiben nicht verborgen.  Ist man eigentlich verpflichtet, Schrumpfungen bei Beantragung eines neuen Personalausweises anzugeben? Sollen die doch nachmessen...

Dr. med. Dieter Kleinmann mahnte in meiner Gegenwart seine Sprechstundenhilfe, die bestimmt nicht größer als ich ist, sie habe die rechte Größe für den Marathonlauf. Na bitte, wann wird man schon als Vorbild hingestellt...

Ein broschiertes Buch, bereits im Jahr 2001 erschienen, „Expeditionen an die Grenzen des Ichs. Er- und Bekenntnisse eines mittelmäßigen Langstreckenläufers“ von Klaus-Rainer Martin. Es gehört sicher zu den Büchern, die auch auf einem noch überschaubaren Markt wie der Laufliteratur durchs Sieb zu fallen drohen. Dabei geht uns das, was ein unbekannter Autor wie Klaus-Rainer Martin erzählt, im Grunde viel mehr an, als wenn wir bei einem Prominenten Zaungast sein dürfen oder aus kühler Distanz einen Trainingsplan erhalten, der uns am Schluß doch viel zu ambitioniert erscheint. Klaus-Rainer Martin bezeichnet sich selbst als mittelmäßigen Läufer. Da ich das auch bin, nur viel länger, kann ich die Position, aus der heraus Martin seine persönlichen Erlebnisse schildert, gut  erkennen. Insofern irrt Martin in seinem Vorwort, wenn er meint, Autoren wie ich würden mit den erreichten „Traumzeiten“ eher abschrecken, als daß sie dem ahnungslosen Neuling Mut zur eigenen Leistung machten. Tut mir natürlich gut, wenn jemand meine Leistungen, die vor 30 Jahren meinem damaligen Turnverein unerheblich erschienen, als Traumzeiten bezeichnet. Ich stehe also Klaus-Rainer Martin viel näher, als er denkt und pflichte seiner Bemerkung völlig bei, was wären all diese Läufe wie Biel oder Berlin, „wenn es nur die wenigen Spitzenläufer gäbe. In der Sportberichterstattung wird das mitunter vergessen“. Selbst Zeitschriften, die sich dem Volkssport verschrieben hätten, berichteten mehr von den Spitzenathleten als vom „Fußvolk“. Man erfahre zwar, wer als Favorit gehandelt werde, aber nicht, ob das Zeitlimit bei einem Hunderter 24 (in Biel jetzt 22), 18 oder nur 12 Stunden oder bei einem Marathon fünf oder weniger Stunden betrage. Gerade diese Information sei ihm jedoch am wichtigsten.

Auf der Ultrastrecke bedarf es eines langen Atems. Wer ihn hat und sich durch kurzatmige Trainingspläne nicht aus der Ruhe bringen läßt, kann seine Zufriedenheit auf der langen Strecke erreichen. Das macht die Sammlung von Martins Laufberichten deutlich. Sein Stil ist völlig unprätentiös; dafür aber sind die Informationen, die Martin vermittelt, sehr präzise. Er schildert ganz schlicht seine Läuferkarriere. Sie begann mit einem Übersetzungsfehler, einem falschen Datum der 100-km-Wanderung von Liberec/Reichenberg, so daß sich Martin und seine Sportfreunde gezwungen sahen, diese Wanderung auf eigene Faust zu unternehmen und den offiziellen Hunderter erst im Jahr darauf, 1978, zu bestreiten. An dieser Darstellung irritiert mich nur, daß Martin das jahrhundertelang von Deutsch-Böhmen besiedelte Reichenberg grundsätzlich als Liberec bezeichnet. Ich bin Pazifist, und „Revanchismus“ liegt mir schon daher fern; aber so wie hierzulande kein Mensch statt Prag tschechisch Praha sagt und  statt Mailand Milano, besteht kein Grund, eine von Deutschen erbaute Stadt nicht  bei ihrem deutschen Namen zu nennen. In der EU werden sich die Tschechen noch an anderes gewöhnen müssen als an ein bißchen deutsches Selbstbewußtsein. Gemeinsame Vergangenheit kann man nur gemeinsam aufarbeiten.  Empfindlich bin ich auch, wenn man Freud zitiert; von einem Sozial- und Heilpädagogen erwarte ich, daß er Freuds Vornamen Sigmund richtig schreibt. Ich freue mich, daß auch der DUV-Erlebnislauf im Schwarzwald Erwähnung findet, und bin nahezu gerührt, daß mich Klaus-Rainer Martin wegen der Orientierungsschwierigkeiten damals nicht beschimpft. Daß die DUV nach Sylt keine weiteren Erlebnisläufe mehr veranstaltet hat, ist einfach zu begründen: Es gibt inzwischen genügend. Wenn ein ambitionierter Lauf wie die 100 km um Marburg scheitert, muß man nicht, nur des Etiketts wegen,  eine neue Veranstaltung mit neuen organisatorischen Problemen auf die Beine stellen. Der Rennsteiglauf hat einen Maßstab gesetzt. Es macht gar nichts, daß das Buch auch Veranstaltungen beschreibt, die es nicht mehr gibt. Über den Deutschlandlauf 1987 habe ich  keine derart detaillierte Dokumentation, auch gruppendynamischer Prozesse, gefunden wie bei Martin. Wer erstmals an Fernläufen teilnimmt, sollte sie unbedingt lesen. Ob die „Expeditionen“ nun an die „Grenzen des Ichs“ führen,  ist vielleicht tiefenpsychologisch nicht haltbar. Auch wenn bei Extremläufen das „Es“ die Vorherrschaft zu übernehmen scheint, bleibt das Ich ja erhalten. Nehmen wir also den Titel einfach als eine Metapher. Klaus-Rainer Martin hat seine Ultraläufe eben als Expeditionen der Psyche erlebt. Und damit hat er ja völlig recht.

Eintrag vom 12. 1. 03

Meine tägliche Laufstrecke ist kürzer geworden, obwohl ich länger unterwegs bin. Ich muß etwa 2 km im Schritt gehen. Eisplatten... Erst bin ich jeden Meter, der eisfrei war, gelaufen und stoppte dann an der Eisplatte, – bis ich eine übersah. Ich konnte mich ins hartgefrorene Feld retten und kam so zum Stehen. Aber danach bin ich vorsichtig geworden. Merkwürdig, als ich zehn Minuten im Schritt gegangen bin, hat sich sofort ein schlechtes Gewissen eingestellt. Das ist wie bei anhaltenden Regentagen: Den ersten Regentag benütze ich als Ruhetag. Das geht in Ordnung. Aber wenn es auch am zweiten wie aus Kübeln schüttet und ich nicht hinaus mag, mahnt das Gewissen. Dabei passiert ja überhaupt nichts, wenn man zwei Tage nicht läuft. Es wirkt sich auch nicht aus, zumindest nicht in meiner Laufkategorie, wenn man gelegentlich im Schritt geht. Es ist einfach bequemer, einen immer wieder vereisten Weg im Schritt zu gehen, statt alle 50 Meter zwischen Laufen und Gehen zu wechseln.

Laufen bei der trockenen Winterkälte – ich laufe noch langsamer. Ich komme mir wie eine wandelnde Kleidertonne vor. Auch daran mußte ich mich gewöhnen: Fast jeden Tag in der Kälteperiode ein Kleidungsstück mehr. Erst mit Lifa-Unterhemd, Odlo-Laufhemd der mittleren Schicht, darüber Strickhemd vom Berlin-Marathon (mir nicht bekannte Marke), bei dem man die Ärmel über den Daumen einklinken kann, Odlo-Unterhose im Wechsel mit einer Unterhose mit Windschutz, lange Skiunterhose von Craft (Finnland), und über alles den gefütterten Löffler-Anzug gegen Regen und Wind. Dazu dicke Teflon-Socken, Skiwollmütze mit Halsansatz, deren unteren Teil man unters Kinn ziehen kann, und Angorahandschuhe. Erst so fühle ich mich genügend ausgerüstet, wiewohl ich am Ende dann schwitze. Ich merke, daß mich das Laufen bei dieser Witterung mehr anstrengt, obwohl ich langsamer laufe. Aber ich habe keinen Tag ausgelassen. Lästig zwar, sich dann aus allem wieder herauszuschälen; aber die heiße Dusche danach ist ein Erlebnis. Ich bedauere, daß ich seit einigen Jahren nicht mehr Skilanglauf betreibe – zu wenig Schnee bei uns. Den Abhärtungseffekt des Skilanglaufs bei trockener Kälte habe ich jetzt auch beim Laufen. Lästig ist, daß nicht nur ich laufe, sondern auch die Nase.

Eintrag vom 7. 1. 03

Feiertägliche Ruhe auf den Straßen, durch die ich in unserem Ort mit dem Auto fuhr. In den zehn Minuten durch einen Ortsteil einer Stadt von über 30000 Einwohnern keinen einzigen Fußgänger gesehen, aber mehrmals Läufer. An einer zufälligen Beobachtung ist eine Entwicklung abzulesen.

Regelmäßig schaue ich im Internet bei dem Auktionator ebay nach, ob mich Angebote interessieren. Ich verkaufe dort auch regelmäßig (einen seit Jahrzehnten nicht mehr getragenen Regenmantel von Klepper wollte meine Frau in die Mülltonne werfen, ich habe ihn ihr entrissen und für etwa 100 Mark, vielleicht an einen Fetischisten, verkauft). Wieder ein Zufall: Bei dem Stichwort „Lauf“ bin ich bei ebay auf das antiquarische Angebot „Mein langer Lauf zu mir selbst“ von Joschka Fischer gestoßen. Das Angebot? Am 6. Januar waren es bei ebay 18. Der Angebotspreis betrug in der Regel 1 Euro, gesteigert wurde auf 3,05 Euro. Einmal neugierig geworden, schaute ich bei der größten Internet-Buchhandlung amazon.de nach. Dort kann man, wenn man einen bestimmten Titel anklickt, auch nachschauen, ob er nicht vielleicht gebraucht und damit billiger angeboten wird. Auch bei amazon.de verkaufe ich Bücher, von denen ich mich trennen möchte. Dort biete ich auch Restexemplare von „Herausforderung Marathon“ an, das längst nicht mehr im Buchhandel zu haben ist. Auf meine Such-Eingabe Joschka Fischer fand ich am 6. Januar nicht weniger als 39 Angebote von gebrauchten Exemplaren der gebundenen Ausgabe sowie 1 neues und 7 der broschierten Ausgabe „Mein langer Lauf zu mir selbst“. Eine Anbieterin ergänzte die Information „Gebraucht wie neu“ (wer „neu“ schreibt, muß auch den gebundenen Neu-Preis verlangen) mit den Worten „Unbenutzt, Geschenk“. Der Zustand aller angebotenen Exemplare wurde als „sehr gut“ oder „gut“ bezeichnet, sechsmal stand dabei „nur einmal gelesen“. Weitere Hinweise wie „keine Gebrauchsspuren“ lassen darauf schließen, daß auch andere Exemplare nicht strapaziert worden sind. Was lehrt uns dies? Eine Anzahl von Lesern hält das Buch nicht für aufhebenswert, eine beschenkte Leserin weigerte sich, es zu lesen. Im Prinzip kauft man Bücher ja dann, wenn man beabsichtigt, sie in seine Bibliothek einzustellen. Ich kenne Joschka Fischers „Mein langer Lauf zu mir selbst“ nicht. Mein Hochmut: Wer wie Fischer dreißig Jahre seines Erwachsenenlebens gebraucht hat, um zu meinem läuferischen Erkenntnisstand zu kommen, hat mir wahrscheinlich nichts zu sagen. Ich stelle nur fest: Ein Bestseller erweist sich als antiquarischer „rush seller“. Ein Phänomen auf dem Büchermarkt, das wohl noch nicht untersucht worden ist. Nun erwacht doch meine Neugier: Was ist an einem Buch oder vielmehr, was ist an einem Buch nicht, von dem sich an einem beliebigen Tag, dem 6. Januar 2003, nicht weniger als 65 Besitzer trennen möchten? Ich werde es also – Opfer meines Berufs – eines Tages doch lesen, billig genug kann ich es bekommen.

Leser eines dank Nachhilfe einer Bildzeitungsredakteurin zum Bestseller-Autor gemachten Herrn Bohlen (Vorname entfallen, Buch ebenfalls nicht gelesen) wird das alles nicht interessieren. Aber sie finden hiermit den Tip, wie sie das Buch loswerden können.

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