Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 29. März 16

Es ist die Zeit, in der ich mein persönliches Laufjubiläum feiern kann. Wenn ich die üblichen Jubiläen und die familiären Ereignisse nicht berücksichtige, war der Anlaß der wichtigste Tag in meinem Leben, nämlich der Tag, an dem ich begann zu laufen. Fünfzig Jahre ist dies demnächst her.

Vor etwa fünfzig Jahren saß ich in der Praxis eines Nervenarztes, der bei einer klinischen Untersuchung zu Rate gezogen worden war, weil ich über Migräne geklagt hatte. Die klinische Untersuchung hatte nichts Aufregendes erbracht; das Völlegefühl insbesondere nach Rotweingenuß rührte, wie eine Laparaskopie ergab, von einer geringfügigen Verfettung der Leber her. Nicht behandlungsbedürftig. Oder, wie der Chefarzt sagte: „Weitersaufen!“ Der Kopfschmerz, insbesondere in Spannungssituationen wie dem Streß beim Sonntagsdienst, wurde ernster genommen. Der Nervenarzt verschrieb mir ein Medikament zur Kupierung des Kopfschmerzes und die damalige Allerweltsdroge Valium zu Dämpfung des Spannungsempfindens. Deshalb also saß ich bei ihm in der Praxis. Nach einer Kontrolluntersuchung empfahl mir der Arzt, was damals höchst ungewöhnlich war: Mehr Bewegung!

Allerdings gehörte ich keineswegs zu den Bewegungsträgen. An dieser Stelle habe ich schon darüber geplaudert, daß ich bereits von Kleinkindesbeinen an tüchtig relativ weite Strecken zurückgelegt habe, vielmehr zurücklegen mußte. Insofern hatte ich, da für öffentliche Verkehrsmittel kein Geld zur Verfügung stand, ein tägliches Gehtraining. Wenn ich bei meinen Großeltern die Ferien im Riesengebirge verbrachte, verlockte mich die Neugier zu täglichen Bergwanderungen. Knapp zwei Jahre war mir beim sogenannten Reichsarbeitsdienst und als Soldat vorzugsweise auf dem Rückzug ein ausgedehntes tägliches Bewegungstraining zwangsweise auferlegt. Nach dem Krieg benützte ich mehrere Jahre lang das Fahrrad für häufige Reportagefahrten und ausgedehnte Radtouren.

Nun jedoch, in der Praxis eines Nervenarztes, wurde der Grundstein einer sportlichen Laufbahn gelegt, die ich bis dahin nicht im mindesten im Sinn gehabt hatte, schon weil mir die Schule die Lust daran gründlich ausgetrieben hatte. Der Arzt erzählte mir, in einem knappen Jahr werde der Fußball-Verein Stuttgarter Kickers den ersten Volkslauf in Stuttgart veranstalten. Er, der Doktor, werde daran teilnehmen. Ich nickte und beschloß, es ihm gleich zu tun. Von sogenannten Volksläufen hatte ich bis dahin nichts gehört.

Ich besorgte mir zunächst einmal die Ausschreibung. Dazu fuhr ich zum Württembergischen Leichtathletik-Verband, denn Ausschreibungen lagen damals, drei Jahre nach dem ersten Lauf für alle, den Otto Hosse und seine Freunde am 13. Oktober 1963 in Bobingen bei Augsburg veranstaltet hatten, keineswegs irgendwo herum. Vor allem aber mußte ich erst einmal wissen, ob ich überhaupt eine solche Strecke von immerhin 10,5 Kilometern würde laufen können.

An einem schönen Wochenende im Mai 1966 – den genauen Tag habe ich nicht festgehalten – benützte ich einen Ausflug auf die Schwäbische Alb zu einem Test. Bei gutem Wetter fuhren wir mit dem Auto, dem ersten, das wir 1960 gekauft hatten, häufig auf die Schwäbische Alb und unternahmen dort eine Wanderung. Sehr ausgedehnt konnte sie nicht sein; unser Sohn war damals neun Jahre alt, und eingedenk meiner eigenen frühen Belastung wollten wir ihn nicht überfordern. Die Wege auf der Schwäbischen Alb eignen sich sehr gut zum Laufen.

Ich weiß nicht mehr, was ich zu meinem Laufversuch angezogen habe. Ich besaß ja weder Laufschuhe, sofern dieser Ausdruck überhaupt erlaubt ist, noch irgendwelche Sportkleidung. Ich vermute, daß ich Wanderkleidung trug, nämlich eine Kniebundhose und ein baumwollenes Hemd, dazu wahrscheinlich leichte wildlederne Wanderschuhe. Ich verabschiedete mich von Marianne, sie solle sich nicht sorgen; ich würde beizeiten wieder umkehren.

Dann lief ich los – in einem Dauerlauftempo, das mir angemessen schien. Als ich fünf Minuten gelaufen war, kam mir das sehr lang vor. Ich riß mich zusammen und lief weiter. Nach acht Minuten fand ich, daß es genug sei. Ich war hoch zufrieden. Ohne irgendein Lauftraining war ich ununterbrochen – man denke! – acht Minuten lang gelaufen. Ich drehte um und kehrte im Gehschritt zur Familie zurück.

Der nächste Schritt bestand darin, daß ich mir ein Paar Trainingsschuhe kaufte. Im Sportgeschäft empfahl man mir einen Adidas, der normalerweise für Kurzstrecken gekauft wurde. Um eine jüngere Generation aufzuklären: Es gab noch keine speziellen Laufschuhe für den Dauerlauf, nirgends. Erst der Nürnberger Schuhfabrikant Eugen Brütting, ein Schuhmodelleur, der sich 1946 selbständig gemacht hatte, schuf in der Folgezeit einen Laufschuh, der ganz speziell auf die junge Laufbewegung gemünzt war. Darüber ein andermal.

Ich begann zu trainieren. Buch habe ich nicht geführt. Das habe ich erst später getan und auch den Lesern meiner Laufeinführung (1979) empfohlen. Wochenlang suchte ich trainierend eine Trainingsstrecke. Ich glaubte, sie im Schurwald, dem Höhenrücken zwischen Neckar- und Remstal, gefunden zu haben, mußte dabei jedoch immer das Auto benützen und die Stadt Esslingen bei Stuttgart durchqueren. Manchmal begegnete ich am Beginn meiner Trainingsstrecke am Jägerhaus, einem Ausflugslokal oberhalb von Esslingen, dem einen oder anderen Läufer. Im allgemeinen jedoch war ich allein.

Auf diese Weise versuchte ich, die acht Minuten Laufdauer auszudehnen. Die Viertelstunde war bald geschafft. Als ich eine halbe Stunde lang ununterbrochen laufen konnte, stellte sich nach meiner Erinnerung so etwas wie ein Glücksgefühl ein. Das geschieht wohl auch denjenigen, die gegenwärtig mit dem Laufen beginnen. Überhaupt, ich gewann Einsichten und Erkenntnisse, die auch heute noch gelten.

Eintragung vom 22. März 16

Dem, gemessen an der Kulturgeschichte, relativ kurzen Bestehen der modernen Laufbewegung ist wohl zuzuschreiben, daß wir mit Laufjubiläen nicht kleinlich sind. Wir nehmen als Jubiläum, was nach früheren Maßstäben noch keines ist. Beim Paderborner Osterlauf wird darauf hingewiesen, daß er nun zum siebzigsten Mal veranstaltet wird. Das ist zwar eine schöne runde Zahl, aber in der Geschichtspflege sind vormals Jubiläen nur alle 25 Jahre fällig gewesen. Inzwischen feiern wir zumindest in der Laufszene, wo 25 Jahre eine lange Frist sind, das zwanzig-, dreißig- und vierzigjährige Bestehen einer Veranstaltung. Da fragt man sich zu Recht, warum nicht auch das siebzigjährige? In fünf Jahren, wenn nach alter Gepflogenheit das fünfundsiebzigjährige Bestehen des Paderborner Osterlaufs an der Reihe ist, wird man wahrscheinlich vergessen haben, daß seit dem letzten Jubiläum erst fünf Jahre vergangen sein werden.

Runde Zahlen eignen sich wie Jubiläumszahlen vorzüglich dazu, als Werbeargument zu dienen. Nicht nur, daß dies den Veranstaltern zu gönnen ist. In Paderborn hält man sich auch zugute, daß der Paderborner Osterlauf die älteste noch bestehende deutsche Straßenlaufveranstaltung sei.

Man muß sich vorstellen: Im deutschen Sport lag gerade das Jahr Null zurück. Der Zweite Weltkrieg war am 9. Mai 1945 beendet; Deutschland existierte bis zum Jahr 1949 formell nicht mehr, sondern nur vier Besatzungszonen. In dieser Zeit, im Jahr 1947, fand der erste Osterlauf in Paderborn statt. Drei Männer, Heinrich Vockel, Hans Wienold und Otto Sziedat, hatten ihn ins Leben gerufen; der Tennis-Club Grün-Weiß organisierte ihn. Dazu gehörte in jener Zeit, in der auch der Sport sein Jahr Null hatte, beträchtlicher Mut. Hinzu kam, daß Langstrecken nicht sehr lang waren. Der erste Osterlauf, der auf dem heutigen Inneren Ring stattfand, maß nur 3,35 Kilometer; 124 Teilnehmer waren am Start. Erst im Laufe der Jahre wuchs die Strecke auf 25 und auf 30 Kilometer. Seit einigen Jahren werden hauptsächlich ein 10-Kilometer-Lauf und ein Halbmarathon angeboten.

Solche Angebote gibt es zwar genügend, aber offensichtlich hat die Tradition zur Beliebtheit des Paderborner Osterlaufes beigetragen. Als ich mich in meiner läuferischen Aufbauphase umsah, wäre der Paderborner Osterlauf unbedingt in Frage gekommen. Doch mein Prinzip war damals: Wenn schon eine lange Laufreise, dann mußte es ein Marathon sein, von wenigen Ausnahmen wie Bergläufen abgesehen. So kommt es, daß ich trotz langer Läuferlaufbahn den Paderborner Osterlauf nur dem Namen nach kenne. Für Leistungsorientierte jedoch gehörte er zum Pflichtprogramm. Adolf Gruber aus Wien scheute 1958 die lange Reise nicht; er gewann ihn (30 km in 1:36:45). Auch Manfred Steffny, der spätere Verleger und Chefredakteur von „Spiridon“, sah sich 1968 herausgefordert und gewann (25 km in 1:18:25).

Im allgemeinen jedoch starteten in jenen Jahren – wie auch in Essen, beim ältesten noch bestehenden deutschen Marathon – altgediente Leichtathleten; andere waren für einen Marathon nicht trainiert. Ihren Volkslaufcharakter bekamen diese Veranstaltungen – im Gegensatz zu Veranstaltungen, die von vornherein als Volksläufe konzipiert waren – erst später.

Ähnlich wie bei vielen Marathonläufen der Halbmarathon im Hinblick auf die Teilnehmerzahl dem Marathon den Rang abgelaufen hat, ist in Paderborn der 10-km-Lauf weit beliebter als der Halbmarathon, obwohl es wahrhaftig genügend Läufe auf dieser Distanz gibt. Auch daran zeigt sich die Tradition des Paderborner Osterlaufs. Man muß in Paderborn gelaufen sein, und sei es auf einer Strecke, die von Marathonläufern als „Ministrecke“ angesehen wird.

Eintragung vom 15. März 16

Das Thema ist nicht neu, aber neu ist, daß es offenbar die Basis erreicht hat. Im vorigen Jahr hat der 100 Marathon Club, präzise: Dr. med. Christoph Wenzel, eine Umfrage veranstaltet. In dem dieser Tage ausgelieferten Heft des Club-Magazins ist das Ergebnis veröffentlicht. Das Thema ist für uns alle hochrelevant: „Vorhofflimmern und weitere gesundheitliche Risikofaktoren“. Verschiedene Studien, darunter eine bis ins Jahr 1976 zurückreichende an Ski-Marathon-Läufern, haben ergeben, daß Vorhofflimmern bei Ausdauersportlern häufiger vorkommt als in der keinen Ausdauersport treibenden Normalbevölkerung.

Den Fragebogen, der in der Vereinszeitschrift des 100MC und auf dessen Website veröffentlicht worden ist, haben nur 22 Mitglieder des 100 Marathon Clubs zurückgesandt. Dennoch vermittelt er wenigstens tendenziell einige Erkenntnisse. Die Anonymisierung der Auswertung war gesichert. Von den 22 erfaßten Läufern war bei 3 Vorhofflimmern diagnostiziert, bei 2 erst in den letzten zwölf Monaten vor der Studie. Nach einem Vergleich mit einer Bevölkerungsstudie unter 5000 Personen wären 1,2 Fälle von Vorhofflimmern zu erwarten gewesen. Dr. Wenzel kommentiert: „Diese Fragebogenstudie bestätigt die Ergebnisse anderer Untersuchungen (…), daß Vorhofflimmern bei älteren Ausdauersportlern mit langem/häufigem Training häufiger als in der Gesamtbevölkerung auftritt.“

Im Hinblick auf andere Risikofaktoren ergibt sich bei den erfaßten Ausdauerläufern ein positives Bild. Die 22 Teilnehmer aus dem 100 Marathon Club geben nur zu 18 Prozent einen zu hohen Blutdruck an; in der deutschen Gesamtbevölkerung ist es jeder Zweite. Ein knappes Drittel der 22 100MC-Befragten gab ein zu hohes Körpergewicht an, davon einer, der an Adipositas leidet. In der Normalbevölkerung ist mindestens jeder Zweite übergewichtig, jeder Fünfte ist an Adipositas erkrankt. Alle 22 Befragten sind Nichtraucher. Die Quote der ehemaligen Raucher beträgt 36 Prozent; sie liegt damit geringfügig höher  als bei den Männern in Deutschland (30 Prozent). „Dies verdeutlicht, daß im 100 Marathon Club nicht eine Auswahl (primär) immer besonders gesundheitsbewußter Menschen läuft, sondern sich überwiegend (sekundär) durch eine geänderte Lebensführung bei regelmäßigem Laufen viele Gesundheitsfaktoren im Laufe der Jahre positiv verändern.“ Was den Alkohol betrifft, geben die 22 Befragten ein geringeres Konsumverhalten als die Normalbevölkerung an.

Dr. Christoph Wenzel faßt zusammen: „Die Studie mit Teilnehmern aus dem 100 Marathon Club bestätigt, daß ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Vorhofflimmern besteht und infektiöse wie nicht-infektiöse entzündliche Schädigungen der Herzmuskulatur möglichst vermieden werden sollen. Die Studie zeigt klar für Blutdruck, Körpergewicht, Rauchen und Alkoholkonsum, daß wir Ausdauersportler im Laufe unserer Sportjahre gesünder als der Durchschnitt der Allgemeinbevölkerung leben.“

Dies darf uns nicht daran hindern, das erhöhte Risiko des Vorhofflimmerns im Alter zu unterschätzen. Man kann zwar sehr wohl mit Herzrhythmus-Störungen laufen und dabei die Einschränkung des Leistungsvermögens um 10 bis 15 Prozent in Kauf nehmen, sollte aber wissen, daß Vorhofflimmern das Risiko eines Schlaganfalls birgt. Genau diesen Verlauf habe ich, wenn auch spät, erlitten. Eine zweimalige Elektro-Kardioversion (Beeinflussung des Herzrhythmus durch einen Strom-Impuls) hat meinen Herzrhythmus nicht wiederherstellen können; auch der sogenannte Maze-Eingriff, vorgenommen bei einer Bypaß-Operation vor zehn Jahren, hat das Vorhofflimmern nur vorübergehend beseitigen können. Der Läufer-Arzt, der in den neunziger Jahren nach einem Elektrokardiogramm bei mir Vorhofflimmern diagnostizieren mußte, ist später selbst von Vorhofflimmern heimgesucht worden; vor einigen Jahren erlitt er einen Schlaganfall, tragischerweise mit einer bleibenden Lähmung. Ein weiterer ehemaliger Läufer aus der  Ultramarathon-Szene wurde wie ich im vorigen Jahr von einem Schlaganfall ereilt.

Nach Wikipedia leiden in Deutschland ungefähr 300.000 Menschen an Vorhofflimmern; genaugenommen leiden die meisten nicht. Ihr Vorhofflimmern wird erst bei einer kardiologischen Untersuchung entdeckt.

Eintragung vom 8. März 16

Berlin ist auch eine Stadt der Laufveranstaltungen. Wer auf die Website des Sportclubs Charlottenburg klickt, erhält einen Eindruck davon, was der Verein, Veranstalter des Berlin-Marathons, sonst noch auf die Beine stellt. Die SCC-Veranstaltungen ziehen sich durch das ganze Jahr. Versteht sich, daß in einem Verdichtungsgebiet von mehreren Millionen Menschen und einer Region, in der es sich gut läuft, auch sonst einiges zusammenkommt. Da sind die Anregungen, die von den drei westlichen Alliierten in die Stadt getragen worden sind, die Tradition der Lauf-Initiativen im ehemaligen Ostteil der Stadt, die Bündelung von Events, Dienstleistungen und Lauftreffs in „Berlin läuft“, Ideengeber wie die LG Mauerweg. Insbesondere dem Mauerweglauf, der LG Nord Berlin, dem Verein „Die Laufpartner“ und dem Sri Chinmoy-24-Stunden-Lauf sind zu danken, daß Berlin nicht nur eine Marathon-Stadt, sondern auch eine Stadt des Ultramarathons ist. Genau das hat das Präsidium der DUV bewogen, die DUV-Meisterschaft im 50-km-Lauf nach Berlin zu vergeben. Im Hintergrund steht das Bemühen, attraktive Areale großer deutscher Innenstädte dem Ultralaufen zu erschließen.

Ein solches Areal war in Berlin gefunden, das Olympiagelände. Der Fußball, der wieder einmal Stoff für Kommentare geliefert hat, hat bei diesen Überlegungen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die “Laufpartner“ um Volkmar Scholz hatten im Sommer vorigen Jahres die Strecke ausgesucht. Es schien alles klar: Die Bundesligamannschaft von Hertha BSC, die im Olympiagelände ihre Heimstatt hat, würde am Veranstaltungstag, dem 5. März, auswärts spielen. Andere Spiele waren nicht geplant. Das änderte sich am 19. Februar, wenig mehr als vierzehn Tage vor dem Termin der 50-km-Meisterschaft. Damit nicht genug, zwei Tage später setzte der Deutsche Fußball-Bund zwei weitere Spiele im Bereich des Ultralaufs an. Obendrein handelte es sich um sogenannte Risikospiele mit verfeindeten Mannschaften. Die Zuschauer sollten über unterschiedliche Straßenzüge in das Hanns-Braun-Stadion geleitet werden. Der DFB ließ weiterhin wissen, daß mit Mannschaftsbussen, Polizeizügen und Schiedsrichterautos im Laufwettkampfgelände zu rechnen sei. Schließlich wurde gar der gesamte Verlauf der 5-Kilometer-Runde gestrichen. Das bewog die Organisatoren, die Deutsche Meisterschaft gänzlich zu verlegen. Man wollte nicht das Risiko der Begegnung mit emotional aufgeheizten Zuschauern eingehen. Auf eine juristische Auseinandersetzung wollten sich die „Laufpartner“ zumal in Anbetracht der Kürze der Zeit nicht einlassen.

So kam es, daß die Deutsche Meisterschaft im weniger attraktiven Plänterwald im Bezirk Treptow-Köpenick ausgetragen wurde. Dennoch, der deutsche Rekord im 50-km-Lauf wurde von Paul Schmidt, einem Arzt der Charité, gebrochen (2:49:06). Das ist nachzulesen im Veranstaltungsbericht von LaufReport, die Vorgeschichte ist von German Road Races verbreitet worden. Ein solcher Vorgang, die Eliminierung einer Deutschen Laufmeisterschaft durch den Deutschen Fußball-Bund steht jedoch in einem solchen Widerspruch zu sportlichen – nicht nur sportlichen – Gepflogenheiten, daß ich das hier festhalten möchte. Vielleicht wird dabei deutlich, daß Fußball nur für 22 Spieler Sport ist, im übrigen aber auch unterhalb der Spitzen-Liga ein knallhartes Geschäft.

Eintragung vom 1. März 16

Exakt wissen wir wenig darüber. Deshalb muß ich darüber schreiben. Über den Traum. Alle paar Monate träume ich vom Laufen. Es ist für mich eine ziemlich junge Erfahrung. Ich kann mich nicht erinnern, vom Laufen geträumt zu haben, als ich noch Marathon und Ultramarathon lief. Auch in Gesprächen mit anderen Läufern war das nie ein Thema.

Allerdings, wer erinnert sich schon am nächsten Tag an Träume in der Nacht zuvor? Allenfalls daß wir, wenn der Traum besonders kurios oder erschreckend war, am nächsten Morgen davon erzählen. Vielleicht sogar sind wir noch während des Träumens aufgewacht. Welches Glück, wenn wir herabstürzen und noch vor dem zu erwartenden Aufprall aufwachen und erkennen: „Ach, es war ja nur ein Traum!“ Doch die Erinnerung an Trauminhalte hält nicht lange vor. Nach dem Frühstück haben wir meistens alles vergessen. Selbst wenn sich Bilder des Traums eingeprägt haben sollten, verblassen sie in der Erinnerung.

Die beiden letzten Träume vom Laufen habe ich mir gemerkt. Ich erreichte eine große Verpflegungsstation eines Ultramarathons, die sich in einem Haus befand. Ich verweilte dort so lange, bis mich die Uhr antrieb. Aha, das könnte Kirchberg auf der Bieler 100-Kilometer-Strecke gewesen sein. Doch weder die geträumten Streckenmerkmale noch die Station stimmten auch nur entfernt mit der Realität oder der eines anderen von mir bestrittenen Laufes überein. Es war die pure Fiktion. Auch die Strecke des zweiten Traums hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Ich lief auf einem Holzweg; die Bohlen waren der Länge nach verlegt. Allenfalls bestand eine Assoziation mit dem Wanderweg des Wiesner Viadukts aus einem der frühen Jahre des Swiss Alpine; doch die Bretter, bevor sie durch Metallplatten ersetzt wurden, waren hier quer verlegt.

An den Träumen stimmte nichts, was meine Lauf-Erlebnisse und -Eindrücke angeht. Ich träumte keinen Start, und ich träumte keinen Zieleinlauf. Auch die Läufer, unter denen ich mich bewegte, hatten keinen Bezug zu wirklichen Begegnungen. Träumend bewegte ich mich einfach. Vielleicht waren der Auslöser meine „ restless legs“, die unruhigen Beine, laut Wikipedia einst Wittmaack-Ekboom-Syndrom genannt. Wer’s noch medizinischer haben will: eine neurologische Erkrankung mit Gefühlsstörungen und Bewegungsdrang vornehmlich in den Beinen, eine „extrapyramidale Hyperkinesie“. Gegen diesen Bezug spricht jedoch, daß ich in der Zeit, in der ich extensiv gelaufen bin, nicht vom Laufen geträumt habe, sofern ich solche Träume nicht vergessen habe.

Fragen über Fragen… Hätte die Tiefenpsychologie nicht damit ein weiteres Themenfeld? Könnte man auf diese Weise nicht dazu beitragen, den physischen Vorgang des Laufens psychologisch besser zu durchdringen? Psychologische Antworten könnten uns vielleicht helfen, Wege zur Laufmotivation zu finden und Krisen beim Ultramarathon leichter zu überwinden.

Vielleicht lautet die Antwort der psychologischen Profis auf meine Fragestellung auch nur: Traumgespinste…

Eintragung vom 23. Februar 16

Der Mensch ist ein soziales Wesen – wir wissen es. Erfahren haben wir es wahrscheinlich beim Laufen. Zwar brauchen wir zum Laufen einzig ein Paar Beine und genügend Luft; aber Mitläufer machen es uns leichter.

Das fängt ja schon damit an, daß es leichter ist, den Entschluß, mit einerm Lauftraining zu beginnen, dann in die Tat umzusetzen, wenn wir uns mit einem oder mehreren anderen Menschen verabreden. Diese Erkenntnis kommt von einem, der sich selbst für einen Einzelläufer hält. Das mag dafür sprechen, daß die Quelle der Erkenntnis unverdächtig ist. Inzwischen haben wir eine Jahrzehnte lange Erfahrung mit Lauftreffs. Immer wieder stellt sich heraus, daß Lauftreffs, wenn sie sich nicht als Renntreffs verstehen, wahre Freundschaftsbünde sind, die weit über eine Zweckgemeinschaft hinausreichen.

Wenn wir mit anderen Läufern zusammen trainieren, laufen wir wahrscheinlich schneller, als wir es ohne Begleitung getan hätten. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß wir in der frühen Menschheitsgeschichte bemüht gewesen waren, beim Nahrungsammeln etwas schneller als unsere Jagd- und Sammelgenossen an die Beute zu kommen. In unserer Läuferkarriere sind wir vielleicht deshalb auch bemüht, mit anderen in Wettbewerb zu treten oder eine im Laufe der Zeit immer etwas längere Strecke zu bewältigen. Laufen erweist sich, so haben wir zumindest in der modernen Laufbewegung erfahren, als ein soziales Bindemittel. Vielleicht läßt sich so auch die Zusammenballung Tausender von Zuschauern bei Stadtläufen erklären, obwohl es im Grunde nichts zu sehen gibt außer einer Betätigung, die wir als Zuschauer auch selbst ausüben könnten oder sogar ausüben oder ausgeübt haben.

Doch was für das Laufen gilt, trifft im Prinzip auch auf andere Interessengemeinschaften zu. Wir sammeln zwar in Gemeinschaft nicht schneller Briefmarken, aber wir suchen soziale Beziehungen, die freilich auch ins Negative umschlagen können. So erklärt sich vermutlich, daß in ein und demselben Land Flüchtlinge willkommen geheißen und an anderer Stelle gewalttätig abgelehnt werden. Sie könnten uns ja die Beute wegnehmen (es hat sich halt noch nicht überall herumgesprochen, daß die Steinzeit zu Ende ist).

Normalerweise jedoch pflegen wir soziale Beziehungen. Normalerweise… Die Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg waren beileibe nicht normal. Daher ist es vielleicht verständlich, daß die Millionen von Heimatvertriebenen in den ihnen zugewiesenen Notquartieren in beträchtlichem Umfang offen oder heimlich abgelehnt wurden. Das Gleiche war der Fall, als wir etwa 3,8 Millionen Sowjetzonen-Bewohner und nachmaligen DDR-Bürger Zuflucht in der Bundesrepublik suchten. Das Verhalten der Eingesessenen änderte sich. Kann ja sein, daß wir manchmal rascher an der Beute waren; aber wir teilten sie, so wie auch viele Alteingesessene ihre Beute teilten.

Es scheint so zu sein, daß jede Art im Prinzip zusammenhält; Altruismus liegt uns Menschen näher als Futterneid. Wir wissen auch: Wer das größte Stück erwischt hat, gibt möglicherweise davon ab. Das Zusammenhalten hat dem Überleben unserer Art mehr gedient als das Abjagen der Beute. Wir sind auf die Pflege sozialer Beziehungen angewiesen. Wir profitieren davon, und dies auch ganz individuell.

Das ging mir durch den Kopf, als ich die Meldung über eine Untersuchung der australischen University of Queensland in Brisbane las. Die deutsche Übersetzung trug den Titel: „Soziale Gemeinschaften können das Leben von Rentnern verlängern“. In der Untersuchung sind 424 über fünfzigjährige Engländer sechs Jahre lang beobachtet worden, nachdem sie in den Ruhestand getreten waren. Im Mittelpunkt stand deren Aktivität in sozialen Gruppen. Die Daten wurden dann mit denen von vergleichbaren Kontrollpersonen, die noch berufstätig waren, verglichen. Die Mitgliedschaft in sozialen Gruppen wirkte sich, so wurde herausgefunden, auf das Sterberisiko nach dem Eintritt in den Ruhestand aus. 6,65 Prozent der Untersuchten starben in den ersten sechs Jahren nach dem Eintritt in den Ruhestand. Personen, die vor der Renten zwei Gruppen angehört hatten und diese Mitgliedschaft in diesen sechs Jahren beibehielten, hatten ein Sterberisiko von nur zwei Prozent. Wurde die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen aufgegeben, stieg das Sterberisiko prompt auf fünf Prozent. Wer beide Gruppen aufgegeben hatte, mußte mit einem Sterberisiko von 12 Prozent rechnen. Einen solchen Zusammenhang gab es dagegen nicht bei Menschen der Kontrollgruppe, die noch im Berufsleben standen.

Das Ausmaß, in dem die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen zur Gesunderhaltung beiträgt, entspricht ungefähr der statistischen Wirkung regelmäßigen intensiven Sporttrainings. Teilnehmer, die vor dem Ruhestand und während der erfaßten sechs Jahre danach wöchentlich einmal intensiv trainierten, hatten ein Sterberisiko von drei Prozent. Wurde weniger als einmal in der Woche trainiert, erhöhte es sich auf sechs Prozent. Wurde der Sport gänzlich aufgegeben, betrug das Sterberisiko elf Prozent.

Die Autoren der Untersuchung kommen zu dem Schluß: „Die Ergebnisse legen nahe, daß Fachleute den Rentnern nicht nur bei der finanziellen Planung helfen, sondern sie auch bei der sozialen Planung unterstützen sollten.“ Die Mitgliedschaft in einem Verein trage offenbar dazu bei, daß die Menschen Zugehörigkeit und Sinn fühlten, heißt es in dem Bericht.

Jetzt fehlt also noch eine Untersuchung im Hinblick auf Läufer, die mindestens dreimal in der Woche laufen und mehr als zwei Vereinen (das hat sich bei uns ja schnell!) angehören. Der Untersuchung wäre ein Anhang anzufügen: Wir Ehrenmitglieder – im Verein kaum noch präsent – sind tunlichst nicht mitzuzählen!

Eintragung vom 16. Februar 16

So attraktiv die 100 Kilometer von Biel unter den Ultramarathons auch sind, so wenig war von den Marathons in Biel zu halten. Zählen wir nicht erst die falsch bemessenen oder ausgefallenen Marathons auf, die einsamen Ankünfte der Marathonläufer und die zahlreichen Änderungen des Marathon-Konzepts von Biel! Vorbei, es gibt keinen Marathon in Biel mehr, wie diejenigen, die sich regelmäßig über die Website der Bieler Lauftage informieren, längst wissen. Bleibt nur noch, sich vielleicht die Meinung eines Teilnehmers, der als eng verbunden mit dem 100-Kilometer-Lauf von Biel gilt, anzuhören!

Der Bieler Marathon ist keineswegs ersatzlos gestrichen; er wird in diesem Jahr durch einen zweiten Ultramarathon ersetzt. Das entspricht durchaus einem Trend, dem zur Ausdehnung von Marathon- auf Ultramarathonstrecken. Der neue Ultramarathon ist jedem, der zumindest zwei Abschnitte der 100 Kilometer gelaufen ist, bekannt; es ist die Strecke nach Kirchberg.

Das bedeutet eine Strecke, die sich bewährt und keinen Anlaß zur Kritik geboten hat. Vor allem aber wird den Läufern der neuen Strecke ein wahrscheinlich würdiger Empfang bereitet werden. Für Marathonläufer auf der 100-Kilometer-Strecke war das unscheinbare Ziel nichts weiter als: aufhören zu laufen. Kirchberg dagegen macht etwas her. Es ist der große Umschlagplatz, die große Pause für alle 100-Kilometer-Läufer, die dies nötig haben, Wechselstation, mit Massagestation, sanitären Anlagen und breitem Verpflegungsangebot. Wer von den 100-Kilometer-Läufern aussteigen will, hat den Shuttle-Bus der Post unübersehbar vor der Nase. Parkmöglichkeiten erleichtern die Kommunikation mit Betreuern. Für den neuen Ultramarathon muß also keine neue Infrastruktur aufgebaut werden.

 

Wer die Absicht hat, nach Biel zu reisen, ohne die 100 Kilometer zu laufen, bekommt jetzt als Läufer des kurzen Ultramarathons von 56 Kilometern reale Eindrücke vom 100-Kilometer-Lauf. Ich meine, der Einstieg in die 100 Kilometer ist erleichtert. Man kann erst einmal die 56 Kilometer laufen (85 Franken), ohne das Startgeld für die 100 Kilometer (bis zum 22. April 130 Franken) zahlen zu müssen, und lernt den Betrieb der Bieler Lauftage ohne Streß kennen.

Die Zahl der Aussteiger des 100-Kilometer-Laufs in Kirchberg, die nach wie vor gesondert klassifiziert werden, wird sich also zumindest ein wenig verringern; im letzten Jahr waren es 98. Die Zahl der Marathonläufer hat 149 betragen. Es ist anzunehmen, daß diejenigen, die zum Marathon nach Biel fahren würden, das Wagnis auf sich nehmen, 14 Kilometer länger zu laufen. Auf jeden Fall wird jedoch ein neues Potential erschlossen, nämlich derjenigen, die beabsichtigen, einmal die 100 Kilometer von Biel zu laufen und zunächst einen kurzen Ultramarathon probieren möchten – dies nun sogar auf der Originalstrecke und unter den originalen Bedingungen. Allerdings scheint mir der Zielschluß nach 8 Stunden für Einsteiger knapp bemessen und auch unnötig, weil die Infrastruktur für langsame 100-Kilometer-Läufer erhalten bleiben muß.

Insgesamt jedoch finde ich das neue Konzept vernünftig und durchdacht. Hoffen wir nun, daß sich diese Überlegungen, die eines Biel-Teilnehmers, der dort 39 Mal gestartet ist, darunter einmal auch von vornherein in der Absicht, nur bis Kirchberg zu laufen, als erfolgreich erweisen!

Photo: Sonntag

Eintragung vom 9. Februar 16

Wer eine Weile läuft, hat unweigerlich schon einmal eine unangenehme, zumindest lästige Begegnung mit Nordic Walkern gehabt, sei es daß diese, scheinbar grundsätzlich nebeneinander gehend, den Weg versperrt haben, sei es daß sie einen durch ihren Stockeinsatz gefährdet haben. Längst Zeit, das Phänomen zu thematisieren? Seit dem Jahr 2002 schreibe ich dieses Tagebuch; doch die Nordic Walker sind darin allenfalls mit einer milden Bemerkung davongekommen.

Dr. Hajo Schumacher hat es anders gehalten. Als er in jenen Jahren das Laufen entdeckte und von 2004 an für den „Spiegel“, der einst zu den Lauf-Ignoranten gezählt hatte, seine Lauf-Kolumne zu schreiben begann, stieß – was hoffentlich nicht wörtlich zu nehmen ist – auch er auf Nordic Walker. Seine Kunstfigur Achim Achilles hatte ihren Feind gefunden. Denn allemal ist es einfacher zu spotten statt zu loben.

Zwar ist es in seinem Glaubenskrieg gegen Walker stiller geworden, aber zum Bild der Kunstfigur Achim Achilles, die inzwischen ein ganzes Unternehmen mit Geschäftsführer, Autoren, Versandhandel und Lesereisen-Tourneen geworden ist, gehört nun einmal die Abneigung gegen Walker, zugespitzt durch die Fertigung und den Verkauf eines T-Shirts mit dem Logo eines durchgestrichenen Nordic Walkers (29,90 €) und das „Walker-Hasser-Manifest“, das im selben Verlag wie Jahre vorher „Jogging? Nein, danke“ erschienen ist (2007). Dem Untertitel nach – „Warum muß ein ganzes Land am Stock gehen?“ – sind jedoch nur die Nordic Walker gemeint. Doch Spott ist nun einmal Übertreibung. Im Klappentext heißt es daher: „Achim Achilles hat den Wahnsinn von Anfang an durchschaut und sich den Kampf gegen das Walken auf die Fahnen geschrieben.“

Doch das ist nicht mein Thema, sondern: Ich meine, Spott sollte eine Zielrichtung haben. Kann es denn wirklich Ziel von Läufern sein, sich über Walker lustig zu machen und sie aus dem läuferischen Umfeld zu verbannen? Mir scheint diese Haltung ein Rückfall in die Frühzeit der Laufbewegung zu sein. Bevor sich die Lauftreffs ausbreiteten, galt es als läuferische Bankrotterklärung, wenn ein Läufer während des Lauftrainings in den Gehschritt fiel. Ich habe diese Meinung niemals geteilt, zum einen, weil ich als Lauftrefftrainer das Gehen, auch das langsame Gehen, als die erste Trainingsstufe ansah, zum anderen weil ich selbst als früher Trailläufer – ich lief auch dort, wo man nach damaliger Auffassung normalerweise nicht lief, nämlich in den Alpen – das Lauftraining immer wieder durch Gehen unterbrach (unterbrechen mußte).

Dank der Entdeckung des Traillaufens ist der Gehschritt als selbstverständliche Technik eines Trailläufers – und wohl des Laufens überhaupt – akzeptiert worden. Ebenso sind Stöcke als Hilfsmittel, in manchen Fällen als dringend erforderliches, akzeptiert worden. In der Öffentlichkeit ist dies beim Swiss Alpine, erstmals im Jahr 1986, sichtbar geworden. Da wurden für Läufer insbesondere für die steile Bergab-Passage vom Sertig-Paß behelfsmäßige Stöcke bereitgestellt, die sie dann bis zum Sertig-Dörfli wieder abstellten. Da dies einen Vorteil für die temporär so Ausgerüsteten bedeutete, ist der Stockgebrauch später allein auf die Walkingstrecken beschränkt worden.

Von der Integration des Gehens und des Stockgebrauchs in das Laufen abgesehen, sind Laufen und Gehen nach meiner Ansicht keine gegensätzlichen Techniken. Wer mit dem Laufen beginnen will, beginnt mit dem Gehen. Wer das Laufen beenden muß, endet beim Gehen.

Da fragt sich, ob es denn logisch ist, des Witzes wegen einen Gegensatz, gar eine Feindschaft, zu konstruieren. „Die Fans der um sich greifenden Schleichbewegung hängen auch noch dem fatalen Irrglauben an, die slow motion habe irgend etwas mit Sport zu tun.“ Ein solcher Satz hängt in der Luft. Wenn man nur langsam genug wird – und das wird jeder – , erkennt man, daß die slow motion vielfach nur scheinbar langsam ist. In der Tat muß auch Achim Achilles revozieren. Alten Leuten wie mir gesteht er das Gehen mit Stöcken, auch das langsame, zu. Für Menschen, die es verlernt haben sich zu bewegen oder solchen, die aus anderen Gründen nicht mehr zu rascher Bewegung fähig sind, kann jede Bewegung Training sein. Es besteht kein Anlaß, sie wegen ihrer Langsamkeit zu verspotten.

Sicher, wenn ich Nordic Walkern begegne, die ihre Stöcke hinter sich her schleifen, verziehe ich zumindest platonisch die Mundwinkel. Ich habe jedoch den Eindruck, daß deren Zahl abgenommen hat. Die zahlreichen Angebote, Nordic Walking fachlich korrekt zu trainieren, haben wohl ihre Wirkung. Niemandem will ich den Spaß an den Witzeleien des Achim Achilles vergällen. Aber wir sollten dabei das Denken nicht aufgeben.

Eintragung vom 2. Februar 16

Jahrelang ist es mein Prinzip gewesen, über Laufveranstaltungen fast immer höchst einseitig zu berichten, nämlich meistens nur dann, wenn ich selbst mitgelaufen bin. Das hat zumindest den Vorzug gehabt, eine läufernahe Perspektive einzunehmen. Als ich die Wettbewerbsteilnahmen aufgeben mußte, entschloß ich mich, als Zuschauer zu Laufveranstaltungen zu fahren. Auf diese Weise habe ich neue interessante Läufe kennengelernt, an denen ich nicht mehr teilnehmen konnte, den Mauerweglauf beispielsweise oder den Taubertal 100.

Nun ist mir klar, auch damit hat es ein Ende – vielleicht vorübergehend, vielleicht für immer. An dieser Stelle hätte ich sonst über den 50-Kilometer-Lauf von Rodgau geschrieben. Ich hätte ihn, als er zur Jahrtausend-Wende von dem Läuferverein Lauftreff Rodgau geschaffen wurde, noch laufen können; doch mein Hochmut war zu groß – 50 Kilometer auf einer 5-Kilometer-Runde lohnten in meinen Augen nicht so recht. Dabei wäre das für Ende Januar gerade recht gewesen.

In diesem Jahr wäre ich als Zuschauer hingefahren, wenn ich mich mobil genug gefühlt hätte. Nun bleibt mir nur, mich über das Internet zu informieren. Im Grunde ist der Bericht in LaufReport informativ genug. Aber es drängt mich, ein paar Worte über die Veranstaltung zu schreiben, auch wenn ich sie nur aus zweiter Hand kenne. Anlaß wäre ja schon einmal, daß Constanze Wagner, die eine Hälfte von LaufReport, im Jahr 2004 hier den Streckenrekord der Frauen aufgestellt hat; erst in diesem Januar ist er gefallen. Fünfmal, nämlich in den Jahren 2000, 2002 bis 2005, hat Constanze die 50 Kilometer von Rodgau gewonnen; im Jahr 2008 belegte sie den zweiten Platz. Also, wenn ich mich mit dieser Information hier einschmeicheln wollte, wäre ich etwas spät daran.

Ich schreibe über die 50 Kilometer von Rodgau, weil mir alles sehr sympathisch ist. Der Veranstalter ist genau das, was ich mir schon Ende der sechziger Jahre vorgestellt habe: Eine Gruppe von Läufern schließt sich zum Laufen zusammen. Als ich in den siebziger Jahren in dem Verein, in den ich eingetreten war, kritisierte, wir Läufer hätten ja mit der Leichtathletik, zu der wir gezählt wurden, nichts gemein, erhielt ich zur Antwort, wo wir denn sonst organisatorisch hinpassen würden? Offensichtlich fehlte den Funktionären die Phantasie. Längst gibt es in vielen Turn-und Sportvereinen eigene Läuferabteilungen. In meinem Verein, den ich nach einigen Jahren wieder verließ, gehören die Läufer und der Lauftreff nach wie vor zur Abteilung Leichtathletik. Sie zählt etwa 250 Mitglieder, wenig mehr als die Mitgliederzahl des Lauftreffs Rodgau. Beide Städte, Rodgau und mein Wohnort Ostfildern, sind vergleichbar. Die Marathon-Bestzeit meines ehemaligen Vereins ist für Männer im Jahr 1977 vollbracht worden, die für Frauen im Jahr 2010. Irgendwie scheint mir das typisch zu sein.

Vor allem aber hat sich im Laufe der Zeit eine ganze Anzahl von Läufervereinen gebildet, also genau das, was mir vorgeschwebt hat. Ich hätte nur Geduld aufbringen müssen, und vor allem hätte ich selbst tätig werden müssen. Doch das Schreiben ist mir wichtiger gewesen.

Der Lauftreff Rodgau ist auch erst 1983 gegründet worden. Der Ultramarathon entstand, weil man im Jahr 2000 das neue Jahrtausend durch eine besondere Laufaktivität begehen wollte. Keineswegs war geplant, den 50-Kilometer-Lauf jährlich zu veranstalten. Aus den 86 Läufern, die sich bei miserablem Wetter auf den Weg machten, sind inzwischen in kontinuierlichem Wachstum mehr als zehnmal soviel Teilnehmer geworden. Die 50 Kilometer von Rodgau sind zur bundesweit bekannten Institution geworden. Der Verein selbst unterhält, was ich mir vor Jahrzehnten noch nicht vorstellen konnte, ein laufspezifisches Vereinsleben.

Eintragung vom 26. Januar 16

Die Zahl der Marathonläufer, die sich vor Jahren schon zur Verwunderung vieler abgeschwächt hat, ist nicht mehr wieder gestiegen. Marathons, die sich einst beträchtlicher Beliebtheit erfreuten, dümpeln vor sich hin. Ist Laufen also doch nur eine Zeiterscheinung, eine Modesportart gar? Unsinn. Es gibt Einsichten und Erkenntnisse, die zur Änderung unserer Lebensweise führen. Laufen zählt dazu.

Doch es gibt Mißverständisse. Eines davon beruht darauf, daß Funktionäre, die gewissermaßen von Berufs wegen über den Sport nachdenken, zwar über den Sport, aber zu wenig über die Sporttreibenden nachgedacht haben. Wir, die wir erst im Erwachsenenalter zum Sport gefunden haben, fügten uns in die Strukturen des Sports ein, aber sie entsprachen nur zu einem Teil unseren wirklichen Bedürfnissen. Gewiß, viele von uns – aber nicht alle – wollen wissen, wie schnell wir laufen können. Manche wollen es ein Leben lang wissen, mindestens in jeder Altersklasse neu. Wenn man läuft, sagten wir uns, muß man auch einmal Marathon gelaufen sein. Die Neugier hat uns zu immer weiteren Marathons, tunlichst in aller Welt, getrieben. Doch der Marathon ist kein Selbstzweck.

Wir laufen einmal oder auch eine Zeit lang Marathon, weil wir wissen wollen, wie schnell wir Marathon laufen können. Wir vergleichen uns mit Altersgenossen, manchmal auch bestimmten Altersgenossen (bei dem Trainer Greif ist es Holger). Vor allem aber laufen wir gegen uns selbst. Wir wollen unsere persönliche Bestzeit erreichen. Dann versuchen wir vielleicht, sie wieder zu laufen oder zu übertreffen. Mit fortschreitendem Alter möchten wir vielleicht erfahren, wie lange wir hinter unserer persönlichen Bestzeit zurückgeblieben sind. Doch trägt dieser Ehrgeiz ein Leben lang? Ich denke, es gibt eine ganze Anzahl von Läufern, denen die gelaufene Zeit nicht oder nicht mehr so wichtig ist. Maßgebend sind andere Aspekte: das soziale Erlebnis eines City-Marathons zum Beispiel, die Landschaft eines Landschaftslaufes, die Art der Herausforderung, das touristische Ambiente.

Vielleicht kommt auch der Tag, an dem wir uns fragen: Muß es denn wieder ein Marathon sein? Eben. So wanderten Läufer zum Triathlon ab. Immer mehr Läufer haben andere Strecken entdeckt, den Ultramarathon, den Berglauf, das Traillaufen, die extreme Distanz. Die Zeit oder die Placierung spielt jeweils nur eine untergeordnete Rolle. Wir suchen die Herausforderung der Distanz oder das Erlebnis der Strecke; wir suchen vielleicht auch Läufer, die ebenso denken und empfinden wie wir. Daraus erklärt sich vielleicht auch das kontinuierliche Mitgliederwachstum der DUV.

Für all die Veränderungen gibt es Symptome. Die 10-Kilometer-Runde in Rodenbach war notwendig; sie hat ihren Zweck erfüllt – vorbei. Veranstalter von Marathonläufen stückeln einige Kilometer an und machen sie zu Ultramarathons. Deutsche Veranstaltungskalender enthalten nicht mehr nur 100-Kilometer-Runden, sondern auch Wettbewerbe über 100 Meilen. Was in früheren Generationen die Tageswanderung war, ist heute der Landschaftslauf. Bergläufe sollten den Reiz des Abenteuers versprechen. Neue Laufkurse werden als Hindernisläufe konzipiert. In welcher Zeit man die Hindernisse bewältigt, bleibt völlig sekundär. Wichtig ist, daß man einander beim Überwinden hilft. Das soziale Moment hat außer dem Abenteuer den Vorrang.

Das alles hat unseren Bedürfnissen entsprochen; wir wußten es nur noch nicht. Die vordergründigen Zwecke, das Messen der Schnelligkeitsleistung und die Placierung, hatten sich dazwischen geschoben. Wir mußten erst einmal Marathon laufen, und dies womöglich in persönlicher Bestzeit. Vielleicht hat es Jahre gedauert, bis wir uns von dem Korsett herkömmlicher Laufleistung befreit haben. Jetzt haben wir uns befreit; wir sind dem Marathon davon gelaufen. Man muß uns schon das Besondere bieten, wenn wir Marathon laufen, die schiere Größe etwa, die Qualität der Organisation, die geographische Nähe.

Wir sollten daher nicht traurig sein und uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, weshalb die Marathon-Teilnahmen zurückgegangen sind. Laufen hat so viele Facetten. Seien wir froh, daß immer mehr Menschen dies entdeckt haben!

Eintragung vom 19. Januar 16

Immer wieder einmal werde ich gefragt, wann ich mit dem Laufen begonnen habe. Mit meiner Antwort „Im 40. Lebensjahr…“ ernte ich fast immer Erstaunen, wiewohl es sowohl in der Anfangsphase als auch in späteren Entwicklungsphasen eine Anzahl Läufer gegeben hat, die erst mit der Verrentung zum Laufen gefunden haben. Obwohl ich keinen Sport getrieben habe, ja, ihm aus dem Weg gegangen bin, bin ich nicht untrainiert gewesen.

Mein Training begann in frühem Kindesalter. Man nannte es nur nicht Training. Es war die Zeit, in der man sich, soweit möglich, zu Fuß fortbewegte. In meiner Heimatstadt, damals etwa 90.000 Einwohner, verkehrten zwar mehrere Straßenbahnlinien, aber wir benützten sie aus Ersparnisgründen nicht. Ich habe übrigens später einen guten Bekannten in Berlin gehabt, der dieselbe Erfahrung gehabt hat – nur auf höherem Niveau; die Familie wollte auf einen Autokauf sparen.

Unsere wöchentlichen Ausflüge waren daher länger als die anderer Familien, weil wir ja immer einen Weg durch die Stadt anhängen mußten. Fast jede Woche einmal legte ich also als Kind eine gehörige Entfernung zurück. Pausen wurden im Grünen gemacht, denn Einkehren kostete Geld. Zu den Schulen war ich sechsmal in der Woche jeweils 10 bis 20 Minuten hin und zurück unterwegs; dazu kamen dann noch der Weg in die Stadtbücherei und zum Werkunterricht sowie zweimal der zwar verhaßte, aber auf Bewegung angelegte „Dienst“ in der Jugendorganisation. Versteht sich, daß ich immer wieder einmal zum Einkaufen geschickt wurde. Das waren zwar keine großen Distanzen, aber es summierte sich. In der warmen Jahreszeit suchten wir regelmäßig den Kleingarten auf. Der Weg hin und zurück nahm etwa eine Stunde in Anspruch. Knapp zwei Jahre meines Lebens verbrachte ich in fast täglicher strapaziöser Bewegung – Ausbildung und Rückmärsche.

Von 1947 an stand mir ein Fahrrad zur Verfügung. Wenn man so will, war ich ein individueller Pionier des Radtourismus. Ich durchquerte die DDR, fuhr über den Rennsteig und an die Ostsee, später dann in die Schweiz und in die Pfalz. Gewiß, 1960 kaufte ich uns ein Auto. Doch das setzte auch Impulse für Wanderungen und für Urlaubsfahrten mit ausgedehnten Wanderungen, Bergsteigen und jährlichem Ski-Urlaub, der schließlich allein aus dem Ski-Langlauf bestand.

1966 begann ein neuer Lebensabschnitt, nämlich das Lauftraining und die regelmäßige Teilnahme an Wettbewerben. Heute schleiche ich zwar dahin, und die Trainingsstrecken haben sich erheblich verkürzt. Aber noch immer ist es ein regelmäßiges Training. Und mit den meisten meiner Altersgenossen, so sie noch am Leben sind, kann ich wohl mithalten.

Weshalb erzähle ich das? Ich will zeigen, daß die Generationen bis zur Motorisierung – in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren – mit wenigen Ausnahmen zumindest in Kindheit und Jugend ihr tägliches Gehtraining hatten. Das haben wir verloren. Zwar haben wir den Sport, mit dem wir den Bewegungsmangel kompensieren können, und sicher ist die Zahl der Sporttreibenden heute um ein Vielfaches größer als in meiner Jugend; aber ein, zwei Stunden Sport in der Woche vermögen den Bewegungsmangel nicht auszugleichen. Bei Läufern sieht es besser aus; doch nicht alle erfüllen die Bedingungen ausreichenden Gesundheitssports.

Bei Kindern und Jugendlichen, den allermeisten, entstehen unweigerlich Bewegungsdefizite. Die negativen Folgen werden verstärkt durch fehlerhafte Ernährung. Wenn wir möchten, daß eine gesunde Jugend heranwächst, müssen wir an beidem ansetzen. Wer wäre berufener, zu Bewegung im Alltag aufzurufen, als Läufer? Wo sich die Gelegenheit bietet, sollten wir den Kindern und Jugendlichen in unserem Umfeld Anregungen geben. Wir müssen die verlorene Bewegung im Alltag zurückzugewinnen versuchen.

Eintragung vom 12. Januar 16

Da ist ein Widerspruch: Angeblich wachsen Sporttalente in der Jugend, wenn nicht schon in der Kindheit. In manchen Sportarten kann man nicht früh genug anfangen. Ob das gut ist, ist eine andere Frage. Aber wie ist das beim Laufen? Gewiß, wer mit 18 Jahren Marathon läuft, hat im Ausdauersport große Chancen. Doch es gibt keine Regel, daß man tunlichst als Zwölf- oder gar Zehnjähriger lange Strecken laufen müsse, wenn man es im Marathon oder Ultramarathon zu etwas bringen wolle. Im Gegenteil, der Motivation im Erwachsenenalter ist das wahrscheinlich nicht förderlich.

Wer sich unter ambitionierten Läufern, insbesondere auch tüchtigen Altersläufern umhört, erlebt mit Sicherheit Überraschungen. Immer wieder einmal bin ich von Außenstehenden, insbesondere nach einer bemerkenswerten Leistung, gefragt worden, ich sei ja sicher in der Jugend schon ein guter Sportler gewesen. Nein, war ich nicht, sondern das Gegenteil.

Meine Sporterziehung war geradezu darauf angelegt, Sport abzulehnen. Noch deutlicher: Ich haßte den Sport, Turnen, Leibesübungen oder wie immer körperliches Training gerade genannt wurde. In diesem Tagebuch habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, meine Distanz zum Fußball sichtbar zu machen. Die Ursache ist vielleicht sogar einzusehen: Wenn der Vater Schiedsrichter ist und am Sonntag das Familienleben oftmals der Passion unterordnete, weckt man damit bei einem Drei- oder Vierjährigen nicht gerade Interesse. Die Schule machte nichts besser.

Abgesehen von einem Turnlehrer, der Übungen im kleinen Dienstanzug mit Krawatte vorturnte und damit eher Anlaß zur Komik bot, waren die Leibesübungen in der Halle gewöhnlich eine einzige Quälerei. Irgendwie mußten wir uns um Reckstangen winden, uns an Barren strapazieren oder irgendwie durch die Lüfte schwingen. Daneben stand der Lehrer mit dem Notizbuch und trug Noten ein. Das spielte für mich überhaupt keine Rolle; mir ging es darum, meine Angst zu überwinden. Ich hing an der Reckstange wie der buchstäblich nasse Sack. Es gab Klassen, in denen der Sportpädagoge oder die Sportpädagogin die Unglücklichen auch noch mit bissigen Kommentaren verhöhnte. Insofern hatte ich Glück, der „nasse Sack“ wurde toleriert. Helfer bemühten sich schweigend, mich durch den Bewegungsablauf einer Welle zu heben, zu drücken, zu ziehen.

Eine solche „Flasche“ oder „Pfeife“, die vor jeder Turnstunde in der Halle innerlich zitterte, hat als Erwachsener zum Marathon gefunden, bewältigte Dutzende Male einen Ultramarathon und nahm es zwischen Athen und Sparta mit dem Athener Kriegsboten auf? Kaum glaubhaft.

Eine groteske Ausnahme? Eben nicht. Was mich unter ambitionierten Läufern am meisten überraschte, war, daß ich nicht der einzige „nasse Sack“ war. Ich bin immer wieder Läufern begegnet, die im Gespräch zugaben, in der Schule völlige Sportversager gewesen zu sein. Ihre Zahl ist so groß, daß ich mir die Namen nicht gemerkt habe – außer dem von Ingo Schulze, dem wahrscheinlich profiliertesten Ultralaufveranstalter, von dem jedermann annimmt, er habe sein Engagement mit der Muttermilch eingesogen.

Ich habe mich dermaßen daran gewöhnt, unter Leistungsläufern Menschen zu begegnen, die im Turn- und Sportunterricht als völlige Versager gegolten hatten, daß ich bisher niemals auf die Idee gekommen bin, dies zu diskutieren. Ganz sicher wird dies auch in der Sportpädagogik nicht diskutiert, müßte man dann doch zugeben, daß der schulische Unterricht in Leibesübungen ein pädagogischer Bankrott gewesen ist. Der „nasse Sack“ am Reck verkörperte ja wohl ein „Mangelhaft“ der Sportpädagogik. Ob die Sporterziehung heute eine Erziehung zum Sport, zum lebenslangen Sport, ist? Ich fürchte, die Leistungsmessung durch Benotung ist auf diesem Wege ein Hindernis.

Wie werden aus Sportversagern engagierte Läufer? Ich habe keine Erklärung. Eine Trotzreaktion auf das Versagen in Kindheit und Jugend ist der Marathon offensichtlich nicht. Eher eine Entdeckung. Wir Sportversager haben in fortgeschrittenem Lebensalter entdeckt, daß Bewegungstraining Freude machen und eine bezifferte Ausdauerleistung Befriedigung verschaffen kann. Niemand hat uns davon zu überzeugen versucht. Wir selbst waren die Entdecker.

Eintragung vom  5. Januar 2016

Ein Tagebuch entströmt nicht immer und nicht Zeile für Zeile den eigenen Gehirnwindungen. Da fließen Anregungen ein, aber auch schon mal ein ganzer Brief, und der wiederum beruht vielleicht auf einer Anregung. So im vorliegenden Fall. Wenn der Brief von einem Mediziner kommt, der sich wiederum auf eine Studie beruft, hält man sich am besten an die Originaltexte, wenn man nicht die Entstehung von Unfug riskieren will. Ehe man mir ein Plagiat vorwirft, will ich also betonen, daß diese Eintragung zwar eigenhändig von mir getippt, aber fast vollständig abgeschrieben ist. Von mir sind lediglich kommentierende Anmerkungen. Aus ihnen geht hoffentlich hervor, weshalb ich den Text weiter verbreite.

Vor Wochen schon erreichte mich diese e-mail: „Da der Schmerzmittelgebrauch bei Läufern bekanntlich weit verbreitet ist und viele ältere Läufer mit Arthrosen zu tun haben, könnte mal wieder eine Impfung über Dein Medium nützlich sein. Menschen über 70 Jahre haben angeblich zu 90 Prozent Arthrose, aber nicht alle sind behandlungsbedürftig. Weiß ich bei bald 77 Jahren selber. Nur, nehme ich was oder nicht, ist oft eine Frage, die zu der Nieren Ungunst entschieden wird. Dieses Jahr (2015) habe ich noch keine einzige Ibu (Ibuprofen) genommen und ignoriere die leichten Knieschmerzen. Wer kennt aber nicht irgend einen Bekannten, der vor dem Marathonstart vorsorglich was einwirft, obwohl er möglicherweise nichts bräuchte, was ja auch in Studien aufgetaucht ist. So mancher Läufer in fortgeschrittenem Alter hat ja auch noch einige behandlungsbedürftige Erkrankungen wie zum Beispiel Bluthochdruck, und wenn zu den Medikamenten auch noch Flüssigkeits- und Elektrolytdefizite kommen, sind die Auswirkungen der NSAR (Nichtsteroidale Antirheumatika) auf die Nieren sicher noch gravierender.“

Zu Arthrosen: Ich bin meine ersten Marathons zu einer Zeit gelaufen, als wir Läufer noch Paradiesvögel waren. Mein damaliger Chef vom Dienst, medizinisch interessiert und mit einer Medizinerin verheiratet, stellte mich bei irgend einer Gelegenheit seiner Fachärztin vor (wer Marathon lief, war schon etwas Besonderes). Die Ärztin erkundigte sich freundlich nach meinen Aktivitäten und schloß mit den Worten: „Da werden Sie dann halt im Alter eine Arthrose bekommen.“ Das war der damalige (auch noch verkürzt dargestellte) Stand der Medizin, das war der damalige Hochmut der Medizin. Obwohl ich Ultraläufer war, ist bei mir niemals eine Arthrose diagnostiziert worden. Medikamente wie Ibuprofen und Diclofenac lernte ich durch einen laufenden Arzt kennen, der sie mir vor einem Wettbewerb „zur Vorbeugung“ verschrieb. Nachdem ich mich informiert hatte, ließ ich sie schleunigst weg.

Nun also zur Problematik der nichtsteroidalen Antirheumatika: Bei bestimmten Risikopatienten (u. a. älteren Menschen, Patienten mit Nierenvorschädigungen oder Diabetikern) kann der unbedachte, dauerhafte Einsatz von freiverkäuflichen nichtsteroidalen Antirheumatika die Nieren schädigen. Nephrologen raten zum vorsichtigen Einsatz. Schmerzmittel stehen heute in Deutschland mit ca. 960 Millionen Euro auf Platz zwei der umatzstärksten Indikationsbereiche der Selbstmedikation (Bericht des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller BAH e. V. 2013, Bonn). Dabei handelt es sich in erster Linie um freikäufliche Schmerz- und Fiebermittel, die nichtsteroidalen Antirheumatika – NSA (R). Dazu zählen beispielsweise Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Diclofenac.

In den Verruf geraten sind NSAR in den 1970er Jahren, als das NSAR Phenatecyn vom Markt genommen werden mußte, da es nach Langzeitgebrauch zum Krankheitsbild der Analgetika-Niere führte, oft mit der Folge der Dialysepflichtigkeit. Danach kam es zum massiven Rückgang der Inzidenz dieses Nierenschadens, so daß manche Fachleute das Problem als gelöst betrachteten.

Seit Jahren wird jedoch das akut und chronisch nephrotoxische Potenzial der verbliebenen NSAR untersucht, beschrieben und diskutiert, und es zeigt sich zunehmend, daß NSAR keinesfalls als unproblematisch für die Nieren gelten können. Auch wenn das typische histopathologische Bild, wie es früher bei der Phenatecin-Niere gesehen wurde, aus dem Biopsiegut der Pathologen verschwunden ist, so sehen sich Nephrologen regelmäßig mit Patienten mit NSAR-geschädigten Nieren konfrontiert. Es handelt sich dabei jedoch um ein viel komplexeres Krankheitsbild als die ehemalige reine Phenatecin-Niere; daher spricht man auch oftmals vom Analgetika-Syndrom, da die Nierenschädigung im Rahmen anderer Komorbitäten auftritt. So lassen sich inzwischen Risikofaktoren nennen, die das Risiko eines renalen Analgetika-Schadens deutlich erhöhen.

Dazu gehören vorbestehende Nierenerkrankungen oder eine (unbekannte) Nierenfunktionseinschränkung, wie sie auch physiologicherweise bei älteren Menschen auftritt. Menschen mit Erkrankungen, die ihrerseits mit einem erhöhten renalen Risiko einhergehen (wie Diabetes mellitus, Hypertonie, Gefäßerkrankungen oder Herzinsuffizienz), und Patienten mit der Notwendigkeit einer jahrelangen oder hoch dosierten NSAR-Therapie gehören ebenfalls zum gefährdeten Personenkreis (laut der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie weist ein Viertel der Deutschen Einschränkungen durch muskuloskelettale Erkrankungen auf, davon 10 Millionen behandlungsbedürftig).

Auch Dehydrationszustände (Fieber, Diarrhoe, heißes Wetter machen die Nieren anfälliger, da sie dann höheren Analgetikakonzentrationen ausgesetzt sind. Darüber hinaus sind Analgetika-Kombinationspräparate problematisch (höheres renales Risiko als bei Monopräparaten) und nicht selten auch die Arzneimittelkombinationen, die insbesondere bei Multimorbidität zum Einsatz kommen (müssen). So steigt das Risiko für renale Analgetikaschäden bei gleichzeitiger Verabreichung von drei oder mehr Antihypertensiva nachweislich an.

An dieser Stelle wären, so meinen mein medizinischer Korrespondenzpartner und ich, die Marathonläufer einzufügen, deren Zahl relativ gering ist, so daß sie in der Statistik der Arzneimittel-Hersteller nicht vorkommen.

Auswege aus dem Dilemma sind nicht immer einfach, da chronische Erkrankungen wie Hypertonie oder rheumatische Leiden nicht unbehandelt bleiben können und dürfen.

Folgende Maßnahmen empfiehlt die Nephrologie dennoch für alle Patienten: 1. Alternativen prüfen! Ist die regelmäßige NSAR-Einnahme wirklich notwendig oder können andere Schmerztherapien in Frage kommen (andere Substanzen, Akkupunktur, TENS/transkutane elektrische Nervenstimulation, physiotherapeutische Maßnahmen)?

2. Viel trinken! Grundsätzlich soll auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr geachtet werden (1,5 l am Tag), damit die Analgetikakonzentration, die die Nieren durchströmt, gering gehalten wird; bei verschiedenen Begleitumständen (wie fortgeschrittene Niereninsuffizienz und Herzinsuffizienz) muß jedoch gegebenenfalls eine therapeutische Flüssigkeitsrestriktion erfolgen; dann sollte die Trinkmenge individuell vom Nephrologen festgelegt werden.

3. Besser Gels und Cremes statt Tabletten! Bei vielen Patienten kann die lokale Applikation von NSAR als Cremes, Gel oder Spray über die Kühlwirkung hinaus eine wirksame Alternative darstellen, die nicht vergessen werden sollte. Zwar werden auch bei topischer NSAR-Anwendung meßbare Substanzspiegel im Blutplasma erreicht, aber sie liegen 50- bis 100fach unter denen bei systematischer Gabe. Die Konzentrationen, die im Gelenk, beziehungsweise im umgebenden Gewebe (Synovialflüssigkeit) erreicht werden, können bei geeigneten Präparaten sehr wirksam sein.

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