Laufen, Schauen, Denken Sonntags Tagebuch |
Kaum ist der Schnee weg, schon staubt’s. Die Autos, die mir auf den nur für Anliegerverkehr erlaubten Straßen durch die Felder entgegenkommen, wirbeln Schwaden von Staub auf. In diesem Jahr mehr als sonst. Tonnen von Splitt liegen noch auf den Straßen. Eimerweise habe ich den Splitt von der Fläche vor meiner Garage weggetragen dorthin, von wo er gekommen war. Der Behälter des Bauhofs füllt sich, bald wird er so voll sein wie zu Beginn des Winters. Recycling besonderer Art.
Dieser Tage wunderte ich mich abends, als ich in den Spiegel schaute, über mein rotes Gesicht. Was ist das? Was schleicht sich da an? Nicht von innen kam die Röte. Die März-Sonne hat ihre Kraft entfaltet. Jetzt trage ich vor dem Laufen ein Sonnenschutzmittel auf. Es steht ja noch genug herum, in jedem Jahr gibt es Proben.
Die Zeit des Jammerns ist zuende. Der Standard vor der verlorenen Trainingszeit scheint bald zurückgewonnen. Ob ich ihn bis zum Marathon erreicht haben werde, wird sich zeigen.
Gestern morgen konnte ich mich noch an einen Traum erinnern. Andere träumen, daß sie flögen, was angeblich sexuelle Bedeutung hat, ebenso wie das Abstürzen. Manche träumen vom Eisenbahnfahren, von verpaßten Anschlüssen. Als ich mir ein neues, schnelleres Auto gekauft hatte, träumte ich, daß ich aus der Kurve flöge. Nur diesen scheinbaren Zustand träumte ich. Offenbar war ich träumend doch auf der Straße geblieben, denn dem Traum vom Aus-der-Kurve-Fliegen folgte nichts mehr, kein Crash. Nun habe ich wieder vom Laufen geträumt. Ganz realistisch. Es war nicht das erstemal. Ich lief und kam doch nicht recht vom Fleck. Ich lief mit vielen Läufern zusammen, aber wir hatten unterschiedliche Strecken, ähnlich wie beim 24-Stunden-Lauf, bei dem Staffelläufer und Einzelläufer unterwegs sind. Ich überlegte angestrengt, welche Strecke ich zurückzulegen hatte. War ich auf der Marathonstrecke oder der 100-Kilometer-Strecke? Ich lief, aber ich wußte nicht, zu welchem Ziel ich lief. Ob es eine physiologische Erklärung dafür gibt? Marianne, die mich schlafen gesehen hat, meint, ich litte an restless legs, laut Pschyrembels Klinischem Wörterbuch „syn. Anxietas tibiarum, Syndrom der unruhigen Beine, Wittmaack-Ekbom-Syndrom“, meist nachts auftretenden „Dysästhesien und Parästhesien im Bereich beider medialer Ober- und Unterschenkel, evtl. lageabhängig; es besteht das Bedürfnis, die Beine zu bewegen“. Na ja, das Bedürfnis habe ich eigentlich nicht, die Bewegung vollzieht sich ja unbewußt in tiefem Schlaf. Marianne meint, ich würde an dieser Stelle die Bettlaken rauh und dann dünn strampeln. Bei Hunden kann man manchmal beobachten, daß sie im Schlaf jagen. Kein Mensch käme auf die Idee, deswegen mit dem Hund zum Tierarzt zu gehen. Bei Menschen ist es gleich ein Syndrom, doch der Pschyrembel wiegelt ab: „Die neurologische Untersuchung ergibt keinen pathologischen Befund“. Dennoch wird ein Behandlungshinweis gegeben: Phenobarbital und Vasodilatatoren. Den Teufel werde ich tun, ich strample weiter.
Im „Spiegel“ dieser Woche ein Stück über ein demnächst erscheinendes Buch von Frank Simoneit gelesen. Der Autor hat für „Marathon die Herausforderung“ Personalabteilungen zu ihrer Meinung über Marathonläufer befragt. Zwar habe ich den Text im „Spiegel“ nur rasch beim Metro-Einkauf gelesen, aber offenbar hat sich bei der Umfrage abgezeichnet, daß eine gute Marathonzeit bei einigen Personalleitern nicht als Empfehlung gilt. Unverdächtig ist danach eine Zeit um vier Stunden. Über dem Training dafür sei noch Zeit für andere Interessen. Bei drei Stunden sehe es anders aus. Da war die Rede vom „einsamen Wolf“, der durch die Gegend läuft, während im Betrieb gerade Teamfähigkeit gefragt sei. Kopfschütteln. Es gibt eine ganze Anzahl von Freiberuflern, darunter viele Ärzte, die Marathon unter oder um die drei Stunden laufen. Sitzen den Patienten oder Klienten einsame Wölfe gegenüber? Wenn Bewegungsarme die Entwicklung schon nicht mehr umkehren können, so sorgen sie mit ihrer Inkompetenz dafür, daß sich Vorurteile ins Personalbüro einschleichen. Da rauchen Manager wie zum Beispiel Professor Jürgen E. Schrempp von DaimlerChrysler und offenbaren damit ein persönliches Defizit. Da sind offenbar vier Ehen, was nicht eben für Teamfähigkeit spricht, kein Hindernis, die Betreffenden an die oberste Spitze von Teams zu stellen. Aber eine Marathonzeit von drei Stunden ist verdächtig!
Heute morgen kam Marianne aufgelöst aus dem Garten. Am 1. April hätte ich es für einen Scherz gehalten, doch Marianne war aufgeregt: Eine Kröte habe einen der Goldfische im Becken gepackt. und sei mit ihm abgetaucht. Offenbar wollte sie sich mit ihm paaren. Das perverse Schwein. Was tun? Beide nicht mehr zu sehen. Am Vormittag dann waren alle Fische wieder beieinander; doch der Zugriff der Kröte hat den ungeeigneten Partner an der Seite verletzt. Rat in der Zoohandlung gesucht. Wenn Fische die Flossen anlegen, sei es ernst. Unsere Fische schwimmen jedoch wieder ganz munter. Marianne hat ihnen ein heilendes Mittel ins Wasser gegeben; ich wußte bis dahin nicht, daß es so etwas gibt. Schade, daß eine solche Therapie nicht auch für Menschen möglich ist. Wir sind einfach viel zu kompliziert.
Gestern abrupter Wechsel der Jahreszeiten. Der Garten noch schneebedeckt, schon sprießen wie über Nacht die Schneeglöckchen. Die dicke Eisplatte im Gartenteich schmolz zusehends. Durch das Eis sah ich einen rötlichen Fleck, heute hat sich bestätigt: die drei Goldfische haben ihr Eisgefängnis überlebt. Noch wagen sie sich jedoch nicht an die Wasseroberfläche. Den schwarzen Fisch können wir noch nicht entdecken. Einen Gartenstuhl habe ich schon aus dem Keller geholt, man kann in der Sonne sitzen. Einen meiner Nachbarn von gegenüber habe ich heute zum erstenmal wieder auf dem Balkon gesehen. Sonst kann er die Wohnung nicht mehr verlassen; im April wird er hundert Jahre alt. Heute blühen die Schneeglöckchen nicht allein, ein Krokus dazu, auch die Primeln primeln. Vor dem Haus dagegen liegt noch eine Schneedecke, an der Straße schmutzig bespritzt. Gestern bin ich dem ersten Läufer in kurzen Hosen begegnet. Als Zeichen des Frühjahrs sind die kurzen Hosen fast noch verläßlicher als die Natur.
Heute vom Arzt das Plazet fürs Laufen bekommen. Es wird höchste Zeit. Der Atmungsapparat ist wieder frei, die Luft reicht. Aber sonst reicht nichts. In der Zwischenzeit bin ich die Strecke dreimal rasch gegangen, ich war nicht gar so viel länger unterwegs als beim Laufen. In „Runner’s World“ sehr aufmerksam den Crash-Kurs von Martin Grüning gelesen; das war wie für mich geschrieben. Wenn ich’s in vier Wochen nicht schaffe, dann muß ich eben auch beim Ruhr-Marathon immer wieder ein Stück gehen. Schließlich kommt’s drauf an, den Anschluß wieder zu finden.
Im e-mail-Briefkasten mehren sich die Lauf-Informationen. Der Medien-Marathon in München bietet neuerdings eine Startplatzbörse. Man kann bis zu zehn Tagen vor dem Termin, dem 9. Oktober, seinen Startplatz umschreiben lassen, ihn also ganz legal verkaufen. Andere Veranstalter schließen das grundsätzlich aus. Dennoch standen beim letzten Berlin-Marathon vor der Messe noch Besitzer von Startnummern, die sie abgeben wollten. Wenn ich bedenke, wie sehr die Anmeldegebühren gestiegen sind und wie früh man sich selbst bei den nicht ganz so großen Veranstaltungen anmelden muß, wäre es schon ärgerlich, wenn man dann infolge persönlicher Umstände, einer Erkrankung, einer Verletzung oder eines unaufschiebbaren Termins wegen, auf seiner Investition sitzenbliebe. Ich hoffe, daß Gernot Weigls Angebot der Startplatzbörse Schule macht. Der Schwäbische-Alb-Marathon erteilt, wenn man nicht starten kann, seit Jahren schon eine Gutschrift fürs folgende Jahr. Auch das ist ein Weg. Von den 518 zum Medien-Marathon Gemeldeten bietet einer bereits in der Börse seinen Startplatz an.
Der Wieder-Einstieg ist schwer. Ich kenne einen Läufer, den es bei solcher Gelegenheit aus der Bahn getragen hat. Er fand nicht mehr zum Lauftraining zurück, im Nu Gewichtszunahme. Nichts ging mehr. Er hat es schließlich doch wieder geschafft. War es ein Jahr oder länger, daß er pausiert hat? Bloß, weil der Anfang so schwer gewesen war. Ein warnendes Beispiel. Nach zehn Tagen habe ich begonnen, die Laufstrecke zu wandern. An den nächsten beiden Tagen bin ich 45 Minuten getrabt und gegangen. Seit vier Tagen lege ich die ganze Hausstrecke trabend und gehend zurück. Der Winter kommt mir insofern entgegen, als ich ohnehin ganze Abschnitte gehen müßte. Der größte Teil der asphaltierten Feldwege ist geräumt. Dort wo noch Schnee liegt, hat sich täglich der Asphalt wieder ein Stück mehr ausgebreitet. Allerdings, wo am Tag zuvor der Schnee noch festgetreten war, ist er nun sulzig. Ich muß kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich auf diesen Abschnitten gehe. Es ist nicht auszumachen, ob es die Bronchitis ist, die mich behindert, oder ob der Wieder-Einstieg nach der Laufpause so schwer fällt. Eine Binsenwahrheit: Wenn man alt ist, dauert diese Phase um einiges länger. Mit drei Tagen Aufbau ist es nicht mehr getan.
Obwohl ich laufen kann, habe ich dennoch den Arzt konsultiert. Wir haben über unsere Marathons gesprochen, er will den Marathon in Hamburg laufen, ich eine Woche vorher den Ruhrmarathon von Oberhausen nach Essen. Die Bronchitis war schon ohne Abhören unüberhörbar. Schweres Geschütz aus der Apotheke. Von der ersten Kapsel ist mir schlecht geworden, seither geht es. Der Beipackzettel ist grausig. Die Nebenwirkungen reichen bis zum lebensbedrohlichen Schock. Glaubhaft, daß allein in Deutschland jährlich Tausende von Menschen an ärztlich verordneten Medikamenten sterben. Bleibt die Hoffnung, daß ein trainierter Körper auch mit Gift fertig wird. Die Temperaturen sind gestiegen, die Gefahr für die Bronchien hat sich reduziert. Nur ich selbst merke beim Laufen noch, daß ich eine Bronchitis habe. Laufen bringt alles an den Tag, fein säuberlich Gesundheit und Krankheit.
Der Hang ist heute verlassen. Gestern waren die Kinder noch hinunter gerodelt. Jetzt sind nur noch braune Schleifspuren in der dünnen Schneedecke.
Meine Nachbarin habe ich seit Wochen nicht mehr gesehen. Sie rührt kaum einen Fuß vors Haus. Und da mache ich mir Gedanken, wenn ich eine Laufstrecke nur wandere! Auf dem Schreibtisch liegen Ausdrucke des Gesetzes zur Stärkung der Prävention und der Stellungnahmen dazu. Ob das Gesetz außer der Geldausgabe von 250 Millionen etwas bringt? Meine Nachbarin wird weiterhin Prävention selbst durch das bescheidenste Bewegungstraining mißachten. Und kein Gesetz wird sie zur Prävention durch Bewegung zwingen.
Licht am Horizont. Hinter mir: Appetitlosigkeit zwei Tage lang. Eine Nacht durchgeröchelt, den Kopfteil des Lattenrostes steil gestellt. Das fiebrige Gefühl ist am Samstag verschwunden, am Sonntag Zustand erheblich gebessert. Spaziergang, die Umgebung wie an einem Winterkurort. Abends zwei Viertel Glühwein getrunken nur so, Glühwein paßt so gut zum Schnee draußen. Wer auch immer den Kopf schüttelt, der Glühwein hat mir gut getan. Überzeugt, die Grippe sei überwunden. Was mich beunruhigt hat, ist die Bronchitis. Heute bin ich meine Laufstrecke gewandert, besser abgehustet als nach einem Tee. Auf Nasenatmung geachtet. Auf der Wanderung das Panorama der Schwäbischen Alb genossen. Unterwegs einige Läufer merkwürdiges Gefühl, ihnen in Hut und Mantel zu begegnen. Bedürfnis zu sagen: Ich bin einer von euch. Heute abend das Gefühl, wiederhergestellt zu sein. Dennoch, ich werde äußerst vorsichtig sein. In Erinnerung ist mir, daß sich Professor Uhlenbruck eine Herzmuskelentzündung eingehandelt hat, als er nach einer Grippe zu früh auf die Laufstrecke ging mehrwöchiger Klinikaufenthalt damals. Ich muß aufpassen, daß ich meine Bronchien nicht strapaziere. Vielleicht morgen erstmals eine halbe Stunde. Ich muß nichts übers Knie brechen. Was tut’s, daß ich im März eben keinen Marathon laufen werde, sondern nun erst im April. Im Grunde war die Grippe gut terminiert. Draußen Schnee und Eis, da läuft es sich ohnehin schlecht, Minustemperaturen, die den Bronchien nicht gut tun, kein Wettbewerbsdruck, Zeit zum Auskurieren. Den strapazierten Adduktoren ist die Laufpause auch gut bekommen, beim Wandern kein Ziehen mehr.
Ich hoffe, daß meine Krankheit heute stattgefunden hat. Seit vier Tagen nicht gelaufen. Schnupfen, Feuer in den Bronchien, leichter Kopfschmerz, am Rücken ein Gefühl wie Gänsehaut, wärmebedürftig. Heute vormittag habe ich mich um 11 Uhr hingelegt und nicht einmal das Signal zum Mittagessen gehört. Vielleicht waren die anderthalb Stunden heute die Krise. So schlimm ist es nun gar nicht mit dem Kopfschmerz. Ich kann schreiben.
Ich erinnere mich an eine Grippe, kurz nachdem ich 1957 in das Baden-Württemberg-Ressort der „Stuttgarter Zeitung“ eingetreten war. Das Ressort war mit drei Kollegen besetzt. Einer wechselte gerade innerhalb des Hauses, ein neuer war noch nicht bestellt. Der Primus inter pares jedoch, ein erfahrener Kollege, bei dem ich die Finessen der deutschen Sprache erlernt habe, mußte sich plötzlich einer Gallenoperation unterziehen. Mir wurde zwar eine Volontärin beigegeben, aber wenn jemand ausgebildet werden soll, ist das eher mehr Belastung als Hilfe. In dieser Situation ereilte mich die Grippe. Die Blöße wollte ich uns nicht geben, daß das gesamte Ressort zusammengebrochen sei. Also schleppte ich mich durch. Die einzige Pflege, die ich mir angedeihen ließ, war, daß ich in der Setzerei den Umbruch sitzend, statt vordem stehend, überwachte. Es ging. Die Krankheit nahm ich dann am Samstag, denn am Sonntag hatte ich ja wieder Dienst.
Darum hoffe ich, daß sich der Tiefpunkt meiner Erkrankung auf heute vormittag beschränkt hat. Ursprünglich hatte ich heute laufen wollen. Jetzt werde ich vorsichtig sein und fürs erste meine Laufstrecke wandern. Wann das sein wird, werde ich hoffentlich morgen wissen. Wenn ich und der Heilige Vater krank sind, spricht sich das herum. Marianne ist heute von zwei Frauen gefragt worden, ob ich krank sei. Ich sei seit einigen Tagen nicht mehr beim Laufen gesehen worden. Ja, wenn die Welt auf mich und den Heiligen Vater blickt, muß das unbedingt zur Genesung beitragen. Krank sein ein Gefühl, Verwöhnung in Anspruch nehmen zu dürfen. Vielleicht brauchen wir das von Zeit zu Zeit, aber bitte nur sparsam.
Mit der Lektüre eines Frauenlaufbuches begonnen. Weit bin ich mit dem Lesen nicht gekommen. Obwohl ich viel eher ins Bett gehe, ist das Schlafbedürfnis groß.
Gestern hätte ich es mit Langlauf-Ski versuchen können. Wahrscheinlich hätte es meinen Adduktoren gut getan. Oder doch nicht? Möglicherweise sind die Abstoß- und Gleitschritte länger als die Laufschritte und beanspruchen vielleicht die Adduktoren noch stärker als das Laufen. Seit Jahren nicht mehr auf Ski, doch die gesamte Ausrüstung ist vorhanden, müßte allerdings zusammengesucht werden. Laufen ist Gewohnheit, Skilanglauf hingegen Urlaubssport, und dies seit Jahren nun auch nicht mehr. Und dann: Vier Durchgangsstraßen sind zu überqueren.
Als wir vor über vierzig Jahren mit dem noch ziemlich jungen VW-Käfer, der noch gar nicht Käfer hieß, sondern VW Export, in das damals noch unbekannte St. Michael unterhalb des Katschberges fuhren, mußte ich in Radstadt die Ketten auflegen lassen, nicht nur um über den Tauernkamm in das Hochtal von St. Michael zu kommen, sondern auch um mich im Lungau bewegen zu können. Durch die Ortsstraßen war der Schneepflug gefahren, gestreut war auch, aber nicht mit Salz. Auf den Straßen lag eine feste Schneedecke. Als wir zu viert von einem Abend am Kaminfeuer in einem Wochenendhaus von einer Datscha sprach man in Österreich nicht in Wintermänteln im frostigen Auto heim nach St. Michael fuhren 40 Kilometer in der Stunde war die Höchstgeschwindigkeit mit Ketten , sagte Albert, der Lehrer, in das vernehmliche Kettengeräusch hinein: „Mit der Transsibirischen Eisenbahn durch den Lungau“. Winter im Lungau ich müßte zu erzählen anfangen, von Rosl auf Schloß Moosham, von Canasta-Runden, von Stierlauer-Ochsenblut-Abenden, von Michaels Gesangsproben, von Loysi, die insgeheim die Jäger wohl verspottete, die sie bewirtete, weil Michael sie ihr ins Haus brachte. Die Schneeketten sind verrostet und eines Tages entsorgt worden, Loysi ist tot, Albert ist tot. Der Wastl-Wirt, bei dem wir gegessen hatten, ist ein gehobenes Ferienhotel. 1989 zu Loysis Beerdigung war ich das letztemal hier. Als ich Anfang der siebziger Jahre auf Langlaufski umgestiegen war, machte ich den Vorschlag, in dem von der Mur durchflossenen Tal winters die Zäune zu öffnen für Skilangläufer. Doch außer mir gab es damals im Lungau kaum welche. Es dauerte vielleicht ein Dutzend Jahre, bis hier der Skilanglauf entdeckt und eine Loipe entlang der Mur gespurt war. Vor ein paar Wochen habe ich flüchtig irgendwo gelesen, im Lungau habe ein Marathon stattgefunden. Die Zahl der Teilnehmer habe 22 betragen. Aber gewiss doch, im Lungau dauert alles seine Zeit, und kaum jemand hat vor dem Marathon von einem Marathon im Lungau erfahren. Mit Sicherheit war ich in den siebziger Jahren, wenn wir unseren Sommerurlaub in St. Michael verbrachten, der einzige Läufer im Lungau gewesen. Als ich gestern durch den Schnee lief, habe ich intensiv an unsere Winterwochen im Lungau gedacht.
Auf meiner Laufstrecke ist die Schneedecke für Ski noch zu dünn. Es läuft sich besser, als die Ski gleiten würden. Es gab allerdings Abschnitte, auf denen ich gehen mußte. Der Wind pustete mir Schneekristalle ins Gesicht. Da war ich dann froh, wieder ins warme Haus zu dürfen. Der Winter hält an. Morgens vernehme ich das Schneekratzen, denn Schnee wird als lästig empfunden. Und wenn man jeder Haftungsfrage aus dem Weg gehen will, entfernt man den Schnee am besten so, daß der Gehweg aussieht wie im Sommer schwarzer Asphalt.
Am Dienstag bin ich nicht gelaufen, dafür Läufern auf dem Bildschirm begegnet. Weil wir uns über die Großwetterlage im Land informieren wollten, haben wir die Landesschau von SWR angeschaltet. Da wurde gerade über eine Laufgruppe berichtet, die an der Aktion des SWR „Von Null auf Zweiundvierzig“ teilnimmt. Sie wird regelrecht auf den Gutenberg-Marathon in einem Vierteljahr hingetrimmt. Koste es, was es wolle. Und es kostet. Kniebeschwerden waren das Thema, und dies bei Menschen, die vor einem Dreivierteljahr erst begonnen haben zu laufen. Aus eigener Erfahrung wissen wir, daß man sich in zwei Jahren allmählich an den Marathon herantasten kann. Langsam laufen? Ein Orthopäde in Freiburg, selbst Marathonläufer, äußerte, wenn man für einen Marathon fünf Stunden benötige, sei das Risiko viel höher als bei den Schnellen. Er meinte damit gar diejenigen, die wenig mehr als zwei Stunden liefen. Als ob der Zeitfaktor der einzige Belastungsfaktor wäre! Die Ansicht des Orthopäden wurde nicht kommentiert. Er ist ja Experte.
Im März-Heft von „Psychologie heute“ steht ein Beitrag von Detlef Vetten, dem ehemaligen Sportressort-Leiter des „Stern“. Endlich einmal ein Journalist, der selbst zum Ultralauf gefunden hat. Was mich besonders gefreut hat, ist die im Journalismus seltene kritische Haltung zu der Theorie, daß die Endorphin-Ausschüttungen zu „Runner’s high“ führten. Vetten bezog sich auf Oliver Stoll. Als wir uns in Esslingen begegneten, war Stolls erste Frage, was ich von der Endorphin-Theorie hielte. Wir stellten sofort Einvernehmen her. In „Psychologie in Ausdauersportarten“ haben Stoll und Ziemainz die Theorie kritisch beleuchtet.
Das Problem des Bildjournalisten, der mich für einen Bericht zum Jubiläum des 300. Marathons fotografieren wollte: Wie fotografiert man einen Läufer, wenn er nicht läuft? Die Trophäenfächer meines Museumsschrankes natürlich völlig unaufgeräumt, völlig unsystematisch und viel zu dicht vollgestellt. Das Bild der Verrazano-Brücke vom New York Marathon 1978 unter der Glasscheibe verrutscht, auch kein Motiv. Ein T-Shirt über dem Arm ich meine, es war eines vom Rennsteiglauf; das muß gestellt wirken, welcher Läufer breitet ein Laufhemd vor sich aus, bevor er es anzieht? Dann fiel der Blick auf die Medaillensammlung. Zwar achtlos gehängt, aber eindrucksvoll. Wir hatten früher ein Wandtelefon im Korridor. Um die nüchterne Technik zu kaschieren, kauften wir ein zu diesem Zweck angebotenes Korbgeflecht, einen Tubus, in dem der schwarze Apparat versteckt werden konnte. Das muß aus der Zeit stammen, als man eine Rolle Toilettenpapier unter einem von Mutter selbstgestrickten Hut auf der Heckablage des Autos verbarg. In dem Korbgeflecht hatte unterm Wandtelefon noch ein Brettchen Platz, auf dem man Notizzettel und Stift unterbringen konnte. Dann schritt die Kommunikationstechnik voran, das drahtlose Telefon kam. Der Wandapparat hatte ausgedient und mit ihm das Korbgeflecht.
Und weil man einen solchen stabilen Kranz aus Rohr nicht wegwirft, durchzuckte mich die Idee, ihn zum Medaillenträger zu machen. Ich knüpfte einfach das Band an eine der Korbkrümmungen und ließ die Medaille baumeln. Bessere Stücke und die ohne Band finden im Museumsschrank Platz. Inzwischen ist der Korb ziemlich vollgeknüpft. Doch die vertikale Gliederung ein verschlungenes Band läßt die Medaille höher baumeln birgt noch Potential.Für den Fotografen nahm ich den Korbkranz zum erstenmal von der Wand. Nun hatte er sein Motiv, man wird sehen, ob ich mit der Medaillenkrone in der Hand komisch wirke. Weil ich das Gebinde nun schon mal in der Hand hatte, habe ich es auf die Waage gelegt. Was wiegen diese 100 oder 150 Medaillen? Gezählt habe ich sie nicht, aber sie wiegen fast 7 Kilogramm. Völliger Blödsinn, das zu wissen. Aber lustig. |
Immer mal wieder habe ich Christoph Wilhelm Hufeland zitiert. Als ich jetzt wieder auf seine „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ hinweisen wollte, empfand ich es als Mangel, ein solches Buch nicht zu besitzen. Ich versuche zwar, meine Bibliothek zu reduzieren; aber das Aussortieren kann mich vom Bücherkauf nicht abhalten. Wenn ich Hufeland lesen wollte, könnte ich ihn mir in der Württembergischen Landesbibliothek geben lassen. Doch wenn ich an den Aufwand denke und vor allem die Parkgebühr, ist es billiger, sich das Buch ins Haus schicken zu lassen. Über das Internet bin ich zu einem Taschenbuch gekommen, das war in der Tat billiger, als eine Stunde in der Tiefgarage der Landesbibliothek zu parken. Hufelands „Makrobiotik“ ist noch immer aktuell; ja, je mehr die Medizin fortschreitet, um so mehr gewinnt Hufelands Grundgedanke Gewicht, den ich so zusammenfassen möchte: Das menschliche Leben verlängert man, indem man es nicht verkürzt. Organstärke gewinnt man nach Hufeland an erster Stelle durch „Übung und Gebrauch der Muskelkraft und Faser, sowohl der willkürlichen, durch freiwillige Muskularbewegung, als auch der unwillkürlichen, z. E. der des Magens und Darmkanals, durch angemessene Reize.“ „Alle Organe, vorzüglich die, auf denen Gesundheit und Dauer des physischen sowohl als geistigen Lebens zunächst beruht, müssen gehörig organisiert, geübt und zu dem möglichsten Grad von Vollkommenheit gebracht werden.... Eine gesunde Lunge gründet man am besten durch reine freie Luft, und in der Folge durch Sprechen, Singen und Laufen.“
Ein Medizin-Handbuch ist die „Makrobiotik“ nicht, aber wir sollten heute eine solche Gesundheitslehre haben, wie sie Hufeland 1796 zu schreiben versucht hat. Der gravitätische Stil stört mich nicht. Mich überrascht immer wieder, wie klar auch in barock wirkenden Schnörkeln Gedanken ausgedrückt werden. Heute stoßen wir mehr und mehr auf einen Gedankenbrei. Das soll alles modern wirken, cool. Ja, da haben wir’s: Was ist cool? Kühl? Das war einmal, das haben unsere Großeltern, wenn sie zu den wenigen gehörten, die Englisch lernen konnten, verstanden. Heute entzieht sich das Modewort jeder exakten Definition. Wortinhalte werden nicht mehr abgeklopft, Hauptsache, sie machen etwas her.
Heute Tauwetter. Vor wenigen Tagen noch lief ich abschnittsweise wie auf Watte. Anderntags war der Schnee festgetreten. Dennoch spürte ich, wie mich der Schnee behinderte, der winzige Abstoß ging ins Leere. Seltsam, im Nebel zu wandern, so beginnt ein Gedicht von Hermann Hesse, das ich liebe. Seltsam, auf Schnee zu laufen....
Als ich mich in Bewegung gesetzt hatte, glaubte ich, keine 200 Meter laufen zu können. Die Kälte raubte mir den Atem, obwohl die Luft angenehm klar und frisch war. Nach etwa zehn Minuten war Atmen wieder selbstverständlich geworden und kein Kampf mehr. Doch die Füße wurden nicht warm. Noch unter der Dusche waren sie eisig. Anderntags nahm ich die Trailschuhe, die ich mir im vorigen Jahr gekauft habe. Nach dem Einlaufen habe ich sie nicht mehr im Training getragen, ich wollte sie für die langen Strecken und für den K 42 reservieren. In diesen Schuhen fühlte ich mich in der Kälte wohler; sie weisen nicht nur Nässe ab, sondern bewahren auch die Wärme besser. Wasserdicht sind sie nicht…Das habe ich heute wieder erfahren, die Socken waren vorn naß. Fast überall auf der Strecke war der Asphalt durchgekommen, zumindest in den Spurrinnen. Einige Plusgrade, es lief sich erheblich besser. Am Ende wieder Schneeregen. Als ich aus dem Fenster blicke, Schneeschauer im Schein der Straßenlampe.
Den Tag über war ich müde, ich schwankte, ob ich überhaupt laufen solle. Könnte ich mir nicht jetzt den Luxus leisten, mich einfach hinzulegen? Das Bedürfnis hatte ich ganz stark. Mein Vater hat in seinen alten Jahren ganze Nachmittage auf der Couch liegend verbracht. Im Schlaf ist er auch gestorben. Nach meinem Lauf keine Rede mehr von Müdigkeit.
In den Nachrichten heute der Fußballskandal, der Moderator wies darauf hin, der „richtige Sport“ komme wie üblich am Schluß. Ich muß nichts dazu sagen. Mein Vater war Schiedsrichter und pfiff auf dem Schenkendorffplatz in Görlitz, wo Gelb-weiß seine Heimspiele hatte. Wer Görlitz kennt, weiß, daß dort vor allem der Wind pfeift. Für einen ungefähr Vierjährigen kann die Spielzeit sehr lang sein. Die andere Schlüsselszene, die wahrscheinlich lange davor liegt ich habe eine sehr frühe Kindheitserinnerung , da kam mein Vater blutend vom Spiel. Ich erinnere mich an eine ellenlange Baumwollbinde, mit der meine Mutter seine Knie verband. Er war auf dem Spielfeld verprügelt worden. In Akademikerkreisen werden die Kinder andere Erinnerungen an Väter haben. Proletariersport das war Fußball als intellektuelles Vergnügen wie bei Walter Jens, sonst nichts. O hätte es doch schon damals auch nur Anflüge einer Kommerzialisierung des Fußballs gegeben. Ein klein wenig Bestechung hätte meiner Mutter in der Arbeitslosenzeit das Leben erleichtert und mir die stillen Demütigungen der Armut erspart. Und heute? Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Das war doch seit Jahren zu erwarten.
Wenn ich schon noch nicht wieder im Wettkampf laufe, dann wenigstens habe ich mich mit Laufmedizin befaßt. Am Wochenende war ich in Fellbach. Dort gibt es im Ortsteil Schmiden nicht nur den 24-Stunden-Lauf, sondern auch eine Herzsportgruppe am Kappelberg. Dr. Dieter Kleinmann hat sie vor 25 Jahren gegründet, und das Jubiläum ist in der Schwabenlandhalle mit einem Seminar gefeiert worden. Ob Feiern das richtige Wort ist für die blutigen Abbildungen, die Professor Hemmer von der Herzchirurgie in Stuttgart zeigte? Jedenfalls weiß ich nun, wie ein Bypaß aussieht und daß sich ein Chirurg nicht scheut, das zappelnde Herz beherzt in die Hand zu nehmen. Also über die „aktuelle chirurgische Therapie erworbener Herzkrankheiten“ weiß ich nun Bescheid, und ich kann mir das Referat als ärztliche Fortbildung anrechnen lassen, wenn denn eine ärztliche Bildung vorhanden wäre. Vier Punkte bringt der Besuch eines solchen Seminars. Die Ärzte haben es gut, ihre Qualifikation ist exakt berechenbar. Ob unsereiner richtig Deutsch kann, wird nicht mit Punkten bewertet. Leser schlucken auch grammatikalische Fehler.
Dr. Dieter Kleinmann bemühte in seinem Vortrag über Bewegungstraining gar Goethe, nämlich die Hexenküchen-Szene, in der Mephistopheles sein Anti-Aging-Konzept richtig, Anti-Aging muß ich demnächst auch mal aufspießen zwecks Faustens Verjüngung entwickelt: „Dich zu verjüngen, gibt’s auch ein natürlich Mittel; Allein es steht in einem andern Buch Und ist ein wunderlich Kapitel.“ Faust will es wissen. „Gut! Ein Mittel, ohne Geld Und Arzt und Zauberei zu haben: Fang an zu hacken und zu graben.“ Die Fortsetzung ließ Dr. Kleinmann weg: „Ernähre dich mit ungemischter Speise“. Als Kronzeugen der Bewegungstherapie zog Dr. Kleinmann Christoph Wilhelm Hufeland heran, „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“. Diesen Gesundheitsbestseller des 19. Jahrhunderts sollte ich besitzen. Gleich bei Booklooker die billigste Ausgabe bestellt. Die ersten Ausgaben kann man im Antiquariat auch bekommen, so um die 200 Euro.
In die vorwissenschaftliche Zeit auf diesem Gebiet möchte ich noch Kneipp einbeziehen. Das Tagebuch als Materialsammlung: „Wie kräftigend Spaziergänge der bezeichneten Art auf den Menschen wirken, sieht man unter anderem an den Märschen der Soldaten, welche in einer die Muskeln anstrengenden Gangart, beladen mit Gepäck und Waffen, oft weite Strecken zurücklegen müssen. Wenn dabei keine Überanstrengung der Leute stattfindet, so ist das eine für die Gesundheit wohltätige Übung.“ („So sollt ihr leben“).
Grundlagen des Herzsports schufen Prof. H. W. Knipping, Prof. Wolfgang Kohlrausch, der in Freudenstadt Terrainkurwege ausweisen ließ, vor allem Prof. Viktor Gottheiner in Israel, der eine völlige Umkehr bewirkte: statt Schonung Training, auf ihn konnten sich die Ärzte Dr. K. O. Hartmann in Schorndorf und Dr. Ilker in Hamburg berufen. Mitte der sechziger Jahre lernte ich in Ohlstadt Dr. Peter Beckmann kennen, einen Sohn des Malers Max Beckmann. Er machte Bewegungstraining und Abhärtung zum Konzept der Ohlstädter Kur, einer Rehabilitation mit ganz einfachen Mitteln. Für die Versicherten wurde keine Kuranstalt errichtet, sondern die Patienten wohnten in Privatquartieren. Als bei dieser Rehabilitation mit langen Wanderungen, Bürstenmassage und Abhärtung unterm Wasserfall ein Herzpatient starb, hatte der „Spiegel“ seine Geschichte über den Dr. Eisenbarth. Dr. Beckmann hat dies schwer getroffen. | ||
Bildtext: Abreibung durch den Chefarzt. Dr. Peter Beckmann Mitte der sechziger Jahre, ganz ohne Kuranstalt |
Unspezifisch hat Dr. Eugen Goßner, Augsburg, mit dem „Grünen Rezept“ das Bewegungstraining in die Prävention und die Rehabilitation integriert. Gezielt bauten Prof. Max Halhuber und seine Frau, Dr. Carola Halhuber, den Koronarsport auf. Nachdem ich beide auf einem der Kongresse, die ich damals besucht habe, kennengelernt hatte, regte ich 1972 in meinem damaligen Verein, dem TV Nellingen, eine solche Coronargruppe an. Dies tat ich in der ersten Hauptversammlung, die ich besuchte. Das jedoch wurde mir dann als Unerfahrenheit im Vereinswesen, Ungeschicklichkeit oder Profilierungssucht ausgelegt, denn mit meiner Anregung hätte ich mich an die „Gremien“ wenden sollen. Welche, weiß ich nicht. Jedenfalls dauerte es noch sieben Jahre, bis an meinem Wohnort eine Coronargruppe gegründet wurde. Wie ich einem Rückblick in dem Vereinsblatt entnahm, soll der Kongreß der Hamburger Turnerschaft, wo Dr. Ilker wirkte, den Anstoß gegeben haben. Der Kongreß fand 1974 statt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Wer zu früh kommt, erst recht.
Ich habe mir seinerzeit schon vorgestellt, daß ich nach dem Ausscheiden aus dem Angestelltenverhältnis mit Ablauf des 65. Lebensjahrs mein Leben nicht auf der Parkbank verbringen würde; ich habe vorgehabt, meinem Beruf verbunden zu bleiben. Doch wenn ich es recht bedenke, dort bin ich vergessen. Allenfalls, daß ich als Rentner noch in der Gehaltsbuchhaltung geführt werde. Von meinem letzten Arbeitgeber bekomme ich jährlich eine Weihnachtsgratifikation, das ist schön, 100 Euro, die Lohnsteuer wird gleich abgezogen und auch der Solidaritätsbeitrag, auf dem Scheck stehen dann 90,51 Euro. Damit ist die Spende für die überlebenden Tsunami-Opfer abgedeckt. Ich hatte mir, als ich noch angestellter Redakteur war, auch vorgestellt, später gelegentlich noch eine Reportage schreiben zu können. Früher war das gang und gäbe. Die alten Kollegen hatten ja alle ihr Spezialgebiet, ihr Steckenpferd oder ihren unverwechselbaren Stil. Das tat dem jeweiligen Blatt durchaus gut. Doch das, journalistischen Rentnern ein Thema abzugeben, ist im Journalismus längst nicht mehr der Brauch. Die Honorar-Etats sind knapp, und um den Futtertrog, der für „Freie“ ohnehin ein magerer Trog ist, drängen sich viele. Ein bedeutendes Blatt in Deutschland hat meinem Freund Eberhard, dem Karikaturisten, die Zusammenarbeit mit der Begründung aufgekündigt, für „Fremdzeichner“ sei kein Geld mehr da. Die billigen Sudler haben Konjunktur. In der Geschichte der Karikatur, mit Namen wie Gulbransson, O. E. Plauen und Flora, werden sie vergessen sein. Als ich versuchte, meine Marathonläufe in den Berufsalltag zu integrieren, habe ich mir keineswegs vorgestellt, daß ich im Alter ausschließlich über das Laufen schreiben würde. Ich bemühe mich, nicht nur über Laufen zu schreiben, wenn ich über Laufen schreibe. Ich habe mir in der Blüte meiner Jahre vorgestellt, daß ich im Rentenalter aufgeschlossen sein würde für alles, wozu im Leben zu wenig Zeit war. Doch nun ist der Kauf einer Theaterkarte ein Entscheidungsprozeß. Und in der Konkurrenz zwischen der Inszenierung eines sich gegen den Autor profilierenden Regisseurs und einem gepflegten Essen mit der Familie siegt mit Sicherheit die Geselligkeit, das Essen muß nicht einmal von einem Sternekoch überwacht werden, mehr wäre es ohnehin nicht. So kommt es, daß ich außer dem jährlichen Wechsel zweier Briefe mit Eberhard kaum andere Korrespondenz führe als über Laufen. Die letzte Woche war in dieser Hinsicht typisch, allerdings auch genau in dieser Hinsicht sehr erfreulich. Da kam eine Karte von Markus aus Dubai. Ich sollte und wollte auch immer mal mitfliegen. Ich habe mich nicht entschließen können. Die Jahreszeit einfach durch einen Flug zu wechseln, viel Geld auszugeben für einen Marathon, der im Grunde ein Marathon gegen die Umwelt ist. Welcher Scheich läuft Marathon? Das Hotel von Weltniveau wäre kein Hindernis. Anders als Günter Herburger verabscheue ich Nobelherbergen nicht. Im Gegenteil, damit läßt sich die Erinnerung an das Trauma bewältigen, eine Woche im Erdloch bei Saybusch zu überleben oder die Monate auf dem Zementboden im Gefangenenlager Auschwitz. In Dubai bei 300 Teilnehmern Letzter zu sein, und alle warten auf einen, denn man ist zahlender Gast. Also, bisher war da vor dem Entschluß, in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu starten, eine Barriere. Vielleicht schafft es Markus noch. Die Karte jedenfalls zauberte ein Stück Exotik in den Januar.
Ein Brief von Peter, dem ich geschrieben habe, nachdem wir uns lange aus den Augen verloren hatten. Ein Brief weit mehr als ein Austausch von Informationen warmherzig, liebenswürdig. Die zutiefst menschliche Seite des Laufens, da muß man nicht einmal gemeinsam laufen.
Ein Fax von Heinz. Wieder ein Rückblick auf ein Stück Geschichte. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich Resignation einschleicht. Was wir laufend erlebt haben Heinz auch als Organisator , das werden wir nie mehr erleben können.
Zwei Anfragen wegen „Mehr als Marathon“. Da habe ich vor Jahr und Tag gesagt, ja, ja, der Titel wird neubearbeitet erscheinen. Sicher bin ich gefragt worden: Im Frühjahr 2005? Sicher werde ich genickt haben. Das Frühjahr war ja noch so weit weg, und ich war ja immer wieder mal dran. Nun stehe ich da mit leeren Händen. Ich muß vertrösten. Nie wieder werde ich mit einem mutmaßlichen Erscheinungstermin falsche Hoffnungen erwecken. Aber nun drückt mich das Gewissen, neuer Vorsatz. Allen Krimskrams, so erholsam das auch ist, weglassen. Viel Zeit habe ich damit verbracht, alte Postkarten aus meiner Sammlung, zunächst einer Ansammlung von Tauschmaterial, über ebay zu verkaufen. Zeit besser einteilen! Ich weiß jetzt auch: Lieber ein neues Buch schreiben, als ein altes bearbeiten. Aber es muß sein. An die Arbeit.
Auf meiner Laufstrecke bin ich in diesen Tagen deutlich mehr Fußgängern als vordem begegnet. Der Betrieb wird zum Auftrieb. Es ist für den Januar milde, und die Menschen suchen wieder die frische Luft. Meine Wintergarnitur habe ich gegen die Übergangsgarnitur getauscht, die Angorahandschuhe gegen leichte Laufhandschuhe.
Am Samstag im Dritten Programm SWR angeschaltet: „Mythos Marathon“. Sehr bald merkte ich, daß die Sendung im Kielwasser der Kampagne „Von Null auf Zweiundvierzig“ schwamm. Zu der Gesprächsrunde waren der Berliner Architekt, der unter dem Namen Mücke offenbar bundesweite Publizität gefunden hat, und ein weiterer Teilnehmer, Paul Effenberger, der mit dem Marathontraining Gewichtsverlust anstrebt. Auf 100 Kilogramm hat er es schon geschafft. Der Dritte war Dieter Baumann, der den Marathon eben nicht geschafft hat, sich darob aber was blieb ihm auch anderes übrig selbst auf die Schippe nahm. Man sieht, man kann sehr wohl ebenso wie der Website-Spezialist Jens Freitag über Marathon reden, ohne ihn gelaufen zu sein. Ich hätte gern abgeschaltet, um lieber zu lesen; aber ich wollte mich doch im Tagebuch dazu äußern. Ist es dann noch ein Tagebuch, wenn man sich Eintragungsaufgaben stellt? Ich habe einfach an später gedacht, wenn man alles noch einmal liest und sich aus dem Mosaik vielleicht eine Chronik des Laufalltags aufbaut. Ich sollte das, Fernsehen als Pflicht, nicht wieder tun. Abschalten ist ja auch bemerkenswert. Der Mythos übrigens ist stehengelassen worden. Nach dem smarten Moderator, der offenbar jeden Samstag so eine Runde moderiert, ist der mythische Bote historisch und dessen legendärer Tod ein historischer Tod. Auf der Website des SWR wiederum wird der Botenlauf von Athen nach Sparta, von dem Herodot erzählt, als der erste Marathon bezeichnet. Nur der Ort Marathon liegt woanders. Die Website macht den Eindruck der Klitterei. Professor Klaus Jung in Mainz hat das „Phänomen 100-km-Lauf“ untersucht, ist aber kein 100-km-Läufer, als der er bezeichnet wird; er hat nur einmal den 90jährigen Dr. Adolf Weidmann im Gehschritt begleitet. In der Sendung, die keine Diskussion war, sondern in der bloße bündige Statements abgerufen wurden, liefen zwischen den Gesprächsfetzen Kurzfilme, die Information vermittelten. Einer handelte von den Gefahren durch Vorschädigungen und Unvernunft. Was tut der SWR? Er stachelt mit seiner Aktion den Ehrgeiz an innerhalb eines Jahres muß es von Null auf Zweiundvierzig gehen. 18000 Menschen fühlen sich als Kleindarsteller berufen, und für die Kameradarstellung werden nicht diejenigen mit den besten Voraussetzungen dafür herausgesucht, die das risikolos in einem Jahr schaffen könnten, sondern diejenigen, von denen man sich ein Spektakulum verspricht. Die Achtzehntausend streben nach Scheinwerferlicht, nicht nach Selbstverwirklichung. Die läuferische Autonomie; eine Herausforderung zu bestehen, wird in ihr Gegenteil verkehrt; die Achtzehntausend, wenn sie denn überhaupt alle ein Lauftraining starten, laufen zunächst einmal fremdbestimmt.
Heute bin ich wieder einmal in die Dunkelheit geraten. Zum Laufen ist es nicht ganz dunkel, soweit kann man schon sehen, aber man kann nicht erspähen, wenn sich etwas auf einen zu bewegt, zumal wenn die Gedanken woanders sind. Es war ein Radfahrer ohne Licht. Ich lief links auf dem Asphaltsträßchen, weil dort ein kiesiger Randstreifen ist, auf den ich vor einem Traktor ausgewichen war. Unversehens tauchte der Radfahrerschatten auf, beide bremsten wir, der Radfahrer schlug kurz vor mir eine Schleife. Ich beschimpfte ihn, er trollte sich ohne eine Entschuldigung. Einen Kilometer weiter kam aus der Zufahrt zum Parkhaus ein Auto. Vielleicht hätte ich es vor ihm noch geschafft, vielleicht auch nicht. Ich entschied mich also, hinter dem Heck vorbeizulaufen. Er hielt genau auf meinem Laufkurs, bis zur Straße, in die er einbiegen wollte, waren es noch gut 3 Meter. „Heute sind die Idioten unterwegs“, dachte ich. Das ist keine Kränkung geistig Behinderter. Der Begriff hat einen Bedeutungswandel durchgemacht. Idioten sind nur solche, die es aus eigener Schuld sind. Und wieder einige hundert Meter weiter auf der dunklen Steigung, die ich seit einigen Jahren im Gehschritt zurücklege, wieder ein Radfahrer ohne Licht. „Idiot!“ rief ich ihm nach. Meine Aggression kulminierte in dem Gedanken: „Was soll man auch von einer Bevölkerung erwarten, die sich mehrheitlich eingebildet hat, hier würden 2012 Olympische Spiele veranstaltet!“ Doch ich fand meinen Rhythmus wieder und zum Gleichklang der Gedanken. An der Ausfahrt vom Parkhaus hatten oft schon Autofahrer gebremst, um mich die Straße ohne Stopp überqueren zu lassen. Und wenn ich recht bedenke, habe ich heute mehr Radfahrer mit Licht rechtzeitig erkennen können als durch unvermutete Kamikaze-Piloten erschreckt zu werden.
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