Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 29. Dezember 06

In den letzten Jahren habe ich jeweils Ende Dezember eine Art persönlichen Rundbrief über das zurückliegende Laufjahr versandt oder in diesem Tagebuch verbreitet. Das Thema des Jahres 2006 ist für mich diesmal nicht das Laufen, sondern das traumatische Ereignis einer Herzoperation. Robert Gernhardt, der in diesem Jahr an Krebs verstorbene Satiriker, hatte sich vor etwa zehn Jahren einer Bypaß-Operation unterziehen müssen. Seine Empfindungen und Beobachtungen hat er – vor- und nachoperativ – in freien Gedichten artikuliert; das Bändchen habe ich mir vor kurzem zur Erheiterung zu Gemüte geführt („Herz in Not“).

Mich hat dasselbe Bedürfnis getrieben, nämlich das Trauma mit meinen Mitteln zu verarbeiten. Noch oder wieder im Krankenhaus – denn der postoperative Streß, der sich offenbar auf den Magen geschlagen hatte, forderte wenige Tage nach der Entlassung die neuerliche Krankenhauseinweisung – versuchte ich, mir Rechenschaft darüber abzulegen, was sich mit mir ereignet hatte. Interessiert das jemanden? Wo kämen wir hin, wenn Autoren anfingen, ihre Krankheitsgeschichten aufzublättern! Wer dies einwendet, hat ja recht. Dennoch, es wäre wohl falsch, nur eine heile Welt des Laufens zu spiegeln und die Achillessehnenentzündung hier, die Kniebeschwerden dort als Betriebsunfälle abzutun oder als Stichworte für einen kompetenten Leserservice zu betrachten. Ich denke, es lassen sich Erkenntnisse abstrahieren.

Die wichtigste: Die Behauptung, Laufen schützt vor Herz-Kreislauferkrankungen, hat zwar einen wahren Kern, ist aber keine absolute Wahrheit. Die gibt es ohnehin nicht. Mancher wird sich verwundert die Augen reiben: Da läuft einer um den Erdball, vermutlich dreimal (ich kann nur schätzen), und muß sich schließlich einer Herzoperation unterziehen. Die damals inkompetenten Öffentlichkeitsarbeiter der Allgemeinen Ortskrankenkassen hätten 1992 („Laufen bis zum Umfallen?“ in „Bleib gesund“ 3/92) sofort eine Kausalität hergestellt. Dabei hat mir erst das Laufen, und zwar in der Grenzbelastung, zu einer noch frühzeitigen Diagnose verholfen. Das mögliche alternative Szenario: Eines Tages hätte mich vielleicht die „Schaufensterkrankheit“ ereilt, das Stehenbleiben aus Luftnot, und eines anderen, dann nicht so fernen Tages wäre ich mit einem irreversiblen Infarkt umgefallen, in Deutschland einer von 180000 im Jahr. Alle hätten mit dem Kopf genickt und in Anbetracht des mutmaßlich erreichten Alters mit einem geflügelten Wort der Schwaben kommentiert: „Da ist die Hebamme nicht mehr schuld.“ Oder: „Dank dem Laufen hat es ihn erst jetzt erwischt.“

Das Geschehen verlief ganz undramatisch: Bei einem Marathon im Frühjahr 2005 spürte ich ein – nennen wir es so – schweres Herz. Das wiederholte sich beim Magdeburg-Marathon am 23. Oktober 2005. Nicht beim Supermarathon des Rennsteiglaufs, wo ich die 72 Kilometer in knapp 12 Stunden zurücklegte, nicht beim 100-Kilometer-Lauf mit vielen Gehpassagen in 16:24 Stunden, auch nicht beim K 42 des Swiss Alpine, wo unsereiner die 1900 Höhenmeter und manche unebene Wegstrecke zügig gewandert und nicht gelaufen ist. In der Dauerbelastung bei relativ niedrigem VO2max hätte ich es wahrscheinlich noch das eine oder andere Jahr machen können. Und wenn mich zunehmende Luftnot angekommen wäre, hätte nicht nur ich gesagt: Na ja, wieder ein Jahr älter geworden. Leider gibt es ja noch immer keine in diesem Fall hilfreiche vergleichende Statistik, wer und in welcher Zeit in der M 80 noch marathon-aktiv ist; noch immer sind Statistiker auf absolute Zeiten fixiert. Das „schwere“ Herz beim Magdeburg-Marathon – das muß weit nach der Halbmarathonmarke gewesen sein – konnte man als Schmerz bezeichnen, nicht im mindesten beängstigend; als Symptom einer Angina pectoris dagegen werden unerträglicher Schmerz und Brustenge, Todesangst und Schweißausbruch beschrieben – nichts von alledem. Das Herz schmerzte wie jeder andere stark strapazierte Muskel; wenn man van Aaken gelesen hat, mißt man dem keine sonderliche Bedeutung bei. Wie beim Marathon im Frühjahr reduzierte ich meine ohnehin niedrige Durchschnittsgeschwindigkeit um wahrscheinlich nicht mehr als 15 Sekunden den Kilometer. Der Druckschmerz verschwand.

Wahrscheinlich wäre mir der Vorfall nicht einmal so konkret im Gedächtnis geblieben. Mein Marathon laufender Hausarzt erinnerte mich bei der jährlichen Vorsorgeuntersuchung, ich möge sicherheitshalber doch wieder eine kardiologische Kontrolluntersuchung vornehmen lassen. Denn seit etwa vier Jahren war an mir Vorhofflimmern beobachtet worden, die häufigste Rhythmusstörung; etwa 650000 Menschen sind in Deutschland davon betroffen, bei den über Fünfundsiebzigjährigen fast jeder Zehnte. Man kann damit alt werden. Der (Marathon laufende) Internist, der es an mir diagnostizierte, hat es nun selbst auch. Ich selbst hatte von dieser Störung nichts bemerkt. Die Folgen des Vorhofflimmerns sind eine erhöhte Herzschlagfrequenz und eine Verkürzung der Füllungsphase, so daß die Blutmenge nicht vollständig umgewälzt wird und sich in einem diagnostisch nicht erfaßbaren Teil ein Blutgerinnsel bilden kann; erreicht der Thrombus das Gehirn, kommt es zum Schlaganfall. Weshalb denn wir Flimmerer ein Mittel zur Blutverdünnung nehmen müssen.

Der Kardiologe, den ich Mitte Januar zur Kontrolle aufsuchte, war mit meinem Belastungs-EKG nicht zufrieden. Man müsse nachsehen – das bedeutete eine Herzkatheter-Untersuchung. Schon das flößte mir Angst ein, doch es war halb so schlimm. Anders hingegen die Folgen. Die Herzkranzgefäße zeigten sich zwar auf dem Monitor – als Patient kann man den gespeicherten Film nachher sehen – durchaus in schöner Verästelung; aber in eine Hauptschlagader ragte ein Unheil dräuender Sporn. Etwa 70 Prozent des Blutstroms passieren diese Stelle, sagte mir der Professor. Und zu etwa 50 Prozent war sie zugesetzt. So etwas muß man operieren, bestätigten zwei weitere Ärzte, jedenfalls dann, wenn man nicht wegen anderer Krankheiten davon absehen muß. Einen knapp Achtzigjährigen zu operieren, deutete in diesem Fall auf eine günstige Prognose hin.

Am ersten Donnerstag im Februar brachte mich Claudius ins Herzklinikum. Doch am Abend war ich wieder daheim. Man brauchte den Freitag für Notoperationen (eine kam ohnehin zu spät, was ich glücklicherweise erst später erfuhr). Eine Gnadenfrist bis zum Sonntag. Abschied von Marianne. Der Trost war hilfreich, der Optimismus allerdings vorgetäuscht: „Wir schaffen das schon!“ Ausgerechnet ich als Spätaufsteher kam am Montag um 8 Uhr früh als erster in den Operationssaal. Heute kann ich scherzen: Man brauchte mich, mit erwartungsgemäß nur zwei Bypässen, zum Aufwärmen. Keine durchzitterte Nacht, man hatte mich gehörig unter Drogen gesetzt. Das letzte Gesicht, das ich wahrnahm, war das einer Ärztin, die noch etwas verloren herumstand: „Ich bin Ihre Anästhesistin.“ Ich nickte, dann war es mit meiner Autonomie für lange Zeit vorbei.

Alles andere sind Bruchstücke der Erinnerung, quälende Fragmente, die Fakten hat Marianne im Tagebuch. Drei Stunden soll die Operation gedauert haben. Habe ich wahrgenommen, daß ich von der Intensivstation in das Stationskrankenzimmer geschoben wurde und von dort, weil offenbar notwendig, wieder in die Überwachungsstation? Marianne hat etwa drei Dutzend Schläuche und Drähte gezählt, die meinen Körper mit der Überwachungs- und Versorgungstechnik verbanden. Aus meinem Bauch ragten zwei Drähte – für den Fall, daß mein Herz den Takt nicht fände. Das Abtauchen in den kleinen Tod, den künstlichen Herzstillstand, war subjektiv einfach im Gegensatz zur allmählichen Rückkehr ins Leben. Nicht daß ich an Schmerzen gelitten hätte; ich war offenbar vollgepumpt mit Medikamenten. Leider nicht genug, als daß ich die Trostlosigkeit nicht hätte wahrnehmen können, vor allem in den Nächten. Wir lagen in einer Reihe, jedoch durch einen Paravent voneinander getrennt, auf dem Rücken, ein Viertel aufgerichtet, bewegungsunfähig, zum Wachen verdammt, und konnten nur Geräusche wahrnehmen, die Leidensäußerungen der anonymen Mitpatienten, die trostheischenden. Rufe von rechts: „Schwestärrr!“, und wenn sie nach langem Rufen kam, fragte sie streng „Wissen Sie denn, wo Sie sind?“ Und da es der Armselige nicht wußte, sagte sie es ihm und fügte hinzu, es sei 3 Uhr nachts. Offenbar gehörte auch diese Intervention zur hohen Professionalität des Personals. Der Akademiker zur anderen Seite tadelte „Armes Deutschland“, weil es aus gutem Grund keine Klingel gab, sonst hätte wahrscheinlich in der Station ein Höllenbetrieb geherrscht. Halbstündig sprang ein Motor an, dann blähte sich die Manschette am Oberarm zur Blutdruckmessung. Der Monitor weiß besser als der Patient, wann Gefahr im Verzug ist. Am dritten Tag dirigierte ich im Wahn offenbar eine Symphonie, bis ich ruhiggestellt wurde, noch ruhiger gestellt, damit ich mir nicht einen der Schläuche an Bauch, Handrücken und Halsschlagadern abriß. Als mich Marianne zum zweitenmal besuchte, schlief ich nach jedem Satz ein, ich war unendlich müde. In dem Klimatisierungskasten an der Decke gurgelte Wasser. Beim Blick auf den Klimakasten kam mir die Idee zu einem Film; auf den künstlichen Horizont müßten sich Filmszenen eines Lebenslaufs projizieren lassen. Wo ist der Regisseur, der Wahnwelten und zugleich die Realität ihres Ursprungs darstellen kann?

Doch aus der Wahnwelt kehrte ich am zehnten Tag in die reale Welt zurück, wenn auch zunächst in die eines Kreiskrankenhauses am Wohnort. Durch einen Sprung wie ein Fisch im Trockenen wechselte ich vom Bett auf die Trage, genoß die Minuten in kalter, frischer Winterluft und wurde in einem miserabel gefederten Krankenwagen durch die Schlaglöcher einer ihren Aufgaben nicht nachkommenden, also doch wohl verkommenen Stadt transportiert. Aufnahmestation in der Inneren, erste Frage: wo versichert? AOK – Anweisung an die beiden Sanitäter: Da stünden die Betten. Sie wählten eines mit einem Galgen. Genau das hätten sie nicht tun dürfen. Ich hielt mich später verbotenerweise an dem Galgen fest, glücklicherweise ohne die Folgen einer inneren Blutung. Zehn Tage voller Optimismus, jeder Tag ein Fortschritt, bis mich Claudius nach Hause abholte.

Was nach der Wiedereinweisung folgte, ist ein neues Kapitel, das schlimmste, voller Leiden, voller Verzweiflung. Ich habe mich im Fragebogen positiv über das Kreiskrankenhaus geäußert, mein Stationsarzt und ich haben uns beim Abschied umarmt. Später habe ich mich gefragt: Brauchte man wirklich vier Wochen, um mich nach allen Richtungen durchzuchecken, und vor allem, brauchte man wirklich so lange, um mich bis zur neuerlichen Infusion von meinen bis dahin nie gekannten, unaufhörlichen Magenschmerzen zu erlösen? Ich hatte den Eindruck, erst nachdem ich um Mitternacht im Korridor gestanden war, abermals um Hilfe gefleht und mich dabei urplötzlich ein Brechreiz überfallen hatte, was von der Nachtschwester protokolliert werden mußte, Aktivität angeschoben zu haben.

Keine Emotion mehr, Rückkehr zur Rationalität: Welche Erkenntnisse lassen sich gewinnen? Mit Herzbeschwerden in den Tag zu laufen, kann lebensgefährlich sein. Alte Regel (Max-Otto Bruker): Schmerzhafte Erkrankungen sind nicht wirklich lebensgefährlich, lebensgefährliche Erkrankungen sind nicht schmerzhaft. Laufen verführt zur Dissimulation; man will eine Beeinträchtigung, wenn sie nicht wie eine orthopädische Beschädigung wehtut, nicht wahrhaben. James Fixx, der Verfasser des „Kompletten Buches vom Laufen“, hat dies mit dem Leben bezahlt. Laufen sah er entgegen ärztlicher Warnung als hinreichenden Schutz gegen seine Risikofaktoren an. Grenzbelastungen, häufig als Risiko diskreditiert, können sich medizinisch lohnen, dann nämlich, wenn sie ans Tageslicht bringen, was im Alltag zumal von Bewegungsarmen lange Zeit verborgen bliebe. Die Frage freilich, wie man trotz Bewegungstraining und entwickeltem Ernährungsbewußtsein zu einer solchen arteriosklerotischen Veränderung kommt, muß offen bleiben. Vielleicht braucht man noch mehr Fälle wie meinen.

Ein Phänomen ist mir aufgefallen: Vor etwas über 20 Jahren mußte ich wegen. Rhythmusstörungen einen Internisten konsultieren. Der übergewichtige Herr vernahm, daß ich außer Marathon auch 100 Kilometer liefe und auch 24-Stunden-Läufe absolviert hätte. Seine Mißbilligung war so groß, daß er in dem Bericht an meinen damaligen (ebenfalls und zwar angestrengt laufenden) Hausarzt die Fakten zusammenzog: Ich würde sogar – und sein Stirnrunzeln und seine moralische Verurteilung traten deutlich aus den Zeilen hervor – 100 Kilometer in 24 Stunden laufen (tatsächlich legte ich damals die 100 Kilometer in 11 Stunden zurück). Ob der Dicke noch lebt und dies lesen kann? Wie anders das Bild im Jahr 2006: Außer dem Marathon laufenden Hausarzt ein Kardiologe, der zwar nicht selbst läuft, sich aber – die ärztliche Schweigepflicht blieb gewahrt – lobend über einen fleißigen Läufer unter seinen Patienten (das war ich) äußerte. Von dem Professor, der den Herzkatheter legte, erfuhr ich in den ersten fünf Minuten dessen ansehnliche Halbmarathonzeit. Einen der Professoren im Herzklinikum hatte ich im Jahr 2005 beim Jubiläum einer Herzsportgruppe vortragen gehört. Ich hatte in meiner Bypaß-Karriere das Gefühl, ich genösse, obwohl ordinärer Kassenpatient, im Umgang einen höheren Status denn ein Privatpatient. Es muß eine geheime Solidarität geben.

Im April schrieb ich: Vor mir steht ein Experiment. Wird es möglich sein, in fortgeschrittenem Alter – „Greisenalter“ sagte man früher – den Anschluß an die alte Leistungsfähigkeit wiederherzustellen? Werde ich nach wochenlanger Zwangspause das Training von einem viertelstündigen Spaziergang vier Wochen nach der Operation wieder so weit steigern können, daß ich einen Marathon laufen kann? Arthur Lambert, der Nestor der Laufbewegung, begann nach einer Magenoperation im Alter von 90 Jahren wieder zu traben. Ist nicht das Leben selbst eine Kette von Experimenten? Wie sollte es beim Laufen anders sein!

Mehr kann ich auch heute, am Ende dieses traumatischen Jahres, nicht sagen.

Eintragung vom 19. Dezember 06

Letzten Freitag stellenweise erstmals Bodenfrost auf der Strecke. Manche hätten gewarnt sein können – am Montag morgen Glatteis-Unfälle auf den Straßen. Doch mehr als ein kalendarischer Winter ist noch nicht in Sicht. Ich erinnere mich an einen weißen Adventsmarathon in Bad Arolsen; ich meine, Dr. Wessinghage ist damals seinen ersten Marathon gelaufen. So vieles ist nur noch Erinnerung. Doch ich bin überzeugt, daß sich Erinnerungen an wenigem so gut festzurren lassen wie an solchen Wettkämpfen. Wir laufen nicht vergebens, sind nie vergebens gelaufen.

Marianne ist vom Weihnachtsmarkt gekommen. Was ihr auffiel: Was alles zu essen angeboten wird! Selbst am Nachmittag Schweinekrustenbraten (oder ist’s ein Krustenschweinebraten?) und Entenkeulen, von Crêpes und Süßigkeiten nicht zu reden. Und die Leute essen, als hätten sie den ganzen Tag Hunger gelitten. Wenn ich an meine Kindheit denke, da gab es auf dem Weihnachtsmarkt allenfalls Pulsnitzer Pfefferkuchen zu kauen. Anderes hätten wir uns ohnehin nicht leisten können. Das Heringsbrötchen blieb dem Jahrmarkt vorbehalten. In den fünfziger Jahren in Berlin, da hatte sich im Osten die Bockwurst auf dem Weihnachtsmarkt etabliert. Heute ist ein Weihnachtsmarktbesuch unweigerlich mit Essen und Trinken verbunden, und dies nicht zu knapp. Selbst Marianne, die zu einem Festtagsessen gerade mal ein Achtel Wein trinkt, hat zu einem Becher Glühwein gegriffen.

Wenn Läufer sich zu Weihnachtsläufen motivieren ließen, dann immer mit dem Hinweis auf das üppige Weihnachtsessen, gewöhnlich die Weihnachtsgans. Doch einmal über die Stränge schlagen – bei mir wird es ein Raclette-Essen am Heiligen Abend sein –, ist ja gar nicht das Problem. Das Problem ist, daß wir, jedenfalls die meisten von uns, ständig über die Stränge schlagen. Wer in alten Erinnerungen liest, etwa bei Peter Rosegger, erfährt, daß die Adventszeit eine dunkle Zeit war. Nach der dunklen Zeit brachte erst der Stern von Bethlehem Weihnachtsglanz. Heute allerorten wochenlang Weihnachtsbäume im Lichterglanz und Leuchtketten. Ebenso war die Adventszeit eine karge Zeit; erst mit dem Festmahl an den beiden Weihnachtsfeiertagen – der Heilige Abend wurde lukullisch eher sparsam begangen – wurde das Christfest aus der Alltagskost hervorgehoben. Wodurch unterscheidet sich heute das Weihnachtsessen von all der Schlemmerei und Nascherei vorher, die Weihnachtsgans von der Portion Schweinebraten an einem sonnigen Nachmittag auf dem Weihnachtsmarkt? Ich nehme mich, abgesehen vom Braten, gar nicht aus. Längst ist das Weihnachtsgebäck zum Adventsgebäck geworden. Man kann schließlich bei Kerzenlicht und Bach nicht unbeschäftigt sitzen. Die praktische Folgerung: Wer die lustvolle Nahrungszufuhr durch ein Extrapensum Laufen zu kompensieren meint, darf sich nicht auf Weihnachten beschränken.

In der Herzsportgruppe heute ist nach einer Viertelstunde Gymnastik Weihnachten gefeiert worden. In der Sporthalle steht ein Weihnachtsbaum. Überall, wo sich jetzt Menschen organisiert treffen, wird Weihnachten gefeiert. Von Hand zu Hand gingen die Teller mit Gebäck – Weißmehl und Zucker. Wir Herzpatienten werden zwar durch alle möglichen gymnastischen Verrenkungen trainiert, aber Modelle für eine vollwertige Ernährung, einschließlich vollwertiges Gebäck, gibt es auch für sie nicht. Freigebig schenkten die Kollegen Sekt und Punsch aus. Leben und vor allem Überleben will gefeiert sein, und würden auch unsere Vorhöfe wieder anfangen zu flimmern. Doch ich halte es zu Hause ja nicht anders. Vorsorglich hatte einer für jeden ein Liederbuch mitgebracht, in dem auch Weihnachtslieder stehen. An mangelnder Textkenntnis sollte der Gesang nicht scheitern. Dabei ist mir aufgefallen, daß die Texte der meisten Weihnachtslieder aus dem 19. Jahrhundert stammen. Der ganze deutsche Weihnachtskult entspringt überwiegend dem 19. Jahrhundert. Die Franzosen, so hatten wir schon im Französisch-Unterricht in den dreißiger Jahren vernommen, feierten außerhalb der Kirche Weihnachten kaum, und wenn, dann eher lustig. Auch im Krieg noch bildete ich mir auf „deutsche Weihnachten“ etwas ein, obwohl es da den geringsten Anlaß dafür gab. Wie sehr Weihnachten inzwischen säkularisiert ist, ist mir an einer beliebten Fernsehsendung aufgefallen: „Verstehen Sie Spaß?“ Da war Weihnachten nur noch das Stichwort für die Show und den Requisiten-Fundus.

Weihnachten – das ist heute einerseits, wenn es besonders stimmungsvoll ist, die sentimentale Erinnerung an den Kult des 19. Jahrhunderts, den bürgerlichen; denn auf der Straße stand – nach Andersens Bild von der Armut – das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Andererseits ist Weihnachten nur noch ein Spiel mit Symbolen und ein Wirtschaftsfaktor. Ich sage es ohne Bitterkeit und Trauer. Die Entchristianisierung hat ihren Preis. Im Grunde muß sich jeder selbst auf die Sinnsuche begeben, ob mit oder ohne Weihnachtslieder aus dem 19. Jahrhundert. Ehrlicher als das Klischee gemeinsamer Weihnachtsfeiern im Sportverein wäre vielleicht der gemeinsame Weihnachtslauf. Da kann jeder unverstellt seinen eigenen Gedanken nachhängen.

Eintragung vom 11. Dezember 06

Das wichtigste Ereignis der vorigen Woche war die Kontroll-Untersuchung. Dr. B. sagte mir, während er mir schon die Hand zur Verabschiedung entgegenstreckte: „Langer Rede kurzer Sinn: Ein gutes postoperatives Ergebnis.“ Darauf läßt sich nicht nur psychisch aufbauen. Die Ergometerleistung ist zwar nicht sonderlich erhebend, nämlich bei 150 Watt abgebrochen, aber da ich keine Zentnersäcke stemmen und kein Radrennen fahren will, bin ich zufrieden. Im April jedenfalls, als uns die Therapeuten in der Nachsorge mit 25 Watt belastet hatten, waren mir die 150 Watt noch als Fata morgana erschienen.

Wie wenig der Ergometertest für die Marathon-Eignung aussagt, ist mir klar geworden, als mir ein Bekannter ankündigte, auch er wolle einen Marathon laufen. Er ist beträchtlich übergewichtig und noch keine drei Schritte gelaufen. Ich kann mir noch nicht vorstellen, daß er es in zwei Jahren zum Marathon geschafft haben wird. Doch seine Ergometerleistung beträgt über 400 Watt. Was also helfen 400 Watt beim Marathon?

Was als Hürde vor mir liegt, ist nach der Aussage von Belastungs-EKG und Sonographie offenbar keine Frage der Leistungsfähigkeit des Herzen. Was dann? Muskuläre Ermüdung, mangelnde Sauerstoffversorgung? Mein längstes Laufintervall beträgt jetzt fünf Minuten. Als ich 1966 mit dem Laufen anfing, konnte ich beim ersten Test acht Minuten ununterbrochen laufen. Dieser Vergleich ist schon deprimierend. Es ist, als wären all die langen Läufe für die Katz’. Doch damals war ich vierzig Jahre jünger; heute müßte ich mich mit achtzigjährigen Lauf-Anfängern vergleichen – doch wo sind sie? Ich kenne keinen. So wie im Jahr 1966, als vornehmlich erst frühere Leichtathleten liefen und wir Volksläufer auf uns allein gestellt waren, muß ich mir auch jetzt die Spuren selber bahnen.

Ich habe den Eindruck, als ob an meiner Lauf- und Gehstrecke die vorweihnachtliche Illumination sparsamer ist als früher. Kann aber auch sein, daß mir nur das schöne Wetter diesen Eindruck vermittelt hat. Vielleicht haben die Leute die Lichterketten und Tannenbäume später eingeschaltet. Der Geographie-Dozent meiner Neulehrer-Ausbildung hat schon recht gehabt: Schnee taugt nur fürs Gemüt. Damals empfanden wir diese Äußerung als Gefühlsverarmung. Doch was ich an vorweihnachtlichen Gefühlen zu empfinden glaubte, war – fürchte ich – Sentimentalität. Sie ist sicher besser als gar kein Gefühl, verstellt jedoch Wahrheiten.

Im Fernsehen, das ich nach wie vor nur sparsam nutze, sehe ich gern Kabarett, nicht die albernen Comedians, sondern wirkliche Kabarettisten mit Wortwitz und zupackender Schärfe. Anerkennend muß ich sagen, daß da kein Blatt vor den Mund genommen wird. Das immer wieder totgesagte Kabarett ist so aggressiv wie noch nie, was auch damit zusammenhängt, daß in der Kaiserzeit Majestätsbeleidigungen geahndet wurden, in der Weimarer Zeit die Reichswehr juristisch kränkbar war und die Nazis mit dem KZ drohten. Werner Finck, von dem Dieter Hildebrand das Stottern gelernt hat, suchte schließlich die Sicherheit, indem er sich an die Front meldete. Heute haben die Gerichte anderes zu tun, als immer wieder das Gut der Meinungsfreiheit zu wägen. Vor Wochen habe ich zu Marianne gesagt, es sei wohl typisch, daß soziale Leistungen nach einem Kriminellen benannt worden seien. Ich habe mich nicht getraut, dies im Tagebuch niederzuschreiben, zumal da Hartz noch nicht verurteilt ist. Was habe ich im „Scheibenwischer“ vernommen? Genau diesen Satz. Keine Copyright-Verletzung, kein Plagiat – einfach ein Gedanke, der sich unterschiedlichen Menschen aufgedrängt hat. Erst am Kabarett erkennt man Reservate der Freiheit und sieht ein, daß es sich trotz allem lohnt, in Deutschland zu leben.

Der Respekt vor Regierenden jedoch ist nun vollends zum Teufel. Der Schutz der Atemluft vor Tabakqualm ist am Föderalismus gescheitert. Gesundheit ist also Ländersache. Da kann ich mir vorstellen, daß man hierzulande den badischen Tabakanbauern nicht wehtun wird. Mir stinkt die Eifersüchtelei der Länder beträchtlich. Ich halte das föderalistische Konzept der Väter des Grundgesetzes für einen Fehler und nur aus den Zeitumständen für erklärbar. Gescheiter wäre es gewesen, die Landesverteidigung zur Ländersache zu machen. Für die 68er-Generation war es doch äußerst praktisch, zum rechten Zeitpunkt nach Berlin zu gehen. Und potentiellen Gegnern fiele es schwer, Freund und Feind, zum Beispiel württembergische von hessischen Uniformen, zu unterscheiden.

 Ich lebe gern in Baden-Württemberg; doch die Gründe haben nichts mit seinen staatlichen und Verwaltungsorganen zu tun. Was will man von einem Land erwarten, das die Erhebung lokaler Folgelastenbeiträge zugelassen hat, eine Feuerwehrsteuer für männliche Einwohner sanktioniert hat – beides inzwischen stillschweigend zurückgenommen – , eine Zweitwohnungssteuer eingeführt hat, trotz der Mittelinstanz der Regierungspräsidien und den Landkreisverwaltungen den Gemeindebediensteten nicht auf die Finger schaut. In meinem Wohnort zum Beispiel ist zur Landesgartenschau, einer völlig überflüssigen Unternehmung, deren Defizite auf das Wetter geschoben werden, eine Plasticgruppe von riesigen Hasen aufgestellt worden, sie wird als Kunstwerk ausgegeben. Da sie in einem Landschaftsschutzgebiet aufgestellt ist, hat sich die Stadt vertraglich verpflichtet, sie innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Gartenschau zu versetzen. Die zwei Jahre sind herum, und die Verwaltung ziert sich. Da die Versetzung um einige hundert Meter 20000 Euro kostet, ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob der Naturschutz nicht nachsichtig sein solle. Als ob dies die Stadt bei Verträgen mit Privatpersonen jemals gewesen wäre! Der Kaufpreis der einzementierten Plastic-Hasen-Gruppe soll, so wird gemunkelt, 240000 Euro betragen haben. Andererseits werden die Bürger gebeten, Buchanschaffungen in der Stadtbücherei zu finanzieren, weil das Budget beschnitten worden ist. Ein Land, das solchen Widersinn zuläßt, die Gemeindeaufsicht also sträflich vernachlässigt, soll über ein elementares Rechtsgut, die Gesundheit seiner Bürger, den Nichtraucherschutz, befinden können? Übrigens – und da habe ich ja wohl den Bezug zum Sport wiederhergestellt – ist der Oberbürgermeister meines Wohnortes nach vorzeitiger Pensionierung jetzt Präsident des Württembergischen Fußball-Verbandes.

Eintragung vom 3. Dezember 06

Neulich bin ich wieder gefragt worden, ob ich im Winter pausiere. Ich hätte antworten können: Nur, wenn ich muß. Gemeint ist, ob ich eine Regenerationsphase einlege, umgangssprachlich: ob ich mit dem Training kürzer treten würde. Ich bin kein leistungssportlich orientierter Läufer gewesen, der sein Training darauf ausrichtet, möglichst punktgenau das Maximum an Leistung zu erbringen. Wenn man, wie ich seit Jahren, im Durchschnitt jeden Monat einen Marathon gelaufen ist, kann man das gar nicht. Das Laufen ist für mich immer primär persönliche Psychohygiene gewesen; im Wettkampf hatte sie sich zu bewähren – mehr nicht. Ich habe keinen Trainingsplan gehabt, geschweige denn, daß ich mich danach hätte richten wollen. Das schließt vorbereitende Läufe nicht aus. Bei der Vorbereitung auf den Spartathlon hatten Ultraläufe wie Rennsteiglauf und Biel und ein Berglauf wie der Swiss Alpine durchaus ihren wichtigen Platz. Im Winter habe ich sicher weniger Kilometer zurückgelegt als in anderen Jahreszeiten. Doch die Regenerationsphase, die ich durchaus für nützlich ansehe, habe ich nie geplant. Ich habe einfach Zwangspausen als Regenerationsphasen angesehen, eine Erkältung vielleicht, ein orthopädisches Problem. Da beides nicht gerade jährlich vorkam, spielte die Wetterlage die größere Rolle. Bei Dauerregen oder Eisglätte – auch sie ziemlich selten – ließ ich die Trainingsrunde ausfallen.

Umgekehrt bedeutet dies aber auch, daß ich Wetterlagen, wie wir sie in diesem November hatten, ausnütze. Ich halte es für das natürlichste zu laufen oder zu gehen, wenn die Natur dazu einlädt. Ich komme auf dieses Thema, weil die Nordic-Walking-Gruppe, zu der mich mein Kardiologe geschickt hatte, seit Oktober pausiert. Etliche Teilnehmer werden wahrscheinlich aufs Ergometertraining ausgewichen sein. Doch warum soll man auf natürliche Bewegung im Freien verzichten, nur weil der Kalender und die zeitige Dunkelheit dies nahegelegt haben! Warum sollen, wenn man schon bei der vereinbarten Uhrzeit bleiben will, Herzpatienten nicht auch mit der Taschenlampe walken? Ich glaube auch nicht, daß ein Herzpatient im Dunkeln, maximal 500 Meter vom Krankenhaus entfernt, verloren gehen könnte. Wiewohl die Geschichte im „Spiegel“ von jenem 62jährigen Jogger in Florida, der in der Mittagspause nur eben mal eine Runde drehen wollte, sich verirrte und erst nach vier Tagen 600 Meter von der nächsten Straße gefunden wurde, schon beeindruckend ist.

Dabei ist mir ein Bergerlebnis eingefallen: Ich war in den Hohen Tauern auf einen wenig begangenen Gipfel gestiegen; ich war auf der ganzen Tour der einzige unterwegs, es war warm, und ich genoß den Gipfel, den Rundblick, die Wärme, die Stille. Später, als ich es sonst getan hätte, machte ich mich auf den Rückweg. Als ich den steilen Pfad vom Gipfel ins Kar zurückgelegt hatte, merkte ich, daß ich im falschen Kessel war. Jenseits des Höhenzuges mußte das richtige Kar sein, durch das ich aufgestiegen war. Also überwand ich die Höhe, hinter der ich den richtigen Kessel vermutete. Als ich dort stand, erkannte ich, es war wieder der falsche. Einen Weg zum Gipfel, wo ich meinen Irrtum hätte korrigieren können, gab es von hier nicht. Meine einzige Orientierung war die Paßstraße, wo die Autos bereits mit eingeschaltetem Licht fuhren. Der Luftlinie nach war die Straße nicht gar so weit entfernt. Jedoch sie zu erreichen, hatte ich mir leichter vorgestellt. Ich stieg wild ab, es war sehr steil. Was ich damals machte, erschreckt mich noch heute. Die Bergwacht, die zu rufen bei meinen Wirtsleuten nur noch eine Frage der Uhrzeit war, hätte mich in dem dichten Bergwald nicht finden können. Ein Glück, daß keine Steilabstürze kamen. Ich erreichte tatsächlich in der Dunkelheit noch die Paßstraße, und dank einem gefälligen Autofahrer kam ich noch vor der kritischen Bergwacht-Marke ins Urlaubsquartier. So sehr ich das Mobilphon verachte, zumal seinen Gebrauch auf Wanderungen, – hier hätte es, wenn es denn schon erfunden worden wäre, Sicherheit bedeutet.

Ich denke ans Wandern, denn mit dem Laufen.... Ich merke, wenn ich mich bei meinen Lauf-Intervallen überfordere, meldet sich das Herz. Die Schmerzen danach beunruhigen mich nicht sonderlich, sie sind nur lästig, vor allem beim Einschlafen. Da denkt man schon mal daran, doch lieber die Notarzt-Nummer zu notieren. Die Schmerzen lassen es geraten sein, gezielt Ruhetage einzulegen. Was ich mache, ist ein Balance-Akt. Aber ist es das nicht immer gewesen?

Den heutigen Sonntag hatte ich als Ruhetag nehmen wollen; es war schlechtes Wetter prognostiziert worden. Doch es entwickelte sich ein strahlender Frühlingstag. Marianne berichtete vom Weihnachtsmarkt, daß die Leute vor der Eisdiele auf der Straße gesessen und Eis gelutscht hätten. Da wäre es die pure Unvernunft gewesen, gerade an einem solchen Tage im Zimmer zu bleiben. Obwohl ich die Gehstrecken etwas verlängert habe, bin ich ins Schwitzen gekommen.

Eintragung vom 25. November 06

Seit Jahren habe ich selbst an noch so lauen Sommerabenden keine Glühwürmchen mehr gesehen. Gehören auch sie zu den ausgerotteten Arten? An die verschwundenen Glühwürmchen, denen Paul Lincke einen seiner preußischen Ohrwürmer gewidmet hat, fühle ich mich jetzt erinnert, wenn ich in den Abend hinein laufe und gehe. Über den Acker schießen bengalische Lichter – zwei Hunde mit Strahlern. Immer mehr Hunde, so beobachte ich, werden für den Abendspaziergang mit solchen selbstleuchtenden Plaketten ausgerüstet. Ein irrlichternder Anblick, zumal wenn mehrere Hunde gleichzeitig unterwegs sind. Auf jeden Fall bewahren einen die Leuchtplaketten davor zu erschrecken, wenn einem in der Dunkelheit unvermutet ein Hund entgegenspringt. Auf welche Seitensprünge immer ein Hund sich begibt, – er bleibt sichtbar. An diesem Abend – klack, klack – dicht überm Boden vier rote Punkte. Einem Pferd waren die roten Strahler dicht über den Fesseln angeschnallt worden. Das Pferd wurde vom Pferdehof zum Abendspaziergang ausgeführt. Der dunkle massige Körper wirkt weniger gespenstisch, wenn er Abzeichen der Zivilisation trägt.

In diesem November findet ein herbstlicher Frühling statt. Vor etwa zwanzig Jahren schon habe ich als Touristikredakteur empfohlen, es doch einmal mit Urlaub im November zu versuchen, und zwar nicht auf den Kanaren, sondern in deutschen Landschaften. Ein Hotelier im Schwarzwald war von meinem Plädoyer so angetan, daß er mir eine Flasche Mouton Rothschild aus der Künstler-Edition schickte. Als die Flasche geleert war, konnte ich auch noch das Etikett über ebay verkaufen; so kostbar war das Geschenk. Der November ist traditionell der Urlaubsmonat von Hoteliers und Gastronomen. Warum nicht auch von anderen? Der November ist auch in anderen Jahren selten so schlecht gewesen wie sein Ruf als Monat der Herbstdepression. Sollte die Besinnlichkeit, zu der dieser Monat einlädt, in die Depression münden, sollte man dies nicht auf den Monat schieben, sondern die Ursache bei sich suchen.

Von einem Ort namens Piesbach habe ich zum erstenmal gehört, geschweige denn daß ich ihn besucht hätte. Er liegt im Saarland, und Mathias Paul, Bioland-Erzeuger und -Händler, hatte mich zu einem Vortrag „Sport und Vollwerternährung“ eingeladen. Auf eine strenge Gliederung habe ich verzichtet, ich wollte das Publikum in freier Rede erreichen, nur über das Notwendige informieren und dafür motivieren. Ich traf auf erfreuliche Aufgeschlossenheit. Abendessen in einem Wirtshaus, das bereits in der Leuchtreklame Vollwertkost verhieß. Ob man Dr. Brukers Faustregel „Essen und trinken Sie nichts, wofür Reklame gemacht wird“ modifizieren muß? Die Wirtin findet Zeit zu laufen. Vielleicht kommen wir wirklich wieder zu einer ganzheitlichen Auffassung von gesundem Leben. Allzu lange haben die einen nur Bewegungstraining betrieben, die anderen aber sich nur mit Ernährung befaßt. Und wenn dann auch der Psyche die gehörige Bedeutung beigemessen wird, wie das alle großen Gesundheitslehrer – Kneipp in der „Ordnungstherapie“ – getan haben, kommen wir vielleicht zu einem ganzheitlichen Gesundheitskonzept. Doch mir ist klar, nur eine Minderheit wird es annehmen – die Mehrheit wird über das Essen nicht weiter nachdenken und sich nach wie vor von fast food ernähren. The american way of life, der auch Europa im Griff hält, wird weiter zu Übergewicht und Zivilisationskrankheiten führen. Und die Krankenkassen basteln weiter an Aktionen, zum Beispiel durch Anzeigen mit der Frage „Heute schon gepfundsfittet?“ Mir tut das weh, nicht nur wegen meines Sprachgefühls, sondern auch weil mein Krankenkassenbeitrag für diesen Schwachsinn verwendet wird. Doch die Hoffnung bleibt; schließlich hätte, als meine Mutter in den dreißiger Jahren sagte „Rauchen ist ungesund“ und ich fünfzehn Jahre später selbst rauchte, auch kein Nichtraucher gedacht, daß er eines Tages nicht mehr in der gesellschaftlichen Isolation verharren müßte, sondern einer qualifizierten Mehrheit angehören würde. Und daß Vincent Klink, einer der Spitzen-Gastronomen in Stuttgart, sich an die Spitze des Kampfes gegen Gen-veränderte Lebensmittel setzen würde, hätte ich auch nicht gedacht (Link zum Tagebuch von V. Klink www.wielandshoehe.com.

Unterwegs hat mich an mehreren Tagen das Verbrechen von Emsdetten beschäftigt. Es wird nicht das letzte seiner Art gewesen sein. Ich erinnere mich noch genau an die Umstände, unter denen ich von der Bluttat an dem Erfurter Gymnasium erfahren habe – es war über das Auto-Radio. Solche Taten erwecken den Eindruck singularer Verbrechen. Ein gefährlicher Irrtum; es ist nur jeweils das erste. Anfang der siebziger Jahre ereignete sich in der damaligen Bundesrepublik der erste Fall einer Geiselnahme. Als ich noch in einer Zeitungsredaktion war, fiel das in mein Ressort „Aus aller Welt“, früher schlicht „Vermischtes“ genannt. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, daß der Verbrecher nach Resozialisierung heute Psychologe sein würde. Vielleicht hätte ich ja als SBZ-Flüchtling doch besser über Kriminalität die Chance einer qualifizierteren Ausbildung erreichen können? Geiselnahmen sind heute in der Nachrichtengebung fast schon Routine-Kriminalität. Gewalt an der Schule ist – mein Gedächtnis trügt mich leider auch hier nicht – in meiner Tageszeitung zunächst abgestritten worden. Gewiss doch, damals herrschte Gewalt nur an bestimmten Schulen. Heute sind Angriffe auf Schüler und Lehrer ein gesellschaftliches Problem, und vielleicht mehr noch die Angst davor. Was sich in Erfurt und in Emsdetten ereignet hat, bestätigt die Frustrationstheorie von Dollard et al., einen der Versuche, Aggressionshandlungen zu erklären, eine Theorie, die, weil sie nicht alles erklärt, verworfen worden ist.

Mir scheint denjenigen, die unser Zusammenleben zu regulieren versuchen, der Horizont zu fehlen. Weil der Täter durch ekelhafte Computerspiele Gewalt trainierte, sollen sie verboten werden. Natürlich wird es nicht dazu kommen, immer hat die Politik vor wirtschaftlichen Interessen zunächst einmal gekuscht. Ich habe einem meiner Enkel beim instrumentellen Töten am Computer über die Schulter geschaut; ich fand das „Spiel“ so abscheulich, daß es für mich keine Frage war, daß solche „Spiele“ gegen elementare Regeln der Ethik verstoßen. Produktion und Handel mit ihnen gehören verboten, schon weil sie humanitären Grundsätzen widersprechen. Die dagegen harmlosen, weil nur unappetitlichen Peep-Shows der siebziger Jahre sind geschlossen worden. Wir sollten umdenken: Nicht Sex ist obszön, sondern das instrumentelle Töten. Der sogenannte Amoklauf des ehemaligen Realschülers ist ganz sicher nicht mit obszönen Killerspielen zu erklären, wiewohl sie wahrscheinlich Tötungshemmungen herabsetzen, was andererseits von manchen Militärs begrüßt werden dürfte. Aber man sollte die Wirkungen auch nicht unterschätzen. Schon Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ hat eine Selbstmord-Epidemie ausgelöst; man spricht in solchen Fällen von induziertem Suizid. Auch der Waffenhandel, insbesondere der illegale, induziert Gewalt.

Was also ist zu tun, daß Menschen nicht ausrasten? Ein menschliches Klima schaffen, das den sozialen Beziehungen Priorität einräumt, die Schulen nicht allein als Wissensvermittlungsinstitute, sondern – wie früher auch und vor allem – als Erziehungsinstitute betrachten. Wenn ich von meinem ältesten Enkel, der alte Sprachen studiert, erfahre, daß er pauken muß, was allein für die Prüfungen wichtig ist, fordere ich, daß das Umdenken in der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Politik, stattfinden muß. Pädagogik, Psychologie und Didaktik muß ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Den zu vermittelnden Stoff kann man sich als Lehrer notfalls im Lesesaal einer wissenschaftlichen Bibliothek aneignen. Typisch ist, daß nun nach Spezialisten gerufen wird. Spezialisten lösen das Problem an den Schulen nicht, sie verwissenschaftlichen es. Ich habe Psychologen gekannt, die diesen Beruf gewählt haben, weil sie eigene Probleme zu bewältigen hatten. Ich erhebe mich nicht über sie. Auch ich hätte Psychologie studiert, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte.

Wenn ich darüber auf meiner Lauf- und Gehrunde nachdenke: Sport sollte kein Leistungs-, sondern ein Erziehungsfach sein.

Eintragung vom 16. November 06

Den Tip hat mir Markus geschenkt: www.lvmarathon.com/Wedding. Von selbst wäre ich wahrscheinlich nicht darauf gekommen, es sei denn ich hätte wie Markus einen Flug zum Marathon in Las Vegas planen können. Dort sind Marathon-Hochzeiten institutionalisiert. Trauungen während eines Marathons habe ich erlebt, in New York einmal und beim Trollinger-Marathon in Heilbronn. Dort bin ich – es war nicht mehr so weit ins Ziel – zu einem Glas Sekt eingeladen worden. Um das Hochzeitsarrangement während des Marathons muß man sich im allgemeinen selber kümmern. In Las Vegas, wo alles schriller ist als anderswo, gibt es eine regelrechte Läuferhochzeitsfeier während des Marathons. Wie ich der Webseite entnommen habe, findet sie nach dem neunten Kilometer statt. Da führt die Strecke an der Kapelle vorbei, in der Ehepaare ihr Hochzeitsversprechen erneuern. Das können Läufer-Ehepaare auch während des Marathons tun. Brautpaare und solche Ehepaare können sich über die Webseite zum „Run-Thru-Wedding“ anmelden. Dabei muß man auch Gewissensfragen wie die beantworten: Warum möchtet ihr in der Special Memory Wedding Chapel am Las Vegas-Marathon getraut werden? Oder: Wie viele Marathons seid ihr schon miteinander gelaufen? Falls noch keinen, – vielleicht rät dann ein Psychologe oder Geistlicher dem Brautpaar, es sich doch noch mal zu überlegen. Doch das geht nicht, denn man muß zur Marathon-Trauung die standesamtliche Urkunde, die nicht jünger als vom Vortag sein darf, mitbringen; verheiratet ist man also, ob man nun läuft oder nicht. Sich also nur entsprechend kostümieren und wie beim Médoc-Marathon Brautpaar spielen, das gilt nicht. Und auch das geht nicht: Die hübsche Läuferin zwei Startreihen vor einem zu fragen, ob sie einen bei Meile fünf heiraten wolle. Heiratsanträge allerdings sind beim Marathon schon gemacht worden; nach meiner Erinnerung war das auch in New York.

Den Gag einer institutionalisierten Wedding-Zeremonie hat sich der Berlin-Marathon entgehen lassen – Wedding in Berlin-Wedding, das wäre doch was.

Wer bleibt da beim Thema „Laufen als Alltagskultur“ stehen? Der Marathon als Feierkultur – ein neues Stadium ist erreicht. Abschweifung zum Totensonntag: Den Lauf zum Friedhof mit dem dahingegangenen Läufer ersparen wir uns wohl besser. Oder überlassen dies als dramaturgischen Einfall einem Film-Regisseur.

Eintragung vom 7. November 06

Vorige Woche bin ich unversehens bei Vollmond gelaufen. Wie in einer Zeitmaschine hat mich die Zeitumstellung beim Laufen vom Tag in die Nacht katapultiert. So ist es, wenn man an seiner Gewohnheit, zu einer bestimmten Zeit loszulaufen, festhält. Und da ich ja noch immer zur Hälfte gehe, brauche ich länger als früher und komme eher in die Dunkelheit. Lange ist es her, daß ich im Dunkeln gelaufen bin; daher war der Jog bei Vollmond besonders eindrucksvoll.

Davon abgesehen, – brauchen wir die Zeitumstellung überhaupt? Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der sie verteidigt hätte. Angeblich soll die Sommerzeit auch gar keine Energieersparnis bringen. Statt dessen verschlingt die Zeitumstellung Zeit, Uhren müssen zurückgestellt werden – die elektronische Armbanduhr, die Uhr im Auto – beim erstenmal mit dem neuen Auto bin ich dazu in die Werkstatt gefahren – , Küchenuhr, Wohnzimmer-Uhr – da ist es am einfachsten, da muß ich das Werk nur anhalten, die Uhr ist ein Erbstück meines Schwiegervaters, und dessen Vater hat den Uhrenkasten Ende des 19. Jahrhunderts selbst geschreinert und das Wiener Werk hineingesetzt. Die Uhrzeit am Faxgerät oder am Recorder neu einzustellen, habe ich längst aufgegeben. Mag sich einer der Empfänger meiner seltenen Faxschreiben wundern, ein Fax zu einer Uhrzeit zu erhalten, die noch gar nicht angebrochen ist! Uhrzeiten an Geräten wie dem Recorder umzustellen, ist ohne gedruckte Anleitung gar nicht möglich. Man kauert auf den Knien, hat die Anleitung neben sich und versucht, mit seinen klobigen Händen die winzigen Knöpfchen zu treffen. Also lassen wir’s ganz, zumal da die eingestellte Zeit, welche auch immer, nur ein halbes Jahr lang stimmt, beziehungsweise nicht stimmt. Am Computer stellt sich die Sommerzeit von selbst auf die Winterzeit um, beziehungsweise umgekehrt – wenigstens das. Bleibt nur zu wünschen, daß sich der Termin der Zeitumstellung nicht einmal ändert!

Es bleibt unerfindlich, daß man in Europa an einer Zeitumstellung festhält, die nichts bringt und nur mehr lästig ist. Für Läufer wäre ohnehin die Sommerzeit angebracht. Vielleicht ist es eine politische Frage. Durch meine Heimatstadt Görlitz verläuft der 15. Längengrad, dicht neben der Stadthalle, und er ist die Achse der Mitteleuropäischen Zeit. Hier gehen die Uhren, astronomisch gesehen, am genauesten. Am Rhein hinkt man, astronomisch gesehen, der Mitteleuropäischen Zeit am meisten nach. Würden wir die Sommerzeit beibehalten, würden wir uns der Osteuropäischen Zeit nähern. Deutschland würde der Uhr nach plötzlich zu Osteuropa zählen. Wollen wir das? Adenauer jedenfalls hätte es nicht gewollt, ihm war Greenwich näher als Görlitz.

Ich denke, es sind weniger politische Gründe als vielmehr die Trägheit, die uns an der Umstellung festhalten läßt. Seit dem zweiten Weltkrieg sind es die Deutschen gewohnt, die Uhren zweimal im Jahr umzustellen. Seit Generationen also. Laßt es uns also weiter tun. An der Zeitumstellung, die außer Unbequemlichkeit nichts, aber auch gar nichts bringt, können wir eindrucksvoll erkennen, wie Politik funktioniert. Man läßt das liegen, was momentan nicht stört. Kohls Regierungszeit beruhte auf diesem Prinzip, das sich damit als politisch erfolgreich erweist. Die Sektsteuer zahlen wir noch immer, um die längst untergegangene Flotte des 1918 untergegangenen wilhelminischen Reiches zu finanzieren, ebenso den Solidarbeitrag für die östliche Bundesrepublik, die sich dadurch auszeichnet, daß die Straßen dort besser sind als im westlichen Teil. Laßt uns festhalten am Hergebrachten, am wilhelminischen Beamtenapparat mit Pensionen und Weihnachtsgeld, an Privilegien der Abgeordneten und an der laut meinem Katechismus allein seligmachenden katholischen Kirche, die schon damit die Ökumene konterkariert. Laßt uns festhalten an der föderalistischen Struktur, die uns die Besatzungsmächte verordnet haben. Was sie vergessen haben – die Stadtstaaten Hamburg und Bremen, das Saargebiet als ein etwas in die Breite gegangener Landkreis sogenannter Verwaltungsreformen –, das läßt sich aus eigener Souveränität nun nicht mehr korrigieren. Das Bindestrichland Baden-Württemberg war der einzige und nur aus der Nachkriegszeit mit der Teilung des Landes in zwei Besatzungszonen erklärbare Versuch, zu vernünftigen Ländergrenzen zu kommen, und selbst das Südweststaat-Konstrukt aus Württemberg, Württemberg-Hohenzollern, Nord- und Südbaden ist ja schwer genug gefallen und bedarf noch heute sorgsamen Austarierens – ein unentschuldbarer faux pas wäre es, wenn bei einem Regierungs-Empfang nur badische oder nur württembergische Weine kredenzt würden. Nach der Wiedervereinigung Berlin statt Bonn als Hauptstadt, die Frage stand politisch hart auf der Kippe. Daran konnte man sehen, wie schwer es Politikern fällt, sich auf neue Situationen einzustellen.

Ich habe gelesen, daß inzwischen viele Deutsche an der Demokratie zweifeln. Das hatten wir leider schon einmal. Die Folgen waren furchtbar. Wahrscheinlich war es ein bißchen voreilig, konstitutionelle Monarchien auf den Schutthaufen der Geschichte zu werfen. Die Leute mit der Krone und aus dem feudalen Umfeld waren ja wenigstens gut ausgebildet fürs Geschäft und genossen soviel Ansehen, daß es sich bis heute gehalten hat. Die Aristokratie existiert ja weiterhin als Parallelgesellschaft in der Demokratie. Nicht nur als Hauptthema von Unterhaltungsblättern, – ich selbst zahle Erbpacht für das Grundstück, das den Erben des württembergischen Königs gehört. Und Ministerpräsident Oettinger will partout dem badischen Adel die Sanierung von Schloß Salem finanzieren, und sei es durch den Verkauf staatlicher Kunstschätze.

Während ich mir ein weiteres Glas mit dem Bordeaux des Barons Philippe de Rothschild eingieße, bringe ich Politphantasien zu Papier. Jeder von uns ein kleiner Napoleon, dessen Grenzziehung immerhin bis heute weite Teile Europas geprägt hat. Ich neige zur Liquidierung Deutschlands; insolvent ist es ja ohnehin. Billionen Euro Schulden, da bleibt nichts, als den Laden dicht zu machen und nach eventueller Verbüßung von Strafen – doch dagegen sind Politiker gefeit – neu anzufangen. Es ist uns einfach über den Kopf gewachsen; wir sollten uns mit kleineren, überschaubaren Einheiten begnügen. Laßt uns in die Kleinstaaterei zurückkehren! War manchmal ein bißchen lästig, im 18. und 19. Jahrhundert, aber praktisch, zumal für Exilanten. Schillers Flucht von der Karlsschule würde heute mit dem ICE gerade einmal anderthalb Stunden dauern! Für Schüler würde sich ja durch die Wiedererrichtung von Zwergstaaten ohnehin nichts ändern; sie müßten bei Umzug weiterhin neue Bücher kaufen, könnten sich aber je nach Begabung und Fleiß erfolgreich bis zum Abschluß umschulen. Die Liquidierung Deutschlands wäre ein Beitrag zur Friedenssicherung. Hat man je davon gehört, daß Hessen-Nassau oder Sachsen-Weimar, Lippe-Detmold oder Württemberg-Hohenzollern einen Weltkrieg entfesselt hätten! Zwergstaaten könnten sich EU-Kontributionen viel leichter entziehen als die Bundesrepublik Deutschland, schon weil Gebiete wie die bayerische Pfalz, Waldeck-Pyrmont oder Waldburg-Zeill nur von Historikern auffindbar wären.

Wie ich auf die Neustrukturierung der deutschsprachigen Gebiete komme? Vor Jahren habe ich einmal in München ein Original kennengelernt, Dirscherl hieß er (er hatte so viele Vornamen, daß mir der Rufname entfallen ist). Er vertrat – dies aber nun allen Ernstes – mehr oder weniger ideologische Bestrebungen, eine ethnisch organisierte Alpenrepublik zu errichten, den Zusammenschluß von Alpenbewohnern, also Bayern, Tirol, Südtirol – das vor allem – und Osttirol; Vorarlberg schlug er der Schweiz zu. Später einmal habe ich die Utopie eines Niederländers kennengelernt, der ganz Europa ethnisch neu gliedern würde. Einige Probleme wie die Irlands, Kataloniens und des zwiegeteilten Belgiens wären damit gelöst. Man sieht doch, manche können’s nicht miteinander, die Tschechen konnten es weder mit der k. u. k. Monarchie, in der sie sich unterdrückt fühlten, noch mit anderen vermeintlich Unterdrückten, den slowakischen Nachbarn. Die Slowenen können es nicht mit den Kroaten, und diese haben Krieg geführt mit den Serben und so fort. Und wenn die Dänische Volkspartei in Schleswig-Holstein ihr Ziel erreichte, die Zuschlagung des nördlichen Holsteins zu Dänemark, was wäre für die Deutschen dort verloren? Der Verlust der Möglichkeit, Europa am Hindukusch zu verteidigen, wäre jedenfalls zu verschmerzen. Ich zum Beispiel würde jede Staatsangehörigkeit annehmen, vorausgesetzt, dieser Staat bliebe in jedem Konfliktfall neutral. Als Schlesier wäre ich – im historischen Blick auf die Piasten – für einen deutsch-polnischen Staat Schlesien. Die vertriebenen Deutschen und die vertriebenen Ostgalizier – das müßte gehen; Breslau/Wroclaw ist nicht Warschau. Ich finde, mit vielen kleinen Staaten können Politiker, auch unfähige, am wenigsten Unfug anstellen. Notfalls wird der Zwergstaat, wenn er bankrott ist, dem Nachbarstaat zugeschlagen. Doch wer will schon ein bankrottes 80-Millionen-Deutschland haben? Mit Großdeutschland begann der Weg zum Rumpf-Deutschland, und selbst das hat sich, zumal nach der Wiedervereinigung, als zu groß erwiesen. Das ist woanders genauso. Im Gegensatz zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika hätte ein Gouverneur von Texas im Irak nicht das mindeste zu bestellen gehabt. Macht ist gefährlich, so gefährlich, daß man sie in möglichst kleine Einheiten aufteilen muß.

Eintragung vom 30. Oktober 06

Nun haben die Fabrikanten von Kriminalfilmen – denn bei der Menge an Krimis im Fernsehen kann man ja nur von Massenproduktion sprechen – eine gänzlich neue Zielgruppe gefunden, die der Marathonläufer. Allein der Schauplatz der „Tatort“-Folge am Sonntag, der Frankfurt-Marathon, hat mich veranlaßt, seit Jahren wieder einmal Fernseh-Kriminalität zu schauen.

Um die Mittagszeit der reale Frankfurt-Marathon live, abends dann der Frankfurt-Marathon vorigen Jahres unter dem Titel „Das letzte Rennen“ als Tatort. Wenn ich die Handlung präzise erzählen müßte, – ich käme ins Stocken. Ralf Klink könnte es. Aber der hat Besseres zu tun, wie „LaufReport“-Besucher wissen.

Am Marathonstart wird ein Läufer erschossen – versehentlich. So etwas finde ich vom Drehbuch her unfair. Ein Mord hat bitteschön kein krimineller Betriebsunfall zu sein. Der Schuß, so die Kripo, ist für einen Kriminalkommissar, Fritz Dellwo, bestimmt gewesen, der mit Sportfreunden den Frankfurt-Marathon läuft, obwohl er eigentlich an der Fahndung nach dem berüchtigten Ausbrecher Gricic beteiligt werden soll. Frage an die Personalvertretung: Hat der Mann am Marathontag nun dienstfrei oder nicht? Wenn ich das richtig begriffen habe, galt jedoch das Attentat nicht ihm, wiewohl er eine der beiden Hauptfiguren der Handlung ist, sondern seinem Trainer Henry. Und nicht der jugoslawische Ausbrecher, dessen Ausbruch gleich am Anfang minutiös dargestellt wird, damit die Fahndung und das Interesse der Zuschauer vergeblich auf ihn gelenkt werden, hat den tödlichen Schuß abgegeben, sondern – wir sind beim Sport – die wegen Dopings gesperrte Biathletin Irene, Putzfrau in der Kirche, von der – Motiv: Kennedy-Attentat – geschossen worden ist. Klar, wer Schießen gewöhnt ist, läßt es im Konfliktfall nicht. Die Kriminaloberkommissarin Charlotte, die wahrscheinlich wegen Tarnung aussieht wie eine Klavierlehrerin, verfolgt diese neue Spur, von der man in der Soko offenbar noch gar nichts weiß. Unterdessen bemüht sich ihr junger, etwas vorlauter Kollege Jan, den vorgeblich hochgefährdeten Kollegen Fritz aus dem Rennen zu holen. Angeblich können Posten an den Elektronik-Matten Läufer am Laptop identifizieren, so wie das bei den Chip-Proben gemacht wird. Hier jedoch war es nicht so einfach, denn ausgerechnet der Kommissar hat unterwegs beim Schnürsenkel-Nachbinden den Chip verloren – solche Trottel hat die Kriminalpolizei nun einmal (ausgenommen DUV-Sportwart Wolfgang und alle die anderen). Ohnehin laufen ja wohl nur Bekloppte Marathon, denn niemandem im Feld ist der verlorene Chip auf der Straße aufgefallen (mir ist in Biel sogar eine weggeworfene defekte Taschenlampe nachgetragen worden). Die Kollegin Charlotte ist derweil auf ihrer eigenen Verfolgung im Kirchturm in die Hand der Scharfschützin Irene gefallen, wird aber nicht erschossen, sondern nur gefesselt, worauf sie sich befreit und weiter am Geschehen beteiligt wird. Die Attentäterin wiederum drängt es irgendwie in die Messehalle zum Ziel des Marathons, denn dort ist Henry eingelaufen, ziemlich kaputt – man weiß, Krämpfe und so – , so daß er von seinem ausgeschiedenen Sportfreund Fritz ins leere Obergeschoß, statt lieber zur Sanitätsstation geführt wird. Da Fritz Dellwo noch zu irgend etwas gebraucht wird – kenne sich einer in Ermittlungen aus –, bleibt Henry dort allein und wird prompt von der Scharfschützin Irene entdeckt. Die Attentäterin ist am Ziel, Henry hat sein letztes Rennen bestritten. Beide stürzen – Große Oper! – durch die zersplitternde Scheibe in die Messehalle. Jegliche Hilfe kommt zu spät. Der Kommissar Fritz, dem die Fürsorge der Kollegin Charlotte galt, und diese selbst begegnen einander wortlos lange Zeit nach dem Zielschluß. Melodramatische Leere des Marathon-Schauplatzes – was haben die bloß in der langen Zwischenzeit getan? Abspann. In weiteren Rollen der Chefermittler, ein Staatsanwalt, eine apart dekolletierte Kriminalassistentin und Tausende von Laiendarstellern, die insgesamt einen besseren Laufstil haben als der Hauptdarsteller, der ja – bei öffentlich-rechtlichen Anstalten offenbar Pflicht – nur ein Jahr für den Marathon trainiert hat.

Für die „Tatort“-Folge hat der Frankfurt-Marathon nur die Versatzstücke geliefert. Inzwischen weiß ja jeder Couch-Potatoe, daß es am Tag vor dem Marathon Teigwaren gibt; also wird, damit keine Enttäuschung aufkommt, ohne die mindeste dramaturgische Funktion ausgiebig Nudelessen gezeigt. Das, was ein solches City-Ereignis ausmacht, die gemeinsame Herausforderung, der Jubel, die Stimmung, die Kommunikation mit dem Publikum, der zähe Kampf, ist völlig im Hintergrund geblieben, Marathon als bloße Kulisse. Doch was werden die Laien-Darsteller glücklich sein, daß sie ihren Marathon, einschließlich des Manns mit dem Hammer, wenigstens als Staffage im Film wiedererkannt haben! Dem Phänomen Stadtmarathon hat sich das Fernsehen, wie bei anderen Objekten auch, wieder einmal auch nicht ansatzweise genähert. Gelernt habe ich, daß bei der Kriminalpolizei ein überaus rüder Ton herrscht. Oder sollten die „Tatort“-Autoren auch damit daneben liegen?

Eintragung vom 26. Oktober 06

Ich würde gern allein über das Laufen schreiben, doch kann ich mich nicht nur mit dem Laufen befassen. Vielleicht ist das gut so. Auch der Alltag eines Rentners ist ausgefüllt. Marianne möchte, daß der wuchernde Efeu beseitigt wird. Ich tue das gern, obwohl mir Gartenarbeit nicht sehr liegt. Doch ich erfreue mich an dem Gärtchen und möchte etwas dafür tun. Die AOK will wissen, wie hoch mein Einkommen ist. Da wird öffentlich gefordert, auch Einnahmen außerhalb von Gehalt oder Rente sollten zur Beitragsberechnung herangezogen werden. Ja, verdammt noch mal, das wird doch bei mir schon seit Jahr und Tag getan. Jedes Jahr muß ich der AOK meinen Einkommenssteuerbescheid schicken, und da weigern sich Abgeordnete, anzugeben, woher sie sonst noch Einkünfte beziehen.

Zeit kostet es, meine Postkartensammlung zu reduzieren. Insbesondere biete ich bei eBay die Karten meiner Eisenbahnsammlung an. Nie hätte ich gedacht, daß mir ein Hobby eine kleine Zubuße zur sich real reduzierenden Rente bringen würde. Sicher stand Nostalgie am Anfang der Sammlung. Der Anspruch der Dokumentation, insbesondere bei meiner Sportpostkarten-Sammlung, entwickelte sich erst später.

Eine Kollegin möchte Informationen zum Konzept einer Sendung über Vollwerternährung. Ob ich Spitzensportler kennte, die sich nach den Regeln der Vollwertkost ernährten? Drei sind mir eingefallen. Man sollte auf diesem Gebiet viel mehr dokumentieren, es sind ja nur Zufalls-Informationen, mit denen wir argumentieren. „Sport und Vollwerternährung“ wird das Thema meines nächsten Vortrages sein.

Meinen Drucker muß ich ersetzen. Der Austausch zentraler Teile lohnt nicht mehr. Sechs Jahre – ex und hopp! Früher ging man, wenn man eine Anschaffung plante, in den Laden und ließ sich beraten. In den riesigen Märkten kann man schon froh sein, einen dort Beschäftigten zu finden, der einem über der Nachfüllung der Fächer den Weg zum gewünschten Produktbereich weist. Und in dem Computerladen in der Stadt wird eine Sprache gesprochen, die unsereiner nicht versteht. Die Computersprache besteht aus Abkürzungen amerikanischer Kunstworte. Recherchen also im Internet. Das kostet im Endeffekt mehr Zeit als die persönliche Beratung früher.

Doch das sind die Bagatellen des Alltags. Was mir unter die Haut geht, ist politischer Natur. Als ich bei der Tageszeitung war, verspürte ich keinen Hang zur politischen Redaktion. Mir lag die Politik fern, ich fühlte mich auch nicht kompetent genug – als ob das die Kollegen von Haus aus gewesen wären! Im Lokalen wie im Vermischten begegnete ich dem prallen Leben. Heute ist das anders, ich würde jeden Tag einen Leitartikel schreiben mögen, nur würde ihn keiner drucken wollen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober zur Sanierung des Haushalts in Berlin beschäftigt mich. Im Grundsatz gebe ich den Richtern recht. Wo kämen wir hin, wenn ein Land Schulden auf Teufel komm raus machte, um sich dann vom Bund helfen zu lassen! Und im einstigen Westberlin hat man im Vertrauen auf die politisch begründeten Bundesmittel wahrscheinlich auf zu großem Fuße gelebt und dies beibehalten wollen. Es stimmt ja, daß es großkotzige Berliner gibt, die der Stadt ihren Stempel aufgedrückt haben. Doch großkotzige Schwaben – und die gibt es heute zuhauf – sind mir nicht weniger zuwider. Sie können alles, wie man durch staatliche Reklame erfahren hat. Nach meiner Ansicht haben jedoch die Bundesrichter nicht gewürdigt, daß eine Bundeshauptstadt nicht aus sich selbst existieren kann, sie hat Aufgaben zu erfüllen, die andere, nicht entfernt vergleichbare Städte nicht erfüllen müssen. Insofern ist der von den Richtern unternommene Vergleich mit Hamburg falsch. Über den Provinzialismus von Kollegen, die in Kommentaren die Aufrechterhaltung von drei Opernhäusern tadeln, kann ich nur den Kopf schütteln. Die drei Opern sind für eine weltstädtische Metropole ein Glücksfall. In Bonn ist vom Bonner Sommertheater mehr gesprochen worden als vom Bonner Stadttheater. Der Verlust der Hauptstadteigenschaft mußte für die rheinische Universitätsstadt in Geld und überflüssigen Ministeriumsstandorten aufgewogen werden. Der tatsächlichen Hauptstadt aber wird zugemutet, Ausgaben für die Republik, die sich in ihrer Hauptstadt wiedererkennen soll, aus dem Landeshaushalt zu finanzieren. Es ist wahr, daß Berlin Millionen für die Olympia-Bewerbung verpulvert hat und das Gleiche für die Bewerbung um Olympische Spiele im Jahr 2020 zu wiederholen beabsichtigt. Als ob die Schulden bis dahin getilgt sein würden! Ja, ich bezweifle, daß die Neuverschuldung auch nur gesenkt würde! Doch fünf andere Städte haben, indem sie Geld für eine Illusion ausgaben, nichts anderes getan.

Widerlich, wie man sich in Anbetracht des höchstrichterlichen Urteils gegen Berlin in Bayern und Baden-Württemberg in die Brust wirft! Aus anderem Anlaß habe ich einmal an einem Beispiel eine Rechnung aufgemacht. Als sich Mitte der siebziger Jahre vier Dörfer, darunter mein Wohnort Nellingen, zu einer Stadt zusammenschlossen, sah sich die neue Stadt Ostfildern im Besitz von drei Hallenbädern und einem Kleinschwimmbad. Rechnet man diese Hallenbaddichte auf Berlin hoch, müßte Berlin 309 Hallenbäder haben, tatsächlich hat es nur 33. Die Hochrechnung würde auch stimmen, wenn man die Hallenbaddichte ringsum zugrundelegen würde. Und da halten die Richter dem Land Berlin unter anderem die Ausgaben für Sport und Erholung vor! Wie in der Republik mit Geld umgegangen wird, rügt der Bundesrechnungshof alle Jahre.

In meinem Mikrokosmos sehe ich es jeden Tag. Auf meiner Laufstrecke überquere ich eine Umgehungsstraße, die vor einigen Jahren gebaut worden ist. Dabei sind in relativ geringem Abstand drei Brücken im Verlauf von Wirtschafts- und Anliegerwegen errichtet worden. Die breiteste Brücke, so breit, daß sie Begegnungsverkehr zuläßt, ist vor längerem durch Gesteinsbrocken künstlich verengt worden, damit keine Autos darüber fahren.

Ein Einfall wie aus Schilda – erst baut man, dann erkennt man, daß man für die Verkehrslenkung falsch gebaut hat. Der Viadukt über das Körschtal, durch das ich laufe, ist wiederum nur für den Kraftverkehr gebaut; der Randstreifen ist zu schmal, als daß Radfahrer den Viadukt benützen dürften. Die Körsch ist ein Bach, der in den Neckar fließt. Vor Jahrzehnten hat man die Ufer befestigt; seit einigen Jahren wird die Körsch „renaturiert“. Am liebsten würde man das wohl auch für den Neckar tun.

Der vierzig Jahre alte Kindergarten, an dem ich vorbeilaufe, ist in diesem Jahr geschlossen worden. Man hätte ihn sanieren müssen, dafür ist kein Geld vorhanden. Von Anfang an ist er zu groß dimensioniert gewesen, so daß in all den vierzig Jahren Räume darin als Wohnung vermietet worden sind. Es handelt sich um den katholischen Kindergarten. Die Kirchen sind nicht weniger verschwenderisch mit dem Geld umgegangen. Vor vierzig Jahren sind in meinem Stadtteil im Abstand von 500 Metern zwei Kirchen gebaut worden, eine evangelische und eine katholische, beide übrigens keine zwei Kilometer von der nächsten katholischen und der nächsten evangelischen Kirche entfernt. Auch damals bereits wurde über die Ökumene diskutiert. Wie sie in einer einzigen Kirche funktionieren kann, weiß ich aus Bautzen, wo der St. Petri-Dom seit 1524 von beiden Konfessionen genutzt wird. Die vor etwa dreißig Jahren errichtete Stadthalle, die sich als gewaltiges Zuschußobjekt erwiesen hat, würde man jetzt, da man investieren müßte, am liebsten abreißen. Alle Objekte liegen an oder unweit meiner Laufstrecke. Wie mag es aussehen, wenn man sich im Lande umsehen würde!

Man kann seine Laufstrecke durch das Schauen strukturieren, dem Schauen auf die Zeichen der Jahreszeiten, aber – so wird mir klar – vielleicht auch durch kritisches Nachdenken über die Baudenkmale einer verschwenderischen öffentlichen Hand, an denen man sonst achtlos vorüber läuft.

Eintragung vom 18. Oktober 06

Aus gegebenem Anlaß, wie es im Bürokraten-Deutsch heißt, habe ich wieder einmal eine Jahresversammlung der DUV besucht. Das letztemal war es rein zufällig die Versammlung, in der die Unterschlagung durch Rudi Nußbaum mitgeteilt wurde. Das Ergebnis der Verhandlungen über diesen Fall, nach dem man sich auch auf der Versammlung am Samstag erkundigt hat, habe ich kommen sehen: Nahezu Totalverlust des damaligen Vereinsvermögens. Die Milde in der damaligen Versammlung verwundert mich noch heute. Nach meiner Ansicht haben die damaligen Kassenprüfer versagt; es ist schließlich sinnlos, Briefmarken zu zählen, statt lieber nachzuschauen, wo das Vereinsvermögen angelegt ist.

 

Erst in der Versammlung am Samstag habe ich leise Kritik vernommen – von Blauäuigkeit war die Rede. Und nun erst sind, wie das in anderen Vereinen von Anfang an der Fall gewesen ist, die durch einen Einzelnen vorzunehmenden Ausgaben limitiert, und größere Ausgaben bedürfen zweier Unterschriften. Man kann nachträglich nur den Kopf schütteln – auf der einen Seite im Hinblick zum Beispiel auf das sportliche Regelwerk ein strenger Maßstab, auf der anderen Seite, wo es um die Beiträge der Mitglieder ging, grobe Nachlässigkeit.

Der „gegebene Anlaß“: die Verleihung des
Adolf-Weidmann-Preises der DUV

Ich mache mir heute den Vorwurf: Hätte ich nicht, als ich selbst vor langer Zeit Vorstandsmitglied war, fragen können, ob die Geschäftsordnung Sicherheit genug böte? Doch wo kämen wir hin, wenn jeder Funktionär sich den Kopf über die Funktionen anderer zerbrechen würde! Ich ärgere mich, daß ich, als ich zum Ehrenmitglied ernannt worden bin, 200 Mark für die Vereinskasse gespendet habe – der für einen Rentner nicht geringe Betrag war natürlich auch futsch.

Nach jener Versammlung habe ich eine ganze Vorstands-Ära übersprungen. Das bewahrt mich vor dem Selbstvorwurf, einen Präsidenten gewählt zu haben, der nach seiner Abwahl durch die Gründung einer Konkurrenzgruppe auf das gröblichste den Slogan der DUV „Gemeinsam sind wir stärker“ konterkariert hat. Aufs höchste überrascht war ich, den abgewählten Präsidenten weiterhin in der Funktion als Ultralaufberater des DLV zu finden. Der DLV hat sich damit über den Kern der Ultralaufszene hinweggesetzt. Wieder einmal kann ich über den DLV nur den Kopf schütteln! O hätten wir doch einen Läuferverband, wie mir das vor Jahrzehnten vorgeschwebt hat und zu dem es nach der deutschen Wiedervereinigung mit dem „Läuferbund“ einen hoffnungsvollen Ansatz gab! Freilich, auch ein Läuferverband wäre nicht gegen Menschliches, Allzumenschliches gefeit! Wohin ich allein in der Laufszene blicke – jeder Verband ist von Krisen geschüttelt worden, ob IGÄL oder Deutscher Verband langlaufender Ärzte und Apotheker, ob Rennsteiglauf-Verein oder 100-Marathon-Club. Läufer sind keine besseren Menschen, wiewohl uns das, als wir anfingen, so erschienen war. Wie Tucholsky habe ich mich über Verbände und Vereine lustig gemacht; aber wir brauchen sie ja, zumindest zum Zeitpunkt ihrer Gründung. Nachher kann es bisweilen zu einer Inhaltsleere kommen; ich denke an die Deutsche Olympische Gesellschaft, die sich daher vernünftigerweise hat integrieren lassen.

Die erste DUV-Versammlung mit neuem Präsidium verlief, so empfand ich, in angenehmer Atmosphäre, ohne daß Desinteresse herrschte. Im örtlichen Turnverein habe ich vor über dreißig Jahren erlebt, daß ein Versammlungsablauf als „harmonisch“ gepriesen wurde – es hatte sich kein einziger zu Wort gemeldet, der Vorsitzende wurde wie immer, nämlich insgesamt 25 Mal, wiedergewählt. Dann schon lieber Kritik, selbst wenn sie einmal übers Ziel hinausschösse. Nach der Versammlung am Samstag freundliche Gespräche. Schon deshalb sollte man doch die eine oder andere Versammlung besuchen.

Über den Fernseh-Auftritt am Montag in der Landesschau von SWR 3 muß ich mir Rechenschaft ablegen. Aufgeregt war ich nicht im mindesten, eher nervös, ob ich es schaffen würde, den Acht-Minuten-Auftritt aufzunehmen, noch dazu auf einem neuen Gerät. Ich habe es geschafft, und so konnte ich mich selbst beurteilen.

Das Medium hätte mich beruflich gereizt. Doch wenn ich sehe, daß alles mehr auf Infotainment denn auf Information hinausläuft, bedauere ich nicht, meine Berufsjahre bei Printmedien verbracht zu haben. Kein Vorwurf gegen die Kolleginnen, die ihre Arbeit in bis auf die Sekunde vorgegebene Strukturen pressen müssen. Viel Show – sie beginnt damit, daß in einer Art Maschinenhalle aufgenommen wird und ins Wohnzimmer dagegen Wohnzimmer-Atmosphäre projiziert werden soll. Zwei Sessel mit der scheinbaren Funktion elektrischer Stühle. Die Show beginnt noch früher als in der Maschinenhalle, Studio genannt, sie beginnt in der Maske. Eine gute Bekannte, selbst im Theatermilieu groß geworden, meinte, ich sei zu blaß gepudert worden; sie kennt ja meine tatsächliche Gesichtsfarbe. Mein Haar mußte mit Spray behandelt werden – merkwürdig, junge Leute lassen sich nach zeitgenössischer Mode einen Strubbel-Haarschnitt verpassen. Bei einem Graukopf hingegen müssen widerspenstige Haare geglättet werden. Wieviel spontaner wirken dagegen Aufnahmen im Stadion! Da versteht sich’s, daß man dem Marathonsieger nicht mit Tupfer und Spray kommen kann, obwohl ihm das wahrscheinlich sehr recht wäre, hätte er dann doch ein paar Sekunden mehr, um nach dem atemlosen Zieldurchgang bis zur ersten Allerweltsantwort zu verschnaufen. Was im Sport möglich ist, geht im Studio offenbar nicht. Wollen die Leute wirklich eine getürkte Welt?

Acht Minuten – ich war von vornherein so sehr bemüht, Redundanz zu vermeiden, daß ich Einsilbigkeit fürchtete. Was sollte ich auf die Frage, ob ich heute schon trainiert hätte, anderes antworten als Ja oder Nein! Alsbald begriff ich, daß ich mehr sagen müßte, und ich versuchte, die Mitte zwischen zuviel Redundanz und Einsilbigkeit zu halten. Da ich nicht wirklich nachdenken mußte – die interessanteren Fragen waren im Grunde bei der Vorbereitung gestellt worden –, nahm ich das Interview als intellektuelles Spiel. Und ich freute mich, wenn ich nach einem Nebensatz das Verb des Hauptsatzes fand. Wenn man mich gelassen hätte, hätte ich noch mehr Schachtelsätze gebildet. Für mich waren Kollegen, die in der Lage waren, notfalls ihren Text direkt dem Linotype-Setzer mit Punkt und Komma zu diktieren, ein Vorbild. Die Spontaneität geht über disziplinierten Antworten auf Interview-Fragen allerdings zum Teufel. Vielleicht hätte ich mich wenigstens mal am Kopf kratzen sollen. Zuviel Selbstkontrolle tut auch nicht gut.

Keinen Einfluß habe ich auf die bereits redaktionell fixierten Moderationssätze gehabt. Niemals würde ich gesagt haben, ich hätte keine Konkurrenten mehr. Dazu bin ich sportlich viel zu realistisch. Außerdem kämpfe ich ja gerade darum, daß mehr Altersgenossen in den höheren Altersklassen an den Start gehen. Es versteht sich, daß ich als Durchschnittsläufer tüchtigere Altersgenossen habe, auch wenn sie nicht unbedingt jedesmal aufgetaucht sind, wenn ich gerade am Start war. Abgesehen davon, daß ich primär mit der Strecke kämpfe und nicht gegen angebliche Konkurrenten. Und angeblich von Jahr zu Jahr mehr Marathons in der Altersklasse zu gewinnen, weil die anderen wegbleiben, – immer habe ich relativiert, es sei kein Kunststück, in M 75 Erster oder Zweiter zu werden, wenn nur einer oder zwei am Start seien. Genau diesen Hochmut, der in der Moderation wohl witzig gemeint war, verabscheue ich. Und niemals würde ich behauptet haben, mit meinen 309 Marathons und Ultramarathons, darunter sehr vielen Wiederholungen, „fast jeden Marathon“ gelaufen zu sein. Blödsinn. In einem Printmedium kann man sich anderntags äußern, gegebenenfalls sogar in einer Gegendarstellung; eine flüchtige Sendung läßt keine Relativierung zu. Man muß mit und in dieser Medienwelt leben.

Sie waren alle so freundlich zu mir, dennoch habe ich zwiespältige Gefühle. Was bringen Talkshows wirklich? Sie bringen uns einer Problemlösung oder auch nur Problem-Erhellung nicht näher; sie dienen bestenfalls der Selbstdarstellung der Beteiligten und der meistens oberflächlichen Unterhaltung der Zuschauer. Doch wenn Unterhaltung, warum nicht realistische Unterhaltung? Nach der Sendung sagte mir die Moderatorin, sie habe sich gefreut, daß ich Ernst van Aaken erwähnt hätte. Denn sie sei – sie sagte mir auch, wie – mit ihm verwandt. Da hätte, wenn sie Zeit dafür gehabt hätte, ein Gespräch beginnen können, und man hätte es, so unorganisiert es verlaufen wäre, getrost aufzeichnen können – eine Überraschungssendung. Und daß der Mann der Moderatorin im nächsten Jahr in Boston laufen wolle, das ist doch alles viel interessanter, als Gemeinplätze zu produzieren, nur weil ein Achtzigjähriger seit vierzig Jahren läuft. Bypaß-Operation als Betriebsunfall heruntergespielt. Das Hintergrund-Thema – Training nach einer Bypaß-Operation – ist verschenkt worden. Es fand statt das übliche Rollenspiel, und ich habe mitgespielt. C’est tout.

Goldener Oktobertag. Ich bin heute vier Minuten im Stück gelaufen. Die Hoffnung läuft mit mir.

Eintragung vom 9. Oktober 06

Es ist wohl der erste Marathon gewesen, bei dem ich freiwillig nur zugesehen habe, der München-Marathon am Sonntag, wenn man davon absieht, daß ich beim Doppelmarathon zum Jubiläum des Jungfrau-Marathons einen Marathon gelaufen, bei dem anderen aber an der Strecke gestanden bin. Richtig, und den ersten Marathon, den ich erlebt habe, habe ich als Zuschauer erlebt. Das war im August 1967, als die Deutsche Marathonmeisterschaft in Stuttgart stattfand. Da hatte ich bereits Volkslauf-Erfahrung und strebte insgeheim die Marathon-Teilnahme an. Schon damals hat mich der Letzte mehr interessiert als der Erste. Über den Ersten berichten sie alle, natürlich, doch der Letzte schien mir Fragen aufzuwerfen. Die Ersten liefen um den Sieg, doch was trieb den Letzten an?

Der Letzte in Stuttgart, Startnummer 264. war ein typischer Volksläufer, beleibt und langsam, 57 Jahre alt, und dies war der erste Marathon seines Lebens. Vier Jahre zuvor hatte er mit dem Laufen angefangen, um Gewicht zu verlieren. 10 Kilogramm waren es schon. Ich hatte ein Auto mit Fahrer bekommen, so daß ich den Rennverlauf gut verfolgen konnte. Doch es kostete Mühe, den Fahrer dazu zu bewegen, von der Spitzengruppe abzulassen und hinter dem Letzten herzufahren. An einer Verpflegungsstelle in Untertürkheim, ganz in der Nähe des Betriebsgeländes von Mercedes, wenn mich nicht alles täuscht, hieß der Autobauer damals so. Der Letzte vermittelte mir ungeschönt den Eindruck, daß ein Marathon alles abverlangt; dieser Mann kämpfte, das sah man ihm an, am Verpflegungsstand allerdings ließ er sich Zeit. Unterdes wartete man im Neckarstadion auf ihn, und die beiden Zeitnehmer – sonst war kein Mensch mehr da – murrten. Ich hielt entgegen, man solle dem Mann eine Chance geben, das sei doch bewundernswert, daß er das Wagnis auf sich genommen habe. Ja schon, sagte einer der beiden, aber doch nicht bei einer Deutschen Meisterschaft!

Mir war so einer sympathisch, auch wenn er nicht meinen Vorstellungen von einem Marathonläufer entsprach; an ihm konnte ich mich orientieren. Was die Spitze leistete, nie würde ich auch nur in deren Nähe geraten. Doch so wie sich der Letzte bewegte, das müßte ich doch auch können. Ich war schon damals dafür, solche Läufe für jedermann zu öffnen. Das war auch möglich, Qualifikationszeiten wurden erst später eingeführt. Allerdings gab es dann auch immer mehr Marathonläufe für Volksläufer, so daß die Meisterschaften nicht mehr durch uns verwässert zu werden brauchten.

Ich habe den Eindruck, man ist heute wieder am Ausgangspunkt angelangt. 1075 hatten sich zur Deutschen Meisterschaft in München gemeldet, und wie ich dann an der Strecke sah, war es keinesfalls die Crème de la Crème. Selbst die Spitzenleistung lag nur 1:43 Minuten unter der von 1967, das ist nicht gar so viel, wenn man bedenkt, was sich in vierzig Jahren auf der Marathonstrecke verändert hat. Der vierschrötige Marathonläufer aus Hannover, wenn ich mich recht erinnere, wäre am Sonntag in der Deutschen Meisterschaft überhaupt nicht aufgefallen. Mit seiner Zeit von damals ungefähr 4:45 Stunden hätte er am Sonntag etliche hinter sich gelassen; die Schlußzeiten betrugen 4:53 bis 4:56 Stunden. Ich bin noch immer bei der Deutschen Meisterschaft 2006. Nur 236 Männer blieben unter 3 Stunden und nur 91 Frauen unter 3:30 Stunden. Mir scheint eine seltsame Vermischung stattzufinden: Die Spitzenläufer sind bei den internationalen Stadtmarathons anzutreffen (wiewohl auch München diesen Anspruch erheben darf), und Volksläufer drängt es zur Deutschen Meisterschaft.

Wieder habe ich mich am Sonntag wenn nicht an den Letzten, so doch an den Vorletzten orientiert. Wenn ich in den vergangenen Jahren unter den Letzten ins Ziel kam, konnte ich mir selbst nicht zusehen; am Sonntag wollte ich sehen, wie wir am Schluß wirken. Ich gestehe, die Läufer-Erscheinungen, denen man die Mühsal ansah, haben mich ermutigt. Der letzte benötigte 6:20:41 Stunden, zusammen waren es 9 Männer mit über 6 Stunden. Gut, man mag sich fragen, ob das dann noch ein Marathonlauf im klassischen Sinne sei, keine 7 Kilometer in der Stunde. Doch die Maßstäbe haben sich verschoben; den K 42, den Zermatt- oder den Graubünden-Marathon in dieser Zeit zu bewältigen, bedeutet eine achtbare Leistung. Bei Stadtmarathons stellt sich nur die Alternative, als Sechs-Stunden-Läufer und -Geher noch daran teilzunehmen oder sich für immer zu verabschieden. Das jedoch kann nicht im Sinne lebenslangen Sporttreibens sein. Dem Sport ist der Wettbewerb immanent. Man kann Sport auch ohne Wettbewerb betreiben, aber man darf es. Auch der Marathon muß offen bleiben für Menschen, die den sportlichen Wettbewerb suchen. Ich kämpfe um die M 80, nämlich daß mehr Altersgenossen starten und daß Veranstalter die M 80 ausdrücklich ausweisen. Das ist in München der Fall gewesen, nur gab es keine Achtzigjährigen.. Ein Marathon in sechs Stunden müßte doch für Achtzigjährige zu schaffen sein. Ob ich es noch schaffe, steht dahin, aber versuchen will ich es. Doch noch kann ich nur in kurzen Intervallen laufen.

Gedanken und Emotionen beim München-Marathon. Ein wenig schmerzlich war es schon zuzusehen, gerade jetzt, da der Medien-Marathon aufgegangen ist im 21. München-Marathon. Achtmal bin ich in München gelaufen, auch beim 1. München-Marathon, dem Oktoberfest-Marathon 1977, den „Tarzan“, der Architekt Alfred Pohlan, ins Leben gerufen hatte. Der stämmige, aber durchaus wohlgebaute Mann pflegte im Tigerhöschen und sonst nichts zu laufen. Ich erinnere mich an einen Marathon in München, bei dem es im April schneite. Doch Tarzan lief ihn ungerührt mit nacktem Oberkörper. Beim 1. Oktoberfest-Marathon durften wir im Olympiastadion nicht ins Allerheiligste, ins Stadion. Marathonläufer ließ man seinerzeit im Sinne des Wortes außen vor.

Daher zeigt das Foto von damals nur als Hintergrund das eindrucksvolle Damen-Nylonstrumpf-Zeltdach des aus Dresden stammenden Architekten Behnisch, der in Schwäbisch Gmünd 1954, als ich dort gerade Lokalredakteur war, seine erste Schule gebaut hatte. Meine Zeit von 3:27:57 im Jahr 1977 finde ich heute gar nicht schlecht. Offenbar mußten wir einfach schneller sein, sechs Stunden Zeit gab es nicht.

Am Sonntag saß ich oben im VIP-Bereich – Floskel: „daß ich das erleben durfte“ – und blickte auf die wegen Auswanderung des Fußballs erhalten gebliebene Tartanbahn, auf der die Tausende portionsweise einliefen. Als ich selbst dort unten zu den Akteuren gezählt hatte, empfand ich mich als in einem riesigen Kessel befindlich, Hochgefühle hatte ich zumal in Anbetracht Zehntausender leerer Sitze nicht. Am Ziel und gefangen in einem scheinbar ausweglosen Käfig. In der Tat mußten wir dann die Tribünenstufen erklimmen, um den Weg nach draußen zu finden Von oben hingegen wirkt die Stadionlandschaft nicht nur beeindruckend, sondern auch freundlich. Wieder bewahrheitet sich: Es kommt auf den Standpunkt an.

Eintragung vom 3. Oktober 2006

Ich weiß, daß ich unrationell arbeite. Vielleicht ist Schreiben an sich unrationell, ebenso wie Kunst und Musik. Ich lese auch Sachen, die nur am Rande meines jeweiligen Themas liegen. Mein Thema war: Sport im Alter. Da wollte ich wissen, seit wann beschäftigt sich die Medizin mit Sport im Alter, ja überhaupt mit Sport? Ich stieß auf die Entwicklung der Sportmedizin, die ja noch immer kein eigenständiges Fachgebiet in Deutschland ist, sondern nur eine Zusatzbezeichnung, eine, die nach meinem Eindruck immer mehr Ärzte erwerben. Wann haben Mediziner den therapeutischen Wert von Bewegung entdeckt? Ich will nicht auf Hufeland hinaus; er scheint mir noch in die vorwissenschaftliche Epoche hineinzureichen, obwohl viele seiner Ratschläge noch immer aktuell sind.

Wer von dem modernen Begriff Bewegungstherapie spricht, kommt wahrscheinlich um den Namen Wolfgang Kohlrausch nicht herum. Ich bin dem Namen erstmals im Zusammenhang mit der Freudenstädter Kur begegnet. Bei meiner Internet-Recherche stieß ich auf eine Dissertation von Angelika Uhlmann über Wolfgang Kohlrausch (1888 - 1980) und die Geschichte der deutschen Sportmedizin. Der Titel lautet: „Der Sport ist der praktische Arzt am Krankenlager des deutschen Volkes“. Ich rätsele, was uns die Autorin damit vermitteln will. Hat sie den Titel gewählt, weil er so schön nazistisch klingt? Doch das Zitat stammt vom damaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer, als er Ende der zwanziger Jahre ein Stadion in Köln einweihte. In der Zeit Adenauers lehnte ich die westdeutsche Restauration heftig ab. Doch den bildhaften Satz, den Adenauer damals prägte, finde ich treffend, auch wenn er für unseren heutigen Sprachgebrauch etwas fremd klingt, altväterisch vielleicht, doch so wirkt Hufeland auf uns heute auch.

Dr. Uhlmann hat sich eines in der Adenauer-Zeit verdrängten und jahrzehntelang vernachlässigten Themas angenommen. Ich habe mit großem Interesse gelesen, was sie über Professor Kohlrausch und die Sportmedizin während der Nazizeit akribisch zusammengetragen hat. Sie hat ja völlig recht, wenn sie die Verstrickung eines angesehenen Mediziners und seiner Kollegen in den Nationalsozialismus enthüllt. Insofern bin ich völlig mit dem Ansatz und dem Konzept einverstanden. Aber was mich ärgert, ist die tendenziöse Darstellung. Dieser Wolfgang Kohlrausch war ja wohl kein Lumpenhund und kein Nazi-Schwein. Einer wilhelminischen Gelehrtenfamilie entstammend und vom Großbürgertum geprägt, paßte er sich den Nazis an, ergriff die Chance, die sie ihm an der Reichsuniversität Straßburg boten, und wand sich nach dem Krieg aalig durch die Entnazifizierung. Ein solches Lebensbild ist in Deutschland wirklich nichts Auffälliges; seine Darstellung kann jedoch exemplarisch sein, und so war es wohl auch gemeint. Doch die Autorin der Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. B. beläßt es nicht bei den eindrucksvollen Fakten, sie schwingt sich zur Richterin auf. Mich wundert, daß dies in Freiburg nicht als unwissenschaftlich, weil geschichtswissenschaftlichem Prinzip widersprechend, gerügt worden ist.

Mir selbst ist die Sprache des Professors Kohlrausch unsympathisch, so wie ich auch mit der Sprache Carl Diems in manchen seiner Äußerungen Probleme habe. Es ist leider die Sprache des Zeitgeistes im Bürgertum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch ebensowenig wie man Carl Diem aus der Sportgeschichte tilgen kann, die es ohne ihn in Deutschland so gar nicht gegeben hätte, kann man Kohlrausch nicht als jämmerlichen Karrieristen abtun. Er hat ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der damals jungen Sportmedizin geschrieben. Auf seine Krankengymnastik der zwanziger Jahre geht ein gut Teil der heutigen Bewegungstherapie zurück. Ob sein jüdischer Kollege Victor Gottheiner Veröffentlichungen von Kohlrausch gelesen hat oder nicht, – beide haben dasselbe gewollt. Was mich geradezu ärgert: Angelika Uhlmann prangert an, daß Kohlrausch seine nach wie vor aktuellen Gedanken in der Weimarer Republik, in der Nazizeit und in der Adenauer-Republik zu realisieren versucht hat. Ja, was erwartet man denn von einem engagierten Arzt? Zum ärztlichen Ethos gehört nach meiner Meinung, daß den Menschen ohne Ansehen ihrer Weltanschauung geholfen wird. Wenn es der Philosophiestudentin Uhlmann bei der Beschäftigung mit Kohlrausch gar nicht um den unpolitischen Mediziner, sondern um die sozialpsychologischen Phänomene in der Nazizeit gegangen sein sollte, warum hat sie sich dann nicht viel lohnendere Objekte ausgesucht als Kohlrausch oder Diem? Kohlrausch mußte sich nicht wegen seiner ärztlichen Tätigkeit und seiner Gedanken, die vielleicht den Nazis besonders genehm waren, schämen. Aber die anderen, die sich hätten schämen müssen, weil sie nicht Mitläufer, sondern Akteure waren, traten unverfroren an die Öffentlichkeit und bestimmten das politische Leben der Nachkriegsjahre in Westdeutschland. Den Besatzungsmächten waren die Deutschen zu wertvoll, als daß sie das Auftreten von Nazis im öffentlichen Leben unterbunden hätten – der Preis für diese Zurückhaltung wird jetzt eingelöst. Die Enkel schütteln den Kopf: Der Verfasser der Nürnberger Rassegesetze in der Regierung Adenauer, der unabkömmlich gestellte stellvertretende Abteilungsleiter aus dem Propagandaministerium als Bundeskanzler, ein NSDAP-Mitglied als Bundespräsident, ein Marinerichter als Ministerpräsident und so fort, die Nazischreiber saßen in den Redaktionen demokratischer Zeitungen, Nazi-Generäle bauten die Bundeswehr auf, die Nazis des Auswärtigen Amtes wurden im demokratischen Deutschland geehrt, keinem Nazi-Juristen ist der Prozeß gemacht worden. Wernher von Braun wurde von den Amerikanern geholt, und Schleyer wurde Arbeitgeberpräsident. Erst recht ist keinem Gewerkschaftsfunktionär der fünfziger Jahre vorgehalten worden, daß er Jahre zuvor vielleicht Granaten für die Rüstungsindustrie gedreht hat. Die in der Nazizeit aktive Generation war ja 1945 nicht vom Erdboden verschwunden, und das Nationalkomitee Freies Deutschland, das sich aus Kriegsgefangenen rekrutierte, war ja wohl auch keine Alternative. Auch in der Sowjetzone/DDR waren die Genossen nicht wählerisch. Es kam nur darauf an, ob sich ein Brauner oder Braungefärbter nun zum Arbeiter- und Bauernstaat bekannte.

Von der Nazizeit kann sich niemand dispensieren, der in ihr unbeschadet gelebt hat. Sicher hat ein Mediziner an exponierterer Stelle gewirkt als ein in der Rüstungsindustrie Beschäftigter oder ein an Nazideutschland glaubender Soldat in Stalingrad. Einem akademischen „Mitläufer“ daraus einen Strick zu drehen, ist unhistorisch. So sehr ich Dr. Angelika Uhlmann in ihrer kritischen Betrachtung zustimme, so sehr ärgert mich ihr undifferenzierter Umgang mit den Fakten. Ein Beispiel: Sie zitiert Kohlrausch aus dem Jahr 1957 und macht daran die Fortsetzung nazistischen Ungeistes in der Bundesrepublik durch Mediziner der Nazizeit fest: „Krankheiten, die durch Unterlassung regelmäßiger Bewegung entstehen, sind selbst verschuldet... Jede Krankheit ist eine Beeinträchtigung der sozialen Leistung und geht mit zu Lasten unserer Mitmenschen... Wo nehmen die Menschen den Mut her, ihre Gesundheit durch Unterlassung regelmäßiger Bewegung leichtfertig aufs Spiel zu setzen?“ Was daran ist falsch, was daran ist nazistisch? Unter Hitler sind die Autobahnen und das Volkswagenwerk gebaut worden; niemandem wäre es später eingefallen, die Autobahnen nicht zu benützen und keinen Volkswagen zu kaufen. Da die Nazis mehr Sport in der Studentenschaft eingefordert hatten, ist der diskrete Hinweis, Kohlrausch und Diem hätten in den fünfziger Jahren beklagt, daß nur 10 Prozent der Studenten Sport trieben, eine perfide Unterstellung, Kohlrausch und Diem seien den nazistischen Gedankengängen verhaftet geblieben.

Da dies keine Buchbesprechung, sondern eine Tagebucheintragung ist, mit der ich mir selbst Rechenschaft über die Rezipienz einer wissenschaftlichen Untersuchung ablege, kann ich unvermittelt abbrechen. Laufen freilich werde ich heute nicht mehr, das Wetter ist zu scheußlich.

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