Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 26. Juni 12

Im Gästebuch von www.100km.ch reiht sich seit Tagen diesmal ein Lob ans andere. Doch wer die „Berner Zeitung“ nicht gelesen hat, fragt sich: Was ist eigentlich mit dem Rückwärtsläufer? Vor dem Lauf ist er geradezu gefeiert worden, und jetzt ist es so merkwürdig still? Ralf Klug ist etwa bei Kilometer 62 nach 13:20 Stunden ausgestiegen. Ist etwas passiert?

Da ist ein Gespräch mit ihm, der wieder in Kabul ist, wohl angebracht. Nein, passiert sei nichts. Aber er habe einen Fehler gemacht, gesteht Ralf Klug. Er sei auf den ersten 20 Kilometern viel zu schnell gewesen. Er konnte weder die Uhr noch den Pulsmesser ablesen. Er hatte eines nicht bedacht: Die meisten Läufer der 100 Kilometer in Biel laufen mit einer Lampe, vornehmlich einer Stirnlampe. Diese Lampen sind heute weit stärker als vor Jahren. Ralf blickte, da er ja rückwärts blickte, in eine blendende Lichterfülle.

Hinzu kam, daß er immerzu angesprochen wurde oder Hände „abklatschen“ mußte. Einerseits ist das ja erfreulich, zeigt es doch, daß der Rückwärtsläufer akzeptiert wird, andererseits motiviert es, ebenso wie der Beifall, zum Schnellaufen. Damit hat er sich übernommen.

Nicht ungewöhnlich ist im Ultralauf, daß das Aufgeben rational begründet wird. Das mögen Verletzungen sein (die andere auch haben und dennoch weiterlaufen) oder der befürchtete Zeitverzug oder... Bei dem Unternehmen Rückwärtslauf gab es ein Problem: Es war ein Rekordversuch für das „Book of Alternativ Records“. Der mußte juristisch bestätigt werden. Der Jurist war da, aber er sah sich außerstande zu handeln; ihm fehlten die Beweise. Man hätte ein Netz von Kontrolleuren aufstellen oder aber Ralf von Juristen begleiten lassen müssen. Ralf lief, was den Rekord angeht, ins Leere.

Was auch immer, – Ralf beendete den Rückwärtslauf im Abschnitt des Ho-Chi-Minh-Pfads. Überrascht hat ihn die große Resonanz, die seine Unternehmung gefunden hat. Das kam der Spendensammlung zugute. Ralf Klug, der seine Rückwärtsläufe mehrfach schon mit caritativen Zwecken verbunden hat, widmete seinen Rückwärts-Versuch auf den 100 Kilometern der Schweizer Stiftung Cerebral. Die seit über 50 Jahren bestehende Stiftung fördert etwa 8.700 Familien von Cerebral-Kranken. Cerebrale Schädigungen – das sind Hirnschädigungen, die häufig im vorgeburtlichen Stadium entstehen – lassen sich nicht beheben; aber man kann durch rechtzeitiges Training erreichen, daß die ausgefallenen Hirnfunktionen zum Teil von anderen Teilen des Gehirns übernommen werden. Die Stiftung übernimmt Kosten, die durch die übliche Gesundheitsfürsorge nicht gedeckt sind. Nach der bisherigen Bilanz hat Ralf Klug 5.500 Schweizer Franken erlaufen. Doch noch immer gehen Spenden ein. Die Stiftung Cerebral hebt die Medien-Aufmerksamkeit hervor, die der Rückwärtslauf und damit die Stiftung gefunden habe.

Diese Resonanz veranlaßt den 48 Jahre alten Rückwärtsläufer, sein Vorhaben im nächsten Jahr aufs neue anzugehen.

Eintragung vom 19. Juni 12

Die Startaufstellung geschah wie immer in der Mercedesstraße. Der Teil vor dem Carl Benz Center und der Porsche-Arena wurde zum Warmlaufen benützt. Die Strecke führte an der Mercedes-Benz-Welt vorbei über den Kreisverkehr Daimler nach Untertürkheim, über den Karl-Benz-Platz (Karl diesmal mit K) und auf der anderen Seite der Bahnlinie zurück, an den Neckar, in Hofen über die Brücke, am Neckar entlang, durch die Altstadt von Bad Cannstatt, die Daimlerstraße überquerend, über die Benz-Straße in die Mercedes-Benz-Arena, vormals Gottlieb-Daimler-Stadion. Man sieht: Wir sind im Kerngebiet von Mercedes Benz.

 

Doch in der Mercedesstraße standen Fahrzeuge von BMW. Vor Jan Fitschen, dem Sieger mit der Halbmarathonzeit von 1:06:55, fuhr ein BMW ActivE. BMW kümmerte sich in der Mercedesstraße um die Kleinsten. In der Mercedes-Benz-Arena stiegen Luftballons mit dem weißblauen BMW-Logo in den Himmel, und wer die Mercedesstraße verließ, wurde von einem Tor mit der BMW-Marke zum 20. Stuttgart-Lauf verabschiedet.

Irgendwie kam mir das komisch vor. Auch widersprüchlich. Unlogisch, doch auch wieder logisch. Schließlich sind die Bayerischen Motoren-Werke vor einiger Zeit insgesamt als Sponsor der Sportart Laufen eingestiegen. Also versteht es sich, daß sie auch in der Mercedesstraße und in der Mercedes-Benz-Arena Reklame für BMW machen dürfen. Mercedes macht dafür Reklame im Fußball. Es fällt mir schwer, dies hier festzuhalten. Vermutlich ist Sponsoring im Fußball teurer. Und die Formel 1 ebenso. Irgendwie scheint mir beides nicht zum Image von Mercedes zu passen. Oder ist schlicht eine Panne passiert, und ein PR-Manager hat im Dienst geschlafen? Ist aufgewacht und hat gestöhnt: Ach ja, da laufen ja welche in der Mercedesstraße. Sogar Kunden von uns.

Ich kann das Fragezeichen nicht beseitigen. Aber man wird ja wohl wenigstens fragen dürfen. Eine andere Lösung ist nicht in Sicht. Mercedes-Benz kann sich nicht im München-Marathon engagieren, denn BMW hat die Hand auf dem gesamten Laufsport. Es hat lange gedauert, einen solchen Sponsor zu finden.

Sehr wohl jedoch könnten die „Stuttgarter Nachrichten“ beim Stuttgart-Lauf einsteigen, denn die „Stuttgarter Zeitung“, die dem Lauf jahrelang sogar ihren Namen gab, hat sich als Sponsor verabschiedet. Doch da beide Zeitungen zum selben Konzern gehören, wird das nicht passieren.

Der 19. Stuttgart-Lauf hat die Rückkehr zur Strecke im Neckartal gebracht. Vier Jahre lang ging es durch den Stuttgarter Stadtkern. Es ist nicht nur mir aufgefallen, daß es Läufe durch eine verlassene Stadt waren, Läufe vorbei an geschlossenen Läden und leeren Büros. Publikum fand sich nicht. Am Sonntagvormittag gibt es außer der Stiftskirche keinen Grund, die Innenstadt aufzusuchen. Da sind offenbar die Chancen größer, daß jemand in Bad Cannstatt aus dem Hause tritt oder in Freiberg oder Münster aus dem Fenster schaut, um die Halbmarathonläufer zu sehen. Die Entscheidung des Württembergischen Leichtathletik-Verbandes, die tote Innenstadtstrecke aufzugeben, deren Sperrung einen hohen organisatorischen Aufwand erforderte und mehrfach zu Start-Verspätungen führte, hat sich als richtig erwiesen.

Eine weitere Rückkehr: Nach mehrjährigem Umbau des Gottlieb-Daimler-Stadions, vormals Neckarstadion, zu einer Fußball-Spielstätte namens Mercedes-Benz-Arena durften die Halbmarathonläufer wieder hier ihren Lauf beenden. Der Stuttgart-Lauf hat seine alte Attraktion zurückerhalten.

Die Mercedesstraße hat sich, während die Läufer unterwegs waren, in eine Verkaufs- und Flaniermeile verwandelt; es ist eine lebendige Ziellandschaft entstanden. Das mag darüber trösten, daß man auf den benachbarten Parkplätzen 5 Euro zahlen muß. Das ist in der Parkharfe am Münchner Olympiastadion auch der Fall. Doch da ist man beim Marathon immerhin die doppelte Zeit oder länger unterwegs.

Stichwort Marathon – immer wieder geistert es in Stuttgart durch die Diskussion. Als sich der WLV vor fast zwanzig Jahren entschloß, wieder einen Stadtlauf zu veranstalten, fiel die Entscheidung für die Halbmarathonstrecke, weil damals schon die Teilnehmerzahlen der Marathonläufe abbröckelten. Die Entwicklung zum zweitgrößten deutschen Halbmarathon hat dem WLV recht gegeben. Doch auch die Teilnehmerzahl des Stuttgart-Laufes ging in den letzten Jahren zurück. In diesem Jahr beendeten 7513 Halbmarathon-Läufer im Stadion den Lauf. Gemeldet waren 8971, ein Zuwachs im Vergleich zum vorigen Jahr (7876). In einer der Sonderwertungen kamen 285 Beschäftigte der Daimler AG ins Halbmarathon-Ziel sowie 75 Daimler-Leute ins Ziel der 7-km-Strecke. Ich sagte ja schon, wir sind im Kern von Mercedes-Benz.

Dem Stuttgarter Oberbürgermeister Schuster, der vordem als Stadt-Chef von Schwäbisch Gmünd den Schwäbische-Alb-Marathon zum Laufen gebracht hatte, hatte vor Jahren schon ein Stuttgart-Marathon vorgeschwebt. Jetzt hat der Schorndorfer Oberbürgermeister und Vorsitzende der Sportregion Matthias Klopfer diese Idee aufgegriffen. Wieder beharrt jedoch der WLV auf seinem Halbmarathon-Konzept.

Der WLV ist mit dem Verlauf des 19. Halbmarathons zufrieden. Die Information aus der Pressekonferenz über den glücklichen Verlauf „mit wenigen Krankenhaus-Transporten“ und „ohne schwere Fälle“ liest sich meines Erachtens in dem Bericht von www.rettungsdienst.de etwas anders. Danach brach in der Deckerstraße (etwa 2 km vor dem Ziel) ein 48jähriger Läufer „leblos“ zusammen. Da jedoch eine Minute später ein Rettungswagen und wieder eine Minute später ein Notarzt zur Stelle gewesen sei, habe der Läufer dank einem Defibrillator reanimiert werden können. Ins Krankenhaus seien 21 Personen gebracht worden; bei vier habe akute Lebensgefahr bestanden. Alles in allem mußten an der Strecke 135 Läuferinnen und Läufer medizinisch versorgt werden. Offenbar hat die Vernetzung aller Hilfsdienste Früchte getragen.

Photo: Sonntag

Eintragung vom 12. Juni 12

Die spannendste Frage war: Wie würde es nach den im Jahr 2011 unglücklich verlaufenen Bieler Lauftagen weitergehen? Die Frage ist, grundsätzlich wohl zu aller Zufriedenheit, am 8. und 9. Juni beantwortet worden. Das Wetter, das am Tag zuvor noch zu Befürchtungen Anlaß gab, hat ebenfalls mitgespielt. Die Bieler Lauftage haben ihren alten Ruf wieder gefestigt.

Man kann nun von einer Veranstaltung der kurzen Wege sprechen. Fünf Minuten vom Hauptbahnhof das Kongreßgebäude mit Startnummernausgabe und Läufermesse, gegenüber das Festzelt, 300 Meter weiter die Sporthalle mit Duschen, Gepäckablage, Wertsachenschalter und Massage. Einzig der Autoparkplatz und das Camping sind am alten Ort, im Expo-Gelände; doch den Weg zum Kongreßgebäude legt man von hier nur einmal zurück. Nicht nur der Start, sondern auch der Zieleinlauf ist nun vor dem Kongreßgebäude. Die Bieler Lauftage sind auch äußerlich in Biel angekommen. Man kann darüber reflektieren, ob sich ein Landschaftslauf mit dieser Einbindung verträgt. Andererseits aber ist der Lauf durch die Bieler Innenstadt mit der Atmosphäre eines Stadtmarathons von den Teilnehmern begrüßt worden.  

Allerdings scheint mir problematisch zu sein, daß die Marathon- und Halbmarathon-Läufer und -Walker zweimal die im vorigen Jahr irrtümlich weggefallene Zusatzrunde in Biel zurücklegen müssen. Publikum findet sich da nicht mehr. Wer schauen will, der schaut sich die Masse der 100-km-Läufer an, denen diese Runde erspart bleibt.

 

Nach dem jetzigen Angebot habe ich meinen Abschied von der aktiven Biel-Teilnahme absolviert. Es war ein einsamer Abschied. Mir war zuvor schon klar, daß der Zielschluß der Halbmarathonstrecke um 2 Uhr in Aarberg, also nach 3 ¾ Stunden, für mich zu früh war. Ich gestehe, den Ausschlag für die Teilnahme hat gegeben, daß sie für uns, die wir im vorigen Jahr nur wenig mehr als 13 statt der 21 Kilometer zurücklegen konnten, kostenlos war.

Ich stapfte also mit zwei Wanderstöcken als Nordic-Walking-Ausrüstung durch die Bieler Straßen. Nach wenigen Minuten erlebte ich, daß ein Walker vor mir sein Vorhaben wegen gesundheitlicher Probleme aufgeben mußte. Diejenigen, die sich um den Mann gekümmert hatten, überholten mich bald wieder.

Auch als einsamer Geher kann ich bestätigen: Der Kurs war diesmal eindeutig markiert. An kritischen Stellen standen zudem Posten. Ich hatte vorsichtshalber einen Straßenplan eingesteckt; doch ich brauchte ihn nicht.

Ein reichliches Drittel der Halbmarathonstrecke war zurückgelegt, ehe es aus Biel herausging. Selbst wenn ich schneller gehen könnte, gelüstet mich eine Wiederholung nicht. Wenn schon einsam, dann bitte in nachtdunkler Natur und nicht in verlassenen Straßen. Dann kam die lange Steigung von Bellmund. Der Fahrer des Besenfahrzeugs fragte mich, ob er mich hinauffahren solle. Die fehlende Geschwindigkeit ist nicht die einzige Kränkung des alten Läufers, der einstmals diese Steigung auch schon hinaufgelaufen war.

In Jens statt fröhlicher Betriebsamkeit, mit der die 100-km-Läiufer vermutlich auch diesmal empfangen worden waren, die Stille eines nachtschlafenden Ortes. Auf dem Wirtschaftsweg durch die Felder tappte ich in eine Pfütze, später dann nochmals, noch kräftiger, ein Wellenschlag, der bis auf die Haut ging. Für diese Passage, und nur für diese, hätte ich eine Lampe gebraucht. Sie lag im Kofferraum des Autos bereit, ich hatte vergessen, sie mitzunehmen. Auf der ersten Hälfte hatte ich geschwitzt, jetzt war es kühl. Doch kein Vergleich mit den üblen Bedingungen im vorigen Jahr. Die Webpelzjacke, die ich im Rucksack mitführte, brauchte ich nicht.

 

Der Fahrer des Schlußfahrzeugs, das immer wieder auf mich wartete, machte mich darauf aufmerksam, daß ich noch eine halbe Stunde bis zum Zielschluß hätte. Ja, ja... Dann, nach 2 Uhr, wurde es ernst; ein Helfer an einer verlassenen Verpflegungsstation begehrte meinen Chip. Ich versicherte, ich wolle dennoch Aarberg zu Fuß erreichen. Bedenken räumte ich aus, indem ich darauf hinwies, daß ich diesen Streckenteil nun zum siebenunddreißigsten Mal zurücklegte. Das machte Eindruck. Man ließ mich meiner Wege ziehen. Ich war vogelfrei. Niemand wartete auf mich. Die historische Holzbrücke leer, der Aarberger Marktplatz leer, das Ziel längst abgebaut, es war 2.30 Uhr. Nur an einem Lokal beseitigten zwei Helfer die Spuren hoffentlich fröhlicher Geselligkeit. Die Schule, in der die Zielorganisation ihr Quartier hat, finster und verlassen.

Ich suchte den Bahnhof, vorbei an der Postauto-Haltestelle, von der bis zum Morgen kein Bus mehr fahren würde, zum Parkplatz, wo mein Auto stand. Ein Stück Sicherheit für einen aus der Veranstaltung Gefallenen. Ich konnte mich von den nassen Schuhen und Socken befreien. Mein Ziel war nun Kirchberg, wo ich den 100-km-Lauf verfolgen wollte.

Runzelt jemand die Stirn, zuckt jemand die Achseln, lacht mich jemand aus? Muß der alte Knacker denn bei einem sportlichen Wettbewerb mitmachen? Nein, ich beschwere mich nicht, ich bemitleide mich nicht, ich bedauere meinen Entschluß nicht. Biel ist noch immer ein Abenteuer, warum nicht am Ende des sechsundachtzigsten Lebensjahrs?

Photos: Sonntag

Eintragung vom 4. Juni 12

Als wir, Markus und ich, gemeinsam Marathone und Ultramarathone bestritten, war es Standard, daß wir, sofern der Lauf am Samstag war, am Sonntag eine entspannende Wanderung unternahmen. Gelegentlich soll es vorgekommen sein, daß die Wanderung nicht gar so entspannend verlief. Daran hat mich Markus jetzt erinnert. Diesmal, nach dem Rennsteiglauf, bei dem ich die 36-km-Walking-Strecke in zehn Stunden als letzter Wanderer bewältigte, hatten wir eine fünftägige Wanderung in der Sächsischen Schweiz geplant, nämlich die rechtselbischen Etappen des Malerweges.

Mein Schwager, der den größten Teil seines Lebens etwa 100 Kilometer davon entfernt verbracht hat, kannte den Weg nicht. Der Malerweg ist als Route erst im Jahr 2006 geschaffen worden, acht Etappen über zusammen 112 Kilometer zu beiden Seiten der Elbe. Die Touristiker wollten eine Rundtour schaffen, auf der man das sächsische Elbsandsteingebirge intensiv kennenlernen kann. Sie vereint die schönsten Ausblicke und die interessantesten Schluchten.

Das Elbsandsteingebirge ist, gemessen an Schwarzwald und Schwäbischer Alb, ein kleines Gebirge. Der höchste Berg, der Große Winterberg, ist ganze 552 Meter hoch. Im Jahr 1990 war ich mit dem Wohnmobil in der Sächsischen Schweiz und legte einige Wanderwege laufend zurück. Nebenbei: Ich war schon damals ein Trailläufer, wenngleich die Wanderpfade noch nicht „Trail“ hießen. Da ich also die Sächsische Schweiz wenigstens im Groben kannte, schien mir die Wanderwoche keine Probleme zu bereiten.

Das war ein grober Irrtum – ich bin nicht mehr der Läufer von 1990. Der Malerweg ist zudem kein Rennsteig, bei dem man, wenn man erst einmal den Kamm erreicht hat, nur den Inselsberg als große Erhebung vor sich hat. Die erste Etappe von Liebethal nach Wehlen freilich mag angehen; sie ist ein schöner Einstieg. Der Aufstieg betrug nur 170 Meter. Am zweiten Tage, von Wehlen nach Hohnstein, sah es anders aus. Die Aufstiege vom engen Elbtal empor sind steil.

 

Von der Bastei, dem berühmtesten Aussichtspunkt, den man daher mit einem Gewimmel von Besuchern teilen muß, geht es über Stufen wieder zur Elbe hinab, bis zur Felsenbühne Rathen. Hier beginnt ein neuer Aufstieg, nämlich zur Amselfallbaude und nach Rathewalde. Damit nicht genug, man muß ins Polenztal hinab und zum Etappenzielort Hohnstein aufs neue steigen. Die Aufstiege summieren sich auf 470 Meter. Die reine Wanderzeit wird mit 4 ½ Stunden angegeben. Es stellte sich heraus, daß ich, Ende des 86. Lebensjahrs, grundsätzlich etwa die Hälfte der angegebenen Zeit länger brauchte.

Am dritten Tag ging es von Hohnstein über die Gautschgrotte zur Brand-Aussicht empor (317 m). Von dort steigt man wenig später 867 Stufen hinab zum Tiefen Grund. Doch das sind keine Hochhaus-Treppenstufen, sondern unterschiedlich gestaltete Trittflächen mit Balken. Vom Tal entlang der Sebnitz steigt man durch die Wolfsschlucht steil wieder hinauf und erreicht Waitzdorf. Dort hat man abermals zwei Panorama-Aussichten. Dann senkt sich der Weg nach Kohlmühle, wo einem die denkmalgeschützte ehemalige Linoleumfabrik auffällt. Da die Originalstrecke des folgenden Abschnitts wegen Bauarbeiten gesperrt ist, muß man einen steilen Bergpfad hinauf, um zum Etappenzielort Altendorf zu kommen. Die zusammen 470 Höhenmeter machten mir zu schaffen, und die Abstiege strapazierten die Sehnen.

Ich merkte es am nächsten Tage. Da stand uns mit 17,6 Kilometern eine lange und im Wanderführer als anstrengend gekennzeichnete Etappe über die Schrammsteine bevor. Da wir das Auto am Etappenzielort Neumann-Mühle parkten, ereilten uns ausgerechnet hier Schwierigkeiten infolge Bauarbeiten; wir verloren viel Zeit, als wir öffentliche Verkehrsmittel zum Ausgangsort Altendorf erreichen wollten. Da wir den Malerweg in umgekehrter Richtung wählten, erwartete uns erst einmal ein beschwerlicher Anstieg. Markus hatte eine Wanderzeit von zehn Stunden prognostiziert, und noch waren wir längst nicht am Ausgangspunkt.

 

Da schlug ich ihm eine Trennung vor; er solle die Etappe in der eingeschlagenen umgekehrten Richtung zurücklegen, und ich würde ihn am Zielort mit dem Auto abholen. So machten wir es. Ich stieg allein zum Kuhstall empor, einer großen Schichthöhle, verließ den Malerweg über die Alte Straße und wählte den Flößersteig zurück. Erst danach entdeckte ich an der Felsenmühle auf dem Wegweiser den Zusatz „Schwierig“. Wenn ich das gewußt hätte...

An der Felsenmühle gibt es eine Brücke zur Kirnitzschtal-Straße, da zog ich für den letzten Kilometer die Straße vor. So war dann doch noch eine runde Wanderung zustandegekommen. Die zweckmäßigste Lösung wäre gewesen, die ursprüngliche Etappe am Beuthenfall im Kirnitzschtal, an der Endstation der Straßenbahn, zu beenden und den Abschnitt über den Kuhstall als neue Etappe zu beginnen.

Für den Samstag nahmen wir uns ein relativ leichtes Wanderziel vor, das Prebischtor in der Böhmischen Schweiz und danach eine Besichtigung der Festung Königstein. Hier führt eine der drei linkselbischen Etappen des Malerwegs vorbei.

 

Mit der Skizzierung unserer Wandertage in der Sächsischen Schweiz möchte ich das Elbsandsteingebirge als Lauf- und als Wanderregion empfehlen. Man muß sich dazu nur die entsprechenden Wege auf der Höhe oder entlang der kleinen Flüsse aussuchen, es sei denn, man baut absichtlich die steilen Aufstiege ein, weil man sie als einen weiteren Trainingseffekt wertet. Die Sächsische Schweiz ist dank Elbtal, bizarren Sandsteinfelsen und Tafelbergen eine der abwechslungsreichsten deutschen Wanderregionen; den Malerweg hat man auch schon als die schönste deutsche Wanderroute bezeichnet.

Da die Sächsische Schweiz touristisch sehr früh entdeckt worden ist – Künstler aus Dresden waren die ersten –, ist sie sehr gut erschlossen; die S-Bahn entlang der Elbe, die „Semmeringbahn“ von Bad Schandau nach Sebnitz und die Autobuslinien bringen einen an günstige Ausgangspunkte. Die DDR-Vergangenheit hat dazu geführt, daß die Landschaft nicht zersiedelt ist. Rechtzeitig nach der Wende ist das Gebiet zum Nationalpark erklärt worden.

Läufer, die unbedingt einen Wettbewerb als Reiseziel brauchen, seien auf die beiden Marathone hingewiesen: im Frühjahr den Oberelbe-Marathon nach Dresden und im Herbst den Marathon in Dresden.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 26. Mai 12

Ultralauf im Kino – das ist schon etwas. Ein weiterer großer Schritt zur öffentlichen Akzeptanz. Erinnern wir uns: In der Frühzeit der Laufbewegung waren Ultraläufer als Spinner verschrieen. Selbst in Sportvereinen schüttelte man über uns den Kopf. Im Grunde wiederholte sich damals jedoch nur in einem kleinen Biotop, was zuvor dem Ozean des Laufens als Gesundheits- und Freizeitsport insgesamt widerfahren war.

 

1981 übte ein Mediziner Kritik an unserem ersten Deutschland-Lauf in der Gruppe; wir würden kommerzielle Ziele verfolgen (weil einer von uns sechs sich von einem Wohnmobil mit der Reklame seines soeben gegründeten Bio-Unternehmens begleiten ließ). Immerhin jedoch berichtete das ZDF seriös über unseren Lauf über 1100 Kilometer in 20 Tagen. Heute? Im Jahr 2009 unternahmen es der Regisseur Achim Michael Hasenberg und der Kameramann Christoph Rose, beide Gründer der Berliner Produktionsfirma Filmband, den zweiten Transeuropa-Lauf zum Thema eines Films zu machen. Ein Konzept hatten beide nicht. Sie hätten anfangs nicht gewußt, in welche Richtung sich der Film entwickeln würde, sagte Hasenberg. Vielleicht war das gut so. Seit dem 24. Mai dieses Jahres ist der 89 Minuten dauernde Film in einer Anzahl Kinos zu sehen.

Das Wichtigste für Läufer: Ja, der Film ist sehenswert. Er bestätigt, was jeder Ultraläufer erfahren hat, nämlich daß die Psyche den stärksten Anteil am Bestehen einer solchen Ausdauerprüfung hat. Er informiert zwar auch über den Verlauf des 2. TE-FR, spiegelt aber vor allem, wenn auch nur beispielsweise, die Probleme der Teilnehmer wider. So individuell die authentischen Aussagen sind, – wir können uns, auch wenn wir es vielleicht mit 100 Kilometern genug sein lassen, in den Protagonisten wiedererkennen. Wer uns verstehen möchte, die Partner, Familienangehörigen und Freunde vielleicht, sollte sich diesen Film ansehen.

Ich habe am Donnerstag die Premiere im Delphi in Stuttgart besucht, bei der sich Hasenberg, Rose, der für die Filmmusik Verantwortliche, Nikodemus Gollnau, sowie der Organisator Ingo Schulze und der Teilnehmer Joachim Hauser zum Gespräch stellten. Die Filmer bedankten sich für zahlreiches Erscheinen des Publikums. Da sich mein Maßstab an fast ausverkauften Theatersälen herangebildet hat, würde ich den 244 Personen fassenden Kinosaal als hinlänglich gefüllt bezeichnen.

 

Das Gespräch mit dem Publikum bewegte sich auf dem Boden der Informationen, die vorab gegeben worden waren. Hasenberg hatte die Interviewer-Frage „Sport ist ja immer ein Drama – es geht um Sieg oder Niederlage. Was macht den Ultramarathon so besonders und so besonders spannend im Vergleich zu anderen (Extrem)Sportarten?“ mit diesen Worten beantwortet: „Daß es über ein – alle Sportler mögen mir verzeihen – einfaches Ranking weit hinausgeht. Es gewinnt beim Europalauf eben nicht der- und diejenige, die den durchtrainiertesten Körper haben. Sondern der Geist muß mindestens ebenso stark ,trainiert’ sein. Der Lauf ist viel mehr eine psychische als eine physische Herausforderung, auch wenn das vor dem Hintergrund von 4500 zu bewältigenden Kilometern unglaubwürdig klingt. Aber mit der eigenen Psyche kommt ein Gegner ins Spiel, der unberechenbar, stark launisch und erbarmungslos ist. Deshalb können Läuferinnen oder auch ein Sechzigjähriger, mit zweifelsohne geringerer körperlicher Leistung als beispielsweise ein 26jähriger Mann, durchaus ernsthafte Gegner sein. Das hat mich unglaublich fasziniert. Bei welcher anderen Sportart gibt es so etwas?“

 

Zu dem etwa 4500 Kilometer langen Lauf waren am 19. April 2009 in Bari 65 Teilnehmer gestartet. Acht von ihnen standen, nein, liefen im Fokus der Kamera, nämlich Achim Heukemes, Robert Wimmer, Joachim Hauser, Elke Streicher, Stephane Pelissier, Hiroko Okiyama, Andreas Falk und Mattias Bramstång. Die Auswahl war zum Teil in der Vorbereitung, zum Teil erst nach dem Start getroffen worden. Auf diese Weise kam eine vielfältige Betrachtungsweise zustande. Der Filmtitel zum Beispiel „I want to run“ ist das Zitat der japanischen Läuferin, die bereits 2003 dabei war und auch diesmal kurz vor dem Ziel ausscheiden mußte.

Einige persönliche Bemerkungen: Der im Titel gebrauchte Superlativ „Das härteste Rennen der Welt“ scheint mir nur sehr eingeschränkt brauchbar. Der erste Transeuropalauf war mit Sicherheit härter und länger; auch die Transamerika-Läufe sind länger. Die Formulierung „Eines der härtesten Rennen der Welt“ hätte sicherlich keine Herabstufung bedeutet.

Der 2. Transeuropalauf ist mit großem Aufwand von der Universität Ulm wissenschaftlich begleitet worden. Die Information darüber scheint mir reichlich kurz wegzukommen. Die Filmsentenz einer Kernspintomographie assoziiert eine ernsthafte Verletzung; dabei handelt es sich jedoch nur um eine Untersuchung, der sich alle Teilnehmer zu wissenschaftlichen Zwecken unterzogen.

Ich habe Verständnis dafür, daß sich Achim Heukemes als Freiberufler um Sponsoren bemühen muß; aber dennoch hat mich während seiner zahlreichen Auftritte die Werbung an seinem Trikot gestört (obwohl ich selbst Schuhe der beworbenen Firma trage). Beim Spartathlon ist Werbung ausdrücklich untersagt; die Teilnehmer starten in neutraler Sportkleidung. Für einen Motorcaravan muß man wohl bei dieser Gelegenheit keine Reklame machen; wahrscheinlich jeder Teilnehmer hätte gern eine solche Übernachtungsgelegenheit samt individuellem Betreuer. So aber gibt es bei einer solchen Laufveranstaltung eine Zweiklassen-Gesellschaft. Das ist wohl nicht zu ändern, aber Werbung dafür, und sei es indirekte, ist überflüssig.

Meine Einwände ändern nichts daran, daß man hier einen packenden Action-Film zu sehen bekommt, der einen authentischen Einblick in den Ultramarathon verschafft. Beim „All Sports Film Festival“ im November 2011 in Los Angeles ist der Film mit dem „3rd Place Award for International Feature Documentary“ ausgezeichnet worden.

Die Wetterverhältnisse haben für einen dramaturgischen Höhepunkt gesorgt. Regen, Kälte, Sturm während der beiden letzten, sehr langen Etappen in Skandinavien verlangten den Läufern alles ab. Kameraführung und Sound vermitteln dies auf sehr eindrucksvolle Weise.

 

Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Dokumentarfilm keine Massen ins Kino locken wird. In Stuttgart zum Beispiel wußte man noch nicht, wie lange der Film laufen werde. Interessenten empfiehlt sich daher, sich präzise über die Aufführungstermine zu informieren.

Photos: Jürgen Klemenz/mm-filmpresse

Eintragung vom 21. Mai 12

Die Frage ist eine reichliche Woche nach der Veranstaltung gestellt. Es lag am Laptop. Ich kam nicht mehr zu meinen Texten. Daher mußte ich warten, bis ich wieder vor dem heimischen Rechner sitzen konnte. Das ist erst heute der Fall – nach einer Wanderwoche in der Sächsischen Schweiz. Doch das ist ein anderes Thema.

Die Frage, die ich mir am 13. Mai gestellt habe, lautet: Was war mein stärkstes Erlebnis beim 40. GutsMuths-Rennsteiglauf? Ganz simpel: Die Läuferinnen und Läufer... Was so selbstverständlich klingt, versteht sich keineswegs von selbst. In den letzten Jahren bin ich ein einsamer Läufer oder Geher gewesen. Nach dem Start war jedesmal binnen kurzem das Feld entschwunden. Ich war allein und hatte allenfalls Kontakt zum Schlußläufer oder -radfahrer.

 

Beim 40. Rennsteiglauf war ich im Thüringer Wald erstmals als ausgewiesener Wanderer unterwegs. Auch hier war ich zunächst allein. Dann jedoch holte mich der eine oder andere Walker ein, der nicht mit uns um 7 Uhr in Schnepfenthal gestartet, sondern erst später aufgebrochen war. Meine Befürchtung, der erste Teil der Geherstrecke von 36 Kilometern, der Abschnitt bis zum Rennsteig, könne Orientierungsschwierigkeiten bringen, bewahrheitete sich nicht im mindesten. Die Strecke war einwandfrei markiert. Der Rennsteig selbst bringt, zumal wenn man ihn auf der Supermarathon-Strecke vierzehnmal zurückgelegt hat, ohnehin keine Orientierungsprobleme.

Die große Überraschung für den einsamen Letzten kam nach etwa 10 Kilometern, als der Weg, zum Teil ein Abschnitt des „Zöglingsweges“, in den Rennsteig mündete. Da nämlich umgab mich plötzlich das im Jubiläumsjahr ohnehin reichliche Hauptfeld der Supermarathon-Läufer. Nur hatten diese schon etwa 30 Kilometer zurückgelegt. Seit Jahren befand ich mich nun wieder in einem Läuferfeld, das freilich an mir vorbei zog. Doch ich hatte genügend Gelegenheit zum Beobachten.

Welch ein Unterschied zu einem Marathon! Diese Läufer unterhielten sich, nicht anders als bei einer morgendlichen Joggingrunde. Allerdings, das Feld der Schnellen hatte diese Einmündung der Walkingstrecke schon passiert, als ich hier eintraf. Doch das Mittelfeld, das ich erlebte, glich einer geselligen Veranstaltung. Die Herausforderung der Ultrastrecke relativierte sich offensichtlich, jedenfalls bei diesem Kilometerstand. Viele grüßten oder begrüßten mich. So viele, daß es schließlich richtig anstrengend wurde. Die guten Laufbekannten von früher unterbrachen ihren Lauf zu einem Handschlag. Andere kannten mich wohl nicht, bezogen mich, den alten Mann, aber in ihren Lauf mit ein. Es war, ich sagte es schon, eine gesellige Veranstaltung. Erfahrene Rennsteigläufer hatten die Zahl der Teilnahmen auf dem Lauftrikot angegeben, „30 Teilnahmen“ las ich, 33 gar – Respekt!

Den einsamen Abschnitt auf der Rennsteigstrecke gab es für mich aber doch. Auch die Letzten waren an mir vorbeigezogen, der Allerletzte wollte am Grenzadler aufgeben. Meine Ermunterung war offenbar nicht erfolgreich. Dann war ich wieder allein – bis auf die drei Radfahrer, die mich immer wieder überholten. Als es auf drei Uhr nachmittags zuging, behauptete einer, dies sei die Schlußzeit für die Station Grenzadler in Oberhof. Dies stimmt zwar, aber nur für die Supermarathon-Läufer. Sie müssen die Marke 56 Kilometer innerhalb von neun Stunden erreicht haben. Wir Walker hingegen haben den Zielschluß am Grenzadler erst nach elf Stunden, nämlich um 18 Uhr. So jedenfalls ist es in der Ausschreibung zu lesen. Doch jener Posten, der mich zum Aufgeben drängen wollte, behauptete, er habe sich erkundigt: Zielschluß in Oberhof sei um 15 Uhr. Ich widersprach ihm in aller Seelenruhe. Ein wenig Bosheit kam auf; ich hätte ihm schlicht die Ausschreibung zeigen können, die ich im Rucksack bei mir führte. Doch weshalb eigentlich sollte ich als Teilnehmer einem Helfer der Veranstaltung sein Informationsdefizit beweisen sollen?

Gegen 16 Uhr gestattete ich mir eine Sitzpause. Ich hatte ja Zeit. Die Verpflegungsstationen waren um diese Zeit bereits abgebaut – einverstanden. Einer der Radfahrer machte mich schließlich auf die Abbiegung der Strecke zum Grenzadler aufmerksam. Sie war zwar etwas simpel mit einem Bodenpfeil markiert, aber ich kannte die Abzweigung ja. Nach zehn Stunden und knapp zwei Minuten traf ich an der Meßstelle ein. Die letzte Walkerin, die ich von Laufteilnahmen her kannte, war zwei Stunden vor mir am Ziel.

Der letzte Autobus zurück nach Schnepfenthal stand bereit, der Fahrer wartete, um die beiden Schluß-Radfahrer und mich zum Ausgangspunkt zu transportieren. Beim Warten am Autobus passierte es: Ein winziger Fehltritt, und ich fiel um. Es fehlte die Kraft, das Gleichgewicht zu halten. Die Kraft war auf den 36 Kilometern geblieben.

Eintragung vom 8. Mai 12

In der noch nicht fünfzig Jahre alten modernen Laufbewegung haben Jubiläen ihren eigenen Rang. Etwa so: Eine Laufveranstaltung, die zum zehntenmal organisiert wird, gilt als etabliert. Mit fünfundzwanzig Veranstaltungen hat ein Lauf Tradition. Kann der Lauf sein vierzigjähriges Bestehen feiern, ist er unweigerlich Teil der Geschichte. Dies trifft mit vollem Recht auf den GutsMuths-Rennsteiglauf zu, der am 12. Mai zum vierzigsten Mal ausgetragen wird.

 

Es ist ein Lauf, in dem sich sowohl unterschiedliche Facetten der Laufgeschichte als auch deutsche Geschichte widerspiegeln. Er ist geradezu das gesamtdeutsche Symbol der Volkslaufbewegung. Kein anderer Lauf im heutigen Deutschland hat eine derartige verbindende Bedeutung wie der Lauf über den Höhenweg des Thüringer Waldes.

Der Rennsteig, der traditionsreichste deutsche Wanderweg, hat weder mit Rennen noch mit Steigen zu tun, sondern ist als „Rynnestieg“ bereits im 13. Jahrhundert in einem Kaufbrief erwähnt. Geographische Bedeutung hat er als Wasserscheide, politische Bedeutung als Grenzlinie. Früh schon ist er zum Mythos geworden. Viktor von Scheffel dichtete: „Ein deutscher Bergpfad ist’s! Die Städte flieht er/ Und keucht zum Kamm des Waldgebirges hinauf,/ Durch Laubgehölz und Tannendunkel zieht er! Und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf.“

Nachdem der sächsische Herzog Ernst der Fromme, der in Gotha herrschte, die Erkundung des Rennsteigs in Auftrag gegeben und Christian Juncker 1703 eine Beschreibung verfertigt hatte, hat erst der Gothaer Major Julius von Plänckner – der Supermarathon führt an „Plänckners Aussicht“ vorbei – im Jahr 1830 den Rennsteig vom Oberlauf der Saale bis zum Mittellauf der Werra in fünf Etappen zu je etwa 34 Kilometern erwandert und beschrieben. Auf ihn sind der historisch nicht festgelegte Anfangs- und Endpunkt – Hörschel westlich von Eisenach und Blankenstein in Bayern – zurückzuführen. 1896 wurde der Rennsteiglaufverein gegründet, der sich die Erforschung und Erhaltung des Weges zur Aufgabe gemacht hat. „Die Rennsteigskiläufe brachten mit dem Jahre 1905 die sportliche Komponente auf den Rennsteig“, wie Dr. Hans-Georg Kremer in „Faszination Rennsteiglauf“ darstellt. 1913 unternahm der Eisenacher Polarforscher Max Raebel einen Rekordmarsch über die gesamte Strecke von Blankenstein (Saale) nach Hörschel (Werra), um sich auf eine Spitzbergen-Expedition vorzubereiten; er brauchte 32 Stunden 45 Minuten. 1924 gab es den ersten Rennsteiglauf, jedoch nur über 10,5 Kilometer. Von 1956 an wurde, wie Dr. Kremer zusammengetragen hat, regional versucht, über Rennsteig-Abschnitte zu laufen.

Kremer war, als er in Jena studierte, Orientierungsläufer. Zusammen mit Sportfreunden schwebte ihm ein fünftägiger Orientierungslauf nach skandinavischem Muster vor. 1971 fand als Test ein Etappenlauf von Eisenach bis Neuhaus statt, im Jahr darauf einer über zwei Etappen und eine 60-km-Wanderung. Probleme bei der Quartierbeschaffung unterwegs führten dazu, daß die Laufstrecken verlängert wurden. Da es an geeignetem Kartenmaterial fehlte, wurde die Idee eines Orientierungslaufes aufgegeben. Stattdessen starteten die Studenten Kremer, Hans-Joachim Römhild, Jens Wötzel und Wolf-Dieter Wolfram, Mitglieder der Hochschul-Sportgemeinschaft Jena, zu einer Ausdauerleistung, 100 Kilometer von Eisenach bis Masserberg; die Infrastruktur bestand aus dem Betreuer Dietrich Saalfeld auf dem Motorrad. Die Läuferwelt hielt nicht gerade den Atem an, im nächsten Jahr wohl auch nicht. Da waren es 12 Teilnehmer, die Ausfallquote betrug ein Drittel. Gestartet wurde vor der Salzmannschule in Schnepfenthal, an der GutsMuths, der spätere Namensgeber des Rennsteiglaufs, gewirkt hat. Erst 1975 ging es mit 974 Teilnehmern richtig los, nachts um 1 Uhr mit Taschenlampe auf die 82 Kilometer lange Strecke nach Neuhaus; eine Strecke über 38 Kilometer war für Frauen konzipiert. 1975 also ist das Gründungsjahr der allgemein zugänglichen Veranstaltung. Im Jahr darauf wurde Schmiedefeld das Ziel einer „langen“ und einer „kurzen“ Strecke. „Trotz der massiven Widerstände seitens des DTSB-Bundesvorstandes (DTSB = Deutscher Turn- und Sportbund) kamen jedes Jahr mehr Teilnehmer. Der Rennsteiglauf wurde u. a. gerade wegen seiner Nichtkonformität zur Politik der Sportführung zum Magneten für Ausdauersportler der DDR“, schreibt Hans-Georg Kremer. Und nicht nur der DDR. Immer wieder schlichen sich auch Läufer aus der Bundesrepublik unter falschem Namen ein. Auf diese Weise lernte auch ich 1983 und 1984 den Rennsteiglauf kennen und war sehr angetan von dem Charakter und der Atmosphäre dieser Ultra-Veranstaltung. Erst 1989, dem Jahr der Grenz-Öffnung, wurde 30 Bundesdeutschen die Teilnahme offiziell erlaubt.

Die Wiedervereinigung brachte den Lauf wegen des horrenden Teilnehmerrückgangs in eine Krise; sie ist, ebenso wie manche interne Auseinandersetzung, bewältigt worden. Die Veranstaltung wird getragen von einer GmbH, ideell vom GutsMuths-Rennsteiglauf-Verein, der laut Internet jetzt 1150 Mitglieder zählt. Das Streckenangebot ist vielfältig, die Atmosphäre nach wie vor herzlich, die Organisation hat Hand und Fuß. Die Veranstaltung ist nun schon länger ein gesamtdeutscher Lauf als ein ehemaliger DDR-Lauf. Manche Tradition aus der DDR-Zeit ist noch erlebbar. Nach wie vor ist der Rennsteiglauf in bestem Sinne ein Volkslauf; Spitzenläufer werden nicht „gekauft“, Prämien nicht gezahlt. Die Kontinuität als teilnehmerstärkster und bekanntester deutscher Ultralauf, bekannt weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus, scheint gesichert.

Ich freue mich auf den vierzigsten Lauf.

Eintragung vom 1. Mai 12

Die alte Frage muß von neuem gestellt werden: Was hat Sport mit Politik zu tun? Meine Antwort lautet: Sehr viel. Ich weiß, versteht sich, daß es auch die gegenteilige Meinung gibt. Sie wird meistens vom organisierten Sport vertreten. In wenigen Wochen soll in Polen und der Ukraine die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden. Jetzt stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die in der Ukraine vorgesehenen Spiele boykottiert werden sollen. Anlaß ist die Behandlung der inhaftierten Oppositionsführererin Julia Timoschenko.

Der Prozeß gegen sie war mit Sicherheit politisch motiviert. Der Bandscheibenvorfall, an dem sie leidet, ist anscheinend mangelhaft behandelt. Im Gefängnis ist sie mißhandelt worden. Ein Angebot, sich in der Berliner Charité behandeln zu lassen, durfte sie nicht wahrnehmen.

Bundespräsident Joachim Gauck hat seinen Besuch in der Ukraine, ein Treffen von europäischen Staatsoberhäuptern, abgesagt. Die Kanzlerin will den Spielen in der Ukraine fernbleiben und hat auch dem Kabinett, außer dem zuständigen Fachminister, empfohlen, nicht in die Ukraine zu reisen.

Befragungen im Internet haben ergeben, daß sie damit im Sinne einer Bevölkerungsmehrheit handelt. Den seit 2010 amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch hat das bisher jedenfalls nicht beeindruckt.

Wie immer man es nimmt, – Sport transportiert politische Botschaften, erst recht die Europameisterschaft in der wahrscheinlich beliebtesten Zuschauersportart, dem Fußball. Staaten bemühen sich um Austragungsorte und geben Volksvermögen für Stadionbauten und Infrastruktur aus, weil sie sich einen Image-Gewinn von der Veranstaltung versprechen. Sport wird also im positiven Sinne, zugunsten des Sports, politisiert. Wer diesen Vorzug beansprucht, muß auch mit dem Gegenteil leben, der negativen Politisierung des Sports.

Laufveranstaltungen sind längst zu kommunalen Aushängeschildern geworden. Die Bürger müssen sich dafür gefallen lassen, daß ihre Stadt für ein paar Stunden den Läufern gehört.

Wer die Welt zu sich ins Land holt wie Polen und die Ukraine, hat keinen Anlaß darüber zu wehklagen, daß mit den Absagen politischer Prominenz in der Ukraine der „Kalte Krieg“ neu ausbreche. Wer in einem politischen Prozeß die Oppositionsführerin Julia Timoschenko hinter Gitter steckt und dort menschenunwürdig behandelt, muß sich Fragen nach der Legitimität einer Demokratie gefallen lassen. Ein solcher Staat hat seine Orientierung nach dem politischen Europa hin verwirkt.

Für die Betroffenen, die Sportorganisation und die Sportler, ist all das sehr unerfreulich, zumal wenn auch noch der totale Boykott, die Verlegung der Spiele aus der Ukraine, am Horizont steht. Auch das sollte in Erwägung gezogen werden. Ein Menschenleben ist höher zu bewerten, und gar wenn dieses Menschenleben, Julia Timoschenko, Symbolcharakter hat. Die Ausflucht, Sport sei unpolitisch, kann es nicht geben. Es liegt bei Janukowitsch und seiner Kreise, das Problem seines Staates zu bereinigen.

Eintragung vom 24. April 12

Eine lange Strecke zu laufen, muß man lernen, nämlich trainieren. Das wissen wir alle. Aber auch Zuschauen muß man lernen. Das habe ich erst am Sonntag erfahren. Denn so sehr viel Life-Erfahrung im Zuschauen habe ich ja gar nicht. Ich war schließlich immer dabei, wenn ich zum Laufen gefahren bin. Doch nun fahre ich gelegentlich zu Laufveranstaltungen, nur um zuzuschauen.

Mag sein, daß auch das Alter eine Rolle spielt. Ich hätte das berücksichtigen und mich daher vorbereiten sollen. So aber ist einiges schiefgelaufen. Angefangen davon, daß ich den Marathon-Sieger ohne Füße photographiert habe – er war halt so schnell da –, bis nach dem Marathon, als ich mein Auto nicht mehr auf Anhieb fand.

 

Halten wir uns nicht damit auf! Ich war zum 8. Marathon an der Deutschen Weinstraße gefahren, schon um sechs andere Sportfreunde zu treffen, von denen fünf den Marathon gelaufen sind. Versteht sich, daß ich keinen einzigen laufen gesehen habe, obwohl ich am letzten Kilometer an der Strecke stand. Das ist schon sehr komisch.

In Bockenheim hatte sich ein ungeheuer großes Starterfeld versammelt. Doch die meisten waren Halbmarathon-Läufer. Ins Marathon-Ziel liefen 729 Läuferinnen und Läufer. Das ist aber immerhin die dritthöchste Teilnehmerzahl der acht Veranstaltungen.

 

Wenn ich so die Teilnehmer betrachte – dazu hatte ich schließlich Muße – , bin ich doch überrascht darüber, daß eine so sportliche Veranstaltung so viele unsportlich Erscheinende anzieht, Übergewichtige, Menschen, die sich auf den letzten Kilometern nur mühsam ins Ziel zu quälen scheinen. So also sieht es aus, wenn ein Sport Volkssport geworden ist. Andererseits: Auch dieses Erscheinungsbild motiviert. Wenn diese Menschen es schaffen, wenn auch ein Fünfundsiebzigjähriger und mehrere Siebzigjährige ins Ziel kommen, dann ist Marathon für fast jeden machbar.

So erklärt sich denn auch, daß sich das Leistungsbild verändert hat. Nicht schlechthin sind die Leistungen gesunken; vielmehr laufen heute weit mehr weniger talentierte Menschen Marathon als in früheren Jahrzehnten.

Mehrfach habe ich am 22. April den Lauf der Trikolore erlebt. Zweihundert Meter vor dem Ziel stand eine kleine Gruppe Franzosen. Wenn ich’s nicht hätte hören können, hätte ich sie an der Nationalflagge erkannt. Immer wenn ein französischer Läufer oder eine Läuferin kam, schulterte er oder sie die Fahne und lief mit ihr ins Ziel. Alsbald wurde sie zu der Gruppe zurückgetragen.

An diesem Sonntag habe ich mir wieder einmal gewünscht, noch Marathon laufen zu können. Zum Zuschauen war es zu kalt und zu windig. Zum Laufen war es schon recht.

 

Einen Jahrestag konnte ich feiern: Vor zehn Jahren haben mich hier, in Bockenheim, Walter und Constanze Wagner angesprochen, ob ich für LaufReport, das Anfang 2002 gegründete Internet-Laufmagazin, schreiben könne und wolle. Damals stand ich im Startfeld, in M 75, und lief die Strecke mit ihren über 400 Höhenmetern in 5:08:24 Stunden. Das kam mir ziemlich langsam vor; in Bad Füssing war ich den Marathon in 4:45:24 Stunden gelaufen. Am Sonntag hätte ich mit der Zeit von vor zehn Jahren den 592. Platz der Männer belegt. Vorbei, vorbei...

Photos: Sonntag

Eintragung vom 17. April 12

Den Termin habe ich mir im Kalender notiert: 24. Mai. Von diesem Tage an werde ich die Kinoanzeigen für Stuttgart und Umgebung durchsehen. Gezeigt wird ein neunzigminütiger Dokumentarfilm über den 2. Transeuropalauf. Der Anlaß verdient ein goldenes Krönchen in der Laufgeschichte. Erstmals kommt ein abendfüllender Dokumentarfilm über eine Laufveranstaltung in die Kinos.

Das TransEurope-FootRace hatte im Jahr 2009 von Bari an der Südspitze Siziliens bis zum Nordkap geführt, 4485 Kilometer in 64 Tagen. Organisatorisch bemerkenswert war schon die wissenschaftliche Auswertung dieses TE-FR 09. Nun also kommt ein ernstzunehmender Film dazu.

Wenn ich zurückdenke, so hat sich damit für uns alte Läufer eine Jahrzehnte alte Vision erfüllt. Was uns in den sechziger oder siebziger Jahren erfüllte, das Phänomen der Entdeckung des Laufens, mußte sich doch auch medial spiegeln. Doch es war die Zeit, in der wir verspottet wurden. Es dauerte nach unserem Gefühl unendlich lange, bis wir in den Printmedien den Platz fanden, der nach unserer Meinung unserem Gesundheits- und Erlebnissport gebührte. Wenn wir eine der Fernsehübertragungen von großen City-Marathonläufen sahen, fragten wir uns: Es muß doch noch mehr geben, als das Rennen der Schnellsten zu verfolgen! Wenn psychische Wirkungen des Laufens behandelt wurden, dann größtenteils auf ziemlich platte Weise, ja, ja, die Endorphine...

Nun also ist die Tür aufgestoßen – es gibt noch andere Stoffe als sex and crime. Zwei ehemalige Absolventen der Hochschule der Medien in Stuttgart haben erstmals einen neunzigminütigen Dokumentarfilm über eine Laufveranstaltung, eben jenes TR-FR 09, hergestellt. Achim Michael Hasenberg hatte an der Hochschule der Medien im Studiengang Audivisuelle Medien den Schwerpunkt auf Filmregie und Drehbuchentwicklung gelegt. Christian Sebastian Rose hat ebenfalls dort studiert und auch zwei Jahre im Bereich Film und Kameratechnik unterrichtet, bevor er den Weg als Kameramann einschlug. Zusammen mit dem Musiker Jojo Bödecker gründeten sie im Jahr 2002 die Produktionsfirma „Filmband“. Mit ihrem Projekt Transeuropalauf beteiligten sie sich im November vorigen Jahres an dem „All Sports Film Festival“ und errangen dort bei starker Konkurrenz den „3rd Place Award for International Feature Documentary“. Vorher war ihnen bereits bei den Filmtagen in Selb der Publikumspreis zuerkannt worden. Jetzt also, fast drei Jahre nach dem gefilmten Ereignis, haben sie ihr kommerzielles Ziel, den Film in die breite Öffentlichkeit zu bringen, erreicht.

An dem Europalauf haben 68 Läuferinnen und Läufer teilgenommen. Regisseur und Kameramann haben ihr Augenmerk auf diese Teilnehmer gerichtet: Achim Heukemes, Stephane Pelissier, Robert Wimmer, Elke Streicher, Joachim Hauser, Hiroko Okiyama, Andreas Falk, Matthias Bramstång, Heike Wiedelbach, Jan Straub, Günther Schewer, Ullrich Schulte, Rainer Koch, Russel Secker, René Strosny.

Der Film heißt „I want to run – Das härteste Rennen der Welt“. Da freilich kommen Bedenken auf: Ist nicht der Lauf von Los Angeles nach New York länger? War nicht auch das erste TransEurope-FootRace von Portugal nach Moskau länger und auf jeden Fall härter? Der Superlativ „Das härteste Rennen der Welt“ kann also nur eine Metapher sein. Auf jeden Fall, ich bin gespannt.

Eintragung vom 10. April 12

Eine Laufveranstaltung mit 52 Teilnehmern scheint nicht gerade geeignet, die Blicke auf sich zu ziehen. Jedoch, es handelt sich nicht um einen Wald- und Wiesen-Marathon, sondern um den Transeuropalauf.

Ein solcher Lauf erfüllt mehrere Ansprüche:

Vielleicht findet man noch weitere Aspekte. Auf jeden Fall geht eine besondere Faszination von Kontinental-Durchquerungen zu Fuß aus. Die erste war der Trans-Amerika-Lauf 1928, der keineswegs nur wohltrainierte Läufer, sondern vor allem auch Glücksritter anlockte. Nach weiteren Durchquerungen der USA und von Australien kam es erst im Jahr 2003 zu einem Europa-Wettbewerb von Lissabon nach Moskau in 64 Tagen. Es war die Idee von Manfred Leismann, einem Teilnehmer des Trans-Amerika-Laufs. Ingo Schulze, der bereits einige Erfahrung als Veranstaltungsorganisator gehabt hatte, übernahm die Organisation. In seinem Buch über den 5036 Kilometer langen Lauf hielt er die Wiederholung eines solchen Unternehmens für sehr fraglich. Doch das nächste Trans-Europe-Footrace folgte im Jahr 2009, von Bari bis zum Nordkap. In diesem Jahr steht uns das dritte Rennen dieser Art bevor.

Dieser Lauf vom 19. August bis zum 21. Oktober führt von Dänemark (Skagen), über Deutschland, Frankreich, Spanien nach Gibraltar. Das sind etwa 4200 Kilometer; da die Veranstaltung wieder auf 64 Tage angelegt ist, wird es mit durchschnittlich 65 Kilometern Tagesleistung der mildeste Transeuropalauf sein. Gemeldet sind 52 Teilnehmer, davon nur 9 Deutsche, aber 15 Franzosen und nicht weniger als 19 Japaner. Das zeugt davon, daß sich der Veranstalter Ingo Schulze und seine bewährten Helfer auch international einen guten Ruf erworben haben. Dieses dritte Transeurope-Footrace allerdings soll das letzte dieser Art sein, das Ingo Schulze veranstaltet.

Eintragung vom 3. April 12

Bei den Deutschlandläufen muß man rechnen: Wie viele sind es eigentlich bisher gewesen? Wahrscheinlich werden wir zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Was dagegen am 4. April beginnt, ist einzigartig, die Umrundung Deutschlands. Sie ist erst seit reichlich zwanzig Jahren möglich. Meines Wissens hat sie noch niemand unternommen. Wie lang ist eine solche Umrundung überhaupt? Heinz Jäckel und Gerhard Albert wissen es: 4282 Kilometer. Beide sind vom 4. April an unterwegs, 74 Tage lang.

Begonnen hat es tatsächlich mit der Frage: Wie lang sind Deutschlands Grenzen? Die Frage war in einer Quizsendung gestellt worden. Das hat Heinz Jäckel in Hennef auf die Idee gebracht, sie empirisch zu beantworten. Jäckel, im 65. Lebensjahr stehend, ist ein erfahrener Ultraläufer. Er hat, wie er uns auf seiner Website funrunner-hennef mitteilt, einige individuelle Freundschaftsläufe über weite Distanzen unternommen und am Transeuropalauf 2009 von Bari nach Danzig teilgenommen. Immer hat er, wie inzwischen eine ganze Anzahl von Läufern, diese Läufe mit einer Spendenaktion verbunden. Sein Lauffreund Gerhard Albert aus Waldaschaff, der mit ihm Deutschland umrundet, verbindet seit einigen Jahren das Laufen ebenfalls mit der Spendensammlung.

Beiden liegen die Kinder am Herzen. Heinz Jäckel geht es diesmal darum, Kindern mit einem Down-Syndrom zu helfen. Er will dazu beitragen, zwei betroffenen Kindern (Trisomie 21), Lea und Rebecca, eine Delphin-Therapie zu ermöglichen. Ja, ich weiß, die Delphin-Therapie, erfunden von dem Verhaltensforscher und Psychologen Dr. David E. Nathson, ist umstritten; daher wird sie auch von den Krankenkassen nicht bezahlt. Doch die Eltern von geistig behinderten Kindern klammern sich an jede Hoffnung darauf, daß ihren Kindern so weit wie möglich ein normales Leben ermöglicht wird. Und wenn es die Delphine sind, die ihren Kindern therapeutisch helfen könnten... Ich kann die Krankenkassen verstehen, auch ich bin kritisch gegenüber der Delphin-Therapie, aber ich mag Hoffnungen nicht zerstören.

Gerhard Albert wiederum hat sich der Minderheit der an Fanconi-Anämie erkrankten Kinder gewidmet, einer Anämie, die wegen ihrer Seltenheit erst unzureichend therapeutisch angegangen wird. Wenn also Heinz Jäckel und Gerhard Albert ihrem Lauf um Deutschland einen karitativen Sinn geben und sich in den Dienst der Therapie von Kindern stellen möchten, mag ich nicht an dieser Stelle einen Streit um die Delphin-Therapie lostreten. Ich werde in Gedanken bei den Läufern und ihren Begleitern sein und freue mich, daß wieder eine neue Lauf-Idee realisiert wird.

Läuferisch berühren die beiden Läufer Landstriche, die nicht gerade im Blickpunkt stehen. Ihre Liste von 74 Übernachtungsstationen – die längste Etappe zählt fast 80 Kilometer – umfaßt zahlreiche wenig bekannte Orte. Läufer, die in der Nähe wohnen, werden sich jedoch auf diese Weise mit den Rund-um-Deutschland-Läufern identifizieren können. Die Route führt von Hennef über Mechernich nach Süden, am Bodensee entlang nach Bayern, nordwärts zur sächsischen Grenze. In Bad Muskau ist am 11. Mai Bergfest, die Hälfte ist geschafft; an diesem Tag wird nicht gelaufen. Dann geht es an der Neiße entlang zur Oder und durch Brandenburg nach Usedom, weiter nach Westen bis nach Flensburg, Zweimal wird eine Fähre benützt. Die beiden laufen an der Nordseeküste entlang und biegen dann südwärts ab. Am 17. Juni um 12 Uhr wollen sie wieder in Hennef eintreffen.

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