Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 27. Dezember 11

Unsere Lauf-Vita prägt unser Urteilsvermögen. Ich erinnere mich recht gut: „Spiridon“ akzeptierte zwar den Berglauf, übte aber Kritik an dem im Jahr 1986 ins Leben gerufenen Swiss Alpine, denn hier wurde nicht nur auf den Berg, den Sertig-Paß, gelaufen, sondern auch bergab. Der zweifache Olympia-Teilnehmer Manfred Steffny lief nicht auf die Berge und erst recht nicht hinunter.

Ich bin von Kindheit an gewandert und eher ein Landschaftsläufer als ein Stadtmarathoner. Von den 147 Ultraläufen in meinem Leben waren ohnehin die meisten Landschaftsläufe. Die Einbindung in die Natur zählt für mich zum Lauferlebnis. Insofern bin ich sicher voreingenommen gewesen, als ich von dem Ecco Indoor Trail in den Dortmunder Westfalenhallen erfuhr. Dort soll für die Zeit vom 3. bis zum 5. Februar ein künstlicher Trail angelegt werden; jedermann ist eingeladen, ihn zu benützen. Die Strecke ist 1,2 Kilometer lang, und man kann sie einmal, fünf- oder zehnmal zurücklegen. Versprochen wird, es werde über Geröllfelder, Baumstämme und Schlammgruben gefetzt. Über wechselnde Untergründe wie Sand, Erde und sogar Schnee gehe es zum Ziel.

Für einen jedoch, der dagegen ist, daß Beach-Volleyball auf Marktplatz-Asphalt demonstriert wird, mutet das Vorhaben ziemlich grotesk an. Ich kann verstehen, daß man fernab der Alpen in einer Halle Ski fahren möchte. Aber warum muß man einen Trail nachbauen, wenn es doch Naturpfade auch in Großstädten gibt? Herangefahren werden 447 m³ Erde, 16 m³ Kies, 15 m³ Sand und 30 m³ Schnee. Wenn ich mir’s recht überlege: Der Sand hätte bequem in meinem Arbeitszimmer Platz, der Schnee in unserem Reihenhaus-Wohnzimmer. Wer jemals beim Swiss Alpine zum Sertig-Paß oder zum Scaletta aufgestiegen ist, kann da nur höhnisch lachen.

Kommen wir zum Kern: Es handelt sich um eine Public-relations-Veranstaltung. Offenbar sollen Läufer, die nicht an den mit einer Messe bestückten Wettbewerben teilnehmen, dazu veranlaßt werden, eine Läufermesse in den Westfalenhallen zu besuchen. Das Indoor-Trail-Event trägt den Namen des dänischen Schuhherstellers Ecco. Er bietet auch 16 Laufschuh-Modelle an, die meisten für Jogger mit einem Kilometerdurchschnitt von 8 min. Das Indoor-Trail-Konzept wird realisiert durch die Agentur Plan B aus München, die bisher vor allem durch Bike-Veranstaltungen hervorgetreten ist. Allerdings behauptet der PR-Manager der Westfallenhallen Dortmund: „Heinrich Albrecht, Geschäftsführer der Plan B event company GmbH, hat Trailrunning mit seiner Agentur nach Deutschland gebracht. In Frankreich zum Beispiel ist das Laufen abseits von Straßen bereits seit Jahren ein Dauerbrenner.“ Ach nee, was ist mit dem Rennsteiglauf, der im Jahr 2012 zum vierzigsten Mal veranstaltet wird? Was mit dem Thüringen Ultra oder dem Chiemgauer 100-km-Lauf? Beim Alpen-Marathon von Oberstaufen muß man sich auf einem Grat an einem Seil entlang hangeln. Der Voralpenmarathon von Kempten bezieht Berggipfel mit Waldpfaden ein. Beim Panorama-Marathon von Sonthofen zieht man sich an einem Handseil empor und steigt über sandiges Gefälle ab. Den Röntgenlauf kenne ich nicht, habe den zahlreichen Aufnahmen jedoch entnommen, daß auch er wie viele andere Landschaftsstrecken Trail-Passagen enthält.

Als Gripmaster – was immer das ist – zeichnet der Photograph Stephan Repke. Ich unterstelle ihm leidenschaftliche Liebe zu einsamen Läufen über Trailstrecken. Doch als Mitarbeiter des Magazins „Trail-Running“ und Buch-Autor von „Traillaufen“ profiliert er sich als angeblich deutscher Erfinder des Trails, den wir seit Jahrzehnten schon gelaufen sind, bevor er noch so genannt worden ist.

Dann ist da noch etwas. Im Januar-Heft von „Runner’s World“ habe ich über die Veranstaltung Ecco Indoor Trail gelesen. Ich erinnere mich, daß das fünfzigjährige Bestehen des Bieler 100-km-Laufs, der Laufgeschichte geschrieben hat, in dem Magazin nur mal in einem Text beiläufig vorkam. Die Dortmunder Veranstaltung dagegen wird auf einundzweidrittel Seiten redaktionell und auf einer weiteren Seite in einer Anzeige dargestellt. Wobei sich das Aufmacherbild der Anzeige und das des redaktionellen Teils nur dadurch unterscheiden, daß eines gekontert ist. Das inszenierte Photo drückt die Vorstellung der Initiatoren aus, mehr nicht. „Runner’s World“ tritt als Mitveranstalter auf.

Da wird es bedenklich. Ein Magazin, das eine Veranstaltung verantwortet, begibt sich damit der Möglichkeit, über die betreffende Veranstaltung unabhängig, wenn nicht sogar kritisch zu berichten. Selbst wenn dies geschehen sollte, glaubt man es ihm nicht. Der Ruf ist dahin.

Die Veranstaltung Ecco Indoor Trail soll wiederholt werden. Mal sehen, ob die künstliche Laufstrecke von 1,2 Kilometern mit Einbeziehung von Treppen und Gängen so interessant ist, daß sie Teilnehmer zur Wiederholung lockt und neue Interessenten anzieht. Die Startgebühr für den Lauf über 10 Runden oder 12 Kilometer beträgt 25 Euro, einschließlich Training. Wer nur trainieren möchte, hat 5 Euro zu zahlen.

Eine Trail-Veranstaltung in der Halle hat den Reiz einer Neuheit. Das wird sicher eine Anzahl von Besuchern finden. Witterungsbedingungen können das Ereignis nicht zu Fall bringen. Doch ob es vernünftig ist, das ist eine andere Frage. Ökologisch, wie sich Trail-Runner empfinden, ist es jedenfalls nicht.

Eintragung vom 20. Dezember 11

Immer wieder einmal wird mir versichert, man schaue auf mich. Es sind offenbar insbesondere Läufer, die einige Jahre jünger als ich sind. Sie möchten an mir beobachten, wie lange sie leistungsorientiert laufen können. Dieses Bedürfnis kann ich gut verstehen, würde ich doch selbst auch gern erfahren, was andere Läufer meines Alters, besser noch: zwei, drei Jahre Ältere noch so treiben.

Grund, mir etwas einzubilden, besteht nicht im geringsten. Von den im Alter leistungsstarken Läufern bin ich weit entfernt: Arthur Lambert ist mit 79 Jahren Marathon unter vier Stunden gelaufen, Friedrich Tempel im Alter von 70 Jahren eine Marathon-Zeit von 3:13:24. Josef Galia habe ich an seinem 90. Geburtstag erlebt, als er seine 10-Kilometer-Runde trabte; im Alter von 92 Jahren lief er den New York-Marathon in 7:32:26 Stunden. Dr. Adolf Weidmann hat mit neunzig die 100 Kilometer von Biel zurückgelegt. In unserer Zeit richten sich unsere Augen auf Fauja Singh, den angeblich 100 Jahre alten Inder aus London, der den Toronto-Marathon in 8:11 Stunden zurückgelegt hat. Doch die Genannten sind Ausnahmen. Weshalb ich zu einer Orientierungsfigur bei Wettkampfteilnahmen geworden bin, erkläre ich mir damit, daß ich zur breiten Masse des Durchschnitts gehöre; heute kann man sagen: des gehobenen Durchschnitts. Gewiß, mit Ach und Krach dreimal den Spartathlon geschafft (beim drittenmal mit Verspätung). Doch weder habe ich eine hohe Grundschnelligkeit besessen noch habe ich die Grundschnelligkeit trainiert. Ich bin zwar immer wieder einmal so schnell gelaufen, wie es ging, aber ich habe diese Schnelligkeit (persönliche Marathon-Bestzeit: 3:14:05) nie trainiert. Als Vorbild im Leistungssport kann ich also nicht dienen. Ich habe halt immer nur versucht, Herausforderungen anzunehmen. Diese Herausforderungen sind mit der Zeit, zuletzt von Jahr zu Jahr, immer geringer geworden. Aber ich suche sie nach wie vor.

Doch genau das wollen jüngere Altersläufer wissen. Aus Büchern erfahren sie es nicht. Deshalb schauen sie, was ich so mache. Im Alter von 75 Jahren die 246 Kilometer von Athen nach Sparta zu traben, das kann man nur als hochambitionierter Leistungssportler wie Alfred Schippels. Bei mir war mit 66 Jahren Schluß; 30 Minuten schneller zu sein, um noch innerhalb der 36 Stunden anzukommen, hat es einfach nicht mehr gereicht. Mit 67 konnte ich jedoch noch den 1. Jungfrau-Marathon in 5:21:02 zurücklegen und einen flachen Marathon in unter 4 Stunden. Mit 70 Jahren schaffte ich in Rodenbach die 100 Kilometer unter 12 Stunden und im Jahr darauf den Köln-Marathon in 4:15:56. Mit 75 Jahren war ich noch munter dabei, in Biel mit 14:27:59 Stunden sogar als Erster in M 75. Im Jahr 2005 (79 Jahre) schaffte ich den Rennsteiglauf von Eisenach nach Schmiedefeld noch in 11:57:46 Stunden und den Marathon in Magdeburg in 5:08:11. Dann kam die große Zäsur, eine Bypaß-Operation (allerdings ohne vorangegangenen Herzinfarkt). Obwohl ich erst Mitte Mai wieder die ersten Laufschritte tun konnte, traute ich mich an den Start des Halbmarathons beim Swiss Alpine (4:56:04). Doch 2007 konnte ich, nun in M 80, wieder einen Marathon durchlaufen – in Berlin 5:31:07. Auch die 100 Kilometer in Biel hatte ich zurückgelegt und wiederholte dies im Jahr 2008.

Unter dem Strich: Ich mußte zwar anspruchsvolle Unternehmungen wie den Jungfrau-Marathon und den K 42 aufgeben, aber als Zweiundachtzigjähriger – mit dem Mut, auch gegen den Besenläufer anzukämpfen – konnte ich noch einigermaßen mithalten. Das änderte sich im Jahr darauf; den Abbruch in Biel konnte ich noch mit einem Trainingsausfall infolge eines urologischen Eingriffs begründen, doch den Berlin-Marathon konnte ich nur noch bis zur Halbmarathon-Marke laufen, dann mußte ich größtenteils gehen (6:50:54). Im Jahr 2010 hörte ich auf der Bieler Strecke in Bibern auf – 76,5 Kilometer mögen für einen Vierundachtzigjährigen eine ordentliche Leistung sein, aber es sind halt keine 100 Kilometer mehr. Auf der Trainingsstrecke von 11 Kilometern hatten sich die Gehpassagen verlängert; in diesem Jahr blieb es bei Laufversuchen auf 50 Meter. Steigungen auch nur zu gehen, fällt mir schwer. In Biel startete ich unter den Walkern; bei dem sogenannten Halbmarathon, der um 7,5 Kilometer zu kurz war, war ich bei weitem der Letzte. Den Rennsteig-Marathon hatte ich, bei heftigem Regen, nach 18 Kilometern als abgeschlagener Letzter aufgegeben. In diesem Jahr also ist meine „Läuferkarriere“ endgültig zuende gegangen.

Die Erkenntnis: In M 80 kann ein passabler Durchschnittsläufer wie ich noch mitmischen, doch die Wettbewerbsteilnahmen sind nun gezählt. Wer in Deutschland die M 85 erreicht, ist die Ausnahme.

Die vom Deutschen Leichtathletik-Verband eingerichtete Website www.laufen.de enthält eine Marathon-Statistik. Ihr Aussagewert ist noch begrenzt, da die Daten erst eines Jahres gesammelt sind. Die Marathonklasse M 80 enthält nur zwei Namen: Dr. Peter Stein lief in Hamburg 5:50:31 (da stehe ich mit meinen 5:31:07 im 82. Lebensjahr gar nicht schlecht da). Helmut Mühlhaus bewältigte den Rennsteig-Marathon (43,5 km) in 7:06:10 (meine Zeit als Einundachtzigjähriger: 6:56:11). In M 85 gibt es laut DLV-Statistik nur einen einzigen Namen: Karl Pavan mit 6:50:09 in Duisburg. Das entspricht meiner Zeit im Alter von 83 Jahren. Die Greif’sche Liste, die seit 2002 zugänglich ist, umfaßt in M 80 drei weitere Namen: Michael Thomas Friedl (4:18:17), Johannes Büchl (4:20:21) und Paul Defays (5:32:21). Die Greif’sche Liste kann man sich zwar nach Altersklassen herunterladen, aber sie gibt keine Geburtsjahre an; nach meiner Erfahrung ist es ein gewaltiger Unterschied, ob man in M 80 als Achtzigjähriger oder als Vierundachtzigjähriger läuft. Außerdem weist die Liste keine M 85 aus, sondern schlägt den darin einzigen registrierten Läufer, Helmut Mühlhaus, einfach der M 80 zu.

Im Grunde jedoch fehlt es unserer Altersklasse an altersgerechten Wettbewerben, die auch im Gehschritt noch bewältigt werden können. Stadtmarathone wird man, wegen der Straßen und des Abbaus der Infrastruktur nicht länger offen lassen können. Anspruchsvolle Landschaftsmarathone lassen sich nicht so lange überwachen. Denkbar wäre ein Marathon wie bei den Bieler Lauftagen. Da wäre vorstellbar, das Ziel zehn Stunden lang offen zu lassen. Leider ist auch die Schlußzeit von 3:45 für das Halbmarathon-Walking von Biel nach Aarberg für Hochbetagte viel zu kurz.

Doch da ist Hoffnung: „Walkers are welcome“. Wo? In Honolulu. Dort gibt es keine Begrenzung der Teilnehmerzahl. In diesem Jahr, am 11. Dezember, waren 19.073 Teilnehmer registriert, darunter etwa 100 Deutsche. Dafür gibt es eine Altersklasse 85 – 89. Sie enthält die Namen von vier Japanern und zwei Amerikanern. Der Letzte kam nach 10:34:17 Stunden ins Ziel; er hat sich damit seit 2009 um über 44 Minuten verbessert. Honolulu wäre also meine einzige reale Chance. Die Startgebühr von 210 Dollar ist noch der niedrigste Ausgabeposten dabei.

Meine Herausforderung im nächsten Jahr wird daher die Rennsteig-Wanderung über 36 Kilometer von Schnepfenthal zum Grenzadler sein. Ich muß die Strecke innerhalb von elf Stunden schaffen.

Eintragung vom 13. Dezember 11

Was in Davos recht ist, ist in Biel billig. Mit anderen Worten: Davos stellt die Strecke von der Kesch-Hütte dauerhaft über den Sertig-Paß um; Biel verändert im nächsten Jahr nochmals den Ziel-Einlauf.

Man erinnere sich: Die Benützung des Eisstadions mußte von diesem Jahr an aufgegeben werden, weil das ganze Gebiet für eine Sportanlage neu gestaltet werden wird. Der Start mitten in der Stadt, vor dem Kongreß-Palast, kam gut an; der Start der Wettbewerbe verwandelte sich in einen Stadtmarathon. Die Organisation und der Zieleinlauf wurden auf das ehemalige Expo-Gelände am Bieler See verlegt. Das war gut gemeint. Hier stand Platz zur Verfügung. Vom bequem geparkten Auto oder vom Zelt oder Wohnwagen war es ein Katzensprung zum Veranstaltungszelt. Doch dieses Zelt – heute kann man es ungeschönt sagen – erinnerte an einen Wanderzirkus, einen nicht allzu großen. Da es regnete, wurde das Organisationszelt einem gründlichen Test unterworfen. Die Kritik, auch an den sparsamen mobilen Duschmöglichkeiten, war harsch.

Jakob Etter, der Präsident des Organisationskomitees, war darob nicht eingeschnappt, sondern nahm die Kritik ernst. Das Ergebnis werden wir im nächsten Jahr sehen. Die gesamte Organisation wird in das Kongreßgebäude und in die benachbarte Turnhalle Esplanade verlegt. Auch der Zieleinlauf vollzieht sich nun in der Stadt, was mit Sicherheit einen hohen organisatorischen Aufwand erfordert. Ich bin überzeugt, im Jahr 1972, als ich zum erstenmal die 100 Kilometer in Biel lief, wäre das nicht möglich gewesen. Längst jedoch hat man in der Stadt und in der Region erkannt, was die Bieler Lauftage bedeuten – nicht nur in sportlicher Hinsicht, sondern vor allem auch als Image-Gewinn. Der Name Biel/Bienne, von dem wohl allein die Uhrmacher Kenntnis gehabt haben, ist nach halb Europa, vereinzelt auch nach Übersee getragen worden. Da Jakob Etter die Kritik ertragen mußte, kommt ihm und seinen Mitarbeitern nun auch das Lob zu, Lob für den Mut zur Änderung und Durchsetzung eines neuen Konzepts.

Allerdings, die Läufer müssen sich die Straße mit den Bewohnern und den Passanten teilen. Geparkt werden muß weiterhin auf dem Expo-Gelände. Dort ist zwar Platz genug, aber den Fußweg zum Startplatz und zurück vom Ziel wird man jeweils nur einmal zurücklegen. Und auch am Kongreßgebäude private Zelte aufzuschlagen, dürfte Schwierigkeiten machen. Man wird also mit dem neuen Konzept Erfahrungen sammeln müssen. Spannend wird es auf jeden Fall wieder.

Eintragung vom 6. Dezember 11

Bevor das Jahr vorübergeht, sollte ich noch eines Jahrestags gedenken. Meine Haltung dazu ist zwiespältig. Vielleicht erklärt sich daraus auch, daß ich den Jahrestag der fälligen Würdigung, den 18. Juni (das Wochenende der Bieler Lauftage), versäumt habe.

 

Worum handelt es sich? Am 18. Juni 1811 hat Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852), damals 32 Jahre alt, in der Berliner Hasenheide den ersten deutschen Turnplatz eröffnet. Gemeinhin wird daran die Begründung des „Turnens“ festgemacht. Auch das Wort Turnen, von „Turnier“ abgeleitet, hat Jahn, der deutsche „Turnvater“, erfunden.

Was mich am Turnen abstieß, waren zunächst die schulischen Turnübungen. An Barren und Reck in der miefigen Turn“halle“ in der Görlitzer Annenkapelle war ich ein „nasser Sack“. Ich hatte schlichtweg Angst; offenbar fehlten mir das Vertrauen auf meine körperlichen Fähigkeiten und das Urvertrauen in die Hilfestellung Leistenden. Einen Turnunterricht, der Schüler um jeden Preis über Turngeräte zwingt, kann ich nicht anders als eine pädagogische Bankrotterklärung bezeichnen. Später, als ich die „Deutsche Turnkunst“ von Jahn las, stieß mich die Einbeziehung von Kriegsübungen ab. „Kriegsübungen, wenn auch ohne Gewehr, bilden männlichen Anstand, erwecken und beleben den Ordnungssinn, gewöhnen zur Folgsamkeit und zum Aufmerken, lehren den Einzelnen sich als Glied in ein großes Ganzes zu fügen. Eine wohlgeübte Kriegerschaar ist ein Schauspiel von der höchsten Einheit der Kraft und des Willens. Jeder Turner soll zum Wehrmann reifen, ohne verdrillt zu werden.“ Von Mädchen ist nicht die Rede. Dennoch, in der Hasenheide turnten wohl auch Mädchen mit.

Als ich endlich, was die Schule hätte besorgen müssen, die Freude an der Bewegungskultur entdeckt hatte, hätte ich im Grunde dem Turnen besonders zugeneigt sein müssen; denn bis zum heutigen Tage bekennen sich die Turner zur kollektiven Übung; Turnen als Hochleistungssport hat dem nicht den Garaus gemacht. Doch Laufen lag mir aus den verschiedensten Gründen näher. Wenn ich mir vergewärtige, daß die individuelle Bewegungskultur längst das Prinzip des „Wett“kampfes überholt hat – denken wir nur an die Entwicklung des „Traillaufens“, das sich der exakten Leistungsmessung entzieht –, ist der typisch deutsche Dualismus von Turnen und Sport aus dem Alltag entschwunden.

Geschichtlich gesehen, hat Jahn zwar das „Turnen“ begründet, aber nicht die Bewegungskultur. Da knüpft er an Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759 – 1839) und Gerhard August Anton Vieth (1763 – 1836) an. Deren Bewegungspädagogik war getragen vom Gedankengut der Aufklärung. GutsMuths hat zwar eine „Gymnastik für die Jugend“ (1793) geschrieben, aber sein Wirken beschränkte sich auf die Erziehungsanstalt Schnepfenthal. Jahn hingegen gründete den ersten Turnverein und verbreitete das Turnen in deutschen Landen. Mit Wanderungen in Berlin, wohin es ihn 1809 als Hilfslehrer verschlagen hatte, hatte es begonnen. Für die turnerischen Übungen schuf er in der Hasenheide, einem früheren Jagdrevier des preußischen Kurfürsten, einen Turnplatz, der von jedermann benützt werden konnte. Hier stellte Jahn Klettergerüste und die von ihm erfundenen Geräte Barren und „Pferd“ auf. Turnen war öffentlich geworden. Selbst, als 1820 nach der Ermordung des russischen Generalkonsuls August von Kotzebue durch den Studenten und Turner Karl Ludwig Sand das Jahn’sche Turnen in der Öffentlichkeit untersagt worden war, wurde in der Hasenheide illegal weitergeturnt. Um diese Zeit gab es allein in Preußen bereits um die 100 Turnplätze.

„Turnen“ war ursprünglich eine allgemeine Bewegungskultur. „Die Turnkunst soll die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wieder herstellen, der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen, der Überverfeinerung in der wiedergewonnenen Mannlichkeit das nothwendige Gegengewicht geben, und im jugendlichen Zusammenleben den ganzen Menschen umfassen und ergreifen“ („Die Deutsche Turnkunst“). Unter Turnen verstand Jahn Gehen, Laufen, Springen, Schwingen, Schweben, die Reckübungen, Barrenübungen, Klettern, Werfen, Ziehen, Schieben, Heben, Tragen, Strecken, Ringen, Sprung im Reifen, Sprung im Seile, Spiele. Das von mir so gehaßte Geräteturnen macht also nur einen kleinen Teil des Jahn’schen Turnens aus. Der Bau von Turnhallen, der das Turnen nichtöffentlich gestattete, trug dazu bei, daß sich das Turnen mehr und mehr auf das Geräteturnen reduzierte.

Jahns politisches Wirken machte es jeder Zeit leicht, ihn für sich zu vereinnahmen oder, wie in meinem Falle, wegen seiner nationalistischen Haltung abzulehnen. Wenn man sich jedoch wissenschaftlich mit Jahn befaßt, kommt man zu einem gerechten Urteil. Eine Basis dafür ist die Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft in Freyburg an der Unstrut, seinem langjährigen Wohnort. Sachliche Informationen über Jahn haben auch mein über lange Zeit negatives Urteil ins Lot gebracht. Eben das veranlaßt mich, die Eröffnung des ersten deutschen Turnplatzes vor 200 Jahren zu würdigen. Mein Bedauern darüber, daß aus der Gründungszeit nichts mehr erhalten ist, kann daher als echt gelten.

Eintragung vom 29. November 11

Die jährliche Überraschung ist Andrea Tuffli diesmal sehr frühzeitig gelungen. Am 11.11.11 ließ er laut Pressemitteilung „die Katze definitiv aus dem Sack“: Der K 78, der offenbar so heißt, weil die Strecke 79,4 Kilometer lang ist, und der K 42 werden auch im nächsten Jahr wieder über den Sertig-Paß gelaufen. Die Ausweichstrecke des Swiss Alpine, die in diesem Jahr nur einmal ausprobiert werden sollte, wird zur regulären Strecke.

Andrea Tuffli führt als Gründe an, für die Sertig-Strecke habe es viele positive Rückmeldungen gegeben, und die Organisation im Hinblick auf Sicherheit und Logistik lasse sich bei dieser Streckenführung besser durchsetzen. Die Läufer seien weniger lang in 2500 Metern Höhe unterwegs. Außerdem könne hier bei ungünstigen Wetterverhältnissen länger geflogen werden. Dies freilich dürfte schon 1997, beim letzten Sertig-Lauf der Serie, bekannt gewesen sein. Der steile Abstieg vom Sertig-Paß, der als ein Grund für die Streckenänderung im Jahr 1998 angeführt worden war, hat bei der jetzigen Diskussion offenbar keine Rolle mehr gespielt.

Wie es auch sei, man wird Andrea Tufflis Begründung des Sertig-Kurses – mit der diesjährigen Variation über die Kesch-Hütte – akzeptieren müssen. Vermutlich wird jetzt wohl nicht mehr passieren, was mir 1999 widerfahren ist, nämlich an der Kesch-Hütte wegen Überschreitung der Durchgangszeit um wenige Minuten aus dem Rennen genommen zu werden. Wieder ist die Laufzeit von 12 auf 14 Stunden verlängert. Schade, daß dies Andrea Tuffli nicht früher eingefallen ist; dann hätte ich einige Jahre länger den Ultralauf machen können. Wer die Ausschreibung nachlesen möchte: www.swissalpine.ch

Da man ja nicht alle Lauf-Internetseiten in regelmäßigen Abständen anklicken kann, noch zwei weitere Informationen ganz spezifischer Art: Der nächste Berliner Mauerweglauf über 100 Meilen ist fixiert, er wird am 17. und 18. August 2013 stattfinden. Die Laufrichtung wird jedoch umgekehrt sein; es geht von Kreuzberg durch Stadtmitte nach Norden und von Hennigsdorf west- und südwärts zum Wannsee und zurück nach Kreuzberg. Wer die Strecke auf relativ bequeme Art, nämlich in einem Etappenlauf, kennenlernen möchte, kann sich im nächsten Jahr der dreitägigen Mauerwegtour vom 9. bis zum 11. November anschließen. Übernachtungsmöglichkeiten werden geboten. www.100meilen.de

Der 100-km-Nostalgielauf in Unna wird im nächsten Jahr wiederholt. Diesmal soll jedoch in zwei Gruppen gelaufen werden, einer Gruppe mit einer Zeit von 12 Stunden und einer Gruppe zwischen 14 und 15 Stunden. Der Start wird am 1. September um 20 Uhr sein. Die Bedingungen sind die gleichen wie bei dem ersten Lauf: ein Einladungslauf ohne Zeitnahme. Interessenten können sich wie in diesem Jahr an Andi und Mattes wenden (Andreas Dersch und Matthias Vogel). www.100km-lauf-unna.de

Eintragung vom 22. November 11

Seit sechzig Jahren finden um diese Jahreszeit die Stuttgarter Buchwochen statt, eine der größten deutschen regionalen Buchausstellungen. Auswahlprinzip ist die Verbindung zu Baden-Württemberg: Entweder muß der Verlag im Lande beheimatet sein oder der Autor oder das Buchthema einen entsprechenden Bezug haben. Begleitet wird die Ausstellung von einem dichten Veranstaltungsprogramm, das vorzugsweise der Promotion ausgestellter Neuerscheinungen dient. In diesem Jahr ergibt es sich, daß der Stuttgarter Schattauer-Verlag über seine Zielgruppe von Medizinern und Naturwissenschaftlern hinausgreift; er präsentiert den Titel „Laufen!“ von Dr. med. Dr. med. dent. Lutz Aderhold und Dr. Stefan Weigelt (eine Besprechung des Bandes wird demnächst in LaufReport erscheinen). Aderhold hielt am 18. November am Ausstellungsort der Stuttgarter Buchwochen, dem Haus der Wirtschaft, einen Vortrag über „Laufen. Vom Einstieg bis zum Leistungssport. Wieviel Laufen ist gesund?“

Nun bin ich zwar weder Einsteiger noch Leistungssportler, aber es versteht sich, daß man, wenn es irgend geht, einen solchen Vortrag besucht, zumal den eines Autors, der seine Kompetenz durch sportliche Leistung – 100 km in 6:46 Stunden – wie durch seine medizinischen Veröffentlichungen und seine Tätigkeit in der DUV und dem VFUM bewiesen hat. Es war eine Tour d’horizon, die Lutz Aderhold in Stuttgart entwickelte.

Für viele seiner Zuhörer war dies mit Sicherheit nicht neu; aber – so sind wir nun einmal – auch erfahrene Läufer sehen sich durch solche Aussagen wie die über das „Lauftier Mensch“ und das Laufen als eine natürliche Fortbewegungsart gern bestätigt. Die Wirkungen eines regelmäßigen Lauftrainings haben wir alle längst verspürt. Dennoch, es waren keine Gemeinplätze; Lutz Aderhold zitierte aktuelle Literatur, zum Beispiel „Glück kommt selten allein“ seines Mediziner-Kollegen Eckart von Hirschhausen. Kritik übte er zu Recht daran, daß auch Läufer noch immer zur größeren Hälfte sportmedizinische Vorsorgeuntersuchungen verschmähen. Skepsis äußerte er zu dem gegenwärtigen Trend in der Laufschuh-Industrie, Laufschuhe wieder zu minimalisieren.

Sehr erfrischend war es, daß der Autor in dem Streit unter den Anhängern der drei Laufstile eindeutig Position bezog: Einen Ultralauf kann man einzig und allein mit dem Fersenauftritt bewältigen. Auch der blinden Gläubigkeit an Trainingspläne trat er entgegen. „Jeder gute Trainingsplan berücksichtigt (die) aktuelle körperliche Verfassung, (persönliche) Ziele, die Anforderungen von Beruf und Familie, die Besonderheiten des Wettkampfs.“ Die Leistung sei immer das Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels von Gesundheitszustand, psychosozialem Umfeld, Ernährung und Trainingszustand. Unter diesen Faktoren gelte es, die Balance herzustellen. Auch mit den hauptsächlichen Tips sprach der kompetente Praktiker die Praktiker an: „Vergessen Sie nie, auf das Körpergefühl zu achten und, wenn Sie sich schlecht fühlen, den Mut aufzubringen, die Trainingseinheit ausfallen zu lassen oder das Tempo zu reduzieren. Werden Sie nicht Sklave Ihres Trainingsprogramms! Vergessen Sie bei aller Anstrengung nicht den Spaß am Laufen!“  

Aus dem Publikum kamen praktische Fragen, zum Beispiel zu Kompressionsstrümpfen. Dr. Aderhold nimmt dazu eine indifferente Haltung ein; man müsse es individuell ausprobieren. Er selbst – nach einigem Ausprobieren – verzichtet auf Kompressionsstrümpfe.

Auf jeden Fall war die Begegnung in Stuttgart geeignet, neugierig auf das Buch zu machen.

Eintragung vom 15. November 11

Meine Verwirrung war groß. Unter der Adresse www.advent-waldmarathon-arolsen.de findet man den Marathon am 26. Mai 2012, unter einer anderen Adresse ohne „Advent“ hingegen einen Adventsmarathon am 26. November 2011 in Bad Arolsen. Die erste Reaktion: Ist der von Heinrich Kuhaupt, dem Veranstalter, in den Mai verschobene Waldmarathon wieder in den Advent zurückgekehrt? Doch die beiden Web-Seiten hinterlassen keinen Zweifel: Bad Arolsen hat fortan zwei Marathone, einen im Mai und einen am ersten Adventswochenende. Ein bißchen viel für eine Stadt von im Kern etwas über 8 000 Einwohnern.

Seit 1981 hatte grundsätzlich am ersten Adventswochenende, einmal versehentlich auch am zweiten, der Marathon in Bad Arolsen stattgefunden. Für einige hundert Läufer bedeutete er den Abschluß der Wettbewerbssaison. Nach dem Lauf am Samstag versammelten sich die Teilnehmer und ihre Familien in der Twistesee-Halle im Ortsteil Wetterburg zur Siegerehrung. Da kam Adventsstimmung auf. Teelichter standen auf den Tischen, am Büfett konnte man sich bedienen lassen. Heinrich Kuhaupt hielt eine Nachbetrachtung. Der Advents-Waldmarathon war Kult. Mit dem später gegründeten Siebengebirgsmarathon, ebenfalls im Dezember, arrangierte man sich.

Im Jahr 2010 sollten die Gebühren für die Twistesee-Halle erhöht werden. Heinrich und Ingrid Kuhaupt, die den Lauf begründet und seither organisiert hatten, sahen sich nicht in der Lage, die erheblichen Gebühren aus dem Aufkommen an Startgebühren zu tragen. Das Gespräch mit dem Bürgermeister verlief ergebnislos. Da verschoben sie die dreißigste Veranstaltung kurzerhand in den Juni dieses Jahres und kombinierten sie mit dem Twisteseelauf und der Ausdauersport-Woche. Um diese Zeit konnten sie auf die Twistesee-Halle verzichten und die Gastronomie am Twistesee-Strandbad in Anspruch nehmen. Allerdings schmolz die Teilnehmerzahl von maximal 800 auf nur 105 Marathon-Teilnehmer. Ob dies am generellen Abwärtstrend lag oder an dem dichten Terminplan zu dieser Jahreszeit, muß offenbleiben. Ein weiterer Grund könnte auch die Änderung der Strecke sein, nämlich die Verkürzung auf 21,1 Kilometer; damit jedoch konnte auch ein Halbmarathon angeboten werden. Auch dem Schwarzwald-Marathon war einst der Übergang zu zwei Runden beim Marathon nicht gut bekommen.

Nun liest man im Internet-Stadtportal Bad Arolsen Erstaunliches: „Twistesee-Adventsmarathon am 26. 11. 2011. Der Twistesee-Adventsmarathon ist ein Lauf über 42,1 Kilometer in der landschaftlich sehr reizvollen Umgebung des Twistesees bei Bad Arolsen-Wetterburg. Er ermöglicht auch Marathon-Einsteigern ein einzigartiges Lauferlebnis auf gut befestigten Waldwegen zum Saisonausklang.“ Über die in der Ankündigung verloren gegangenen 95 Meter Streckenlänge wollen wir nicht rechten. Hatte sich die Familie Kuhaupt zurückgezogen – so ganz ohne Abschiedsgruß? Aber nein, da gibt’s ja die Seite „advent-waldmarathon-arolsen.de“. Dort ist der aus der Twistesee-Halle an den Twistesee verschobene Marathon am 26. Mai 2012 zu finden, richtig, und veranstaltet von Heinrich und Ingrid Kuhaupt. Man kann sich dort bereits anmelden.

Der Adventsmarathon am 26. November dieses Jahres hingegen wird veranstaltet von einem Sportevent-Team, Ansprechpartnerin: Lisa Wierschula. „Die Streckenführung entspricht dem evtl. aus der Vergangenheit bekannten Bad Arolser Advent-Marathon und hat eine Länge von 42,195 Km, die jedoch nicht neu vermessen wurde.“ Die Veranstaltung bezieht die (bewirtschaftete) Twistesee-Halle ein. Start ist wie vordem um 11 Uhr, Zielschluß um 17 Uhr. Nur die Startgebühr ist bei rechtzeitiger Anmeldung um 3 Euro niedriger. Hat Heinrich Kuhaupt dabei mitgewirkt? Wie sollte er! Die Veranstaltung ist rundum ein Plagiat des von den Kuhaupts 29mal realisierten Konzepts.

Das Sportevent-Team verdankt seine Entstehung dem Triathlon. Als die Stadt vor zwei Jahren ihren seit 1983 veranstalteten Triathlon loswerden wollte, gründete sich das S.E.T.-Team und übernahm die Veranstaltung. Nun also hat sie sich zusätzlich des abgelegten Adventsmarathons bemächtigt. Was den Kuhaupts nicht möglich erschien, soll nun, sogar mit ermäßigter Startgebühr, funktionieren.

Was jedoch befremdet, ist die Fledderei an dem geistigen Eigentum von Heinrich Kuhaupt. Rechtlich mag ja alles in Ordnung sein, schließlich haben sich die Kuhaupts selbst von ihrem Advents-Produkt getrennt. Ich halte es vielmehr für eine Frage des Stils, wie man sich in einem solchen Fall verhält. Man kann ja über alles reden, aber reden sollte man miteinander.

Eintragung vom 8. November 11

Der Laufszene bin ich beinahe so lange verbunden, wie Ralf Klug alt ist, und dennoch habe ich eine Nische übersehen, seine Nische. Mag sein, daß sie von denjenigen, die damit konfrontiert gewesen sind, nicht ernst genommen und als „Verrücktheit“ bezeichnet worden ist. Doch was ist beim Laufen nicht alles als „verrückt“ abgestempelt worden? In den siebziger Jahren der 100-km-Lauf, in den achtziger Jahren der Berglauf und der Bergab-Lauf, der City-Marathon, ja, wenn man so will, ursprünglich der Marathon überhaupt! Wen also wundert’s, wenn auch diese Art des Laufens in den Winkel der, milde gesagt, Kuriositäten gestellt worden ist!

Ralf Klug hat mir im August in Berlin davon erzählt. Er ist Rückwärtsläufer. Richtig, das bedeutet, mit dem Rücken voran, mit den Zehen nach hinten und dem Blick vorwiegend zurück zu laufen. Im Jahr 2010 hat er den Prag-Marathon auf diese Weise zurückgelegt – in 6:44:34. Ralf Klug hat zwar das Rückwärtslaufen für sich entdeckt, nachdem er vor knapp drei Jahren aus einer Laune heraus auf der Skipiste einmal rückwärts abgefahren war, aber er hat es nicht erfunden. Er fand bereits eine Szene vor. Meine Vermutung, die Ursprünge des Rückwärtslaufen könnten im 19. Jahrhundert, der Zeit des „Kunstlaufs“ zu suchen sein, hat sich bestätigt. Nach Wikipedia ist der Rückwärtslauf erstmals im Jahr 1826 erwähnt. Die ersten Rückwärtsläufe fallen also in die Zeit, da die „Pedestrianisten“ um Aufmerksamkeit für ihre Dauerleistungen buhlten.

Als Ralf Klug, ein Südschwarzwälder, der in Potsdam wohnt, jedoch als Techniker im Ausland arbeitet, mit dem Rückwärtslaufen begann, hatte sich bereits seit den siebziger Jahren eine Szene entwickelt. Daran war insbesondere der Franzose Christian Grollé beteiligt; in Deutschland ist es seit dem Jahr 2001 Roland Wegner. Unter dem Titel Retrorunning, einem Begriff, den er damals in Deutschland eingeführt hat, hat er im vorigen Jahr ein Buch veröffentlicht. Der Untertitel lautet: „Rückwärts zu neuen Zielen“. Darin dominiert zwar der Leistungssport auf Kurzstrecken, aber es wird auch ein wenig Philosophie vermittelt. Ralf Klug bringt das auf die Erkenntnis: „Im Rückwärtsgang sieht man, was man alles zurückgelassen, was man geschafft hat.“

 

Für Ralf Klug steht der Spaß im Vordergrund. Die Aufmerksamkeit, die ihm in Prag zuteil geworden ist, hat ihn bewogen, den Marathon mit einem sozialen Zweck zu verbinden. Das will er auch bei seinem nächsten Projekt tun; er will im Juni 2012 die 100 Kilometer von Biel rückwärts laufen. Dies war der Anlaß, der uns zusammengeführt hat. Die Bieler 100 Kilometer kennt er; er ist sie 1988 in 13:36 Stunden gelaufen – vorwärts. Am 14. Oktober dieses Jahres hat er in Begleitung von Jakob Etter, dem OK-Präsidenten, einen Probelauf unternommen, und zwar auf dem anspruchsvollsten Abschnitt, dem sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad. Es sei besser gegangen als befürchtet, meinte er.

Obwohl Ralf Klug nicht sehr fleißig trainiert hat – gegenwärtig kann er in Kabul nur auf dem Laufband laufen –, hat er immerhin eine Marathonzeit von unter drei Stunden für eine Vorwärtsleistung auf einer Urkunde stehen. Die Bestleistung im Marathon-Rückwärtslaufen hat Achim Aretz (GER) am 31. Oktober 2010 in Frankfurt am Main in 3:42:41 aufgestellt, bei den Frauen Kerstin Metzler-Mennenga (Liechtenstein) am 16. März 2008 in Rom in 4:42:39. Italien hat eine relativ aktive Rückwärtslaufszene. Die 100 Kilometer sind, wie 24-Stunden-Läufe, auch schon einmal rückwärts gelaufen worden. In Taiwan gibt es einen Rückwärtsläufer, der an die 170 Langstrecken-Wettbewerbe rückwärts bestritten hat, Ching-Kuang Hsueh, 61 Jahre alt. Im Jahr 2009 legte er die 100 Kilometer in der erstaunlichen Zeit von 13:23:43 Stunden zurück. Er war auch schon bei einem Deutschland-Lauf von Ingo Schulze gestartet, mußte jedoch das Unternehmen wegen einer Entzündung abbrechen.

Beim Rückwärtslaufen wird vor allem die Wadenmuskulatur stark belastet; die Kniegelenke hingegen werden entlastet. Rückwärtslaufen wird daher auch therapeutisch verwendet, wenn normales Laufen mit starken Schmerzen verbunden ist. Ein Risiko ist die Gefahr eines Sturzes. Ihm sei das beim Rückwärtslaufen jedoch noch nie passiert, berichtet Ralf Klug. Dennoch, zum 100-km-Lauf in Biel wird er am Rücken eine Lampe befestigen.

Eintragung vom 1. November 11

Die Übertragung des BMW-Frankfurt-Marathons in hr3 gesehen. Wenn ich zu vergleichen versuche: Es war einer der spannendsten Marathone, die ich mir angeschaut habe. Nach meinem Geschmack war in der Moderation während des Laufs ein bißchen zuviel vom Weltrekord die Rede. Damit sind Erwartungen unnötig angeheizt worden, so daß die zweitschnellste Marathonzeit auf der Welt fast zu einer Enttäuschung des Publikums verkommen mußte. Der Sieger jedoch, Wilson Kipsang, ließ keinerlei Enttäuschung erkennen. Bei 2:03:42 Stunden ist ja auch kein Anlaß.

Frankfurt am Main hat mit diesem 30. Marathon einen jähen Sprung nach oben gemacht. Enttäuschend war, daß keiner der deutschen Läufer die Olympia-Qualifikation von 2:12 erreichen konnte. Zwei Frauen jedoch, Sabrina Mockenhaupt und Susanne Hahn, unterboten die Qualifikationszeit von 2:30, so daß nun im nächsten Jahr in London drei deutsche Frauen starten werden. Auch wenn Sabrina Mockenhaupt einen Einbruch erlitt und ihre Vorstellung nicht verwirklichen konnte, ist sie erfolgreich gewesen.

  An anderer Stelle sind Ergebnisse und Details vom Frankfurt-Marathon zu lesen. Ich selbst, nun jenseits der Absperrungen, erinnere mich an meine drei Teilnahmen in Frankfurt am Main. Die erste am 17. Mai 1981 ist nun ein sporthistorisches Datum. Auch in der Läufer-Biographie ist es ein bemerkenswertes Ereignis. Erst jetzt ist mir klar geworden, daß der 30. Frankfurt-Marathon auch für mich persönlich ein Jubiläum ist. Vor dreißig Jahren war ich dabei. Wolfram Bleul, dem Leiter der Marathon-Organisationsgruppe bei Hoechst, und Hans Jürgensohn, dem Öffentlichkeitsarbeiter des Marathons, verdanke ich meine erste Teilnahme. Sie haben mich frühzeitig auf den Termin ihres laufgeschichtlich bedeutsamen Ereignisses aufmerksam gemacht, den ersten deutschen City-Marathon, fünf Jahre nach dem ersten City-Marathon überhaupt. Berlin folgte ein halbes Jahr später.

Marathonläufe durch Stadtkerne brachten den Marathon zum Publikum. Eine neue Auffassung von Urbanität brach sich Bahn. Während die Zuständigen in den Kommunalverwaltungen anfangs noch abwehrend die Hände gehoben hatten, kam es schließlich soweit, daß der Stadt-Marathon zu einem kommunalen Markenartikel geworden ist. Die Stadt Frankfurt am Main hat, als sich Hoechst nach 1985 vom Marathon zurückzog, ein hohes Verdienst daran, daß von 1987 an wieder Marathon durch Frankfurt gelaufen werden konnte.

Eintragung vom 26. Oktober 11

Im Grunde ist es eine läuferische Sensation. Tut mir leid, ich habe zu mäkeln.

 

Durch die Zeitungen ging die Meldung: Der hundertjährige Fauja Singh ist in Toronto Marathon gelaufen. Er ist damit der älteste Marathonläufer der Welt – ein Fall fürs Guinness-Buch der Rekorde.

Fauja Singh ist zwar ein Phänomen an Fitneß, aber seine Teilnahme am Waterfront Marathon von Toronto entspricht nicht so ganz den Vorstellungen, die einem Marathon zugrundegelegt werden. Fauja Singh ist den Marathon gegangen – in deutschen Blättern stand meistens, er sei ihn gelaufen – und hat 8:11:05.9 Stunden gebraucht. Wo jedoch finden wir in Europa eine Marathon-Veranstaltung, deren Ziel so lange offen bleibt? Auch der Toronto Waterfront-Marathon hat eine Schlußzeit, nämlich 6 Stunden. Doch auch zwei Stunden später war die Ziel-Organisation noch aktiv. Es erhebt sich der Verdacht, die Bedingungen des Toronto-Marathons seien für den Hundertjährigen passend gemacht worden. Dem New York-Marathon wäre Fauja Singhs Teilnahme sogar eine nicht geringe Geldprämie wert gewesen.

Deutsche Blätter hoben ahnungslos hervor, daß nach Fauja Singh noch andere Läufer ins Ziel gekommen, sprich: langsamer gewesen seien. Ach! Ob diese Teilnehmer nicht langsamer sein wollten oder gar sein sollten? Das Zieleinlauf-Video zeigt ihn jedenfalls umgeben von Begleitern. Sie passierten die Ziellinie allesamt in derselben Minute wie er.

Nichts gegen die Leistung des Inders, der seit 1981 in London lebt. Fauja Singh läuft wirklich noch. Nach dem Tode seiner Frau und eines seiner Söhne hatte er wieder mit dem Laufen begonnen und setzte auf verschiedenen Strecken Altersrekorde. 1989 lief er in London den ersten Marathon. Seine Bestleistung vollbrachte er im Alter von 92 Jahren, ebenfalls in Toronto; mit 5:40:04 Stunden lief er den neuen Rekord in M 90. Den Waterfront-Marathon am 16. Oktober dieses Jahres in Toronto ist er von vornherein gegangen. Die gemessenen Zwischenzeiten: 10 km 1:44:03 Stunden, Halbmarathon 3:43:39, 30 Kilometer 5:36:00, 35 Kilometer 6:25:46. Dann gab es einen Einbruch; doch Fauja Singh hielt durch. Sein Geh-Durchschnitt betrug 11:59 Minuten für den Kilometer, ein normaler Wanderschritt also. Er ist der erste Mensch, der im Alter von 100 Jahren noch einen Marathon beendet hat. Fauja Singh ist Vegetarier, hat nie geraucht und nie Alkohol getrunken. Seine Nahrungsaufnahme ist als unterkalorisch zu bezeichnen.

Bis zum Tode seiner Frau hatte er als Bauer in Indien gelebt. Dann zog er zu seinem jüngsten Sohn nach Großbritannien. Da er in der Jugend gelaufen war, nahm er diese Aktivität wieder auf. Ein Trainer, Harmander Singh, förderte ihn. Wie es heißt, trainiert er täglich, und zwar 12 bis 16 Kilometer. In Frankfurt am Main will er am 30. Oktober am Marathon als Staffelläufer teilnehmen.

Was seinen Altersrekord als Hundertjähriger angeht, frage ich mich, weshalb Veranstalter immer nur auf eine solche Gelegenheit warten. Was ist mit uns, die wir fünfzehn Jahre jünger sind und aus der Ergebnisstruktur der Marathonläufe herausgefallen sind? In acht Stunden würden auch wir die Marathonstrecke gehend noch schaffen. Aber selbst wenn wir den Mut aufbrächten, würden wir von der Strecke auf den Gehweg gescheucht, und am Ziel fänden wir nur noch die Abbau-Mannschaft vor.

Mit der Eintragung des Altersrekords M 100 ins Guinness-Buch der Rekorde wird es jedoch nichts. Die Redaktion besteht auf dem Nachweis des 100. Lebensjahrs. Der britische Reisepaß mit der Geburtsangabe 1. 4. 1911 genügt nicht, sie will die Geburtsurkunde sehen. Diese jedoch gibt es nicht; im Jahr 1911 sind, einer Mitteilung zufolge, in Indien noch keine Geburtsscheine ausgestellt worden.

Eintragung vom 18. Oktober 11

Ich kenne das von mir: Ich schreibe kaum noch Briefe. Vielleicht könnte man ja die eine oder andere e-mail als digitalisierten Brief bezeichnen. Nachlesen kann man’s nicht mehr. Wer speichert schon e-mails? Seit mir das klar ist, vermag ich die Ansichtskarten von Markus zu schätzen.

 

Wenn wir gemeinsam bei einem Marathon waren, habe ich immer etwas spöttisch geblickt, sobald Markus ansetzte, Karten zu schreiben, oder sich eine Besichtigungspause zu diesem Zweck erbat. Ich selbst habe Karten sehr ungern geschrieben, und wenn, dann immer nur, weil mich meine Eltern und später Marianne dazu gedrängt hatten oder ein anderer moralischer Druck entstanden war. Da war die Karte ein Ersatz für den nichtgeschriebenen Brief.

Die Karten von Markus an mich haben an Bedeutung gewonnen, seitdem die Marathon-Teilnahme für mich nicht mehr erreichbar geworden ist. Der letzte große Marathon war der im Jahr 2009 in Berlin, und da mußte ich schon die Hälfte auf dem Gehweg zurücklegen. Der letzte Marathon überhaupt war im Jahr 2010 der C 42 von Davos nach Tiefencastel. Dort ist die Zielschlußzeit in diesem Jahr auf 8 Stunden verkürzt worden; ich habe im vorigen Jahr 8:32:27 gebraucht.

Immer wieder sind Markus und ich dieselben Strecken gelaufen. Da konnte er eine Karte allenfalls an Marianne schreiben. Dann kamen Karten aus Orten, wo ich gern gelaufen wäre, aus Tromsø, aus Chicago, aus Dubai. Ausgeschlossen wäre meine Teilnahme zu jener Zeit nicht gewesen. Seit geraumer Zeit jedoch sind die Karten ein wenngleich schwacher Ersatz für die nicht mehr mögliche Teilnahme. Die jüngste Karte kam vom Loch Ness. Endlich ein Anlaß, nicht nur nachzuschlagen, welche Zeit Markus gelaufen ist, sondern auch, mich über den Loch-Ness-Marathon zu informieren. Die Karte zuvor aus Wengen im Berner Oberland – Erinnerungen an die acht Teilnahmen beim Jungfrau-Marathon sind wach geworden.

Die Karten stellen keine Laufmotive dar – das würde nach Dutzenden von Karten vielleicht langweilen, weil wir schließlich beim Laufen in Reykjavik nicht so sehr viel anders aussehen als beim Rom-Marathon. Die Karten sind kleine Kunstwerke; beim Feuerwerk von Waikiki sind die Strahlen offenbar aufgeklebt, und beim Matterhorn muß der Photograph offenbar mindestens bis zur Hörnli-Hütte gestiegen sein, um den Sonnenaufgang abzupassen. Am Loch Ness der Karte regnet es eben nicht wie in den Tagen des Marathon-Aufenthaltes, sondern der See liegt in einem mystischen Dämmerlicht. Das Ungeheuer wird glaubwürdig.

Allein die Kartenformate... Die Prager Karlsbrücke ist nicht weniger als 23,5 Zentimeter lang (ich hab’s ausgemessen). Vor dem Burj Al Arab in Dubai, dem mit 321 Meter höchsten Hotel der Welt, tappen Kamele über den Strand. Und die Karte aus Chicago hat keinen geraden oberen Rand, sondern der Kartenhorizont folgt den Silhouetten der Wolkenkratzer. Selbst Dresden schmückt sich mit vier eindrucksvollen Motiven der zum Teil wiederaufgebauten Altstadt.

Eine solche Zeit der Ansichtspostkarten-Kunst hat es vor dem Ersten Weltkrieg schon gegeben. Die ersten Ansichtskarten hingegen waren schlicht. Nachdem dank Initiativen in den USA, dem Geheimen Postrat Heinrich von Stephan und dem Österreicher Professor Dr. Emanuel Herrmann die Postkarte erfunden und am 1. Oktober 1869 in Österreich und am 1. Juli 1870 im Gebiet des Norddeutschen Bundes eingeführt worden war, tauchten verschiedentlich Postkarten auf, die von den Absendern mit einem gedruckten Bild geschmückt waren. Daraus entstand ein ganzes Gewerbe. Das Bild auf der Postkarte war zunächst Anreiz genug. Dann jedoch, von den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts an, bemächtigten sich die Lithographen der Ansicht. Üppige Kreativität tobte sich in Darstellungen und Formaten aus, bis schließlich die Photographie den Ansichtspostkartenmarkt bestimmte. Allenfalls daß edle Kupfertiefdrucke für Glanz sorgten. Mit dem Beginn der Farbphotographie kam es zu einer weiteren Abflachung. Seit einigen Jahren jedoch sind Ansichtspostkarten wieder Kunstwerke. Der Kampf um den erheblich verkleinerten Markt mag dazu beigetragen haben.

Ich freue mich an den Postkarten von Markus, und ich habe in diesem Jahr sogar selbst schon in Biel Karten geschrieben. Doch die Nachfrage nach den bei Laufveranstaltungen ausliegenden Karten mit Laufmotiven ist vergleichsweise gering. Der Wandel der Medien hat die Ansichtspostkarte in eine Nische verwiesen.

Die Karten von Markus sind mir jedesmal der Anlaß, mich auf der jeweiligen Website über die Veranstaltung zu informieren. Google hat mir freundlicherweise den Einführungstext aus dem Schottischen übersetzt: „Der Baxters Loch Ness Marathon und Festival of Running ist eine bemerkenswerte Leuchte auf dem laufenden Kalenderjahr. Es gibt große Marathons auf der ganzen Welt, viele von ihnen vor allem gekennzeichnet durch ihre Einstellungen und Loch Ness Reihen rechts neben ihnen.“ Nun weiß ich auch über diese Leuchte Bescheid.

Eintragung vom 11. Oktober 11

 

Normal ist es nicht, nach einem Lauf das 16. Finish zu feiern. Doch die Laufstrecke ist nicht normal. Es handelt sich um den Spartathlon, den 246 Kilometer langen Lauf auf den Spuren des Pheidippides von Athen nach Sparta. Hubert Karl hat ihn am 30. September und 1. Oktober zum 16. Mal bewältigt. Damit ist er an die quantitative Spitze der Ultraläufer mit erfolgreichen Spartathlon-Teilnahmen gelaufen.

Bisher hat diese Position der Finne Seppo Leinonen innegehabt. Seppo habe ich 1985 bei meiner ersten Spartathlon-Teilnahme kennengelernt. Wir haben damals beide das Ziel nicht erreicht; ich mußte bei Kilometer 173 wegen Zeitverzugs ausscheiden. Doch Seppo legte mit seiner Teilnahme den Grundstein zu seinem Rang als Läufer mit den meisten Spartathlon-Teilnahmen. Er ist am antiken Stadion oder an der Akropolis bis zum vorigen Jahr 26 Mal gestartet und 15 Mal in Sparta angekommen.

Damit hat er den Briten Robert Meadowcroft überflügelt, der 14 Zielläufe Athen - Sparta vorweisen kann. Meadowcroft war im Alter von 46 Jahren bereits beim ersten Spartathlon 1983 dabei gewesen. Er war ein starker Läufer, obwohl dem Alkohol nicht abhold. Nachdem er sein Leistungsvermögen gezeigt hatte – 1985: 29:52:00 Stunden –, kam es ihm nicht darauf an, vor Sparta auch einmal eine längere Pause zu machen. Er lief so, daß es ihm für die 36 Stunden noch reichte. Nur auf diese Weise geriet er auf der Finisherliste 1989 und 1990 noch hinter mich.  

 

Seppo Leinonen also, ein sehr angenehmer, ruhiger Mensch, ist derjenige Läufer, der dem Spartathlon durch seine Teilnahme am längsten verbunden ist. 1992 erlief er sich im Alter von 41 Jahren in 27:56:32 Stunden den dritten Platz. Es war das Jahr, in dem ich in der Wertung nicht auftauche, obwohl ich bis Sparta gelaufen war – nur eben leider mit Verspätung. Später, als dies auch einem Griechen widerfahren war, ist man großzügiger verfahren und hat auch die nach mehr als 36 Stunden Einlaufenden noch in die Wertung genommen.

Hubert Karl bin ich bei seinem ersten Spartathlon-Start 1992 in Athen begegnet. Damals lief er, 34 Jahre alt, 15 Sekunden vor Horst Preisler ein. Wie Leinonen ist er ein Mensch, der von seinen Leistungen nichts hermacht. Es ist eine Leistung, eine Lebensleistung gewissermaßen, läuferisch auf einem Niveau zu bleiben, das es erlaubt, 16 Mal den Spartathlon zu bewältigen. Hubert Karl aus Zeil im unterfränkischen Landkreis Haßberge hat das Diplom als Lauftherapeut erworben und daraus seinen Beruf gemacht. Im Jahr 2004 rief er den Zeiler Waldmarathon ins Leben, einen hübschen Landschaftslauf durch den Naturpark Haßberge, bei dem zwei Runden zurückzulegen sind. Als angenehm empfand ich auch das Ambiente hinterher; man hat eine Flasche Wein geschenkt bekommen und ißt Pellkartoffeln mit Quark. Seit dem 17. Jahrhundert, als hier noch mehr als 400 Menschen, einschließlich eines Bürgermeisters, wegen Hexerei hingerichtet worden waren, haben sich die Zeiten doch erheblich geändert. Hubert Karl wird am 12. November zum achtenmal den Waldmarathon organisieren.

Hubert Karl bei seinem 16. Spartathlon Finish

Außer dem 16. Finish Hubert Karls hat der Spartathlon am letzten September-Wochenende ein Kuriosum geboten, auf das die DUV-Website aufmerksam gemacht hat. Den dritten Platz hat Michael Vanicek, LG Nord Berlin, in 24:55:59 Stunden belegt. Er ist einer der beiden „Laufzwillinge“, die in der Szene so bezeichnet werden. Der andere ist Jan Prochaska, ebenfalls LG Nord Berlin. Beide waren zuletzt im August beim 100-Meilen-Mauerlauf Hand in Hand eingelaufen. Prochaska ist im vorigen Jahr beim Spartathlon gestartet, hat dort ebenfalls den dritten Platz eingenommen und ist 24:55:58 Stunden gelaufen, also nur eine Sekunde schneller als Vanicek in diesem Jahr, wobei man ja berücksichtigen muß, daß die Messung, die beim Schlag auf den Fuß der Statue des Spartaner-Königs Leonidas erfolgt, ohnehin nicht ganz präzise sein kann. Im Sinne des Wortes ist also beim Spartathlon eine Zwillingsleistung vollbracht worden.

Photos(2): Sonntag

Eintragung vom 4. Oktober 11

Ein Weltrekord, und gar noch schon der achte am Ort, das zumindest prägt das Bild einer Veranstaltung. Der Berlin-Marathon hat sich allein unter diesem Aspekt seine Klassifizierung unter den wichtigsten Marathonläufen der Welt verdient.

Doch darüber sollten wir nicht die herausragende Stellung des Berlin-Marathons im Hinblick auf den Breitensport vergessen. Der Lauf durch Berlin vorbei an ungefähr einer Million Menschen bedeutet zugleich eine Demonstration des Volkssports Marathon und dabei auch des lebenslangen Sports. Unter den fast 33.000 Läuferinnen und Läufern, die durch das Brandenburger Tor liefen, waren 29 Fünfundsiebzigjährige und Ältere, dazu drei Achtzig- bis Dreiundachtzigjährige.

 

Der Spanier Manuel Rosales Touza, M 75, hat die Marathonstrecke in 3:38:40 Stunden zurückgelegt, der Pole Wojciech Grochocki in 3:50:50 und der Italiener Riccardo Dario Fabiani in 4:03:07, jeweils netto. Die einzige Läuferin in W 75, Hannelore Küpper, TSV Viktoria Mülheim, war 5:11:34 unterwegs. In M 80 bietet sich folgendes Bild: Väinö Latvala aus Finnland, Jahrgang 1931, brauchte 5:52:15 Stunden, Dr. Deo Do Sant Espinto Sobrinho aus Brasilien, Jahrgang 1927, 6:09:16. Ryozo Mizutani aus Japan, Jahrgang 1928, 7:00:04. Zielschluß war zwar nach 6 ¾ Stunden, aber man hat die Matten auch für die Netto-Sieben-Stunden-Läufer angeschaltet gelassen; der Japaner zum Beispiel brauchte im hintersten Startblock über 20 Minuten zur Startlinie.

Bedauerlich ist, daß in M 80 kein Deutscher angetreten ist. Die drei M 80-Teilnehmer sind auch in früheren Jahren schon den Berlin-Marathon gelaufen.

Niemand braucht wegen der Sechs- oder Sieben-Stunden-Zeit die Mundwinkel zu verziehen. Uns Hochaltrigen geht es nicht um Placierungen, sehr wohl aber um Vergleiche. Wir möchten wissen, wie es um unser Leistungsvermögen bestellt ist. Das ist völlig legitim. Jeder Kardiologe unterwirft seine Patienten nach Möglichkeit einem Belastungs-EKG und zieht aus den Wattzahlen seine Schlüsse. Mit Sicherheit gibt es deutsche Marathonläufer, die in M 80 laufen. Es wäre zu begrüßen, wenn sie in Berlin starten würden. Weshalb Berlin? Weil es der teilnehmerstärkste deutsche Marathon ist und damit die Wahrscheinlichkeit eines echten Leistungsvergleichs am größten. Zwar stehen die fast 41.000 Anmeldungen nur auf dem Papier, aber auch mit 32.991 Finishern hält Berlin die Spitze.

Ein allerdings nicht vollständiger Blick auf die Statistik zeigt, daß die Zahl von 28 Startern in M 75 und einer Starterin in W 75 möglicherweise den Höchststand in dieser Klasse bedeutet. Hiervon sind 22 Deutsche. Die relativ hohe Teilnehmerzahl in M 75 läßt erwarten, daß sich eines Tages auch die Klasse M 80 vergrößern wird.

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