Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 27. März 08

Vor einer Woche schon habe ich mit diesem Text begonnen, da wäre meine Ansicht noch einigermaßen originell gewesen: Angesichts der Ereignisse in Tibet plädiere ich für den Boykott der Olympischen Spiele in Peking. Inzwischen stehe ich mit dieser Ansicht nicht allein. Man kann darüber reden, den Protest zu modifizieren, zum Beispiel dergestalt, daß Offizielle und Olympiateams demokratischer Staaten der Eröffnungsfeier fernbleiben. Heftige Kritik ist am Deutschen Olympischen Sportbund zu üben, der ohne Wenn und Aber einen Boykott abgelehnt und der Führung in Peking damit jede Unsicherheit genommen hat. Für uns stellt sich die Frage: Dürfen Spiele, deren Idee dem Frieden verpflichtet ist, in einem Land stattfinden, das gerade eine Protestbewegung niederknüppelt und niederschießt?

Wie jede Diktatur gibt auch die chinesische Führung den Aufrührern die Schuld. Dabei ist noch jede nichtdemokratische Staatsform selbst aus einem Aufstand, dann jedoch Putsch genannt, hervorgegangen. Proteste sind legitim, in Demokratien sind sie Ausdruck und Mittel der politischen Willensbildung; Demonstrationen sind verfassungsrechtlich legitimiert. Proteste werden erst durch die gewalttätige Reaktion der Herrschenden zum Aufstand. Anschauliches Beispiel ist der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 gegen das SED-Regime, der sich aus einer simplen Bauarbeiter-Demonstration in Berlin entwickelt hat. Daran zu erinnern, scheint mir im Hinblick auf die Proteste in Tibet nicht verkehrt zu sein. Wie damals in der „sogenannten DDR“ werden also gleich die Verursacher der tibetanischen Protestbewegung im Ausland gesucht. Die Protestbewegung der Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig konnte deshalb zu einem friedlichen Erfolg führen, weil die SED-Führung von der Gewalt-Anwendung abgehalten werden konnte. Ob dies auf den couragierten Pfarrer der Nikolaikirche und den vom SED-Staat akzeptierten Kurt Masur oder auf die durch die desolate Wirtschaft geschwächte Honecker-Regierung zurückzuführen ist oder vielleicht auf beide Faktoren, mag dahingestellt sein.

Die gewalttätige Unterdrückung friedlicher Proteste hat allemal zu blutigen Auseinandersetzungen geführt – vom Aufstand am 17. Juni 1953 über den Ungarn-Aufstand 1956 und den Prager Frühling 1968 bis zum Krieg gegen die Bevölkerung Tschetscheniens. Immer zeigte sich, wenn auch oftmals erst nach langen Zeiträumen – wie in Deutschland nach den Bauernaufständen und nach der Revolution von 1848 –, daß die Aufrührer, so sie sich anders als heute in Afrika auf ethische Prinzipien stützen konnten, von der Geschichte recht bekommen haben. Das Motto der verabscheuenswert blutigen Revolution von 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ist zum ideologischen Fundament demokratischer Gesellschaften geworden und jeder Kämpfer gegen Diktatoren nach Jahrzehnten zum Vorbild für ethisches Handeln.

Vielleicht hängt es mit der Lebenseinstellung der Buddhisten zusammen, daß es erst jetzt zu öffentlich sichtbaren Protesten in Tibet gekommen ist, gar nicht einmal zu einer Befreiungsbewegung, die möglicherweise ihre Ziele mit verbrecherischen Mitteln durchzusetzen sucht wie die baskische ETA, sondern zu Protesten gegen die Unterdrückung der eigenen Kultur.

Man muß sich vergegenwärtigen: Ein Land wie Tibet, das Jahrhunderte lang zum mongolischen Einflußbereich gehörte und nur etwa 200 Jahre lang unter chinesischem Einfluß stand, ist vor etwa fünfzig Jahren von dem kommunistischen China annektiert worden, was die kommunistische Lehre vom angeblich gerechten Krieg zu einer ideologischen Zwecklüge stempelt. Bei der geopolitischen Ausdehnung der chinesischen Machtsphäre blieb es nicht; da man fünf oder sechs Millionen Tibeter nicht aus einem unzugänglichen Hochland vertreiben kann, begann eine gezielte „Umvolkung“ – der Ausdruck, auch wenn er im Zusammenhang mit der türkischen Parallelgesellschaft in Deutschland verwendet worden ist und Empörung hervorgerufen hat, muß erlaubt sein, weil er einen Tatbestand charakterisiert. Ähnlich wie Lettland unter der Besatzung russifiziert worden ist, ist Tibet gezielt durch Chinesen besiedelt worden. Auch die Eröffnung der Eisenbahnlinie nach Lhasa, der heute höchsten Eisenbahn der Welt, ist weniger als wirtschaftliches denn als Herrschaftsinstrument zu betrachten.

Mit dem Status quo in Tibet haben sich alle abgefunden, die ganze Welt, aber auch viele Tibeter, selbst der Dalai Lama. Nur ganz vereinzelt ist auf das Unrecht, das seit Jahrzehnten in Tibet begangen wird, hingewiesen worden. Zu denjenigen, die in ihrem sozialen Umfeld die Stimme erhoben haben, zählt übrigens Dr. med. Hans-Henning Borchers, der Gründungs- und langjährige Vorsitzende des Deutschen Verbandes langlaufender Ärzte und Apotheker e. V.; er kennt Tibet dank mehrfacher Besuche aus eigener Anschauung. Die deutsche Politik hat sich wie meistens opportunistisch verhalten. Man hofierte die Unterdrücker – die Achtundsechziger, die Maos roten Katechismus in den Jeans stecken hatten, waren inzwischen auch in der Politik angelangt – und nahm voreilend Rücksicht auf deren Empfindlichkeiten, denn man wollte ja mit dem größten Reich der Erde Handel treiben, Ethik hin oder her. Angela Merkel ist hoch anzurechnen, daß sie trotz Stirnrunzeln in Peking und dem Tadel von Medien den Dalai Lama empfangen hat. Der Dalai Lama ist, wie auch sein Rücktrittsangebot gezeigt hat, nicht im mindesten ein Scharfmacher. Ich konnte mir bei einer Begegnung Mitte der sechziger Jahre anläßlich der Eröffnung eines SOS-Kinderdorfs bei Wien, ebenso wie Dr. Borchers bei anderer Gelegenheit, ein persönliches Bild des Dalai Lama machen.

Den tibetanischen Mönchen, die auf die Straße gegangen sind, ist es – anders als die Unabhängigkeitsbewegungen in kaum lebensfähigen Staatsgebilden – nicht um die Staatsgestalt, sondern um die kulturelle Autonomie gegangen, ein Recht, das jeder bayerische Dorftrottel hat. Über die Art der Eskalation einer Protestbewegung wissen wir wenig; der Handelspartner China, der zu den Olympischen Spielen 25.000 Journalisten erwartet, weist Journalisten aus. Im Grunde überrascht das nicht; überraschend ist nur, daß manche Medien so tun, als ob es sie überraschte.

Als die Olympischen Spiele nach Peking vergeben wurden – offenbar auch ohne den mindesten Blick auf die Luftverschmutzung, die erst Haile Gebrselassie mit einem Paukenschlag öffentlich machte – , war die Hoffnung auf einen erzieherischen Effekt im Spiel. Der Umgang mit Tausenden von Menschen freiheitlicher Kulturen würde die Unterdrücker vermeintlich demokratisch gesinnter stimmen. Jetzt zeigt sich wieder einmal, an wen man die Olympischen Spiele vergeben hat. Muß es nun heißen: Augen zu und durch?

Typisch die sportpolitische Argumentation: Ein Boykott der Olympischen Spiele bringe nichts, er schädige nur die Teilnahmekandidaten. Eine opportunistische Argumentation, eilfertig vom Deutschen Olympischen Sportbund in der Öffentlichkeit vorgetragen. Sport sei unpolitisch? Auch in dieser Beziehung hat der Hochleistungssport seine Unschuld verloren. Die Leistungsträger auch des deutschen Sports bewegen sich in einem politischen Umfeld; darauf haben sie sich eingelassen. Wer von der Politik die Unterstützung der eigenen Sportkarriere einfordert – nämlich sich vom Staat alimentieren läßt und staatliche Olympiastützpunkte erwartet, kann sich, ob man das bedauert oder nicht, auch den Forderungen der Politik nicht verweigern. Olympische Spiele sind ja nicht mehr wie zu Zeiten des Barons de Coubertin eine Privatsache autonom handelnder Athleten, sondern nationale Prestigeobjekte und eine Schauveranstaltung, in der dem einzelnen nur mehr die zuweilen recht einträgliche Rolle des Akteurs in einem Spektakel zukommt. So wie es einen Ausschluß von Olympischen Spielen gegeben hat – 1920 und 1924, als damit die deutschen Sportler für den Ersten Weltkrieg und 1948, als sie für den zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht worden sind –, muß auch der Boykott erlaubt sein. Ob ein Boykott wie 1980 der Moskauer Spiele sinnvoll ist oder nicht, sollte zweitrangig sein. Maßgebend ist die ethische Berechtigung.

1936 hat sich die Welt, vielleicht auch Carl Diem, von Hitler, dem die Internationalität der Spiele ursprünglich gar nicht ins völkische Bild gepaßt hatte, betrügen lassen. Es mußte schließlich bekannt sein, daß Hitler bald nach der Machtübernahme mit Restriktionen gegen die jüdische Bevölkerung begonnen hatte und die Restriktionen gegen jüdische Sportler nur aus diplomatischen Erwägungen vorübergehend zurücknahm. 1936 gab es bereits 16 Konzentrationslager im Deutschen Reich. Wie wäre die Entwicklung, die zu über 50 Millionen Toten führte, verlaufen, wenn Hitler und seine Clique bereits 1936 durch einen Boykott der Olympischen Spiele isoliert worden wären? Dem hätte eine breite Isolation nach 1933 vorangehen müssen; statt dessen schloß die katholische Kirche im Reichskonkordat ihren Pakt mit dem Teufel. Je früher Hitler von den Politikern der Welt aufgehalten worden wäre, desto weniger hätte er die Rüstungsindustrie ankurbeln und seine Kriegspläne verfolgen können. Einzelne Attentate auf Figuren Hitlers wie von Rath in Paris und Heydrich in Prag konnten ebenso wie im Krieg örtliche Partisanen-Aktionen die jeweilige Situation nur verschlimmern.

Isolation von Vertretern diktatorischer Regime ist nicht nur der ethisch unanfechtbare, sondern auch der politisch klügere Weg, ein pazifistischer Weg; dem Pazifismus ist ja sonst immer der Mangel an Alternativen vorgeworfen worden. Zu spät haben die Amerikaner gemerkt, daß sie sich mit der Unterstützung von Diktatoren in aller Welt den Teufel ins Haus geholt haben. Krieg ist immer nur das Scheitern der Politik. Und immer leiden Unschuldige mehr darunter als die wirklich Schuldigen.

Welche Gründe braucht man denn noch für einen Boykott Olympischer Spiele? Allein die Unterbindung der Recherchen unabhängiger Journalisten in Tibet rechtfertigt, die Mitwirkung an einem Fest des Sports zu verweigern. Die Selbstdarstellung eines Staates, der ganz offensichtlich Olympische Spiele vor seinen Karren spannen will, wäre getroffen. Der Sport hat andere, weniger labile Möglichkeiten, den Gedanken der Völkerverständigung wie des sportlichen Wettbewerbs im Sinne der einstigen olympischen Idee, die ohnehin nur eine Schimäre ist, zu verwirklichen. Wir kennen Marathonläufer, die aus ganz anderen Gründen den Sieg beim Berlin- oder New York-Marathon einer olympischen Goldmedaille vorziehen.

Eintragung vom 19. März 08

Ich habe vorgehabt, den Frühling zu besingen. Haben sich nicht die blühenden Forsythien an der Laufstrecke vervielfacht, sind die Narzissen nicht allerorten aufgewacht? Als ich am Montag in der Landesbibliothek war, entdeckte ich zwischen Verkehrsschneise und Gebäude gar das erste blühende Mandelbäumchen. Keine Frage doch, der Frühling steht in der Tür. Denkste. Heute morgen begannen Flocken vor dem Fenster zu tanzen. Sie blieben nicht als Schnee liegen, wir sind hier nicht im Allgäu; aber der Winter ballt noch einmal die Faust. Der ADAC hat uns gewarnt, die Winterräder abzunehmen.

Ins österliche Bild paßten die Schäfchen, die am Dienstag an der Laufstrecke weideten. Doch das bukolische Bild, von dem das 18. Jahrhundert in Schäferspielen und Schäfergedichten zehrte, hat gelitten. Die Herde entbehrt des Schäfers mit seinem Hund. Der Schäfer, er war noch unser Bindeglied zur Natur. Immer habe ich mich gefragt, welch reiche Gedankenwelt der Schäfer doch haben müsse – den ganzen Tag auf die Herde zu blicken oder auf den Himmel. Unsereiner klemmt sich schon beim Gang zum Zahnarzt in der Bestellpraxis die Zeitung in die Jackentasche, um keine Minute müßig herumzusitzen. Nie habe ich einen Schäfer bei der weidenden Herde lesen sehen. Im Schäferberuf bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als den ganzen Tag lang vor sich hin zu denken. So dachte ich. Doch das war gestern. Das Gelände, auf dem die Herde weidete, war durch einen mobilen Zaun abgesteckt. Kein Schäfer weit und breit, kein Hütehund, der die Lämmer zur Ordnung riefe, Strenge darstellte und den Tieren doch nichts tat. Stattdessen ein statischer Zaun, keine Begegnung mit einem eilends die Laufstrecke querenden Schaf mehr. Der kluge Hütehund, nur noch zu einer blödsinnigen, von einem General und dem „Führer“ gebrauchten Metapher des Schweinehundes verkommen. Ein simpler Zaun hat uns ärmer gemacht. Der Schäferlauf an einigen Orten Württembergs ist nur Folklore. Wer hätte je sonst eine Schäferin, einen Schäfer mit bloßen Füßen übers Stoppelfeld springen sehen?

Walther von der Vogelweide triumphierte einst: „Ich han mein Lehen.“ Ich bin bescheidener, welche Verwaltung belehnt schon einen Rentner! Doch was dem Minnesänger das Lehen, das ist mir ein neues Buch. Dieser Tage stand es in einer Palette neben dem Gehweg. Etwa 25 mal mit je zwei 3-kg-Paketen die Stufen zum Haus und in den Keller hinunter, das Herz bekam zu tun. Mein Beispiel mit dem albernen 39,95-Euro-Preis ist von einem Leser wörtlich genommen worden; er war bereit, 40 Euro zu zahlen. Entschuldigung für das Mißverständnis. Doch das Büchlein hat nur 152 Seiten und ist mit 14 Euro einschließlich Porto teuer genug. Doch ich wollte auf die Bilder nicht verzichten; sie kommen dank Nachbearbeitung besser, als ich befürchtet hatte. Die Druckerei hat gute Arbeit geleistet, ich bin mit dem Erscheinungsbild zufrieden. Das book-on-demand-Verfahren wäre vielleicht billiger gewesen, aber ich mißtraue der Anonymität bei der Herstellung; book-on-demand-Bände haben mich bisher nicht überzeugt. Der Titel des Bandes „Bieler Juni-Nächte“ hat Aufforderungs-Charakter. Über den Inhalt müssen andere reden. Nach Vollendung eines Buches kommt immer ein tiefes Loch, genau wie nach einem Marathon. Doch hier ist es weniger tief, muß ich mich doch um den Vertrieb kümmern. Außerdem steht das nächste Thema an.

Bleiben wir bei den Bieler 100 Kilometern. Pierette Blösch will die Siegerinnen und Sieger der 49 Hunderter einladen. Doch wo ist Siegfried Schadt? Eine Spur habe ich. Johann Bosmann hätte mir sofort helfen können, aber er ist tot, ebenso wie Eva-Maria Westphal. Hans van Kasteren – ob mir sein ehemaliger Verein helfen kann? Monika Kuno, da wird es kurios. Wir sind 1989 gemeinsam vom Spartathlon zurückgeflogen, ich kenne ihren Hund. Aber ich kenne nicht ihren Namen. Sie hat geheiratet und ist von Bad Waldsee weggezogen. Wer kann uns helfen? Andere Namen finden wir vielleicht. Biel wirft – das Bild vom Schatten wäre wohl verfehlt – seinen Glanz voraus.

Eintragung vom 11. März 08

Das Zwanzig-Jahr-Jubiläum des Deutschen Lauftherapie-Zentrums wollte ich im Tagebuch würdigen. Doch die Eintragung hat sich zu einem eigenständigen Beitrag entwickelt. Absicht war es, die Gründung von 1988 in einen Kontext zu stellen. "Therapeuten in Laufschuhen" wird also an anderer Stelle dieses Internet-Magazins zu finden sein.

Eigentlich ist ein Tagebuch immer in eigener Sache geschrieben. Nun wird es Zeit, eine Eintragung in höchst eigener Sache zu machen. Schon weil ich mich von einem quälenden Zustand befreien möchte. Ich habe ein Buch geschrieben, kein großes, das ins Lebenswerk einginge, vielmehr ein Gebrauchsbuch, ein kleines Buch zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum der 100 Kilometer von Biel. Seine Entstehung verdankt es dem LaufReport. Ich sollte eine Würdigung des Anlasses schreiben. Da stellte ich mir bald eine ganze Serie vor. Und während ich im September vorigen Jahres die Serie konzipierte und zu schreiben begann, reifte der Entschluß, ein Buch zu machen. Müßte ich nicht begründen, weshalb 50 Jahre 100-Kilometer-Lauf ein so außerordentliches Jubiläum ist? Bin ich nicht jahrelang nach Tips für Biel gefragt worden? Sollte man nicht Ereignisse und Eindrücke der Vergessenheit entreißen? Ich beschloß, ein privates Jubiläumsbuch zu machen - privat deshalb, weil ich keineswegs dem Organisationskomitee vorgreifen wollte – , und zwar eines, das Erststartern ganz einfache Fragen beantwortet, zum Beispiel: Wie ist das Wetter am zweiten Juni-Wochenende?

Ich habe das Buch mit einer Anzahl von Photos illustriert, das hat das Buch teuer gemacht. Aber auch die Bilder aus vergangenen Jahren wollte ich der Vergessenheit entreißen. Die wenigsten sind qualitativ zufriedenstellend, aber mir kam es auf Authentizität an.

Es hat mir Lust bereitet, dieses Buch zu schreiben, und ich hoffe, man wird es spüren. Das Buch ist in Druck gegangen, und ich warte auf die Lieferung. Dieses Stadium ist das schlimmste. Nach der zweiten Korrektur kann man nichts mehr tun; andererseits möchte man ein Buch unter die Leute bringen. Doch das Buch ist nicht da, man kann auch in dieser Hinsicht nichts tun, außer diese Ankündigung zu schreiben. Ich habe sogar versäumt, den Einband auf den Scanner zu legen. Daher kann ich nur so den Titel mitteilen: "Bieler Juni-Nächte. Der 100-km-Lauf von Biel-Bienne. Facetten eines Laufjubiläums. Ein Ratgeber für Erststarter". 152 Seiten, kartoniert. Die Auflage ist gering, den Grund kann man sich aus den Informationen zusammenreimen. Man wird es allein bei mir bekommen können. Den genauen Preis kann ich erst dann festlegen, wenn ich die Druckerei-Rechnung haben werde. Ich neige dazu, auf einen optisch beschönigenden Preis zu verzichten und entgegen jeglicher verlegerischer Vernunft einen Volle-Euro-Preis festzusetzen. Wenn ich ein teures Buch mit 39,95 Euro ausgezeichnet finde, steigt in mir sofort der Gedanke auf: Wie blöd muß mich der Verleger halten, wenn er davon ausgeht, daß mich ein Preis von 40 Euro abschrecken würde?

Nun wird es Zeit, wirklich den Jubiläumsbeitrag für LaufReport zu schreiben. Nach Ostern sollte er im Netz sein. Das Problem wird sein, einen Stoff, den ich durchdrungen zu haben glaube, so darzustellen, daß er nicht wie der Verschnitt des Buches wirkt. Andererseits sind konkrete Fragen im LaufReport beantwortet worden. Die 100 Kilometer von Biel - im LaufReport sind sie, anders als in den Printmedien, seit Jahren gegenwärtig.

Eintragung vom 4. März 08

Herr Opoczynski vom ZDF-Wirtschaftsmagazin WISO wünschte am Ende seiner Sendung für die folgende Sendung „Gute Unterhaltung!“ Das war sie denn wohl. Ob eine gute, bezweifle ich. Geboten wurde der zweite Teil des Spielfilms „Die Gustloff“. So unterdurchschnittlich auch mein Fernsehpensum ist, - zeitgeschichtliche Dokumentarfilme sehe ich mir, wenn es irgend geht, an.

Bemerkenswert ist, daß wir Deutschen nun ebenfalls ein Schicksal haben dürfen, wenngleich die meisten Betroffenen den Wegfall des von den Medien verordneten Tabus der Opferrolle nicht mehr erleben dürfen. Ja, gewiß doch, die Deutschen haben sich alles selber eingebrockt. Insbesondere, als sie einen Österreicher einbürgerten. Angefangen hat es am 30. Januar 1933, da war ich fünf Jahre alt. Die ersten Schüsse wurden 1939 von deutschem Boden aus abgegeben, da war ich 13 Jahre alt. Vielleicht waren an Bord der Gustloff auch Frauen, die den „Führer“ mit Heil-Schreien begrüßt haben. Doch haben sie deswegen den Tod in der Ostsee verdient? Wollen wir tatsächlich die Spanier von heute für den Genozid an Indios, die Engländer für die Erfindung der Konzentrationslager und alle Amerikaner für den Kriegstreiber Busch verantwortlich machen? Zwar werden die politisch Korrekten und dafür bezahlten Ober-Urteiler in den öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht müde, den Urenkeln bei solchen Gelegenheiten wie Kriegsdokumentationen die Schuld ihrer Vorfahren vor Augen zu halten; aber man darf jetzt wieder daran erinnern, wie schrecklich ein ganzes Volk - bis auf die Verbrecher, denen der Vatikan zur Flucht und die Parteigenossen, denen die CDU zu neuen Ämtern verholfen hat – dafür gebüßt hat. Der Bombenterror, der in den Städten nicht nur Zehntausende von Deutschen getötet, sondern auch einen Teil des Weltkulturerbes vernichtet hat, - er ist zu einem Thema geworden, nicht einmal nur für die Deutschen. Die massenweisen Vergewaltigungen der Frauen beim Einmarsch der Sowjets, die der „Stern“ vor Jahrzehnten in einer Reportage herunterreportiert hat, dürfen jetzt beim Namen genannt werden. Und das Buch „Moskaus Beute. Wie Vermögen, Kulturgüter und Intelligenz nach 1945 aus Deutschland geraubt wurden“, ist nicht von einem NPD-Mitglied, sondern von dem Russen Pawel Nikolaewitsch Knyschewskij geschrieben worden. Ein Museum über Vertreibungen, von denen am meisten Deutsche betroffen waren, ist im Stadium ernsthafter Diskussion, auch wenn Polen sie zu instrumentalisieren trachtet. Israelische Politik kann man faschistischer Methoden zeihen, ohne sofort als Antisemit gebrandmarkt zu werden.

Man kann nun auch die Torpedierung der „Wilhelm Gustloff“ mit etwa 9000 Flüchtlingen aus Ostpreußen an Bord darstellen, ohne der Aufrechnung bezichtigt zu werden. Jahrelang war diese Kriegskatastrophe kein Thema, außer in einer Nische der Zeitzeugen. Dann nahm sich der unverdächtige Günter Grass die Freiheit der literarischen Darstellung in einer Novelle. Der ZDF-Historiker Guido Knopp stellte eine seriöse Dokumentation zusammen, die am Sonntag und am Montag abermals gesendet worden ist.

Anlaß dafür war der zweiteilige Film „Die Gustloff“ von Joseph Vilsmaier, einem Regisseur mit Meriten. Das Grauen ist offenbar nun soweit entfernt, das man es zum Unterhaltungsthema (Opoczynski) machen kann. Bei der zwangsläufigen Gegenüberstellung von Spielfilm und historisch getreuer Dokumentation erwiesen sich die öffentlichen Erinnerungen der Überlebenden als erschütternd, nicht die Bilder aus der filmischen Fiktion. Da fesselte mich mehr die Mache, wie dirigiert man die Komparserie-Massen so, daß Chaos vermittelt wird? Mit 400 Komparsen über 10 000 Menschen darzustellen, erachte ich als eine Regie-Leistung, aber eine, die nicht zur Vertiefung des Themas beiträgt. Beim Drehbuch habe ich den Eindruck gehabt, daß Rosemarie Pilcher hinzugezogen worden ist; die Sprengstoffgeschichte hatte vielleicht Felix Huby noch in der Hängeregistratur, und der Obermaat, der den Sowjets die Aufspürung eines riesigen Schiffes ermöglicht, – ohne etwas James Bond kommt man halt publikumswirksam nicht mehr aus. Mit der Authentizität taten sich die Filmschaffenden schwer; nach meiner Erinnerung finde ich die Titanic-Verfilmungen glaubwürdiger. Zwar ist die Geburt unmittelbar nach der Rettung von der „Gustloff“ verbürgt, aber die Liebesaffäre zwischen einem der Kapitäne auf der Brücke und einer Marinehelferin, die sich von ihrem Dienst in Gotenhafen unerlaubt entfernt hat, kam mir ebenso unwahrscheinlich vor wie der wohlklingende Wehrmachtshelferinnen-Chor „Ännchen von Tharau“, derweil es im überfüllten Gang davor nach Fäkalien gestunken haben muß.

Der den Oberfehl innehabende Kapitän – in Wahrheit ein Dreiundsechzigjähriger – war ebenso eine Karikatur wie der Ortsgruppenleiter in NS-Uniform. Diese Typen, die ihre Wirkungsstätten verließen, nachdem sie die Volksgenossen zum Widerstand aufgefordert hatten, nahmen konsequenterweise doch noch die Zivilkleidung aus dem Schrank. Nur ich war als Achtzehnjähriger so blöd, nach meiner Entlassung aus dem Lazarett als Ersatz für meine durchgeschossene und blutverschmierte Militärhose eine Tarnkleidung zu empfangen, die der Waffen-SS vorbehalten war. Unvorstellbar ist mir, daß ein niederer Dienstgrad derart lässig wie der Obermaat im Film mit einem Kapitän, und sei es einem der Handelsmarine, sprach. Der Darsteller des Handelsschiff-Kapitäns gab diesen als jugendlichen Liebhaber. Unwahrscheinlich, daß einer der Kapitäne zu einem anderen in Gegenwart weiterer Offiziere auf der Brücke bemerkt haben könnte, der Krieg sei verloren. Bei einer Ankunft in Kiel hätte ihn dann schon Dr. Filbinger, später Ministerpräsident, erwartet. Auf die Sprache hat offenbar auch keiner geachtet. Das Wort „nachvollziehen“ gab es zu dieser Zeit schlicht nicht, da gab es andere Sprachdummheiten. „Eine Chance sehen“ - üblich war dieser Wortgebrauch nicht. „Die Wacht am Rhein“ aus der Zeit von Sedan zu singen – welche Marinehelferin hätte wohl den Text gekannt!

„Die Gustloff“, eine Tragödie, die es einen kalt über den Rücken laufen macht, im Film jedoch - ach ja, die UFA hat ihn mitproduziert – verramscht zur Klamotte. 10 Millionen Euro hat sie gekostet.

Eintragung vom 25. Februar 08

Sonntag, der 24. Februar, verdient festgehalten zu werden. Wir haben auf der Terrasse Kaffee getrunken – nach unserer Erinnerung das erstemal so früh im Jahr, seit wir hier, nun im zweiundvierzigsten Jahr, wohnen. Vor zwei Jahren, als ich die Welt nur aus der Waagerechten betrachten konnte, war um diese Zeit alles weiß. Jetzt haben nicht nur die Hamamelis, die Zaubernuß, und die Schneeglöckchen geblüht, auch die Märzenbecher und sogar die Krokusse haben sich hervorgewagt, eine Biene erkundete das Terrain, und in unserem Wasser-Biotop hat sich offenbar wieder ein Frosch niedergelassen. Auf der Laufrunde fielen mir auf zwei Grundstücken Primeln ins Auge, und, soweit meine bescheidenen botanischen Kenntnisse mir die Behauptung gestatten, die erste Forsythie hat zu blühen begonnen. Ob es ein glückliches Laufjahr wird? Ein früher Laufjahr-Beginn ist es nun schon. Nicht, daß wir uns in anderen Jahren durch das Wetter vom Laufen abhalten ließen, aber in diesem Jahr kann man ohne Behinderung laufen wie sonst erst später im Jahr.

Als ich die Schafherde erblickte, traute ich meinen Augen kaum – war da ein Schaf auf den Rücken eines anderen gestiegen, wie weiland die Bremer Stadtmusikanten? Eignen sich auch Schafe für den Zirkus? Doch beim Näherkommen erkannte ich: Der Schäfer hatte Heuballen auf der Weide verteilt, und ein Schaf war auf einen Ballen gestiegen; es thronte nun über dem Kreis der anderen Schafe. Der Anblick wird sich einprägen.

Diesen Monat habe ich nach längerer Pause das Statistik-Sonderheft der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung erhalten, ein Heft voll mit Siegerlisten und Bestleistungen aus den Jahren 2005 und 2006, das Ergebnis einer Kärrnerarbeit. Es ist das erste Statistik-Jahrbuch des DUV-Statistikers Jürgen Schoch und seiner Mitarbeiter. Es drängt mich, meine Hochachtung auszusprechen. Ich weiß, daß es eine undankbare Arbeit ist. Bei einem gelungenen Laufbericht sagt jeder: Hervorragend. Aber bei nüchternen Zahlen? Da reklamiert man höchstens, wenn man nicht oder mit einer falschen Zeit erwähnt ist. Worte wecken Emotionen, Zahlen schrecken eher ab. Mich jedenfalls. Ausgerechnet mir wollte Arthur Lambert Anfang der siebziger Jahre das Amt des Statistikwarts der Interessengemeinschaft Älterer Langstreckenläufer anvertrauen. Ich war ja willens, ein Amt zu übernehmen. Nahegelegen wäre das des Pressewarts oder des Redakteurs der "Condition" gewesen. Aber Statistik? Listen einfordern und Leistungen in den Altersklassen herausdestillieren? Es hätte für mich nichts Abschreckenderes gegeben. Ich lehnte ab. Die Folge war, daß das Amt des Statistikwarts zwar besetzt wurde, aber wahrscheinlich von einem, der denselben Horror wie ich vor Zahlen hatte. Er hat das Amt nicht ausgefüllt, die Funktion stand jahrelang nur auf dem Papier. Formalismus in den Vereinen ist sicher notwendig, aber er hat seine Gefahren.

Wenn ich also einen Band wie das Statistikjahrbuch der DUV durchblättere, bin ich voller Hochachtung. Zumal da Jürgen Schoch angekündigt hat, daß demnächst der Band für 2007 erscheinen werde. Die DUV hat offenbar wieder Tritt gefaßt. Bei dieser Gelegenheit hat der Statistikwart darauf hingewiesen, daß im Internet noch viel mehr Zeiten erfaßt seien, zumal in den Altersklassen. Doch es braucht offenbar eines Printmediums, damit man sich dafür interessiert. Fast 75.000 Ergebnisse von 33.680 Läufern bei 1151 Ultramarathon-Veranstaltungen seien in der Statistik-Datenbank der DUV erfaßt. Phänomenal! Dabei gibt es sogar Dinge, bei denen man sich festlesen kann. Einer der Läufe, in Finnland, heißt auf Deutsch Masochisten-Traum.

Eintragung vom 19. Februar 08

Bei der Empörung über die Steuerhinterziehungen, die in diesen Tagen die Schlagzeilen bestimmt, ist viel Verlogenheit im Spiel. Moral ist häufig nur ein Mangel an Gelegenheit, unmoralisch zu sein. Das ist das eine. Das andere: Jeder Staat erzeugt seine eigene Kriminalität. Und immer bestimmt der Staat allein, was Kriminalität ist. Der Nazi-Staat stufte wie andere Staaten auch Desertation als todeswürdiges Verbrechen ein. Dabei konnte Desertation in der Nazi-Wehrmacht hochmoralischen Erwägungen entspringen, nämlich sich nicht an einem Angriffs- und Vernichtungskrieg zu beteiligen oder das sich abzeichnende Kriegsende zu beschleunigen. Die Fälschung von Lebensmittelmarken konnte nur dort vorkommen, wo es Lebensmittelmarken gab. Kuppelei konnte nur dort bestraft werden, nämlich in der Adenauer-Republik, wo das gewerbliche Beherbergen von Personen unterschiedlichen Geschlechts in einem Zimmer verboten war. Seinen Staat zu verlassen, war nur dort ein Verbrechen, wo es vom Staat dazu erklärt worden war, nämlich in der DDR.

Die Moral von Bürgern muß nicht identisch mit der Staatsmoral sein; nur im Idealfall ist sie es. Manchmal ist auch das verkehrt, wie sich an der Kriegsbegeisterung fast des ganzen Volkes im Jahr 1914 gezeigt hat. Wenn eine staatstragende Partei ihre Gelder in Liechtenstein versteckt, worin besteht dann der Unterschied, wenn es ein Privatmann tut?

Wir alle haben ein kriminelles Potential. Meistens wird es nicht sichtbar, zum Beispiel wenn der Staat als Diktatur kriminell ist wie das Dritte Reich. Ich stand im Krieg als Versprengter vor der Entscheidung zu desertieren oder die Truppe zu suchen. Ich hätte nicht gezögert zu desertieren, zumal da Polen mir geholfen hätten; aber ich mißtraute den Russen. Ich habe nicht vor einer Urkundenfälschung zurückgeschreckt, indem ich in Kriegsgefangenschaft einen falschen Geburtsjahrgang angab, so daß ich in einer Jugendkompanie entlassen wurde. Ob in solchen Situationen unser Handeln kriminell ist oder nicht, hängt allein davon ab, wie die jeweiligen Staatsorgane darüber urteilen. Mehrfach bin ich nach den Gesetzen des jeweiligen Landes kriminell geworden, nämlich als ich 1949 die grüne Grenze illegal überschritt und 1952, als ich illegal die DDR verließ. Ich bin auch schon schwarz gefahren, weil ich mit dem Automaten nicht klar kam und der Zug einfuhr.

Was im Bewußtsein als Kriminalität gilt, ist offenbar eine Frage der Schwere der Tat. Einen Privatbrief unter die Geschäftspost zum Frankieren zu mischen, ist Betrug; doch wo ist der Ankläger? Auf Geschäftskosten zu telefonieren, war in meinem Arbeitsleben üblich. Nur als eine Jungredakteurin Abend für Abend mit ihrem fernen Freund plauderte, wurde sie zur Rechenschaft gezogen. Wollte man einen mißliebigen Redakteur auf die Straße setzen, warf man ihm nicht schlechte Arbeit vor – das hätte zu einem Arbeitsgerichtsprozeß geführt –, vielmehr konnte man ihn mit Sicherheit bei der Prüfung von Spesenrechnungen packen. Wir bewegen uns im Alltag häufig in einer moralischen Grauzone. Wahrscheinlich begehen die meisten von uns, sofern wir täglich Auto fahren, jede Woche mindestens eine Ordnungswidrigkeit.

Bei der jährlichen Einkommenssteuererklärung bemühen wir uns unter Aufbietung aller legalen Mittel – ganze Branchen leben davon –, dem Staat den geforderten Tribut zu schmälern. Manchmal sind die Mittel auch nicht legal. Der Regierungssprecher einer CDU-Regierung vergaß eine Zuwendung von 100.000 Mark. Nicht die jährliche Zuwendung eines Industriekonzerns, für die er keine konkrete Gegenleistung erbrachte, kostete ihn die Funktion, sondern die Tatsache, daß er die Zuwendung nicht versteuert hatte.

Die Mentalität, am Staat vorbei zu verdienen, ist weit verbreitet. Ein ordentlicher Prozentsatz des Bruttosozialeinkommens entfällt auf die Schattenwirtschaft. Die Steuerehrlichkeit ist nur dort am höchsten, wo sich die Bürger am engsten mit dem Staat identifizieren. Weshalb wohl hat die Steuerehrlichkeit in der Bundesrepublik so stark abgenommen? Weil sich die Bürger allenfalls noch über den Fußball uneingeschränkt mit ihrem Staat identifizieren. Sie sehen, daß der Staat horrende Geldsummen ausgibt für Zwecke, die ganz offensichtlich nicht dem Wohle des eigenen Volkes dienen, wie es der Amtseid fordert. Die öffentliche Hand bedient sich, wo sie kann. Der Regierung gehören heute außer den klassischen Ressortministern Minister an, deren Namen keiner mehr kennt, erst recht nicht die der einigen hundert Staatssekretäre in Bund und Ländern. Welcher Bürger kann das gutheißen? Wenn das Finanzministerium sich nicht entblödet, von der jährlichen Weihnachtsgratifikation des früheren Arbeitgebers an einen Rentner in Höhe von 100 Euro Steuern abzuzwacken, bleibt die Einsicht in die Notwendigkeit, Steuern zu erheben, auf der Strecke. In uns tief drinnen wohnt ein Gefühl für Gerechtigkeit, nicht für Recht. Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem Ungerechtigkeit herrscht.

Sollen wir nicht mal wieder aufs Laufen zu sprechen kommen? Wer in Freiburg oder in München Marathon läuft, beteiligt den Staat mit 19 Prozent der Startgebühr. Ich halte das für einen Skandal. Marathon bedeutet die Motivation zu einem ganzjährigen gesundheitsfördernden Ausdauertraining und damit einen Beitrag zur Senkung von Krankheitskosten. Das ist mehrwertsteuerpflichtig! Auch in Biel wird auf das Startgeld Mehrwertsteuer erhoben, aber da sind es nur 2,4 Prozent. Wie soll es zu Steuerehrlichkeit kommen, wenn sich im Bewußtsein festsetzt: Dieser Staat ist ein Abzockerstaat! Das gilt für die Länder und Gemeinden ebenfalls. Als wir vor über vierzig Jahren hierher zogen und ein Reihenhaus auf Erbpachtland erwarben, mußten wir außer Grunderwerbssteuer und Grundsteuer 5000 Mark "Folgelastenbeitrag" zahlen.

Ich verstehe mich nicht als den Verteidiger von Herrn Zumwinkel und seinen Kollegen – oder muß man sagen: Komplizen? Ich sehe nur, daß dieser Staat seit Jahren angeblich zur Durchsetzung von Moral in der Weltpolitik mitspielt, daheim aber die Moral verrotten läßt, weil die Funktionsträger des Staates selbst keine Moral haben.

Es wird Zeit, eine Stiftung zur Förderung moralischen Handelns zu gründen – nach liechtensteinischem Recht, versteht sich.

Eintragung vom 10. Februar 08

Einige Wochen nach der Lektüre möchte ich im Tagebuch endlich registrieren, daß ich „Ultramarathon Man“ von Dean Karnazes gelesen habe; das Buch liegt seit vorigem Jahr in deutscher Übersetzung vor. Es war eine unterhaltsame Lektüre, flott geschrieben, uneitel, authentisch, pointiert. Das Buch hat mich schon wegen des Sportmilieus etwas an John Irving erinnert. Da das Buch in den USA zum Bestseller avanciert ist und die Medien davon Notiz genommen haben, erfuhr die Öffentlichkeit mit einem Schlage von solch abenteuerlichen Unternehmen wie dem Western States oder dem Badwater Run, und sie lernte einen Menschen, der solche verrückten Sachen macht, von einer offensichtlich sympathischen Seite kennen.

Mit etwas Abstand habe ich nun wieder in das Buch geschaut und urteile differenzierter. Ist unsere Szene so grell oder nicht bloß Dean Karnazes? Übertreibt er nicht in allem? Zum einen mit dem Laufen selbst, zum anderen mit seiner Darstellung. Da beschließt er an seinem 30. Geburtstag, daß der gut bezahlte Job nicht alles sein könne, und er läuft in den Tretern, die er zur Gartenarbeit anzieht, durch die Nacht, erstmals wieder seit seiner Jugend. Prompt ruiniert er sich in den abgelatschten Turnschuhen die Füße. Unsereiner hätte den spontanen Lauf abgebrochen und sich erst einmal vernünftige Schuhe besorgt. Dean jedoch läuft weiter und läßt sich am Morgen von seiner Frau abholen. Ist der Mann vielleicht ein Masochist? Und wie er sein Training durchzieht, als er sich auf Ultralangstrecken vorbereitet! Stundenlang läuft er durch die Nacht, nachdem er, versteht sich, die Kinder zu Bett gebracht hat. Am Morgen ist er wieder da und macht ihnen das Frühstück. Dann fährt er ins Büro und erledigt einen offenbar anspruchsvollen Job. Schlafen wird zur Nebensache.

Ich habe innerlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als ich las, was er unterwegs auf seinen einsamen Läufen in sich hineingestopft hat. Unbedarfte Leser müssen zu der Ansicht kommen, ohne ständige Nahrungszufuhr bleibe der Motor eines Ultraläufers stehen. Nächtliche Pizzahersteller verblüfft Dean mit der Menge des Bestellten, und er bringt es sogar fertig, einen Haufen fast food in einer Hand zu halten und mit der anderen während des Laufens zu essen. Selbst beim Western States muß es an einer Verpflegungsstation nicht bloß eine einzige Brezel sein, sondern gleich eine Handvoll Brezeln. Was er in einem Drive-in-Restaurant verschlingt, muß ziemlicher Nahrungsmüll sein. Doch das Buch wirbt mit Ernährungs- und Fitnesstips. Dabei entsprechen Deans Ansichten zur Ernährung im Prinzip der Vollwertkost nach Bruker (dem Läufer Sonntag glaubt man’s ja nicht, „Sport und Vollwerternährung“ ist in den Laufmedien nicht wahrgenommen worden; ich vermute, schon deshalb nicht, weil Powerbar inseriert, die Hersteller von Körnermühlen aber nicht).

Ich bin sicher, daß Dean Karnazes ganz seriös an Wettbewerben teilgenommen hat; doch da sie nichts Dramatisches hergeben, beschreibt er seine spektakulärsten Unternehmungen. Beim Marathon-Versuch am Südpol spielt er mit seiner Gesundheit, wenn nicht mit seinem Leben. Jedenfalls läßt er daran keinen Zweifel.

Da Karnazes, der aus einer griechischen Einwandererfamilie stammt, außer seinem Wochenpensum von 80 bis 120 Meilen (130 bis 200 Kilometer) auch noch anderen Sport betreibt, Mountain Biking, Wellenreiten, Windsurfen, und zum Beispiel täglich 200 Liegestützen macht, ist sein Körper muskulös. Das hat ihm Attribute wie „Einer der schärfsten Männer im Sport“ eingebracht. Sympathisch ist, daß er all diesen Schmarren, einen Sexismus durch Frauen, zurückweist. Er sei nur Läufer. Den Zitaten nach, die der deutschen Ausgabe vorangestellt sind, haben ihn die Medien zu einer Ausnahmenatur aufgebaut; er habe gar den Ultralangstreckenlauf revolutioniert. Die Leute, die den Ultramarathon ignoriert haben, erdreisten sich nun, darüber zu urteilen.

Der Titel „Ultramarathon Man“ ist eine Abwandlung des „Marathon Man“, nun gut, das Buch wird ja wohl zum geringsten Teil von Ultraläufern gelesen. Aber der deutsche Untertitel! Aus den Confessions of an All-Night Runner, den Bekenntnissen eines Nachtläufers also, wird „Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers“. Gerade das aber ist Dean Karnazes nicht. Er läuft zwar 24 Stunden und mehr – beim Spartathlon bin ich, seinerzeit schon im Rentenalter, knapp 36 Stunden auf den Beinen gewesen –, aber er ist nicht das, was man fachlich unter einem 24-Stunden-Läufer versteht, der auf einer höchstens etwa 2 Kilometer langen Runde rotiert. Der Übersetzer hat es für richtig gehalten, die Ultraläufer wie im Büro Sie zueinander sagen zu lassen. Im Englischen gibt es das Problem nicht, die unangepaßte deutsche Anrede macht Umgangston und soziales Ambiente unglaubwürdig; die Echtheit der Darstellung leidet in der deutschen Ausgabe empfindlich. Nun hat man endlich ein fesselndes Ultrabuch, und man zieht keinen der laufenden Lektoren, die es in Deutschland ja gibt, zu Rate (selbst ein „normaler“ Ultraläufer hätte Tips geben können)! Die Ignoranz in den Verlagen scheint grenzenlos zu sein.

Wieder einmal läßt man sich von Amerikanern die Nase auf einen Stoff stoßen. Wir haben in Europa Extremläufer und -sportler doch auch und wie so vieles einige Jährchen länger. Stefan Schlett ist seit 33 Jahren im „Geschäft“. Ein Geschäft ist es zwangsläufig deshalb, weil solche Läufer im Gegensatz zu Karnazes bemüht sein müssen, ihren Lebensunterhalt und ihre aufwendigen Unternehmungen zu finanzieren. Ich habe mir ganz aktuell Stefan Schletts Bilanz (Januar 2008) geben lassen. Danach hat er über 1500 Wettkämpfe in 84 Ländern bestritten, hat 62.400 Kilometer in Wettkämpfen laufend zurückgelegt, 29.600 km mit dem Rennrad, 17.500 km mit dem Mountain Bike, 328 km im Kajak, 341 km schwimmend, 3.000 km segelnd, 600 km beim Inline Skating und in Treppenläufen 50.000 Stufen (aufwärts, hat er hinzugefügt, da offenbar auch er mit Ignoranten rechnet). Er hat deutsche Rekorde über 6 Tage Straßenlauf, 1000 km, 1000 Meilen, 2000 km und 1300 Meilen (2091 km) aufgestellt. Er ist Marathon (3:46:45 Stunden) und 50 km (4:04:59 Stunden) auf einem Schiff gelaufen sowie 700 m unter der Erde in einem Salzbergwerk, auf der tiefsten Laufstrecke der Welt (50 km in 5:31:38 Stunden). Er ist der erste Deutsche und der sechste auf der Welt, der in allen Kontinenten Marathon gelaufen ist. Er war der erste, der den Everest-Marathon in Nepal, den höchsten Marathon der Welt, bewältigt hat, und den nördlichsten wie den südlichsten Marathon.

  Er ist der einzige auf der Welt, der vier Kontinente mit eigener Muskelkraft (drei zu Fuß und einen mit dem Mountain Bike) und unter Wettkampfbedingungen durchquert hat. Und so geht das weiter – bis zu den 496 Fallschirmabsprüngen, darunter einem am Nordpol, und dem zehnfachen Triathlon in Monterrey, Mexiko (38 km Schwimmen, 1800 km Radfahren, 422 km Laufen). Welcher Stoff!

Nun ist es keineswegs so, daß Stefan das alles heimlich gemacht hat – er muß seine Extremsport-Teilnahmen ja finanzieren –, er hat immer wieder in Laufzeitschriften Reportagen veröffentlicht. Keiner der profilierten Sportjournalisten, die bei uns Öffentlichkeit herstellen, hat davon Kenntnis genommen. Kein Verleger hat den Stoff gesehen, über den dieser Mann verfügt. Lieber verlegt man Fertigprodukte, für die andere das Marketing besorgt haben, statt selber zu kochen. Ja, wenn Stefan Schlett ein Buchmanuskript anböte...., werden die Ignoranten sagen. Stefan Schlett, im Alter von 46 Jahren, geht mit einem Manuskript hausieren. Gewiß, er schreibt nicht so pointiert wie Dean Karnazes, er hat keine Familie, mit der er im Buch Emotionen bedienen und Identifikation auch von Nichtläufern hervorrufen kann. Er stellt sachlich seinen Stoff dar, durchaus mit dramatischen Höhepunkten, aber vielleicht ist er gerade mit seinem unauffälligen Stil näher dran an seinen Lesern, die im Gegensatz zu der Masse der Karnazes-Leser wissen, worüber hier einer schreibt.

Eintragung vom 1. Februar 08

In einem Tagebuch alter Form stünde hier, was ich schon geschrieben habe. Im „Blog“ kann man löschen oder, wenn man nichts umkommen lassen will, an anderer Stelle speichern. Das habe ich getan. Ich habe die Abend-Nachrichten gehört und gesehen. Es geht um nichts weniger als um Krieg und Frieden. Nur so deutlich sagt das keiner, der offiziell etwas zu sagen hat. Kampfeinsätze der Bundeswehr in Afghanistan werden nicht mehr ausgeschlossen. Jahrelang ist dieses Wort peinlich vermieden worden, so wie in der griechisch-orthodoxen Kirche das Wort Teufel. Mit Kampfeinsätzen wird die Bundesrepublik Deutschland zur kriegführenden Nation. Kriege werden längst nicht mehr „erklärt“, höchstens werden sie den Völkern erklärt, wenn sie schon ausgebrochen sind (vielleicht hätte Karl Kraus, den ich so schätze, das so ausgedrückt). Die USA haben endlich die Katze aus dem Sack gelassen: Sie fordern von uns mehr Tote.

Der politische Automatismus war mir längst klar. Er begann mit der Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik unter Konrad Adenauer einerseits und der Paramilitarisierung der DDR andererseits. Weshalb hätten Besatzungsmächte den einstigen Gegner wiederbewaffnen sollen, wenn sie sich keinen Nutzen davon versprochen hätten? Solange die Bundeswehr nur virtuell kämpfte, ging alles gut. Und war es nicht schön, wenn man ohne die Mühsal des Lebensunterhalts an einer Bundeswehr-Hochschule studieren konnte? Und war es nicht angenehm, das Vollzeit-Training für seinen professionell ausgeübten Sport in einer Sportkompanie vornehmen zu können?

Nun wird es ernst. Im Grunde ist es schon immer ernst gewesen, aber jetzt begreifen es die meisten. Die Vorbereitung auf kriegerische Handlungen geschah schleichend, und immer wenn Krieg gemeint ist, wird „Frieden“ gesagt. Die Verlogenheit begann ja schon, als der Kriegsminister abgeschafft und der Verteidigungsminister eingeführt wurde. Gipfel des Zynismus: Deutschland wird am Hindukusch verteidigt. Das Wort hätte von Hitler sein können, als er die Legion Condor nach Franco-Spanien schickte. Die Friedensmission begann im Kosovo und dauert nun schon bis ins zehnte Jahr. Und wie jeder Krieg hat auch der auf dem Balkan keine Probleme gelöst, sondern geschaffen. Oder lag der schleichende Beginn noch früher? Vielleicht 1993 mit der Entsendung von Militärbeobachtern nach Georgien. Die Bundeswehr ist seit fünf Jahren präsent am Horn von Afrika, in Bosnien-Herzegowina, in Äthiopien und Eritrea, im Sudan, im Kongo und eben in Afghanistan, und zwar seit 2002 mit 3500 Soldaten und Soldatinnen. Überall wird nach dem Wort eines sogenannten Verteidigungsministers der SPD Deutschland verteidigt. Wir wären wahrscheinlich auch in die Irak-Katastrophe hineingeschlittert, wenn es damals nicht gerade einen sozialdemokratischen Bundeskanzler gegeben hätte. Was immer man gegen seine Putin-Anbiederei sagen mag, – Schröders historisches Verdienst besteht darin, damals strikt Nein gesagt zu haben. Dafür hat ihm der puerile Mr. President auch nicht mehr zum Geburtstag gratuliert. Das muß ihn tief getroffen haben.

Die Irak-Katastrophe hat Erfahrungen gebracht, die man vor der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch schon haben konnte. Demokratie ist nicht der Zauberstab, für den sie gehalten wird. Wie konnte man nach dem Vietnam-Krieg mit seinen barbarischen Militär-Operationen noch glauben, daß sich die USA als Weltpolizist eigneten? So manche Regierung wird inzwischen bereut haben, sich von den USA in Militär-Aktionen einbinden zu lassen. Ein Rückzug nach dem anderen... Zeit also, „Germans to the front“ zu rufen. Diesmal kam auf die amerikanische Forderung im „Feldwebelton“ (so der Kommentar im ZDF) von CDU-Seite ein glattes Nein. Es scheint, als ob die großen Parteien lernfähig wären. Mag sein, daß sich die großen „Volksparteien“ über die Stimmung im Volk klar sind. Je mehr der Innenminister Dr. Schäuble Maßnahmen gegen den Terror plant, desto klarer wird uns, daß erst durch die deutsche Militärunterstützung der Terror ins Land geholt worden ist.

Das klingt verdammt nach der Einstellung der Partei „Die Linke“. Da sollten wir nicht vergessen, daß darin die paramilitärisch geschulten SED-Genossen Unterschlupf gefunden haben. Als die SED Anfang der fünfziger Jahre die These vom „gerechten Krieg“ zu verbreiten begann, war dies für uns, Marianne und mich – meine Kriegsverletzungen juckten noch –, der Knackpunkt. Marianne hatte ihren Schülern auch aus Überzeugung den Krieg, dessen Verwüstungen überall im Lande zu sehen waren, als verabscheuenswert dargestellt. Nun plötzlich setzte auf Betreiben der SED-Kader, deren Erben in der Partei „Die Linke“ untergetaucht sind, der Gegenkurs ein. Die Besatzungsmacht beharrte auf einem Söldnerbeitrag. Die gar nicht mal mehr schleichende Militarisierung setzte ein. Tumbe Touristen begafften den Stechschritt vor der Ehrenwache Unter den Linden. Die Kinder und Jugendlichen wurden durch die Gesellschaft für Sport und Technik, nicht anders als bei Hitler, verführt. Marianne verließ die DDR. Ich war schon vorher gegangen.

In einem habe ich mich getäuscht. Ich hatte es, als wir aus Gefangenschaft freikamen, nicht mehr für möglich gehalten, daß, solange ich leben würde, Deutsche nochmals in einen Krieg verstrickt würden.

Eintragung vom 22. Januar 08

Jeden Tag könnte ich beim Laufen ein aktuelles Thema wälzen: Jugendkriminalität – der Sozialpädagoge und Lauftherapeut Wolfgang W. Schüler könnte in dem Bundesland, in dem damit Wahlkampf gemacht wird, einen praktischen Diskussionsbeitrag dazu leisten. Aber Diskussion ist nicht gefragt, der Holzhammer mit der Strafverschärfung muß her. – Der amerikanische Wahlkampf... alles ein bißchen wie Las Vegas. Was dabei herauskommt, hat man an George W. Bush gesehen. – Die Schließung des Nokia-Werkes in Bochum... Mit dem Schuhabsatz ein Handy zu zertreten, ist kindisch. Was erwartet man denn von der Wirtschaft? Erst mit dem Geld der Steuerzahler ein globales Wirtschaftsunternehmen ans Land binden, nichts als ein plumper Bestechungsversuch, der in die Hose gegangen ist, und nun jammern. Hätte man das Geld lieber in den östlichen Bundesländern in die bestehenden ehemaligen DDR-Betriebe zur Modernisierung ausgegeben, statt sie plattzumachen und die Grundstücke den Klauen ausländischer Investoren preiszugeben. Wer versucht denn seit Jahren, uns die Globalisierung schmackhaft zu machen? Soviel Heuchelei.... Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen 2300 Arbeitnehmern von Nokia und fast ebenso vielen Angestellten der Westdeutschen Landesbank, die auf die Straße gesetzt werden sollen, weil dort die Manager zwei Milliarden Euro verzockt haben?

Am Montag bin ich nicht gelaufen, ein Ruhetag, aber wieder ein Skandalthema, der Crash an den Börsen. Wie hat man die platzende Blase der Immobilienspekulation in den USA bei uns kleingeredet und kleingeschrieben! Opportunisten auch in den Redaktionen; nur ein von der BVA unkündbarer Rentner kann noch vom Leder ziehen. Nun zeichnet sich das Ausmaß leichtfertiger Spekulation ab, das Ausmaß der Abhängigkeit vom amerikanischen Hochkapitalismus. Und da gibt es sogenannte Fachleute, die uns den Aktienkauf mit dem Hinweis auf die Amerikaner, die viel mehr Aktien zur Alterssicherung als in Deutschland besäßen, schmackhaft machen wollen? Die Deutschen sparen falsch, hat uns so eine Pfeife unlängst wieder weismachen wollen. Meine Aktien sind heute 23,66 Prozent weniger wert, als ich sie überwiegend 1999 unter den Rattenfängerklängen der Telekom-Volksaktie gekauft habe. Mit dem Fonds, den mir meine Landesbank angedreht hat und mit dem sie noch immer Reklame macht, habe ich eine Rendite von 4 Prozent erzielt, nicht in einem Jahr, sondern seit 1999; auf dem Girokonto wäre das Geld vorläufig wenigstens sicher gewesen. Und wenn der Dax weiter fällt, gerate ich auch bei den Fonds in Verluste. Sollte mich jedoch im nächsten Jahr nochmals der Teufel reiten und ich mit einer Aktie tatsächlich erfolgreich sein, der Bahnaktie vielleicht (Späßle gemacht!), würde mir der Staat den bescheidenen Ausgleich für die Verluste mit der Abgeltungssteuer wegsteuern. Was jammert dieser Staat über mangelnde Ethik in der Wirtschaft, er hat doch selbst keine und agiert völlig systemkonform.

Über dem Crash werde ich nicht in Panik geraten. Ich gehöre zu der Generation, die, so übel ihr auch mitgespielt wird, ihre Befindlichkeit an ihrer Biographie mißt. In dem Erdloch, in dem ich zu überleben hoffte, besaß ich außer einem Brotbeutel und einer Gasmaske eine Konservenbüchse für die Notdurft und hoffte, daß ich nachts zurückrobben könnte, um eine Mahlzeit zu erhalten. Im Kriegsgefangenenlager Auschwitz büßte ich meinen Notvorrat von zwei Scheiben Brot ein, als ich sie beim Verlassen der Pritsche vergaß. Das ist bitter, wenn einem beim Treppensteigen vor Hunger schwarz vor den Augen wird. Als meine Großmutter fast so alt war wie ich jetzt, kletterte sie im Riesengebirge mit einem Handköfferchen in einen Viehwaggon, der sie in ein Notaufnahmelager brachte. Was ist gegen solchen Crash ein Börsen-Crash? Mögen andere zittern. Ich gönne es ihnen.

Die Fenster auf der anderen Straßenseite sind dunkel. Der Hundertzweijährige, dessen weißen Kopf ich am Sonntag im Lehnstuhl am Fenster gesehen habe, ist gestern gestorben. Er hat nichts verpaßt.

Eintragung vom 14. Januar 08

Vor einiger Zeit erfuhr ich den Titel einer neuen Laufzeitschrift – ich hatte ihn noch nie gehört. Dabei gab es ihn schon eine Weile. Das hat mich auf die Idee gebracht, einmal zusammenzustellen, was es auf diesem Gebiet gibt, aber auch, was es gegeben hat. Für mich war das Ergebnis erstaunlich.

Dabei hatte alles mit Null angefangen. Als in der Bundesrepublik nur ein einziger spezifischer Läuferverband existierte, die von Ernst van Aaken ins Leben gerufene Interessengemeinschaft Älterer Langstreckenläufer, stellte Meinrad Nägele von 1964 an informative Rundbriefe zusammen, von denen 20 Ausgaben erschienen und die inhaltlich schon den Charakter einer Mitgliederzeitschrift hatten. Hans Jürgensohn, der spätere Mitorganisator des Hoechst-Marathons und ersten deutschen City-Marathons, fand schließlich, daß es an der Zeit sei, aus den Rundbriefen auch äußerlich eine Zeitschrift zu machen. Jürgensohn, der in der Werbeabteilung von Hoechst arbeitete, schlug den Titel „Condition“ vor. Im Archiv der jetzigen IGL finden sich zwar, wie sie in der Chronik wissen läßt, keine Belege für Jürgensohns Urheberschaft am Entstehen der „Condition“, aber nach meiner Meinung besagt das gar nichts. Ich vertraue Jürgensohns authentischer Darstellung (er war keiner, der sich in den Vordergrund schob); niemand sonst hat jemals die Urheberschaft beanspruchen können. Jedenfalls gibt es seit 1970 die „Condition“. Sie könnte als die älteste Laufzeitschrift in Europa gelten; doch da sie eine Verbandszeitschrift ist, konkurriert mit ihr das Mitteilungsblatt des britischen Road Runners Club, das bereits in den sechziger Jahren erschien. Van Aaken fungierte formell als Chefredakteur; nachdem Meinrad Nägele in den USA unbekannt verschwunden war, besorgte Manfred Steffny die Redaktion. 1974 kam es in der IGÄL zum Schisma, von dem die historischen Spuren noch erkennbar sind, das aber über dem Wandel der Konstellationen längst überwunden ist. Arthur Lambert, dem ersten Vorsitzenden der IGÄL, mißfielen manche Inhalte, die er für Läufer nicht als relevant ansah. Der Redakteur wurde gefeuert, van Aaken solidarisierte sich mit Steffny, den er im Hinblick auf dessen Olympiateilnahme gefördert hatte. Steffny gründete 1975 mit van Aaken eine neue Zeitschrift, die der Laufschuhfabrikant Ernst Brütting mit Anzeigen unterstützte; sie sollte ursprünglich „Neue Condition“ heißen (der Titel des vierteljährlichen Senioren-Schwerpunkts „Kondi“ in „Spiridon“ ist wohl eine Reminiszenz daran). Der Titel „Neue Condition“ wurde verständlicherweise untersagt. Steffny griff auf den Titel eines französischsprachigen Magazins von Noel Tamini zurück: „Spiridon“, den Namen des ersten Olympia-Marathonsiegers. Die Zeitschrift entwickelte sich dank Steffnys Kompetenz zu einem leistungssportlich orientierten Fachmagazin, auf das zumindest Insider nicht verzichten können.

Von nun an muß ich mir eine chronologische Darstellung versagen, sie würde lange Recherchen erfordern und erscheint mir ziemlich unproduktiv. Ich muß mich mit einer Aufzählung begnügen. Der Sportartikelhändler Burkhard Swara gründete „Marathon aktuell“; nach einigen Jahren wurde die Monatszeitschrift eingestellt. Mir war klar: Ohne einen langen Atem, möglichst einen großen Verlag im Hintergrund, kann man kein Zeitschriftenprojekt mehr durchsetzen, außer wenn man sich mit Nischen begnügt. Mir schwebte damals eine Art Jogging-Magazin vor, ein populäres Magazin im Stil von „Runner’s World“. Ich wandte mich 1983 an einen Zeitschriftenverlag, dessen Manager zu den Läufern zählte. Er schrieb mir: „Ich persönlich... halte das Marktpotential für eine solche Zeitschrift innerhalb des deutschsprachigen Bereiches für zu klein.“ Wie man sich irren kann. Der Verlag, bei dem ich beschäftigt war, gründete zwar eine Zeitschrift fürs Surfen und kaufte später ein Objekt für Radfahrer, aber vom Laufen hielt der Verleger nichts. Die deutschen Verleger überließen den Markt für ein populäres Laufmagazin den Amerikanern. Der Schweizer Großverleger Ringier, der damals Ambitionen auf dem deutschen Markt hatte, brachte 1993 im Joint Venture eine deutschsprachige „Runner’s World“ heraus; die Redaktion hatte jedoch weitgehend Gestaltungsfreiheit, so daß das Heft außer dem Titel und dem einen oder anderen Beitrag von Autoren der amerikanischen „Runner’s World“ damals kaum etwas mit dem Original gemein hatte. Die deutsche „Runner’s World“ setzte sich bald an die Auflagenspitze der deutschsprachigen Laufzeitschriften. Genau das hatte ich mir vorgestellt, als ich einen großen Verlag für ein solches Objekt gewinnen wollte.

In Norddeutschland hatten Volkslaufwarte eine eher regionale Zeitschrift, „Volkssport“, ins Leben gerufen. Wenn ich das richtig sehe, wurde sie von einem Mainzer Fachverlag übernommen und mit der ebenfalls übernommenen „Condition“ zusammengelegt. Der Titel lautete „Sport Spezial/Condition“, wobei der Name „Condition“ aber fast unterging. Der Verlag hatte jedoch keinerlei Beziehung zum Laufsport, wie sich in mangelndem Engagement zeigte. Nach einer Budgetkürzung wurde die Monatszeitschrift ganz eingestellt, und der Titel „Condition“ ging an die IGL zurück, die dann neu disponierte. Das wechselvolle Schicksal der „Condition“, in der auch ich mich von 1984 an etliche Jahre abgerackert hatte, ist in der Chronik der IGL beschrieben.

In Österreich wurde in den achtziger Jahren eine Laufzeitschrift gegründet, die damals jedenfalls mit dem Österreichischen Leichtathletikverband paktierte. Die Zeitschrift heißt jetzt „Laufsport - Marathon“. In der Schweiz betreute Jürg Wirz ein Magazin „Der Läufer“. Vom Verlag wurde später das Konzept geändert, aus der Laufzeitschrift wurde „Fit for Life“, im Grunde genommen eine ganz andere Zeitschrift. Ein anderes, erlebnisorientiertes Magazin namens „Trail“, das auf durchaus anspruchsvolle Weise den Outdoor-Sport abdecken wollte, verschwand sehr bald wieder vom schweizerischen Markt.

Die im Dezember 1985 gegründete Deutsche Ultramarathon-Vereinigung brachte im folgenden Jahr mit zunächst 3 Ausgaben im Jahr „Ultramarathon“ heraus, die später unter Birgit Lennartz und Udo Lohrengel den Charakter eines Fachmagazins erhielt. Beide machten sich jedoch nach Jahren mit „Marathon und mehr“ selbständig, einer unabhängigen Zeitschrift für Erlebnislauf und Ultramarathon. Das Deutsche Lauftherapiezentrum gibt in größerem Abstand die „DLZ-Rundschau“ heraus. Der 100 Marathon Club hat ebenfalls eine Mitgliederzeitschrift. Nach der Wiedervereinigung schuf der rührige Klaus Weidt in Berlin die „Laufzeit“, die zumindest in der Anfangszeit vor allem die Läuferinnen und Läufer der ehemaligen DDR bediente (bis dahin hatten sie mit einem unter der Hand verbreiteten Blättchen von Dietmar Knies vorlieb nehmen müssen). Der „Kickers“-Verlag versuchte sich eine Zeit lang mit einem Journal „Laufen“.

Der Untergang von „Marathon aktuell“, „Sport Spezial“, „Laufen“ und „Der Läufer“ hielt begeisterte Läufer nicht von neuen Medien-Initiativen ab. Seit 1994 erscheint bei der zwei Jahre zuvor gegründeten Sport-Agentur WAG’s in Freiburg im Breisgau „Running“. Mir ist noch in Erinnerung, daß die Graphik die Idee hatte, die beiden NN falsch herum zu schreiben. Ob die Graphiker wohl gewußt haben, daß sie damit das kyrillische I geschrieben haben? Der Verlag schob dann noch Spezialmagazine nach, die offenbar nur andere Titel für jährlich einmal erscheinende Sonderhefte sind. Wenn dies ein Fachartikel wäre und nicht bloß eine Tagebucheintragung, weil ich mir über meinen Kenntnisstand Rechenschaft geben will, müßte ich weiter recherchieren.

„Running pur“, 1998 gegründet, hat ein präzises Konzept: Beschränkung auf Süd- und Südwestdeutschland, jährlich viermaliges Erscheinen. Man sieht, auch mit nur 1000 Abonnenten läßt sich so etwas machen.

Auf „Aktiv Laufen“ aus Köln bin ich vor einigen Monaten hingewiesen worden. Da ist mir durch den Kopf gegangen, es scheint, als ob ein Sportverlag einfach aus Wettbewerbsgründen heute einen Laufzeitschriftentitel im Programm haben müßte – ganz gleich, ob sich damit Geld verdienen läßt oder nicht. Daran läßt sich immerhin erkennen, welche Rolle das Lauftraining und der Laufsport heute spielen.

Eine Zeitschrift „Motion“ ist sicherlich hier auch anzuführen; ich nehme jedenfalls an, daß nicht die Bewegung mit Motorkraft gemeint ist. Ich habe es längst aufgegeben, mir ein Exemplar, womöglich gar die Erstausgabe, zu besorgen. Die Erstausgabe von „Emma“ konnte ich nach Jahrzehnten immerhin für 10 Euro nach Italien verkaufen. Bei der Entwicklung von Zeitschriften für die Fußfortbewegung bliebe ich wahrscheinlich auch auf den Erstausgaben sitzen. Die letzte Ausgabe von „Motion“, die im Internet präsentiert wird, ist die Ausgabe 8/2006.

Zum Laufen ist das Walking hinzugekommen. Wenn ich mich bei der Internet-Recherche nicht vertan habe, sind zu nennen: „Walking-Magazin“, „Fit mit Walking“, „Nordic Fitneß Magazin“, „Nordic Walker“, „Walking spezial“. Beim Radfahren hat sich Ähnliches abgespielt; statt in einem einzigen Magazin ist das Thema nach Zeitschriften fachlich aufgefächert.

Wie so viele Special-interest-Zeitschriften haben auch Laufzeitschriften einen Leserschwund zu beklagen. Ich habe den Eindruck, daß der ohnehin hohe Teil des Anzeigenaufkommens an der Finanzierung von Laufzeitschriften noch gestiegen ist. Wenn zum Beispiel „Running“ in den Mediadaten mit maximal 100000 Exemplaren Druckauflage operiert, bedeutet dies, daß ein großer Teil der Exemplare verschenkt werden muß. Bittere Erkenntnis: Erst haben es professionelle deutsche Verleger an Initiative und Mut fehlen lassen, und jetzt geraten wir in die Gefahr, daß Qualität durch Quantität ersetzt wird. Wo eigentlich könnte man noch die große literarische Laufreportage von Günter Herburger lesen?

Vielleicht gibt es mal eine oder einen Studierenden der Kommunikationswissenschaft, dem die Professoren dieses Thema „Laufzeitschriften im Wandel“ aufs Auge drücken. Das wenigstens würde ich dann mit Interesse lesen.

Eintragung vom 6. Januar 2008

Nach den Temperaturen um null Grad bin ich heute dem ersten Läufer mit blanken Waden begegnet. Mir selbst waren die Angora-Handschuhe zu warm.

Einiges habe ich an Reflexionen nachzutragen. Meine Zeitung hat uns informiert, daß die Rad-Weltmeisterschaft die Stadt Stuttgart 3,34 Millionen Euro kostet. Eine Radweltmeisterschaft, die nichts eingebracht hat als Verdruß; sie ist das genaue Gegenteil einer Image-Werbung für eine „Sportstadt“ gewesen. Was stellt sich heraus? „Hätte die Rad-WM nicht stattgefunden, wäre die Stadt mit Schadenersatzforderungen in zweistelliger Millionenhöhe konfrontiert worden“, sagte der zuständige Bürgermeister Michael Föll im Verwaltungsausschuß des Gemeinderats. Was sind das für Verträge? So geht eine Stadtverwaltung mit Steuermitteln um! Dabei hat sich Stuttgart schon einmal die Finger verbrannt, bei der Leichtathletik-Europameisterschaft, als die Verwaltung auf einem Defizit sitzengeblieben ist. Dabei war diese Meisterschaft noch ein Publikumserfolg.

Wenn mich nicht alles täuscht, wird sich die Stadt abermals aufs Kreuz legen lassen, wenn sie das Gottlieb-Daimler-Stadion an den VfB verkauft, was ein unpassender Ausdruck für die Verschleuderung kommunalen Besitzes ist. Denn der VfB kann nicht zahlen, was das Gottlieb-Daimler-Stadion wirklich wert ist. Das Land Baden-Württemberg will auf eine Rückzahlung von Zuschüssen in Höhe von 15 Millionen Euro verzichten. Der Profi-Fußball ist eindeutig ein nach kapitalistischen Gesichtspunkten betriebenes Sportunternehmen. Die Emotionen, die er weckt, trüben anscheinend den Blick der steuergeschröpften Bürger. Sonst müßte ein Murren durchs Land gehen. Wollten die Organisatoren eines breitensportlichen Ereignisses wie eines Marathons die Hand aufhalten, würden sie leer ausgehen.

Bei der Auktion von Sportmemorabilia im Deutschen Sport- und Olympiamuseum Köln haben die beiden Goldmedaillen-Urkunden von Emil Zátopek und Dana Zátopkova aus dem Jahr 1952, als beide innerhalb von 30 Minuten jeweils in ihrer Disziplin eine Goldmedaille erkämpft hatten, zum Ausrufepreis von 12000 Euro einen neuen Besitzer gefunden. Mit den 12000 Euro hätten die beiden, als die Prager Erhebung von den sowjetischen Freunden niederkartätscht worden ist, ein gutes Jahr lang leben können. Doch Emil und Dana haben die gerahmten Urkunden einem Sammler geschenkt. Und der hat sie nun verkauft. Mit Sicherheit nicht an das Sportmuseum Berlin, das AIMS-Museum. Das kann sich solche Ankäufe nicht leisten. Eine Wertschöpfung von 12000 Euro, deren Urheber allein die beiden Zatopeks sind. Es ist wie in der Bildenden Kunst – das Geschäft haben nicht die Künstler, sondern die Galeristen oder die Erben von Sammlern gemacht.

Da kommen wir zum Mindestlohn. Die Absicht ist ja ehrenhaft, man soll von seiner Arbeit leben können. Doch das können ohnehin nicht alle. Man kann nur dann von seiner Arbeit leben, wenn die Arbeit gefragt ist. Wer sich in den Kopf gesetzt hat zu schreiben oder zu malen, zu komponieren oder zu philosophieren und was der unnützen Dinge mehr sind, wird ohne einen Brotberuf nur dank hoher Begabung und glücklicher Umstände davon leben können, und das auch nicht vom ersten Tage an. Vor vier Jahren habe ich mich darauf eingelassen, zwei Kapitel zu einem Buch beizusteuern, zwei ganz spezielle, für die ich Kompetenz beanspruchen darf. Der Manuskriptumfang betrug etwa 39000 Anschläge gleich 26 Manuskriptseiten. Dafür muß man ziemlich ackern, und man muß auf immense Lektüre zurückgreifen können. Das Honorar betrug 150 Euro, das macht für die Manuskriptseite 5,76 Euro. Man müßte also in der Stunde zwei Manuskriptseiten verfertigen, um auf den Lohn einer Putzfrau zu kommen. Mit dem Unterschied, daß die Putzfrau die Reinigungsmittel nicht selber kaufen muß, der Autor aber heute über digitale Arbeitsmittel verfügen muß, weil er die Arbeit des früheren Setzers gratis gleich mit übernommen hat. Anders gerechnet: Für 150 Euro kann man allenfalls an einem einzigen auswärtigen Marathon teilnehmen.

Das Streben nach Gerechtigkeit führt wieder einmal zu mehr Ungerechtigkeit. Oder ist es nicht ungerecht, wenn Briefzusteller einen Mindestlohn bekommen, von dem sie leben können, Kopfarbeiter aber, wenn sie nicht angestellt sind, mehr oder weniger mit der Ehre abgespeist werden? In Hollywood streiken noch immer die Drehbuchautoren. Das schaffen wir hier nie. Ja, wenn wir Lokomotivführer wären...

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