Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 25. März 13

Nach meiner Erinnerung gab es neulich einen Tag, da schien das Laufen neu erfunden. Nach langer Zeit war meine Trainingsstrecke wieder belebt mit Läufern und Walkern. Nach langer Zeit trugen sie kurze Hosen und sogar kurzärmelige Laufhemden. Eine flüchtige Erinnerung…

Denn alsbald kam der Winter zurück. Vor vierzehn Tagen bin ich zum letztenmal meine volle Strecke gegangen. Dann ereilte mich, nach Jahren wieder, eine Erkältung. Nächte voller Hustenreiz, tagsüber quälende Müdigkeit, Appetitlosigkeit, abends Kälteschauer in der warmen Stube. Da mochte ich nicht hinaus. Dann wollte ich das Training aufnehmen und begann mit 4 Kilometern.

Es war, als hätten sich die Elemente gegen mich verschworen. Stundenlang schneite es. Jetzt ist der Schnee zwar weg, aber es ist windig und eisig. Dabei kann man sich wohl warmlaufen, aber mit dem Warmgehen habe ich Schwierigkeiten. Mir fehlt die Lust an der Bewegung. Ein Terminplan mit Laufwettbewerben würde mir helfen, wieder Fuß zu fassen. Doch ich habe keinen Terminplan mehr, sondern nur die Absicht, beim Rennsteiglauf von Oberhof nach Schmiedefeld zu wandern. Dafür reicht es allemal noch. Ich kann mich ungehemmt meiner Lustlosigkeit hingeben.

In den Jahrzehnten meiner Läuferkarriere hat es schon den einen oder anderen Tag gegeben, an dem ich keine Lust hatte zu laufen. Doch an ein solch langes Tief wie jetzt kann ich mich nicht erinnern. Ich bin sicher: Der Winter spielt uns einen Streich. Das ist keine subjektive Meinung mehr.

Die Meteorologen beteuern, einen derart langen Winter habe es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Der Winter oder vielmehr der Winter im Frühjahr ist zu einem erstrangigen Nachrichtenthema geworden. Da bitte ich um Nachsicht, daß ich, obwohl in einem milden Regionalklima ansässig, Tagebuch-Leser mit meinem Wetterproblem behellige.

Dies alles habe ich am Sonntagabend geschrieben. Als ich heute, am Montagmorgen, aufwachte, war draußen alles weiß. Es ist Mittag, und es schneit noch immer.

Eintragung vom 18. März 13

Nun bin ich ein Laufheld. Runner’s World hat mich dazu gemacht. Die Zeitschrift hat all ihre Abonnenten in einem Club zusammengefaßt. Er heißt „Laufhelden“.

Ein Held, ist das nicht eine übermächtige sagenhafte Gestalt? Griechische Antike, „Deutsche Heldensagen“, da war doch was? Vor allem, sind die Helden nicht alle tot? Die meisten sind erst durch ihren Tod zu Helden gemacht worden.

Als Laufheld erfüllt mich ein Gefühl der Unbehaglichkeit. Ist denn jeder, der ein paar Kilometer die Außenalster entlang trabt, ein Laufheld, sofern er nur das rechte Abonnement hat? Ich will kein Held sein, denn davon profitieren fast immer nur diejenigen, die Helden brauchen.

Laufhelden müssen keine Laufheldentaten erbringen, das Abonnement von Runner’s World genügt. Dafür treten wir ein in eine „Vorteilswelt“. Eine Startnummer für den innerhalb von dreieinhalb Stunden ausverkauften Berlin-Marathon, ist das nichts? Ja, wenn man sie denn bekäme. Das Kontingent umfaßt fünfzig Startplätze, die unter den interessierten Laufhelden verlost werden. Jeder RW-Abonnent hat damit eine Chance von etwa 0,1 Prozent. Es ist nicht leicht, ein Held zu sein.

Weiteres wird im „geschlossenen Club-Bereich“ von Runner’s World versprochen. Die Erwartungen sollte man wohl nicht zu hoch ansetzen. Allein die ganze „Laufhelden“-Aktion mit Zusendung der Clubkarte, die Laufhelden am Meeresstrand zeigt, verschlingt eine Menge Geld. Es ist eine Werbe-Maßnahme, die aus Anzeigengebühren und Verkaufserlösen gedeckt werden muß.

Doch was geht das mich, den Laufhelden, an! Bin ich nun ein Held oder nicht? Beim Nachsinnen über den Bedeutungswandel in der deutschen Sprache bin ich zu dem Schluß gekommen: Der „Laufheld“ ist die pure Ironie. Der Ansatz ist ja schon in der Pädagogik erkennbar gewesen. Ein harmloser Sturz mit dem Kinderfahrrad, und die kleine Hautabschürfung wird damit kommentiert: „Du bist mir vielleicht ein Held!“ Der Bedeutungswandel des Helden vom Pathos zur Ironie wirkt ja ganz sympathisch, zeigt er doch, dass wir uns offenbar von einem schwülstigen Begriff gelöst haben. Wir brauchen keine Helden. Aber Runner’s World braucht Laufhelden.

Eintragung vom 11. März 13

Die suggestive Wirkung der Frage im Text der Ankündigung war stark: Wieviel Bewegung brauchen wir wirklich? Also schaltete ich am 5. März das Fernsehgerät ein, und Marianne verzichtete meinetwegen auf ihre Lektüre.

Die Sendung im Zweiten hieß: „Die ganze Wahrheit über Fitness“. Das setzt ja wohl voraus, daß uns „die ganze Wahrheit“ bisher vorenthalten worden ist. Ein Schuß gegen die Wissenschaft?

Nicht im geringsten. Die ganze Wahrheit über die „ganze Wahrheit über Fitness“ im ZDF ist, daß ich (wieder einmal) auf einen Werbetext in der Programm-Rundschau hereingefallen bin. „Die Umsätze der Fitness-Industrie steigen von Jahr zu Jahr, und dennoch nimmt die Zahl der Übergewichtigen zu. Wie kommt das?“ Mag sein, daß ein paar derjenigen, die sich bisher keine Antwort zusammenreimen konnten, auf den rechten Weg geschickt worden sind. Doch gerade diejenigen, die es am nötigsten hätten, dürften anderen Fernsehprogrammen den Vorzug gegeben haben.

Wir bekamen zu sehen, wie an drei Drehorten je ein sachkundiger Professor drei Probanden untersuchte – einschließlich der Anamnese über das bisherige Bewegungsverhalten – , die drei daraus ihre Schlüsse zogen und den Probanden ihre Empfehlungen gaben. Im Grunde lief der 45minütige Film auf diese Personalisierung des angeblichen Problems „Die ganze Wahrheit über Fitness“ hinaus.

Die Probanden hatten – wer hätte das gedacht! – einen unterschiedlichen Fitness-Bedarf. Entsprechend mußte das Training darauf abgestellt werden. Es war zum Gähnen. 45 gestohlene Minuten, gefüllt mit Allerweltsweisheiten.

Wenn man sich wenigstens über die halbe Wahrheit hätte aufregen können! Doch es wurde ja die „ganze Wahrheit“ geboten.

Das Problem des Fernsehens liegt meines Erachtens darin, daß Filmemacher solcher „Dokumentationen“ auf ausgelatschten Pfaden tappen. Es gab Zeiten, da war es genau umgekehrt: Da machte das Fernsehen Probleme deutlich, da schubsten Filme die Fachleute an. Eines der brillantesten Beispiele: Horst Stern, der Amateur-Zoologe, der sein Hobby zunächst in Schulfunksendungen des Süddeutschen Rundfunks auslebte, schuf mit „Sterns Stunde“ eine Fernseh-Sendereihe, deren Filme provozierend waren. Ob sie die ganze Wahrheit oder nur die halbe verkündeten, – sie waren wahr. Die Fachleute der Universität Stuttgart-Hohenheim verliehen Horst Stern daraufhin den Doktor honoris causa.

Wo findet man solche Filme heute? Damals, im Jahr 1971, war es ein Fernsehdirektor, der den Autojournalisten, Erfinder eines Reisemagazins, Schulfunk- und Buchautor Horst Stern, der letztes Jahr seinen 90. Geburtstag in aller Stille feierte, vor die Kamera brachte. Heute wird der journalistische Erfolg eines Fernsehschaffenden in Quoten-Prozent gemessen.

Eintragung vom 4. März 13

Wie der Schnee in der Sonne schmilzt der Zorn. Nein, bitte nichts mehr mit Schnee! Das ist ja die Ursache des Zorns gewesen.

Wenn ich daran denke, wie ich mich eingemummt habe! Und nach zweieinhalb Stunden wieder ausgeschält! Danach mit noch immer kalten Füßen unter der Dusche. Zweieinhalb Stunden Kälte, Schnee in den verschiedensten Formen, Balance auf Eis, die Fingerhandschuhe zu Fausthandschuhen gemacht, die Nase ist gelaufen, am Ende der Strecke ein Knäuel durchnäßter Papiertaschentücher.

Wenn die Schnürsenkel der Wanderschuhe aufgegangen sind, war das ein Drama. Mache einer mal mit steifen Fingern eine Schleife!

Da keimte der Zorn: Will denn dieser Winter gar kein Ende nehmen? Ich gestehe auch: Ohne Not habe ich geschwänzt, zwei Tage nicht gegangen und kein schlechtes Gewissen gehabt.

Dabei, ich bin doch schon bei Minusgraden gelaufen, sogar bei minus 20 Grad auf Langlaufski gestanden. Doch nun bin ich alt, und Kälte macht mir zu schaffen. Vor allem aber, ich laufe nicht, ich gehe, und dies nicht einmal mehr sehr flott. Die Steigungen schleiche ich hinauf – und ich bin sie doch einmal gelaufen!

Der Zorn packt mich. Wollte denn der Winter gar kein Ende nehmen? Noch waren die Felder weiß, da bauten sie den hölzernen Kiosk auf, weit leuchten die Lettern: Frischer Spargel.

Die Welt in Grautönen. Leben spielt sich im und am Vogelhäuschen ab. Das steht einen Meter vom Wohnzimmerfenster entfernt. Wenn man sich im Zimmer nicht bewegt, kann man zusehen, wie die Meisen emsig picken. Dann und wann ein scheues Rotkehlchen. Die dicken Amseln jedoch dulden keine Mitpicker. Manchmal, wenn sich eine Amsel zu lange im Vogelhäuschen aufhält, verjagt sie Marianne. Die Amseln respektieren nur einen: den Specht, der sich außen am Häuschen festklammert und mit dem langen Schnabel die Nahrung zu sich nimmt. Gelegentlich habe ich auch schon ein Elsternpaar gesehen. Das muntere Treiben ist ein Ersatz für den zugefrorenen Gartenteich; wir hoffen, daß die Goldfische überlebt haben.

Am Samstag endlich Helligkeit. Noch waren die Schneereste nicht geschmolzen, aber die Sonne begleitete mich auf meiner Trainingsrunde. Rotglühend verabschiedete sie sich am Horizont, als ich das Haus erreichte, nun schon wieder besänftigt. Es scheint wider Erwarten doch noch Frühling zu werden.

Eintragung vom 25. Februar 13

Der Pferdefleisch-Skandal geht mich nichts an, ich bin Vegetarier. Ende des Kommentars.

Nein, wohl doch nicht. Der Mensch lebt nicht allein. Wir gestalten unsere Umwelt, und wir sind abhängig von ihr. Die verbreitete Beimischung von nicht deklariertem Pferdefleisch in Fertiggerichte decouvriert wieder, zum nicht mehr zu zählende Male, die industriellen Nahrungsmittelhersteller. Es geht ihnen offensichtlich nicht im mindesten um das Wohlbefinden von Kunden, sondern primär darum, Kunden zu gewinnen und die Verkaufszahlen zu erhöhen. Die gesetzlichen Rahmenbestimmungen sind so gehalten, daß überwiegend nicht die Interessen der Verbraucher, sondern die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller und des Handels geschützt werden. Die großen Handelsketten bringen zwar Eigenmarken auf den Markt, schieben aber die Verantwortung für unzureichend gekennzeichnete Produkte auf die Zulieferer ab. Die Namen der fehlerhaften Produkte dürfen nicht einmal genannt werden.

Die seit über zehn Jahren bestehende unabhängige Organisation foodwatch fordert in ihrem neuesten Newsletter: „Den Handelskonzernen müssen endlich genaue Untersuchungspflichten für ihre Eigenmarken vorgeschrieben werden. Liegen dann Produkte in den Supermarktregalen, die nicht den Gesetzen entsprechen, müssen die Konzerne auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.“

Was können wir tun? In einer Untersuchung habe ich gelesen, daß nur noch in der Hälfte der deutschen Haushalte täglich selbst gekocht werde. So sehr sich auch in der Gastronomie und den Kantinen ganz allgemein das Niveau verbessert hat, so erschreckend ist dieser Niedergang der privaten Kochkunst.

Meine persönliche Beobachtung: Es wird verbreitet „nebenbei“ gegessen, vor dem laufenden Fernsehgerät, am Schreibtisch, auf der Straße, am Kiosk. Die fertige Pizza, die Currywurst, der Döner kommen dem entgegen.

Die Gastronomie müßte von den Besuchern stärker noch darauf geprüft werden, wie weit sie „Convenience“-Produkte, auf Deutsch Fertigprodukte, verwendet. Wir sollten uns nicht nur ernähren, sondern auch genießen wollen. Der Pferdefleisch-Skandal geht auch uns Vegetarier etwas an.

Eintragung vom 18. Februar 13

Nein, ich erdreiste mich nicht, Papst Benedikt Ratschläge geben zu wollen. Vielmehr bekunde ich Hochachtung wegen seiner Rücktrittsentscheidung. In der Tat, auch gutwilligen Gläubigen konnte nicht entgehen, daß sein Alterungsprozeß vorangeschritten ist. Ein ganz natürlicher Prozeß... Ich gönne ihm die Entbindung von seinem Amt, über eine Milliarde Menschen leiten und anleiten zu müssen, und wünsche ihm, daß er in der Zurückgezogenheit des vatikanischen Klosters in geistiger Frische, ganz ohne Belastung, noch das eine oder andere Buch schreiben möge.

Mir, dem ein Jahr Älteren, ist nur der Gedanke gekommen, ob er nicht den Alterungsprozeß hätte etwas, mehr nicht, verlangsamen können. Vielleicht, warum auch nicht, könnte er ihn auch jetzt noch verlangsamen.

Ich weiß ja, wie das geht. In unseren Marathon-Zeiten spiegelt sich die Alterung getreulich wider. Mag es auch auf der Erde den einen oder anderen neunzigjährigen Marathon-Läufer geben, – es sind Ausnahmen. Den Marathon die eine Hälfte traben, die andere Hälfte gehen, so ging das. Dann den Marathon (des Rennsteig-Laufs) in der Sollzeit gehen, und schließlich war weder der Marathon noch der Halbmarathon in der Sollzeit zu bewältigen.

Doch etwas geht immer. Zwar überholen mich fast alle Fußgänger, die ich auf meiner Strecke treffe, aber ich begegne unweit meiner Haustür auch Altersgenossen, die sich am Rollator nur noch ganz mühsam vorwärts bewegen. Ich erinnere mich an einen Nachbarn, der als Neunzigjähriger den 300 Meter langen Weg zum Mittagessen und zurück nur mit Hilfe einer Pflegerin bewältigen konnte.

Ich versichere: Wenn ich im Hinblick auf mein Alter als fit gelte, ist mir das nicht in den Schoß gefallen. Es ist das Ergebnis eines fast lebenslangen, allerdings für etwa ein Jahrzehnt unterbrochenen Trainings. Aus der Erfahrung also meine ich: Wenn Papst Benedikt XVI. im „Ruhestand“ ein Training begänne? Ich entwerfe keine Utopie – Laufen muß nicht sein. Doch zunächst hundertmeterweise langsam, dann rascher gehen – in einem halben Jahr dürfte der Papst i. R. nicht wieder zu erkennen sein. Es mag ja die Arbeit erleichtern, wenn man selbst im Petersdom nur noch gerollt wird; aber der Gesundheit dient das nicht.

Ein Papst im Ruhestand, stelle ich mir vor, kann sein Leben nun wieder selbst bestimmen. Dazu gehört meines Erachtens, sein Leben nicht durch Untätigkeit zu verkürzen. Auch jeder Gläubige würde akzeptieren, wenn Papst Benedikt ein neues Buch schriebe. Warum wäre es unakzeptabel, den Papst künftig gelegentlich im Trainingsanzug oder gar in der kurzen Hose zu sehen? Es würde ihn und die Katholische Kirche menschlicher machen.

Eintragung vom 11. Februar 13

Wenn schon der Tag der Tagebuch-Eintragung auf den Rosenmontag fällt, drängt sich das Thema auf – selbst für einen gebürtigen Preußen, dem Karneval ein Fremdwort und die schwäbisch-alemannische Fasnet Folklore geblieben ist. Rein äußerlich haben der Karneval und das Feld der Läufer bei einem City-Marathon ziemlich viel gemein. Der Straßenkarneval und das öffentliche Faschingstreiben spielen sich überwiegend dann ab, wenn der Zug kommt. Ein Karnevalszug ohne gut gelauntes, ja überschäumendes Publikum wäre undenkbar. Nicht anders vollzieht sich die Kommunikation zwischen dem Marathon-Publikum und den Läufern, außer daß auf das Verteilen von Bonbons verzichtet werden muß.

Im Verlauf von ein, zwei Generationen hat sich auch in dieser Beziehung beim Laufen viel geändert. In seiner Anleitung „Der Langstreckenlauf“, einer Schrift aus dem Jahr 1927, hat der Studienrat Ottomar Krupski den Straßenläufern noch ans Herz gelegt: „Zur richtigen Lebensführung des Langläufers gehört eine weitgehende Enthaltsamkeit.“ Insbesondere „bezüglich des Genusses geistiger Getränke, des Tabaks und im Geschlechtsleben“. Krupski meint: „Dazu gehört vor allem ein Meiden des Gesellschaftslebens. Eßgelage, Kino, Theater und Tanz rauben Schlaf und halten in Erregung... Dem eifrigen Wettkämpfer darf von Wein, Weib und Gesang nur der letztere erlaubt sein.“ Nun ja, den Gesang finde ich heute bei Läufern eher unterrepräsentiert.

Bei Straßenläufen wie dem Stafettenlauf Potsdam – Berlin beschränkte sich das Publikum aufs Anfeuern. Mit den ersten City-Marathonen 1976 in New York, 1981 in London, Frankfurt am Main und Berlin kam erstmals in größerem Umfang so etwas wie Kommunikation zwischen Läufern und Zuschauern auf. Vermutlich ist die Urform das T-Shirt gewesen; dessen Erfindung nämlich, die nur im Sinne des Wortes hemdsärmelige Art von Nordamerikanern, ein Unterhemd als Oberbekleidung zu tragen, bot die Möglichkeit, stumme Botschaften an die Spaliere rechts und links am Straßenrand zu richten. Läufer riefen damit zur Solidarisierung mit der Welthungerhilfe, mit Krebskranken oder der Wohltätigkeit für Bedürftige auf. Witzbolde benützten das weiße Hemd zu selbsterfundenen Späßen; zum Beispiel versah ein Marathon-Novize in London sein Hemd mit einem „L“ wie auf Fahrschul-Autos („Learning“). Als ich 1984 in London lief, hatte sich dort bereits ein kompletter Kostüm-Karneval auf der Strecke entwickelt. Die „Fun Runner“ bildeten einen integralen Bestandteil des London-Marathons, ob als Prinz Charles, als Vogel Strauß oder mit einer mitgeschleppten Leiter zum Überwinden der „Mauer“. London setzte sicher in dieser Beziehung Maßstäbe. In New York agierte das Publikum besonders rege mit Pappschildern zur Anfeuerung. Beim Honolulu-Marathon heizten allein schon die Hula-Tänzerinnen mit Palmblätterröckchen und Lei, der Blütenkette, die Stimmung an. Um jene Zeit wurde auch schon der Kellnerlauf in Paris ausgetragen, bei dem Angehörige dieser Berufsgruppe, korrekt gekleidet, wie sich versteht, auf einer Kurzstrecke ein Tablett mit gefüllten Gläsern ans Ziel zu bringen hatten.

Bereits Jock Semple – das ist derjenige, der 1967 beim Boston-Marathon der „illegal“ laufenden Kathrine Switzer die Startnummer entreißen wollte – hatte den Gedanken geäußert (in „Just call me Jock“, 1982), in der Frühzeit des Marathons hätten die Läufer als eine Art Karnevalisten gegolten, jetzt spiele sich der Karneval in den Reihen der Zuschauer ab. Wieder ein paar Jahre später sind die Gewichte wohl gleichmäßig verteilt, auf Fun Runner und aufs karnevalistisch gestimmte Publikum.

 

Der Entwicklung zum Laufwettbewerb kostümierter Teilnehmer hat 1984 der Médoc-Marathon die Krone aufgesetzt. Während bei den City-Marathonen die verkleideten Fun Runner einen relativ kleinen Anteil haben, wird der Spaß im Médoc, dem größten Weinanbaugebiet Europas, zum Selbstzweck erhoben. Es soll zwar auch beim Médoc-Marathon Läufer geben, die ihn ernst nehmen – die können ihn dann gewinnen – , aber die wenigsten scheren sich um eine passable Marathonzeit. Dennoch, die Kondition muß stimmen. In schwarzem Anzug und Melone zu laufen oder mit anderen eine mehrere Meter hohe Figur hügelaufwärts zu schieben, ist schwerer, als seine persönliche Bestzeit zu verbessern. Die Organisatoren wissen auch, was sie tun; sie prämiieren das originellste Kostüm. Und vor dem Zieleinlauf wird dazu aufgefordert, erst einmal das Make-up zu erneuern.

 

Der Charakter des Médoc-Marathons wird vom Wein bestimmt. Der Kurs führt über mehr als 50 Weingüter, wo man sich hydrieren – oder sagt man: önieren? – kann. Einige Verpflegungsstellen verzichten auf Plasticbecher und halten auch für den flüchtigen Griff Weingläser für angemessen. Bei Kilometer 38 wird zu Austern trockener Weißwein gereicht. Man läßt sich nicht lumpen. Keiner der Wein-Marathone, die nach dem Muster des Médoc-Marathons ins Leben gerufen worden sind, kann es mit dem Lauf bei Bordeaux aufnehmen.

Plutarchs Botenläufer, der sterbend den Sieg bei Marathon verkündet, gerät darüber rasch in Vergessenheit. Hier wird auf eine andere Tradition zurückgegriffen, die Bacchanalien der Griechen, enthemmte Umzüge als Fruchtbarkeitskult. Auf diese Bacchanalien und die römischen Saturnalien geht der Karneval zurück. Das Bild rundet sich: Fun Runs als zeitgenössischer Kult der Ausgelassenheit.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 4. Februar 13

Das Thema paßt politisch ganz ausgezeichnet in die Zeit: Es findet Zustimmung, wahrscheinlich uneingeschränkt wie kaum ein Thema sonst, und es genügt schon, die Fakten festzuhalten; man muß politisch nicht das geringste tun. Ein hervorragendes Thema für das Wahljahr 2013 also. Falls es Frau Dr. med. von der Leyen nicht schon von vornherein so gesehen hat, wird es ihr und ihrer Regierung jetzt wenigstens zupasse kommen.

Das Thema heißt: Stress.

Wird es nicht täglich im Munde geführt? Wenn nicht von uns selbst, so vielleicht vom Partner, vom Nachbarn, vom Kollegen? Den Begriff Stress hat der in Kanada eingewanderte österreichische Arzt Hans Selye (1907 –1982) bereits Anfang der dreißiger Jahre geprägt. Wie er später schmunzelnd einräumte, habe er eigentlich „strain“ gemeint, nämlich psychische Spannung. Wie nur wenige fremdsprachige psychologische oder psychiatrische Begriffe hat der „Stress“ Eingang auch in die deutsche Alltagssprache gefunden. Wen immer man fragt, jeder hat in seinem Leben schon Stress erlebt.

Zugute halten muß man der Bundesministerin, daß die von ihr beauftragte Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin seit den siebziger Jahren zum sechstenmal das Thema in einer Studie angegangen ist. Sie hat dazu nicht weniger als über 17.000 Arbeitnehmer befragt. Das Ergebnis, das am 29. Januar präsentiert worden ist, besagt, daß die Hauptstressoren, die Spitzenreiter der psychischen Anforderungen am Arbeitsplatz, seit 2006 zwar unverändert geblieben sind, sich aber auf einem hohen Niveau bewegen. Die meisten Befragten, 58 Prozent, geben an, daß ihre Tätigkeit häufig die gleichzeitige Bewältigung verschiedenartiger Aufgaben verlange (der Fachausdruck lautet: Multitasking). Starker Termin- und Leistungsdruck steht mit 52 Prozent an zweiter Stelle der Belastungen. Ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge bedeuten für 50 Prozent Streß. 44 Prozent klagen über Störungen und Unterbrechungen bei der Arbeit. Im europäischen Vergleich stehen für deutsche Beschäftigte Termindruck und hohes Arbeitstempo an oberster Stelle der Belastungen. Die psychische Belastung mache auch vor gewerblichen Betrieben nicht halt, stellt die Bundesanstalt fest.

Eine wichtige Aufgabe der neuen Studie war es, das Verhältnis zwischen Belastungen und Ressourcen, worunter die entlastenden Momente zu verstehen sind, zu beleuchten. In dieser Hinsicht ergibt die Befragung ein positives Bild. 88 Prozent der Befragten loben die Kooperation im Betrieb, je 80 Prozent fühlen sich als Teil einer Gemeinschaft und erhalten Unterstützung durch ihre Kollegen. 67 Prozent haben die Möglichkeit, ihre Arbeit selbst zu planen und einzuteilen. Häufig von Vorgesetzten unterstützt werden 59 Prozent. Ein Beispiel für die Wichtigkeit von Ressourcen geben die Ingenieure, Chemiker, Physiker und Mathematiker. Deren Arbeit ist zwar häufig stark durch Termin- und Leistungsdruck und Multitasking geprägt, sie verfügen jedoch ebenso häufig über Handlungsspielraum und soziale Unterstützung. Unter den Berufsgruppen berichten sie am wenigsten von gesundheitlichen Beschwerden. 59 Prozent der Beschäftigten erhalten, wie sie angeben, von ihren Vorgesetzten häufig Unterstützung. In Anbetracht des Wandels in der Arbeitswelt ist diese Ressource von großer Bedeutung.

Seit der letzten Befragung 2005/2006 haben sich die durchschnittlichen Arbeitszeiten kaum verändert; Vollzeitbeschäftigte arbeiten etwa 43 Stunden in der Woche. Der Anteil der Beschäftigten mit überlangen Arbeitszeiten (mehr als 48 Stunden in der Woche) ist allerdings um 3 Prozent gesunken. Gerade Beschäftigte mit langen und überlangen Arbeitszeiten verzichten oftmals auf Pausen; bei denjenigen, die mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten, sind es 31 Prozent, bei denjenigen mit mehr als 48 Stunden dagegen sind es 48 Prozent. Im allgemeinen läßt ein Viertel der Beschäftigten die gesetzlich vorgeschriebene Pause ausfallen.

Welche wirtschaftliche Bedeutung die von der Bundesanstalt vorgelegten Befragungsergebnisse haben, hat Ursula von der Leyen angedeutet: Im Jahr 2011 sind bundesweit 59,2 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen registriert worden, eine Zahl, die um 80 Prozent höher liegt als fünfzehn Jahre zuvor. Diese Krankheitstage hätten, sagte sie, zu einem Ausfall an Bruttowertschöpfung von 10,3 Milliarden Euro und zu Produktionsausfallkosten in Höhe von 5,9 Milliarden Euro geführt. 41 Prozent aller Neuzugänge zur Rente wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit seien auf psychische Störungen zurückzuführen. Psychische Belastungen seien inzwischen der wichtigste Grund für Frühverrentungen; das Durchschnittsalter betrage 48,3 Jahre. Im Jahr 2006 seien knapp 27 Milliarden Euro für die Behandlung psychischer Erkrankungen ausgegeben worden, 3,3 Prozent mehr als vier Jahre zuvor.

Geplant war laut Deutscher Presse-Agentur, daß Bundesarbeitsministerium, Arbeitgeberverband und Deutscher Gewerkschaftsbund eine gemeinsame Erklärung zur Verbesserung des psychischen Gesundheitsschutzes im Betrieb unterzeichnen sollten. Dazu ist es nicht gekommen. Gegen eine Anti-Stress-Verordnung, die von der IG Metall seit langem gefordert wird, wehren sich die Arbeitgeber; eine solche Verordnung sei nicht praktikabel.

Ob man es, zusätzlich zu den von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angestellten Studien, nicht auch einmal mit einer Vision probieren sollte? Eine solche Vision hat der Verleger Enzio Busche 1973 gehabt, nachdem ihm aufgefallen war, daß ein Arbeitnehmer, den er immer wieder beim Lauftraining gesehen hatte, keine Krankheitstage aufwies. Aus der Vision ist der Lauftreff entstanden. Die neue Vision müßte Bewegungstraining in den Betriebsablauf integrieren. Die Vision müßte ganzheitlich sein, nämlich auch die Kommunen einbeziehen. Wir brauchen Arbeitswege, die sich auch zum Training eignen, man also laufend oder mit dem Fahrrad zurücklegen könnte.

Eintragung vom 28. Januar 13

Das Thema scheint der Literaturgeschichte vorbehalten zu sein: Vor 250 Jahren, am 29. Januar 1763, ist Johann Gottfried Seume geboren worden, ein Schriftsteller der späten Aufklärung, einer, der im Bewußtsein vieler Menschen, im Gegensatz zu den Klassikern, gar nicht vorkommt.

Es ist ja auch wahr, sein Werk ist, vorsichtig gesagt, überschaubar. Jedoch, er wird viel häufiger zitiert als gelesen. Weshalb kommt er in meinem Läufer-Tagebuch vor? Wegen seines „Spaziergangs nach Syracus“. Das ist doch nicht mehr und nicht weniger als das Urmuster aller Fernläufe.

 

Seume, das älteste von fünf Kindern eines verarmten Bauern in Poserna (Kursachsen), hat – gegen seinen Willen – ein sehr bewegtes Leben geführt. Nach dem Besuch der Dorfschule und der Lateinschule im nahen Borna studierte er in Leipzig Theologie. Auf einer Reise wurde er, achtzehnjährig, von Soldatenwerbern ergriffen, zum Dienst gezwungen und vom Landgrafen von Hessen-Kassel an England für den Kampf im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg vermietet. Da das Schiff für die Überfahrt nach Halifax (Kanada) jedoch etwa fünf Monate brauchte, blieb Seume die Beteiligung an Kampfhandlungen erspart. Ein Jahr darauf wurde er nach Bremen zurücktransportiert. Kaum daß er der hessischen Armee entflohen war, wurde er von Werbern des Preußenkönigs Friedrich II. ergriffen. Zwei Fluchtversuche scheiterten, so daß das oftmals tödliche Spießrutenlaufen drohte. Dank Vermittlung eines hochrangigen Offiziers kam er mit einer Kerkerstrafe davon.

Nach Freilassung gegen Kaution ging er nach Sachsen. Wieder in Leipzig studierte er Jura, Philosophie, Philologie und Geschichte. Nach Studienabschluß fand er eine Stellung als Sekretär eines russischen Generals, erlebte die Niederwerfung des polnischen Aufstandes, geriet in polnische Gefangenschaft, wurde entlassen und ging nach Grimma, wo er von 1897 an bei seinem Freund, dem Verleger Georg Joachim Göschen, als Korrektor und Lektor tätig war.

Am 6. Dezember 1801 machte sich Seume auf den „Spaziergang“, der alles andere als das war, was man heute unter Spaziergehen versteht. Anders als der vierzehn Jahre ältere Geheimrat Goethe reiste er nicht mit einer Kalesche nach Italien, sondern wanderte, den Stock in der Hand, er „tornisterte“, wie er schreibt, nämlich auf dem Rücken einen Tornister mit zwei Hosen, zwei Westen, zwei Unterhosen, einem blauen Frack, zwei Paar Strümpfen, zwei Taschentüchern, vier Halstüchern, einem Paar Straßenschuhe, einem Paar Stiefel, einem Paar Pantoffeln, Flickzeug, Bürste, zwei Notizbüchern, dazu Bücher von Catull, Heraklit, Homer, Theokrit, Anakreon, Platus, Horaz, Virgil, Tacitus. „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt. ... Sobald man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt.“ Geschrieben ist das („Mein Sommer“, 1805) weit vor der Erfindung der Massenverkehrsmittel Eisenbahn, Automobil, Flugzeug.

Seume unternahm noch weitere Fußreisen; eine Nordland-Wanderung beschrieb er in „Mein Sommer“. Am bekanntesten jedoch ist der „Spaziergang nach Syrakus“ geblieben. Wenn man bedenkt, daß Seume – auf einer anderen Route – auch wieder zurückgewandert ist, hat er in etwa neun Monaten an die 4 200 Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Er hat nach seinem frühen Tod, im Jahr 1810, bei einem Kuraufenthalt im böhmischen Teplitz, für den er sich das Geld leihen mußte, eine Anzahl Nachahmer gefunden, auch was die Darstellung betrifft. Die bekannteste ist wohl von Friedrich Christian Delius: „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, 1998.

Auch wenn er „nur“ gewandert ist, hat er für die Laufbewegung, der ganz andere organisatorische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den Maßstab gesetzt. Fast 200 Jahre vor dem ersten Transeuropa-Lauf schrieb er: „Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. .... Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ So gesehen, ist Seume ein „Vor-Läufer“.

Eintragung vom 21. Januar 13

Die Entwicklung des Ultramarathons kennt nicht nur die eine Richtung, den Drang nach immer härteren, ja extremen Herausforderungen; es gibt auch eine Entwicklung nach unten, den Ultralauf für alle. Und das ist gut so.

Deshalb ein Wort zum „WUT“. Nein, das ist kein Fehler beim Artikel, sondern WUT heißt hier: Wiedtal-Ultra-Trail. Das Wiedtal liegt im Naturpark Rhein-Westerwald. Die Landschaft dort habe ich im vorigen Jahr kennengelernt, als ich, gehend wenigstens, einer Einladung zum Berglauf auf den Malberg folgte.

Es zeigt sich, daß eine Laufgemeinschaft auch dann Profil gewinnen kann, wenn sie gar keine besonders herausragenden Veranstaltungen bieten kann, jedoch mehrere Läufe bündelt. Die neue Veranstaltung ist ein Ultralauf über etwa 65 Kilometer mit etwa 2500 Höhenmetern rund um Waldbreitbach. Das Ereignis, testweise am 16. März, greift in seinem Namen zwei Trends auf, den zur Popularisierung des Trails und den zum Ultralauf.

 

Wenn wir daran denken, daß wir Ultraläufer – ich darf mich einbeziehen, auch wenn es nun bald drei Jahre her ist, daß ich die letzte Ultrastrecke zurückgelegt habe – einst allein in einer Art Subkultur des Laufens vorkamen, so dürfen wir uns jetzt als vollintegrierten Teil der Laufbewegung fühlen. Während der Marathon zu Gunsten des Halbmarathons Teilnehmer eingebüßt hat, ist im Ultramarathon augenscheinlich eine Steigerung zu verzeichnen. In letzter Zeit hat es geradezu einen Boom an neuen Ultramarathon-Veranstaltungen gegeben.

Ein Zeichen der Zeit ist, daß die 200 Startplätze und zusätzliche 50 Plätze des zweiten 100-Meilen-Laufs auf dem Mauerweg in Berlin binnen kurzem vergeben waren. Das Finish beim Spartathlon ist für viele Ultraläufer zum läuferischen Lebensziel geworden.

Der Wiedtal-Ultra-Trail ist kein Wettbewerb, sondern ein Gruppenlauf. In der Ausschreibung heißt es: „War gestern noch die Stoppuhr das Maß der sportlichen Betätigung, so ist es heute die Freude an einem ungezwungenen Lauf in der freien Natur. Durch das Gruppenlaufen in moderatem Tempo sind auch Distanzen jenseits bekannter Kilometergrenzen möglich.“ Solche Gruppenläufe hat es jedoch auch früher schon gegeben. Der Unterschied besteht wohl darin, daß ein solches Laufen über Ultradistanzen heute institutionalisiert wird. Das bedeutet: Aufbau einer Infrastruktur, gegebenenfalls wie in Waldbreitbach Teilnehmerlimit, zwar keine Zeitmessung, aber ein Laufshirt, organisierter Transport von Wechselkleidung zu den Etappenorten, Urkunde, gemeinsames Pasta-Abendessen und Startgebühr, deren Überschuß, sofern einer erzielt wird, gespendet wird.

Gruppenlauf bedeutet im Prinzip, daß in der Gruppe gelaufen wird. Die Gruppe wird zwar nur etwa 30 Teilnehmer umfassen, aber ich meine, daß es das Hauptproblem sein wird, die Gruppe beieinander zu halten. Ich denke, daß der Wiedtal-Ultra-Trail in dieser Hinsicht nützliche Erfahrungen für Ultraläufer erbringen könnte. Denn es ist nicht einfach, eine Strecke in dieser Länge gemeinsam zu bewältigen. Wer sich die Ultrastrecke nicht zutraut, kann jedoch auch einen Teil davon als Etappenläufer zurücklegen und damit fast unmerklich in die Gemeinschaft der Ultraläufer hineinwachsen.

In diesem Sinne (Zitat aus der Ausschreibung): Mut zum WUT!

Photo: Sonntag

Eintragung vom 14. Januar 13

Vor einigen Generationen war man offenbar unbekümmerter: Da wurden auf Ansichtskarten karikaturistische Zukunftsvisionen verbreitet, auf denen dampfbetriebene Eisenbahnzüge – denn elektrische kannte man noch nicht – durch Gebirgsmassive brausten und Luftschiffe an Plattformen über städtischen Dächern festmachten. Heute sind wir offenbar bescheidener. Zuviel von dem, was Zukunftsforscher prognostiziert haben, ist nicht eingetroffen. Zuviel, was zu unserem Alltag gehört, ist nicht vorhersehbar gewesen, zum Beispiel die Computertechnik samt Internet-Kommunikation.

Ganze Berufszweige sind verschwunden, Handwerke wie die Küfer und die Weber zum Beispiel. In den siebziger Jahren habe ich aus der Nähe erlebt, wie ein traditionsreicher und anspruchsvoller Handwerksberuf, der des Setzers und des Zeitungsmetteurs, zugrundegegangen ist. Mit der Umstellung auf die digitale Satzherstellung ist der Setzer überflüssig geworden; dafür braucht man Computer-Kenner. Ich habe erlebt, wie die Kollegen der Setzerei umgeschult wurden.

Auch wir Redakteure mußten uns umgewöhnen. Doch wer hat heute, zumindest privat, keinen Bildschirm in seinem Alltag? Die Kernarbeit unseres Berufes jedoch ist unangetastet geblieben. Bis jetzt.

Die Insolvenz der „Frankfurter Rundschau“ und das Ende der „Financial Times Deutschland“ sind meiner Ansicht nach keine bedauerlichen Unglücksfälle, sondern ein Symptom. Wir wissen alle nicht, wie es weitergehen wird. Wie lange wird es noch Tageszeitungen geben? Auflagenrückgänge und Rückgang des Anzeigenvolumens sprechen eine deutliche Sprache. Noch versuchen Verleger, sich mit redaktionellen Konzept-Variationen und vor allem mit Sparmaßnahmen und wirtschaftlichen Partnerschaften durchzumogeln. Doch wie die Nachrichtentechnik in einer späteren Generation grundsätzlich beschaffen sein wird, – niemand weiß es. Auch ich selbst bin, was die Zukunftsprojektion angeht, sehr zurückhaltend geworden.

Als Walter und Constanze Wagner im Jahr 2002 das Internet-Magazin LaufReport begründeten, nahm ich das damals, muß ich gestehen, nicht so ernst. Heute weiß ich, die beiden haben auf die Zukunft gesetzt; sie sind mit ihrem Kommunikationskonzept auf unserem sportlichen Gebiet ihrer Zeit voraus gewesen.

Das alles ist mir durch den Kopf gegangen, als ich mich mit dem Stuttgarter Projekt „Kontext: Wochenzeitung“ befaßt habe. Ich denke, die meisten Leser dieses Tagebuches werden mit den Achseln zucken: „Nie gehört!“ Eben. Auch das ist ein Zeichen der Zeit, daß ein solches Projekt für die konkurrierenden Printmedien keine Nachricht ist, schlimmer noch: keine Nachricht sein darf. Deshalb schreibe ich darüber.

Woher rührt meine Kenntnis? Vor wenigen Jahren bin ich von einem ehemaligen Kollegen der „Stuttgarter Zeitung“ eingeladen worden, zu einem Treffen der „Freunde der Zeitung“ zu kommen, einem Gesprächskreis aus Journalisten, bei dem jeweils zwei meistens ehemalige Kollegen über ein vorher festgelegtes diskussionswürdiges Thema sprechen. Nun ist es zwar schon bald 37 Jahre her, daß ich die „Stuttgarter Zeitung“ verlassen habe. Aber einige ältere Kollegen erinnerten sich noch meiner. Offenbar war ihnen auch nicht entgangen, daß ich ein gewisses Profil als reflektierender Läufer erworben habe. Ich habe das Laufen nicht erfunden, aber ich bin halt zu einer Zeit gelaufen, in der wir noch – auch in manchen Medien, zum Beispiel dem „Spiegel“ – verspottet wurden. Auch ich war, kann ich in aller Bescheidenheit sagen, meiner Zeit, der Zeit der Bewegungsträgheit, mit den Füßen ein wenig voraus.

Bei den „Freunden der Zeitung“ habe ich erfahren, da gebe es einen interessanten Versuch, eine Wochenzeitung im Internet, die frei zugänglich sei, zu etablieren. Wieder konnte ich mir nicht vorstellen, wie das funktionieren solle. Ich klickte www.kontext-wochenzeitung.de an, danach wiederholt an und war überrascht. Das ist seriöser Journalismus auf hohem Niveau, unabhängig, gut recherchierte Fakten, lebendig dargestellt, nichts Modisches, sondern die digitale Fortsetzung eines Journalismus, der in Deutschland nur von wenigen Tageszeitungen gepflegt worden ist. Dazu zählt die „Stuttgarter Zeitung“, die ihren Ruf dem leider zu früh verstorbenen Mit-Herausgeber Erich Schairer (1887 – 1956) und dem Herausgeber Professor Dr. h. c. Josef Eberle (1901 – 1986), einschließlich der von ihnen geprägten Ressortleiter und Redakteure, zu verdanken hat.

Die Macher der Internet-Wochenzeitung sehen sich so: „Die Kontext: Wochenzeitung ist ein unabhängiges Onlineportal, das von hauptberuflichen Journalisten verantwortet und von Stuttgarter Bürgern getragen wird. Es ist keine Gegenzeitung und niemandes Kampfblatt, sondern eine Werkstatt, in der in guter journalistischer Tradition gearbeitet werden soll. Also gründlich statt schnell, hintergründig statt oberflächlich, mit langen Texten statt Häppchen, mit anspruchsvollen Bildern statt Beliebigkeitsoptik. Die Kontext: Wochenzeitung setzt damit auf Entschleunigung, Nachdenklichkeit und Leselust.“

Die jüngste Ausgabe von Kontext – die Texte erscheinen jeweils mittwochs 0 Uhr – enthält diese Themen (zitiert nach der e-mail-Ankündigung): Es fährt ein Zug nach Nirgendwo: Warum der Schwäbisch Haller OB Hermann-Josef Pelgrim (SPD) seiner Partei rät, vom toten S-21-Gaul abzusteigen. – Selig und real: Alt-OB Schuster wird zum Abschied selig gesprochen und Neu-OB Kuhn gibt sich realistisch. – Null Vision: Im Kampf gegen Kreisel und Alkoholverbot reitet der grüne Ministerpräsident seltsame politische Steckenpferde. – Hosen runter: Die Stuttgarter Kabarettistin Christine Prayon kann mehr als Tanja Gönner. – Solide, seriös, sicher – SWSG (Anmerkung: Südwestdeutsche Wohnungs- und Städtebaugesellschaft): Versuch der Annäherung an ein städtisches Unternehmen, das sozial sein soll und beharrlich schweigt. – Zweimal auf der Flucht: Der syrische Wissenschaftler Azad Hamoto und seine Irrfahrt aus dem Bürgerkriegsland. – Gegen das Vergessen: Sant’ Anna ist kein Einzelfall. Auch in Servarolo wütete die SS. – Der Stuttgarter Schriftsteller Gerhard Raff und die Leserin Susanne Bächer verraten, warum sie Kontext fördern. – Und Peter Grohmann (Anmerkung: ein in Stuttgart lebender Kabarettist) wettert heute, frei nach Hegel, gegen die Furcht vor der Wahrheit.

Man sieht, der Schwerpunkt liegt auf dem Regionalen, ohne jedoch ins Provinzielle abzugleiten. Ein lokales Ereignis, das jedoch bundesweit Schlagzeilen machte, ist der Ausgangspunkt gewesen. Es war jener Tag im April 2011, an dem eine Demonstration von Gegnern des umstrittenen Bahnprojektes S 21 mit Wasserwerfern und auch sonst ziemlich brutal niedergeschlagen wurde. Da entschloß sich Josef-Otto Freudenreich, bis 2010 Redakteur der „Stuttgarter Zeitung“ und dank seinen Reportagen zum Chefreporter ernannt, eine Internet-Wochenzeitung zu gründen. Drei Kolleginnen gesellten sich zu ihm. Finanziert wurde das Unternehmen durch Solidaritätsabonnements. Doch ein Jahr später war, wie ich befürchtet hatte, das Geld alle; schließlich muß Kontext, im Gegensatz zu LaufReport, ohne Anzeigen auskommen. Doch die Kollegen gaben nicht auf. Dank organisatorischer Hilfe gelang es, Kontext zu retten. Die Zahl der freiwilligen Abonnenten stieg. Ein Verein wurde gegründet: KONTEXT-Verein für ganzheitlichen Journalismus e.V. Eine gekürzte Druckfassung der Internet-Publikation erscheint jeweils am Samstag als Beilage der „taz“.

Sport kommt in Kontext nicht vor. Mit einer Ausnahme: Dieter Baumann unterstützt den Kontext-Verein. Mit Sicherheit hat er sich dabei etwas gedacht.

Eintragung vom 7. Januar 13

Das Laufjahr ist ja wohl nun geplant. Wer es gewohnt ist, Laufveranstaltungen nach seinen persönlichen Vorlieben auszuwählen, plant vielleicht auch sein sonstiges Jahr. Mein touristischer Höhepunkt wird in diesem Jahr das Riesengebirge sein.

Obwohl ich persönliche Gründe dafür hätte, hat Markus den Ausschlag gegeben. Im vorigen Jahr sind wir in der Sächsischen Schweiz gewandert, in diesem Jahr also soll es die Schneekoppe (1602 m) sein. Vielleicht habe ich ihn auch beeinflußt, denn ich habe eine persönliche Verbindung zum Riesengebirge. Mein Großvater mütterlicherseits war hier, in Schmiedeberg (Kowary), bis Anfang der dreißiger Jahre Straßenmeister. Diese Berufsbezeichnung scheint es nicht mehr zu geben, wiewohl ich im Universal-Wörterbuch des Duden noch die „Straßenmeisterei“ fand. Die populäre Bezeichnung wäre damals wohl gewesen: Chaussee-Aufseher. Da meine Großeltern nebst zwei ihrer neun erwachsenen Kinder in Schmiedeberg wohnen blieben, genoß ich den Vorzug, von meiner etwa 90 Kilometer entfernten Heimatstadt Görlitz aus, bei ihnen nicht nur einen Keuchhusten im Gebirgsklima auskurieren zu dürfen, sondern auch immer wieder die Schulferien verbringen zu können.

So kam es, daß ich bereits als Kind und als Jugendlicher weite Teile des Riesengebirges erwandert habe. Das erstemal war ich schon im Alter von vier Jahren auf der Schneekoppe. Da aus Ersparnisgründen keine öffentlichen Verkehrsmittel benützt werdend durften, mußte ich notgedrungen den Weg von Schmiedeberg über Krummhübel (Karpacz) auf die Schneekoppe (Sniežka) auf eigenen Füßen zurücklegen. Das Wandererlebnis oder auch das soziale Erlebnis einer Familienwanderung stand dabei wahrhaftig nicht im Vordergrund; meine Großeltern und meine Eltern wußten einfach nicht, was sie sonst mit mir hätten machen sollen. Auf diese Weise mußte ich halt mit. Für einen Vierjährigen war dies, wie ich auf dem Rückweg schmerzlich bemerken sollte, eine beträchtliche körperliche Leistung. Vielleicht hat die frühe Gewöhnung an physische Beanspruchungen dazu beigetragen, daß ich im Erwachsenenleben Ultraläufer geworden bin.

 

Das Riesengebirge ist, verglichen mit dem Schwarzwald, der Schwäbischen Alb oder dem Harz, ein sehr kleines Gebirge. Irgendwo habe ich gelesen, es sei nur 37 Kilometer lang. Aber es ist ein rauhes Gebirge (bei dieser Gelegenheit: Ich schreibe nach der konservativen Orthographie rauh nach vor mit h, sonst müßte ich roh wohl auch ro schreiben und das Reh als Re!). Unter den mitteleuropäischen Mittelgebirgen ist es das Gebirge, das am stärksten einen alpinen Charakter hat. Es verwundert nicht, daß der launische Berggeist Rübezahl hier beheimatet ist.

Da auch die zahlreichen Sonntagsausflüge zu Fuß unternommen wurden, bekam ich einen „Spazierstock“ geschenkt. Das bringt mich auf das Thema: Wanderstock! Ich bin mit dem Stock aufgewachsen. Seit Beginn der organisierten Wanderbewegung, also etwa vom Jahr 1880 an (Gründungsjahr des Riesengebirgsvereins), gehörte zum Wandern der Wanderstock und, wie man aus alten Ansichtspostkarten von Bädern ersehen kann, auch zum Lustwandeln ein Stock. Allerdings war dies wohl ein geschlechtsspezifischer Ausrüstungsgegenstand. Augenscheinlich führten hauptsächlich nur. Männer einen Stock mit sich. Ob es wohl eine Kompensation für den militärischen Säbel war?

Bestockte Wanderer pflegten von sehenswerten Wanderzielen einen „Stocknagel“ mitzubringen und ihn an den Wanderstock nageln zu lassen. Vielleicht drückt sich auch darin die stärkere Wettbewerbsorientierung von Männern aus. Stocknägel, muß ich erklären, sind kleine Metallplaketten mit jeweils einer ins Blech gestanzten Sehenswürdigkeit. Man konnte sie in Wandergebieten an jedem Souvenir-Kiosk kaufen, nicht hingegen an der See, denn da wurde nicht gewandert. Auch mein Kinder-Wanderstock wurde nach und nach mit Stocknägeln bestückt. Obwohl wir unterwegs aus Sparsamkeit nicht einkehrten, wurde mir ein Stocknagel immer bewilligt. Es war schließlich eine Investition für die Ewigkeit. Der Kinder-Wanderstock wurde gegen einen längeren ausgetauscht und dieser schließlich in einen Erwachsenen-Stock. Den benützte ich noch in den sechziger Jahren im Wanderurlaub.

Dann wurden Stöcke unmodern, vielleicht auch das Wandern. Ich ging nicht mehr am Stock, ich lief. Doch der Wanderstock hat eine Metamorphose durchgemacht, nämlich zum Skistock. Die Einzahl ist in voller Absicht gewählt, denn Skiläufer gebrauchten in den ersten Jahren nur einen einzigen Stock, der allerdings dicker und länger als ein Wanderstock war.

 

Das Erstaunliche, aber wahrscheinlich wiederum nicht gar so erstaunlich: Wandern ist wieder modern geworden. Und man hatte bei den Skiläufern abgeschaut, daß zwei Stöcke dienlicher sind als nur ein einziger. Die Wanderstöcke sind zum technischen Gerät geworden. Ihre Länge kann man einstellen, und zwar dergestalt verkürzen, daß man sie im Rucksack mitführen kann. Stocknägel allerdings kann man nicht mehr draufnageln. Dennoch, wie ich dem Internet entnommen habe, werden Stocknägel nach wie vor hergestellt und sogar in amerikanischen Nationalparks verkauft.

Die Wanderstöcke sind längst zu Walkingstöcken mutiert. Von dort sind sie zu den Läufern, den Trail-Läufern, zurückgekehrt. Sie helfen bei Auf- und Abstieg ungemein, verhüten Stürze und entlasten bergab die Knie. Auf normalen Ultrastrecken ist das Mitführen von Stöcken nicht gestattet; man will schließlich gleiche Bedingungen für alle schaffen und bei Massenstarts Unfälle verhüten. Bei anforderungsreichen Wettbewerben auf Trail-Strecken hingegen wird es manchmal in das Belieben des einzelnen Teilnehmers gestellt, ob er Stöcke gebrauchen will oder nicht. Bedingung ist nur: Wenn er mit Stöcken läuft, muß er die Stöcke auf der gesamten Strecke bei sich führen. Der temporäre Gebrauch wie in den ersten Jahren auf dem Sertigpaß-Abstieg des Swiss Alpine ist nicht gestattet.

So rundet sich das Bild. Der „Spazierstock“ ist zum Sportgerät geworden.

Photos: Sonntag/Brand

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