Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 27. September 10

Ich wußte ja, daß sich die beiden öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF dem größten massensportlichen Ereignis in Deutschland verweigern würden. Als ich am Sonntagabend die 19-Uhr-Nachrichtensendung des ZDF eingeschaltet hatte, kam der Berlin-Marathon jedoch auch nachrichtlich nicht vor. Statt dessen minutenlange Ausschnitte aus dem Formel-1-Rennen in Singapur mit altbekannter, aber offenbar auf vielfachen Wunsch jedesmal wieder gezeigter Sektspritzerei. Mit dem Zweiten sieht man besser – ich kann diese Albernheit nicht mehr hören; bei der gemeinschaftlichen Eigenwerbung der gebührenpflichtigen Sender, so ich die Nachrichten zu früh eingeschaltet habe, stelle ich flugs wenigstens den Ton ab.

Millionen von Menschen sind in Deutschland als Läufer und Walker unterwegs, 40.945 haben sich zum Berlin-Marathon angemeldet, 34.027 sind angekommen, ungefähr 700.000 Menschen verfolgten am Sonntag in Regenkleidung, unter Regenschirmen oder mit beidem das Spektakel, einen der fünf Spitzenmarathons der Welt, Angehörige von 122 Nationen waren am Start des Kampfes um die Unterbietung der Marathon-Weltbestzeit. Eine Nachricht war das nicht. Sollen sich die Leute doch bei n-tv informieren.

Nicht daß ich die privatrechtlichen Sender höher einschätzte. Doch den Berlin-Marathon habe ich über n-tv verfolgt, eine der überaus seltenen Gelegenheiten für mich, das Fernsehgerät bereits am Morgen einzuschalten. Der zur RTL-Gruppe gehörende Nachrichtensender hat es zum erstenmal übernommen, über den Berlin-Marathon von Anfang an bis zum Einlauf der Unter-3-Stunden-Läufer zu berichten.

Das wichtigste: In den über drei Stunden, unterbrochen durch Nachrichten und Werbesendungen, habe ich mich nicht gelangweilt. Dennoch, die Übertragung litt offensichtlich unter den Wetterverhältnissen. Nicht nur, daß es fast unaufhörlich regnete – bis 200 Meter tief lag über Berlin Nebel. Hubschrauber durften nicht starten. Das bedeutete den Wegfall attraktiver Bildsequenzen. Man bekam nur das zu sehen, was der Kameramann auf dem Motorrad und die Kameras an wenigen Punkten der Strecke einfangen konnten. Das Putztuch, mit dem über das aufnehmende Objektiv – oder war es eine Glasscheibe? – gewischt wurde, war ein hübscher Gag. Des mehrfachen Hinweises auf den Nebel hätte es nicht bedurft. Die wichtigsten Informationen wurden vermittelt; allerdings machten es die drei männlichen Siegesläufer dem Aufnahme-Team leicht. Sie blieben in einer Spitzengruppe beieinander. Als sich herausstellte, daß die Weltbestzeit durch Haile Gebrselassie unangetastet bleiben würde, ergab sich die Spannung nur daraus: Wer würde das Rennen auf dem 1. Platz beenden? Der 20jährige Äthiopier Bazu Worku blieb wenige Kilometer vor dem Ziel zurück und konnte nicht mehr aufholen. Die beiden führenden Kenianer Patrick Makau und Geoffrey Mutai trennten beim Einlauf nur zwei Sekunden (2:05:08). In dem Bericht von René van Zee kann man es nachlesen. Die Äthioperin Aberu Kebede, die den Sieg der Frauen in 2:23:58 Stunden errang, konnte man verfolgen. Wie die zweite und dritte liefen, blieb mir verborgen. Vor allem aber hätte ich gern den ersten Deutschen, Richard Friedrich, auf der Strecke gesehen und Sabrina Mockenhaupt, die verhalten begann, in kluger Einteilung ihre persönliche Bestzeit um eine Sekunde verbesserte und der nur 11 Sekunden bis zum 3. Platz fehlten.

Der n-tv-Moderator René Hiepen hat selbst Marathon-Erfahrung und konnte auf Informationen durch den Runner’s-World-Redakteur Martin Grüning (Marathon-Bestzeit 2:13:30) zurückgreifen. Beide machten keine großen Worte; die bei solchen Gelegenheiten fast unvermeidliche Redundanz hielt sich in Grenzen. Kann man in Anbetracht des Wetters zufrieden sein?

Ich meine, es war die Berichterstattung über ein Sportereignis, mehr nicht. Einen Ansatz, das wiederzugeben, was der Berlin-Marathon für die Mehrzahl der Teilnehmer ist, gab es zwar durch den Hinweis auf einige Sehenswürdigkeiten in Berlin-Mitte; aber das Erlebnis der vielleicht 36.000 Teilnehmer und des Publikums spiegelte sich nicht im entferntesten wider. Ich hätte mir viel mehr Reportage-Elemente gewünscht, nicht nur die obligaten Interviews mit den Siegesläufern und den beiden schnellsten Deutschen, sondern auch einen Blick auf den Service einer solchen Mammutveranstaltung, auf die radfahrenden Ärzte und die Sanitätszelte, auf die Helfer und einige der 90 Musikgruppen, und wie war eigentlich die Stimmung am Wilden Eber bei Regen? Bei den Unter-3-Stunden-Läufern überwogen bei weitem die gequälten Gesichter, doch hinter ihnen kamen die Erlebnisläufer, die spätestens am Ziel das Glück ahnen lassen. Die Masse am Start macht’s nicht. Da gibt es verkleidete Läufer, Charity-Läufer, Junge und Alte, die ältesten waren der 82jährige Japaner Ryoto Mizutani, der 6:47:26 Stunden netto brauchte, und die gleichaltrige Schweizerin Helga Maria Kündig, die es in 5:36:59 schaffte. Wie haben sich die Langsamen gegen den Regen geschützt? Auch wenn die Übertragungszeit bis 12 Uhr limitiert war, zu Kamera-Einstellungen auf die 5- und 6-Stunden-Läufer, vor denen noch die Halbmarathon-Matte lag, hätte es reichen können. Und das Publikum, dessen Gesichter man vor lauter Schirmen kaum sehen konnte? Welcher Enthusiasmus gehört dazu, bei diesem Wetter auf der Straße auszuharren!

Dies ist eine Kritik; den Dank für das Engagement von n-tv soll sie nicht schmälern. Es wird ja auch den 38. Berlin-Marathon geben.

Eintragung vom 20. September 10

Angeblich war der 12. September der Jubiläumstag: 2500 Jahre Marathon. An diesem Tage nämlich soll die Schlacht von Marathon stattgefunden haben – ein ziemlich windiges Datum. Kein Mensch weiß, wann tatsächlich im Jahr 490 v. Chr. die Schlacht von Marathon ausgetragen worden sei. Auch Herodot wußte es nicht, als er etwa sechzig Jahre nach dem Ereignis die Schlacht beschrieb, die einzige zusammenhängende Darstellung jenes Sieges der Athener und Plataier über die Perser.

Der 12. September ist schlicht aus den Mondphasen errechnet worden. Die Athener hatten, als Gefahr im Verzug war, den Boten Pheidippides oder Philippides nach Sparta geschickt, auf daß die Spartaner den Athenern beistehen sollten. Das Ergebnis ist bekannt: Die Spartaner wollten erst den Vollmond abwarten, drei Tage danach sollen sie in Attika eingetroffen sein. Da war die Schlacht geschlagen. Doch eine historische Quelle für den Termin der Schlacht gibt es nicht. Wikipedia, wo ich mich kundig gemacht habe und an der Seite bis zum 9. September 2010 herumgebastelt worden ist, gibt an: „Die Schlacht müßte – nach heutiger Zeitrechnung – Ende August bis Mitte September 490 v. Chr. stattgefunden haben.“

Es wird noch komplizierter. An der Texas State University San Marcos hat im Jahr 2004 ein Team versucht, den Termin an Hand der Mondphasen abermals einzukreisen. Die Wissenschaftler fanden heraus, daß zwar sowohl der attische als auch der spartanische Kalender auf Mondphasen aufgebaut gewesen sei, aber der spartanische Kalender sei dem attischen um einen Monat voraus gewesen. Daher habe sich die Schlacht von Marathon schon im August 490 v. Chr. ereignet.

  Wie auch immer, – der 12. September ist ohnehin eine Fiktion. Zu Recht konnten wir den Tag ungefeiert vorübergehen lassen. Was soll mit den 2500 Jahren überhaupt gefeiert werden? Der Marathonlauf? Man weiß angeblich zwar, was der Bote vor seinem Hinscheiden in Athen gesagt haben soll, nämlich „Nenikèkamen“ (Wir haben gesiegt), aber man weiß nicht, ob der Lauf tatsächlich stattgefunden hat. Inzwischen ziehen uns wohl auch die Boshaften nicht mehr damit auf, daß wir einem tödlichen Sport nachgehen. Es hat sich herumgesprochen: Der Lauf ist ein Mythos, zu Papier gebracht ungefähr 600 Jahre nach dem angeblichen Ereignis. Es hat sich weiterhin herumgesprochen, daß es – außer einem Unglücksfall – keine Ursache gibt, nach knapp 40 Kilometern tödlich zusammenzubrechen, zumal da die 40 oder gar noch weniger Kilometer für die trainierten Boten eine eher kurze Entfernung darstellten.

Eine glaubhafte Version ist die, daß der zu Tode gekommene Bote Pheidippides oder Philippides hieß, daß es sich nämlich um denselben Boten handelt, der von Athen nach Sparta geschickt worden war, wahrscheinlich die 246 Kilometer auch wieder zurückgelaufen ist, nach Marathon zu Miltiades lief und gerade recht kam, um nach Athen geschickt zu werden. Ein bißchen viel auf einmal.... Hatten die Athener in Marathon keinen anderen, frischeren Boten? Außerdem gibt es ja auch noch die Version, der Bote von Marathon nach Athen habe den Tag über in Marathon gekämpft und sei dann in voller Rüstung gelaufen. Lassen wir es dabei, der Marathonlauf ist ein Mythos.

Wahrscheinlich würde kein Mensch vom Marathonlauf sprechen, geschweige denn ihn rennen, hätte nicht Michel Bréal den Mythos in die Realität von 1896 geholt. Und dann hat es siebzig bis achtzig Jahre gedauert, bis der Marathon in der Erlebnis-Realität angekommen ist, und noch ein paar Jahre mehr, bis die Vorbereitung auf ihn in vielen Staaten zur Alltagskultur geworden ist.

Wenn man mit einem Lauf ein historisches 2500-Jahr-Jubiläum feiern will, dann wäre das am 24./25. September der Spartathlon, der Erinnerungslauf auf den Spuren des Pheidippides, der 1983 erstmals veranstaltet worden ist; 16 der 48 Teilnehmer kamen ins Ziel, darunter als erster Deutscher Alfons Everz auf dem 4. Platz. Für dieses Jahr haben sich nicht weniger als 358 Starter angemeldet, davon 43 Deutsche. Viel Glück!

Dennoch, seien wir großzügig! Warum soll man nicht das Jubiläum eines Mythos feiern? Auf anderen Gebieten geschieht das ja auch. Die Griechen jedenfalls haben sich entschlossen, dies zu tun. Das ist für Ende Oktober vorgesehen. Am 28. und 29. Oktober hält die AIMS, der Verband der Marathonveranstalter, ihren 18. Kongreß in Athen ab; es folgt am 30. Oktober das 4. AIMS-IAAF-Symposium. Zum wiederholten Male habe ich mich auf der einschlägigen Website eingeklinkt. Doch da stand auch gestern noch, was hier vor Monaten schon zu lesen war: „This page will be updated soon.“ Auf jeden Fall aber kann jedermann am 31. Oktober die 2500 Jahre Marathon durch die Teilnahme am Marathon auf der klassischen Strecke mitfeiern. Das ist zwar nicht gerade eine festliche Strecke; doch bei Mythen sollte man nicht kleinlich sein.

Eintragung vom 14. September 10

Sehr hoch gehandelt worden ist er wohl nicht, der Termin 10. bis 12. September, obwohl es sich um eine Weltmeisterschaft handelt. Den Austragungsort kennen wohl auch nur wenige. Das ist vielleicht der Grund, weshalb die Weltmeisterschaft hier ausgetragen worden ist.

Interessiert uns eine Weltmeisterschaft, die offenbar sehr tief zu hängen ist? Holen wir ein wenig aus: Wahrscheinlich haben wir alle irgendwann einmal auf sie geschimpft, auf Nordic Walker, die uns beim Laufen behindert haben. Wahrscheinlich haben wir alle einmal gelächelt über Nordic Walker, die ihre Stöcke über den Asphalt geschleift haben. Wahrscheinlich liegt es nahe, sich über Nordic Walker lustig zu machen. Und doch – ich habe es mehrfach durchblicken lassen –, es sind neben den Orientierungsläufern unsere engsten Verwandten. Wir laufen ja nicht durchweg, wir gehen auch, wenngleich nicht mit Stöcken. Nordic Walker sind Ausdauersportler wie wir Läufer. Und wenn man nur alt genug wird, entdeckt man, daß es keine scharfen Grenzen gibt. Wäre nicht das Laufen durch Verbände so scharf konturiert worden, würden wir sie in unsere Arme schließen. Integriert in Laufveranstaltungen sind sie ja längst.

Wir müssen damit leben, daß es eine Laufbewegung gibt und Gehen in ihr nur am Rande vorkommt. Die Wege haben sich früh schon getrennt – hier Leichtathletik-Verbände, dort Volkssportverbände. Wenn mich meine Erinnerung nicht sehr täuscht, gab es sogar eine Zeit, in der man als DLV-Mitglied mit Athletennummer nicht an IVV-Veranstaltungen teilnehmen durfte. Kontrolliert hat’s wohl keiner.

Wenn ich an meine Trainingsrunde denke, so begegne ich wohl ebenso vielen Nordic Walkern wie Läufern. Den wenigsten Walkern mag der Termin der Nordic Walking Worldchampionships nahegelegen haben, vielleicht noch weniger als den Läufern der Termin Deutscher Marathonmeisterschaften. Dennoch, die 3. Worldchampionships sind zwar mit Sicherheit kein Grund, aber ein Anlaß, einen Blick auf sie zu werfen.

Nun kommt die erhoffte Reklame. Die Weltmeisterschaften der am Stock Gehenden hat wieder in der Region Klopeiner See stattgefunden, dem, wie es heißt, wärmsten Badesee Österreichs, Start in St. Michael ob Bleiburg. Organisiert hat sie wieder der SC Petzen, von dem wir erfahren, er sei der größte Skiclub Kärntens. Auf dessen Website (www.sc-petzen.at) lesen wir einen Bericht. Danach legten bei der Eröffnung eine Walkerin und ein Schiedsrichter Gelöbnisse sowohl für die Teilnehmer als auch für die Kampfrichter ab. Was sich dahinter verbirgt, kann man nur ahnen – ich denke, daß die Sportler gelobt haben zu gehen und nicht zu laufen, und die Schiedsrichter, daß sie unparteiisch jeden Verstoß mit gelber oder mit roter Karte (Disqualifikation) ahnden würden.

Anders als bei den in Laufveranstaltungen integrierten Walking-Klassen kam es bei den Wettbewerben darauf an, die Strecken möglichst rasch zurückzulegen. Und anders als bei den Walking-Gruppen, wo man auch schon mal traben darf, mußte bei dieser Weltmeisterschaft immer Bodenberührung vorhanden sein. Der Aufwand, dies zu kontrollieren, ist ungleich höher als bei Laufwettbewerben, wo letztlich nur die Einlaufzeit gemessen zu werden braucht. Allerdings zählte die Weltmeisterschaft nur einige Dutzend Teilnehmer.

Am Samstag war eine Crosscountry-Strecke von einem reichlichen Halbmarathon zurückzulegen, am Sonntag eine Bergstrecke von 12,3 Kilometern und 1200 Höhenmetern. Die Teilnehmer wurden unterschieden in Professionals mit Ausbildungsnachweis und Fun Walker ohne einen solchen. Offensichtlich gibt es also keine Qualifikationsanforderung; jeder kann mitmachen.

Die Ergebnisliste mit der Überschrift „Nordic Walking Champinonship 2010“ läßt einem die Wahl, ob es sich um Champignons oder um Champions handelt. Die Witzelei vergeht einem, wenn man die Spitzenzeit liest: Michael Epp (Deutschland) brauchte für die 21,2 Kilometer nur 1:53:04,290 Stunden, eine Zeit, über die mancher Halbmarathonläufer froh wäre. Elisabieta Wojciechowska (Polen) siegte mit 2:17:31,077 Stunden. Tomasz Brzeski (Polen) war auf der Bergstrecke mit 1:32:37,899 am schnellsten und Claudia Trattnig (Bleiburg, Österreich) mit 2:04:55,780 Stunden. Von den Spaßgehern siegten der Österreicher Maximilian Jurkowitsch in 1:56:36,941 und die Polin Irena Pakosz in 2:25:12,047 auf der Halbmarathonstrecke sowie der Österreicher Erwin Kozak in 1:33:02,223 und die Polin Irena Pakosz in 1:45:36,185 auf der Bergstrecke. In der Teamwertung gewannen bei den Professionellen Polen, Deutschland und Österreich 1. Außer den Österreichern waren die Polen stark vertreten; dort, in Gnesen (Gniezno) hatte vierzehn Tage zuvor die polnische Meisterschaft im Walken stattgefunden.

Außerdem gab es bei der Kärntner Veranstaltung noch den 9 Kilometer langen Petzenbärenwalk für jedermann. Die Petzen ist ein Gebirgsmassiv unweit der slowenischen Grenze, mit der Seilbahn in etwas über 1700 Meter Höhe zu erreichen. In einer etwa fünfstündigen Wanderung kommt man auf die Feistritzer Spitze (2114 m). Den Teilnehmern der Weltmeisterschaft hat die Region und die Organisation offenbar gefallen; auch die nächste Weltmeisterschaft soll hier ausgetragen werden.

Eintragung vom 6. September 10

Wenn ich meine allerdings abgebrochene Teilnahme am Karwendelmarsch richtig einordne, dann bedeutete sie eine Zäsur. Der Läufer ist – nun auch formell – zum Geher geworden. Beim Karwendelmarsch am 28. August habe ich mich unter Wanderern bewegt.

Die Begriffe sind diffus. Waren es nicht Walker? Doch die Nordic Walker bildeten zwei extra Klassen. Andererseits benützten auch viele Wanderer zwei Stöcke. Schon diese Definition besagt: Es macht keinen Sinn, einen Gegensatz oder sogar eine wenn auch humoristisch verbrämte Feindschaft von Läufern und Gehern zu konstruieren. Worin liegt denn auch der zeitliche Unterschied zwischen der letzten registrierten Läuferin mit 11:55 Stunden für die 52 Kilometer und den Wanderern? Es gibt keinen.

Wer einen solchen sieht, hat nur noch keinen Geländelauf gemacht. Vom Ende der relativ ebenen 24-km-Strecke des Jungfrau-Marathons in Lauterbrunnen hinauf nach Wengen laufen die wenigsten – sie walken. Auf diese Weise erklärt sich, weshalb zum Beispiel Engländer und Franzosen bei Landschaftsläufen von "freiem Stil" sprechen, vom Wechsel zwischen Laufen und Gehen. Und so war ja ursprünglich auch das Joggen gemeint.

Neu war für mich, daß ich mich erstmals unter oder zumindest hinter anderen Wanderern bewegt habe. Schon das Erscheinungsbild an diesem Regentag war anders. Die Läufer sahen aus wie Läufer; wohl die meisten trugen kurze Hosen. Wenn man läuft, konnte man so wohl auch die Temperatur in 1800 bis 1900 Metern Höhe überstehen. Die Wanderer hingegen starteten in der ganz großen Mehrzahl in kräftigen Wanderjacken oder in Regenumhängen. Viele trugen Wanderschuhe statt Laufschuhe. Eine Anzahl suchte Schutz unter dem mitgeführten Regenschirm – ein Bild, das man vor Jahrzehnten auch in der Wanderbewegung wohl vergeblich gesucht hätte. Offenbar zählt heute bei den Wanderern die Effizienz des Regenschutzes und nicht der angeblich negative Eindruck. Er wäre ja auch falsch; wer 35 oder 52 Kilometer geht, den kann man nicht als unsportlich bezeichnen, selbst wenn er unter einem Regenschirm wandert.

Klingt "Wandern" nicht abwertend? Der Karwendelmarsch ist im Grunde kein Wander-Ereignis; die Wanderer walkten, sie hängten mich leichtfüßig ab. Wer die 52 Kilometer mit über 2200 Metern Höhendifferenz zurücklegen wollte, mußte in 9 Stunden die 35-Kilometer-Marke erreicht haben. Das macht man nicht mit etlichen Sonntagsspaziergängen als Vorbereitung. Der Begriff "Marsch", so militant er auch klingt, ist berechtigt. Wanderer mögen sich unterwegs unterhalten, Marschierer tun das nicht. Die Kolonnen und Grüppchen der Karwendelmarschierer hinterließen durchaus einen sportlichen Eindruck. Flotte Wanderer nützten das Gefälle zum Traben. Der Aufenthalt an den Verpflegungspunkten beschränkte sich auf das Notwendige; er war wohl keine kaschierte Pause. Mit einem Wort: Dieser Marsch war leistungsorientiert.

Da erhebt sich das Diskussionsthema, ob man nicht auch die Zeiten der Walker und der Marschierer messen sollte. Mit dem Chip am Fuß würde auch vermieden, daß manche Wanderer, wie es gerüchtweise hieß, in Scharnitz zu früh starten, nämlich vor dem offiziellen Start um 6 Uhr. Auf jeden Fall aber sollten diejenigen, die wie ich die Wanderung abgebrochen haben, nicht ohne Kennzeichnung auf der Liste der Finisher stehen. Eine Wertung für 35 Kilometer sollte, wie geschehen, für 52-km-Teilnehmer möglich sein, wenn sie dort, in der Eng, ausscheiden wollen. Eine solche Handhabung wird ja auch bei reinen Läufen praktiziert.

Lag es am Dauerregen, an den Steigungen oder am Leistungswillen – ich habe den Eindruck, die gehenden Teilnehmer plauderten unterwegs nicht miteinander. Es kam vor, daß kurze Pausen entstanden, weil an Kleidung oder Rucksack etwas zu richten war; doch eine beim Wandern übliche Rast habe ich auf meinem Streckenabschnitt nicht beobachtet. Vielleicht mag das nach der Marke von Kilometer 35 vorgekommen sein. Dagegen ist verschiedentlich photographiert worden. Auch ich hatte die Kamera im Rucksack; doch ich mochte meine Wanderung nicht unterbrechen und auch nicht die digitale Elektronik der Nässe aussetzen. Ein Verlust war's bei diesem Wetter sicher nicht. Und das Motiv in der Berghütte, das Bild einer Rumpelkammer, reizte nicht. Die Erinnerung ans Aufwärmen reicht.

Noch etwas ist mir aufgefallen. Als wir nach dem Ausscheiden zu sechst auf den Kleinbus warteten, zündete sich eine Geherin eine Zigarette an und noch eine und noch eine. Unglücklicherweise waren wir in den Raucherraum des Hotelrestaurants geraten. Auch ein weiterer Wanderer rauchte, wenngleich nicht am Tisch. Hier also zeigte sich ein Unterschied der Gruppierungen Läufer und Wanderer.

Wenn ich mein Teilnahme-Erlebnis überdenke, so finde ich es bemerkens- und empfehlenswert, Laufen und Gehen in einer Veranstaltung miteinander zu verbinden. Bei Stadtmarathonen ist das aus zeitlichen Gründen nicht möglich; bei Landschaftsläufen hingegen drängt es sich auf. Der Schwäbische-Alb-Marathon am 23. Oktober ist daher mit einer 18-km-Wanderstrecke auf dem richtigen Weg.

Eintragung vom 30. August 10

Eine neue Erfahrung: der Karwendelmarsch, eine Laufveranstaltung, die nicht das Laufen im Wappen führt. Dabei sind die läuferischen Leistungen bemerkenswert: Der Südtiroler Ulrich Groß aus Meran legte die etwas über 52 Kilometer lange Karwendelstrecke mit 2281 Metern Höhenunterschied in 4:36:25 Stunden zurück, die Österreicherin Henriette Holzknecht aus Sellrain in 5:21:34.

In mehrfacher Hinsicht war es eine neue Erfahrung. Früher schon hatte ich am Karwendelmarsch teilnehmen wollen – als Läufer, versteht sich. Doch dann, nach 1990, gab es ihn nicht mehr. Nach 19jähriger Unterbrechung ist er im vorigen Jahr wieder ins Leben zurückgerufen worden. Nun startete ich, mit zwei Teleskop-Wanderstöcken, als Wanderer. Wenn ich es noch immer nicht glauben sollte: Mag ich auch einen Ultra noch zurücklegen können, wenn auch einen "kürzeren", – eine Ultra-Bergstrecke, das geht wohl nicht mehr. Allerdings, es war das Wetter, das mich zum Abbrechen veranlaßt hat. Beim Jubiläums-Swiss Alpine vier Wochen zuvor hatten wir das große Glück, daß es in durchwachsenem Wetter mit Regen am Freitag einen einzigen wunderschönen Tag gab, es war der Lauftag. Diesmal allerdings, auf dem Weg von Scharnitz gleich hinter der bayerisch-Tiroler Grenze, nach Pertisau am Achensee regnete es hingegen unaufhörlich den ganzen Tag; es war der einzige Regentag.

Am Freitagabend hatte man abends im Hotel auf der Terrasse gegessen, auch der Sonntag war schön. Nur eben der Samstag, der Lauf- und Wandertag, lag völlig daneben. Da sich die Veranstaltung in einer Höhenlage zwischen etwa 900 Metern und fast 1900 Metern abspielte, war es zudem kalt. Das mag zwar Läufern durchaus zu respektablen Leistungen verholfen haben, für die meisten Teilnehmer aber bedeutete es eine Mehrbelastung, wenn nicht sogar eine, die zum Abbruch führte.  

Im offiziellen Pressetext heißt es darüber: "Einige mußten den Marsch bzw. ihren Lauf früher abbrechen." Einige – das sind 17 Läufer, 56 gemeldete Läufer waren gleich zu Hause geblieben; ein knappes Viertel der Läufer also fiel aus. Wobei ich mich an die Ergebnislisten halte. Im Pressetext wurde die Zahl der Läufer von 303 auf 350 geschönt, die Nordic Walker von 76 auf 100 und die Wanderer von 675 auf 850.

Da nähern wir uns der kritischen Durchleuchtung. Der Kern der Veranstaltung besteht aus dem Landschaftsgenuß. Das Karwendelgebiet ist ein grandioses Naturschutzgebiet, ein 1928 gegründeter Alpenpark, eine Insel im Meer des anbrandenden Tourismus. Dieses Landschaftserlebnis mit schroffen Felswänden, Wasserfällen, Almweiden, reißenden Bächen ist uns, denke ich, auch an diesem Regentag zuteil geworden, ein Ausbruch aus dem zivilisatorischen Alltag, selbst ohne Seilbahnen und Skilift-Stationen. Die Organisation der Lauf- und Marschveranstaltung ist zwar gelobt worden, ist aber verbesserungswürdig. Das Lob bezieht sich vor allem wohl auf die etwa 300 Helfer, die stundenlang in Kälte und Nässe ausharren mußten und es uns nicht entgelten ließen. Das vielfältige Verpflegungsangebot – unter dem Schlagwort "Bio vom Berg" – reichte auch für die letzten noch.

Die Stempelkarte, die man mitführen mußte, war schon beim Start den Anforderungen nicht gewachsen. In der Tasche der Regenjacke verwandelte sie sich in einen feuchten Kartonknäuel. Wenn ich denn am Ziel angekommen wäre, – es wäre nicht aufgefallen, daß ich bei der zweiten Stempelstelle schon, dem Karwendelhaus, das Abstempeln völlig vergessen hatte. Eine Vorab-Information über die Karte wäre nützlich gewesen. Dann hätte mancher vielleicht einen Regenschutz dafür mitgenommen. Mühsam suchte ich eine Viertelstunde vor dem Start im Teilnehmergewimmel den Stand, wo man sich die Karte stempeln lassen konnte. Völlig überflüssig, denn an der Startlinie standen Posten mit Stempeln.

Nun wollte ich auch wissen, wie viele Wanderer aufgegeben hatten; schließlich trugen wir alle eine Startnummer. Doch für die Wanderer und die Walker gibt es nur Teilnehmerlisten. Klickt man auf das Kästchen vor dem Namen, erhält man eine Urkunde: XY "hat in der Disziplin Karwendelmarsch (52 km) beim Karwendelmarsch 2010 erfolgreich teilgenommen!" Auch ich habe eine solche Urkunde. Mag man auch über den semantischen Sinn der Formulierung streiten, – ich finde es unmöglich, daß kein Unterschied zwischen den 52-km-Erfolgreichen und uns anderen Erfolgreichen gemacht wird. Also, ein bißchen mehr Organisation dürfte schon sein.

Eine neue Erfahrung war für mich auch, daß ich endlich wieder einmal nicht mehr vom Start weg allein war. Lange Zeit sah ich vor mir andere Wanderer mit Startnummer; erst auf dem Anstieg zum Karwendelhaus (knapp 18 km) blieb ich hinter ihnen zurück, befand mich jedoch noch immer in Rufweite anderer. Erst beim Abstieg fand ich mich allein. Seltsam war nach dem ersten Anstieg hinter Scharnitz das Gefühl gewesen, von zwei Seiten naß zu werden, Schweiß drängte nach außen, der Regen nach innen. Nun muß ich zugeben, daß ich infolge eigener Schuld nicht optimal ausgerüstet war. Meine Überhose aus Kunststoff hatte ich zu Hause gelassen. Die Fjäll-Räven-Hose, die ich trug, schien mir geeignet zu sein; sie läßt zwar die Nässe durch, aber sie trocknet auch sehr rasch. Nur – es gab leider keinen Zeitpunkt unterwegs, daß sie trocknen konnte. In der Tasche der Regenjacke hatte ich eine Kapuze; ich mochte jedoch die Wanderung nicht unterbrechen. Die Schirmmütze war zwar triefend naß, aber sie schützte die Brille vor dem Regen. Wanderschuhe hatte ich mitgenommen, aber ich ließ sie im Hotel und bevorzugte die Laufschuhe. Darin fühlte ich mich beweglicher. Doch sehr bald waren die Füße triefend naß. Zufrieden war ich, daß es dennoch keine Fußprobleme gab. Nachdem ich zwei-, dreimal an meiner Hose heruntergeblickt und einen Nässe-Kälte-Schock empfunden hatte, beschloß ich, diesen Blick fortan bleiben zu lassen.

Von Schweiß konnte beim zweiten größeren Anstieg, dem zum Karwendelhaus, nicht mehr die Rede sein. Obwohl das Haus weit über uns lag, war der Anstieg über die Serpentinen durchaus komfortabel. Jedoch nahm die Kälte zu. In dem kleinen Rucksack befand sich ein Wollhemd. Wieder mochte ich die Wanderung nicht unterbrechen, vor allem nicht die Wanderjacke ausziehen. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, das Wollhemd war so naß wie die dicken Laufsocken im Rucksack. Ich hatte versäumt, die Sachen in einen Plasticbeutel zu stecken. Andere Wanderer hatten ihre Rucksäcke mit Folien abgedeckt. Zweckmäßig schienen mir auch Regenumhänge zu sein, unter die man mitsamt dem Rucksack schlüpfen kann. Einen solchen Regenumhang, den ich zum Radfahren benützt hatte, hätte ich mitnehmen können; ich habe nicht daran gedacht. Zu stark beherrschte mich noch die Mentalität des Läufers, der dem Regen und der Kälte davonläuft.

Als ich das Almgebiet am Karwendelhaus erreicht hatte, fror mich. Vorher schon hatte ich mich auf die Kartoffelsuppe gefreut, die hier angeboten wurde. Doch außer heißem Tee und einem Stück Banane nahm ich nichts zu mir. Ich wollte nur möglichst rasch wieder tiefer. Genau in dieser Situation wurde der Weg zur Cross-Strecke. Gern wäre ich hinab getrabt, doch es ging nicht. Schon während des Aufstiegs hatte ich bezweifelt, ob ich Pertisau noch bis um 20 Uhr erreichen könnte. Am Karwendelhaus entschloß ich mich, den Marsch an der Engalm, dem Ziel der 35-km-Walker und -Marschierer, zu beenden. Als ich jetzt nach der Halbmarathonstrecke frierend hinab hastete und merkte, daß ich nicht voran kam, der neue Entschluß: Aufgeben, so bald wie möglich. Die Gelegenheit kam, als mich ein Bergwacht-Angehöriger auf einem Quad, einem jener vierrädrigen Motorräder, einholte. Die nächste Gelegenheit aufzugeben war jetzt – er forderte mich auf, aufzusteigen und mich festzuhalten. Wir fuhren schätzungsweise 2 Kilometer holprigen Weg zu einer geschlossenen Almhütte, wo mich die Bergwacht empfing. Unter einem Vordach wartete ich auf ein geländegängiges Bergwachtfahrzeug. Mit dem holperten wir zum nächsten Stützpunkt, einer wohlig beheizten Berghütte. Hier hatten sich schon weitere Wanderer und auch eine Läuferin versammelt, die aufgegeben hatten. Ein wenig neidvoll beobachtete ich, daß sich zwei von ihnen ihres Schuhwerks entledigten. Doch ich konnte mich nicht entschließen, es ihnen gleich zu tun. Die Ersatzsocken im Rucksack waren genauso naß wie die an den Füßen. Lieber mit nassen Füßen dazusitzen, als später wieder die nassen Socken und Schuhe anziehen zu müssen...

Wo wir waren, – ich weiß es nicht. Vielleicht in der Nähe der Ladizalm, der dritten "Labestation". Nach einer Weile des Dösens kam das hochrädrige Bergrettungsfahrzeug. Zu acht füllten wir die Kabine fast völlig aus. An einem unter der Decke gespannten Seil konnten wir uns festhalten. So nahmen wir die nächste Höhe. Zuweilen blickte ich durch einen Ausschnitt der Windschutzscheibe und erkannte, daß wir auf Zentimeter an einem Abgrund vorbeiholperten. Ich zollte dem Fahrer hohen Respekt. Dann hinunter zur Engalm, und dann – o Wunder! – Asphalt. Bis dahin waren wir die Lauf- und Wanderroute gefahren, und ich sah mich in meinem Entschluß bestärkt, beizeiten aufgegeben zu haben. Auch die 52 Kilometer zu marschieren, sollte man nicht geringschätzen.

Das Fahrzeug setzte uns an einem Hotelrestaurant in Hinterriß ab. Hier würden wir in einer Stunde von einem Kleinbus abgeholt werden. Doch der Kaffee war längst getrunken, die Stunde verging. Es stellte sich heraus: Der Fahrer hatte uns vergessen. Nach zwei Stunden endlich, die sich bereits segensreich auf die Trocknung von Hosenteilen ausgewirkt hatten, kam der Bus. Aus irgend einem Grunde mußten wir noch eine Mautstraße fahren, wo zwei Mitreisende von einem Bus nach Pertisau abgeholt wurden. Wir hingegen fuhren durch Bayern nach Scharnitz. Die Türen des Busses öffneten und schlossen sich elektrisch; doch der Sicherheitsgurt des Fahrers baumelte nutzlos herab. Immerhin, der Fahrer brachte mich zum Parkplatz, und in der fünften Fahretappe dieses Tages konnte ich in mein Auto steigen und die zweieinhalb Kilometer ins Hotel fahren. Gegen halb acht konnte ich mich von den nassen Klamotten befreien und mich unter die Dusche stellen. Das Wasser war heiß – im Gegensatz zu den Veranstaltungsduschen in Pertisau, über die sich Teilnehmer beklagten.

Der nächste Karwendelmarsch wird am 27. August 2011 stattfinden. Auch wenn es ein Tag der Hitze sein sollte, werde ich leider nicht mehr melden. Immerhin, im vorigen Jahr hat ein Fünfundachtzigjähriger die 52 Kilometer zeitgerecht geschafft. Trotz manchen Einschränkungen, zu empfehlen ist die Veranstaltung auf jeden Fall.

Eintragung vom 22. August 10

Zwei Mähdrescher erblickte ich an einem Nachmittag auf meiner Runde. Am nächsten Tage waren alle Getreidefelder bis auf ein Haferfeld abgeerntet. Inzwischen ist größtenteils auch das Stroh abgefahren. An dem Haferfeld mit dunklen, liegenden Stellen ist noch zu erkennen, daß die Bauern mit der Getreideernte nicht zufrieden sein können.

Während sich der Mähdrescher durch das Getreidefeld fraß, habe ich mich daran erinnert, daß ich als Zehnjähriger auf dem Bauernhof in Waltersdorf, Kreis Sagan, auf dem ich meine Sommerferien verbrachte, noch den Dreschvorgang wie in Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" dargestellt erlebt habe. Immerhin, das Getreide auf dem 200 Morgen großen Hof war bereits mit dem Bindemäher geschnitten worden. Als die Puppen aufgestellt und eingefahren worden waren, wurde die Lokomobile bestellt. Mit einem breiten Lederriemen von der Lokomobile, einem eisenräderigen, straßentauglichen Fahrzeug, das ein Maschinist bediente, wurde die Dreschmaschine angetrieben. Im Jahr darauf jedoch, nachdem ein vom Autobahnbau vertriebener Landwirt eingeheiratet hatte, tat dies ein Deutz-Traktor. Der Maschinist wurde nicht mehr benötigt. Und wieder später war ich dabei, als die Dreschmaschine bis auf das Fahrgestell demontiert wurde. Es wurde nicht mehr auf dem Hof gedroschen. Ich frage mich nun, wie wohl die Polen heute in Waltersdorf Getreide ernten. Bestellen auch sie den Mähdrescher?

Meine Runde führt durch ein Landschaftsschutzgebiet mit vielen Obstbäumen. Mir fällt auf, daß die Apfelbäume dick behangen sind. Es scheint, als gebe es in diesem Jahr mehr Früchte als Zweige und Äste. Wenn ein Windstoß kommt, purzelt ein Dutzend Äpfel zu Boden. Ein Blick auf die Obstwiesen erinnert daran, daß das Läufergetränk Apfelsaftschorle zur Hälfte auf Bäumen wächst.

Am Freitagabend, gegen 23 Uhr, vernahm ich ein Rumoren am Haus. Da prüfte ich, ob die Türen geschlossen waren. Dann fiel mir ein: Ach ja, die "Flammenden Sterne" – so heißt das Feuerwerk, das in diesen drei Wochenendtagen wenige hundert Meter Luftlinie von unserem Haus entfernt stattgefunden hat. Mehrfach habe ich früher versucht, vom Dachboden aus einen Blick auf das Feuerwerk zu erhaschen. Vergeblich, die kommerziellen Veranstalter brennen es offenbar so ab, daß nur die Eintritt Zahlenden es genießen können. Uns Nassauern bleibt nur das Knallen, denn 25 Euro für die drei relativ kurzen Vorführungen mag ich nicht zahlen, abgesehen davon, daß ich eine Scheu vor Massenveranstaltungen, ausgenommen Langstreckenläufen, habe. Zudem erlebe ich ja seit fünfundzwanzig Jahren am 1. August, dem schweizerischen Nationalfeiertag, ein großzügig angebotenes Gratisfeuerwerk in Davos – in diesem Jahr bei gutem Wetter vom fünften Stock des Waldhotels Davos aus besonders eindrucksvoll. Auch die Ungarn haben sich am Nationalfeiertag, dem Stephanstag am 20. August, an der Donau in Budapest nicht lumpen lassen.

Eintragung vom 15. August 10

Welche Läufer kommen schon nach Bergün? habe ich mich gefragt. Sie laufen als Teilnehmer des K 78 so rasch wie möglich durch Bergün oder sie gehen vom Bahnhof zur Sägerei, dem Start des K 42. Zeit und Muße zum Besichtigen ist da nicht. Allenfalls, daß bei einem längeren Aufenthalt – gemeint ist: eine Woche und mehr – einmal ein Ausflug nach Bergün unternommen wird, schon des Eisenbahnlehrpfades nach Preda wegen, der auch für Wanderer, die sich nicht für die Albula-Bahn interessieren, lohnend ist.

 

Doch nach Bergün zu fahren, um sich die Ausstellung von Bildern zum Jubiläum 25 Jahre Swiss Alpine anzusehen, das werden wohl die wenigsten gemacht haben. Sicher, der Bilder wegen hätte es nicht gelohnt. Sehr wohl aber wegen der Lokalität, des Kurhauses Bergün. Jahrelang sind wir zum Start des K 42 an dem grauen Gebäude vorbeigegangen, ohne mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen. Es schien uns ein ramponierter abgewohnter Kasten zu sein, ein Kinderheim offenbar. Man mußte sich nicht darum kümmern.

Diese Einstellung, die auch ich teilte, ist seit einiger Zeit absolut verkehrt. Wer der Bilderausstellung wegen ins Kurhaus von Bergün gekommen ist, hat sich überraschen lassen. Das Haus ist, auch äußerlich erkennbar, restauriert und seinem alten Zweck zugeführt worden. Dieser Prozeß ist im Jahr 2002 eingeleitet worden; dem Prospekt nach waren alte Stammgäste daran beteiligt. Man mußte nicht um der SAD-Bilder willen nach Bergün kommen, aber sehr wohl lohnt es sich, das Hotel Kurhaus zu besichtigen. 1906 errichtet, ist es wieder eine Perle der Jugendstil-Architektur.  

 

Die ausgewählten Photos aus der Geschichte des Swiss Alpine werden nun auf der Kesch-Hütte ausgestellt. Kein Mensch wird deshalb zur Hütte aufsteigen, um die Bilder zu betrachten; doch wer sie als Wanderer aufsucht, wird auch einen Blick auf die SAD-Photos werfen und sich auf diese Weise mit dem Laufereignis befassen.Vielleicht gibt es später eine Gelegenheit, daß auch die Teilnehmer des Swiss Alpine die Ausstellung zu Gesicht bekommen und nicht nur daran vorbeilaufen.

Zugegeben, die Ausstellung ist kein weltbewegendes Thema. Ein anderes Thema, das seinen Niederschlag in RunnersVOTE gefunden hat, reicht dagegen weit über den Swiss Alpine hinaus.

Erstmals ist es langsameren K-78-Läufern gestattet worden, zwei Stunden früher zu starten. Das hat zu Schwierigkeiten beim Überholen durch die um 8 Uhr regulär Gestarteten geführt – offenbar nicht immer, aber doch so, daß man darüber diskutieren muß.

RunnersVOTE, wo jedermann über bestimmte Fragen abstimmen kann, ist ein Beitrag dazu. Doch die Fragestellung ist verführerisch. Es wundert nicht, daß über 70 Prozent der Votierenden ablehnen, die Integration langsamerer Läufer auf Kosten der Schnelleren zu betreiben. Doch vielleicht gibt es Kompromisse? Andrea Tuffli hat sich sehr bald Gedanken gemacht. Es ist ja nicht so, daß alle 8-Uhr-Starter durch die 6-Uhr-Starter behindert worden wären; man muß klären, wo es denn zu Behinderungen gekommen ist. Die Fragestellung in RunnersVOTE dagegen unterstellt, daß es bei dieser Handhabung, dem Frühstart, zu Behinderungen kommen müsse; es könne nicht sein, daß bei einem Wettbewerb die Rücksicht auf langsamere Teilnehmer höher gestellt werde als die Erreichung des Wettkampfziels. Da ist es kein Wunder, wenn die Mehrheit sich dagegen stellt.

Andrea Tuffli neigt nicht dazu, zur vorherigen Lösung zurückzukehren. Die erhebliche Erhöhung der Teilnehmerzahl beim K 78 durch die 12- bis 14-Stunden-Läufer ist ein starkes Argument. Man möchte den Mehr-als-12-Stunden-Läufern weiterhin eine Chance geben. In der Diskussion ist zwar wieder ein gemeinsamer Start, aber vorverlegt auf 7 Uhr und den Zielschluß ausgeweitet bis 21 Uhr. Das freilich bedeutet den Verzicht auf Zuschauer in Davos; wer bereit war, sich um 8 Uhr an die Straße zu stellen, wird es sonntags nicht unbedingt auch um 7 Uhr tun. Die Vorverlegung des Starts um eine Stunde würde dazu führen, daß 13- bis 14-Stunden-Läufer bis zur Kesch-Hütte eine Stunde weniger Zeit haben als in diesem Jahr. Das kann nicht in deren Sinn sein.

Wie auch immer, ich freue mich, daß es eben nicht zu der befürchteten Zuspitzung auf einen Konflikt zwischen schnelleren und langsameren Teilnehmern kommt.

Eintragung vom 1. bis zum 6. August 10

Nach jedem halbwegs größeren Lauf suchen wir am nächsten Tage in Publikumszeitschriften, was sich ereignet hat. Fast jedesmal werden wir enttäuscht. „Unseren“ Lauf finden wir nicht; wir haben mit dem, was sich an der Spitze getan hat, nichts zu tun. Fast immer müssen wir auf Fachmagazine warten. Und da gibt es Unterschiede. Beim Swiss Alpine mag für die Öffentlichkeit nicht wichtig sein: daß Birgit Lennartz, die zehnfache Siegerin des Supermarathons, am 31. Juli in Davos zum C 42 gestartet ist und, nun nicht mehr ambitioniert, den 13. Platz der Frauenwertung belegt hat, sowie Jacqueline Keller, die erste Schweizerin, die 1993 den Swiss Alpine gewonnen hat, dabei zweite ihrer Altersklasse geworden ist, daß die unverwüstliche Sigrid Eichner mit 13:02:57 Stunden im K 78 Platz 2 der W 70 erlaufen hat, daß Rainer Schädlich mit 9:50:49 den Altersklassensieg M 65 errungen hat, daß Professor Hans Drexler, obwohl er sich zum K 78 bei den Frühstartern eingereiht hat, den Lauf noch bequem in der regulären Zeit beendet hat, während Bernd Seitz in M 70 knapp unter 14 Stunden blieb und Dr. Beat Villiger (M 65), der langjährige Rennarzt, nach seiner ersten aktiven Laufteilnahme in 13:55:01 Stunden gefeiert worden ist. Peter Gschwend, ebenso wie alle anderen Sieger und Siegerinnen des SAD vom Veranstalter eingeladen, legte den K 78 in 7:36:22 Stunden zurück.

Auf dieser Ebene darf auch ich einen Platz beanspruchen: Zum einen, weil meine Schilderung von dem in der Presse vernachlässigten C 42 handelt, und zum zweiten, weil es nicht allzu häufig ist, daß ein Vierundachtzigjähriger die Marathonstrecke wenn auch nicht mehr läuft, so doch zügig wandert. Sicher wird das von jener Fraktion, die den Marathon als Marathonlauf versteht, in hohem Maße mißbilligt werden. Dabei regt sich kein Mensch darüber auf, daß viele Teilnehmer des Spartathlons die 246 Kilometer in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von unter 7 Kilometer in der Stunde zurücklegen und dann auch noch froh sind, zu den höchstens 50 Prozent der Erfolgreichen zu gehören. Der C 42 scheint mir der einzige Marathon zu sein, der in der Ausschreibung eine Altersklasse 85 aufweist, auch wenn in ihr noch niemand gelaufen oder gewalkt ist.

Hat man über das Wetter am Tag des Jubiläumslaufs in der Publikumspresse angemessen gelesen? Ich kann mich nicht erinnern, bei den vorangegangenen 24 Teilnahmen derart optimales Wetter erlebt zu haben. Andrea Tuffli, der Präsident des OK, der seit 25 Jahren am Tag vor dem Lauf die Prognose verkündet, bestätigte: Ein solches Wetter habe es beim SAD noch nie gegeben. An den Tagen zuvor durchwachsenes Wetter, am Montag nach dem Lauf Regen. Am Lauftag selbst herrlicher Sonnenschein, beim Start um 8 Uhr subjektiv noch zu kühl, danach zum Laufen aber die optimale Temperatur, an der Kesch-Hütte (2632 m) plus 12 Grad.

Beim C 42 waren wir in M 80 wieder zu dritt: Andreas Engler, Hans R. Schneider, der das Seminar „Bewegung und Sport – erst recht im Alter“ gesponsert hat, und ich. Ohne das Konzept des C 42, einen Marathon insbesondere für Senioren und für Marathon-Einsteiger, wäre ich nicht gestartet.

Nach meinen Erfahrungen aus den beiden letzten Jahren nahm ich mir vor, vom Start weg zu gehen und immer nur, vornehmlich an Gefällstrecken, kurze Laufpassagen einzufügen. Damit konnte ich in Anspruch nehmen, daß sich die Haupt-Zuschauernester in Davos aufgelöst haben würden, bevor ich kam. Zwar war ich in diesem Jahr beherzter, aber ein merkwürdiges Gefühl war es schon, weit hinter dem Ende des Feldes entlang zu trotten. Doch die verbliebenen Zuschauer nahmen mich noch für voll und applaudierten dem offenbar wieder ältesten Teilnehmer.

Weshalb denn habe ich das gemacht? Ich vertrete die Ansicht, daß man sich auch als alter Mensch Herausforderungen stellen sollte, welcher körperlichen oder intellektuellen Art auch immer. Das habe ich auch in einem kurzen Referat auf dem Seminar am Donnerstag vor dem Lauf gesagt. Das 25-Jahr-Jubiläum wollte ich mit einem anspruchsvollen privaten Jubiläum verbinden. Der C 42 nach Tiefencastel wird zwar als Lauf für Marathon-Einsteiger ausgegeben, aber er ist kein leichter Lauf, auch wenn die 1070 m Gefälle die Steigung von zusammen 450 m vergessen lassen. Wer für seinen ersten Marathon einen Landschaftskurs haben möchte, – von diesem als Premiere möchte ich abraten. Die Kultur dieses ersten Kulturmarathons der Schweiz hält sich in Grenzen. Doch ein „leichter“ Marathon auf Asphalt würde dem Landschaftslauf-Ereignis in Davos schlecht anstehen.

Die erste Aufgabe: Die Aufgabe vermeiden. An diesem Wortspiel sieht man, daß ich gut daran tue, im zweiten Fall sonst stets von Aufgeben zu sprechen. Aufgeben muß man, wenn man Islen (6,7 km) gleich hinter Davos nicht bis 9.20 Uhr erreicht hat. Das setzt eine Geschwindigkeit von höchstens 12 Minuten für den Kilometer voraus. Mit Wandern ist es also im Grunde nicht getan. Die erste Prüfung bestand ich, selbst wenn ich den Eliminationspunkt erst beim Schützenhaus von Islen genommen hätte. Die nächste Prüfung war, Monstein (16,6 km) über den Hauptteil der gesamten Steigungen bis um 11.30 Uhr zu erreichen. Der Waldfriedhof, auf dem Ernst Kirchner ruht, wird östlich umgangen. Den Streckenabschnitt nach Monstein war ich drei Tage zuvor gewandert. Ich erinnere mich, daß ich mich zwischen Junkerboden und Spina auf eine Bank gesetzt und pausiert hatte. Davon konnte während des Wettbewerbs keine Rede mehr sein. Hat man die Rinderhornbahn unterquert und steht in Spina am Triumphbogen, hat man das Gröbste der Steigungen geschafft. Einige Tage nach dem Wettbewerb sind wir die Strecke in der Gegenrichtung gewandert. Da ist mir so recht zu Bewußtsein gekommen, über welche Steigungen und Cross-Abschnitte man sich emporkämpfen muß. Denkt man an die Hochgebirgsläufe K 78 und K 42, klingt das ziemlich vermessen. Einschätzungen sind eben subjektiv. Vor fünf Jahren bin ich noch von Chants zur Kesch-Hütte und von der Alp Funtauna zum Scalettapaß aufgestiegen und habe das Sportzentrum Davos noch vor dem Zielschluß innerhalb von achteinhalb Stunden erreicht. Im Alter kann sich die Perspektive innerhalb von fünf Jahren – was sage ich? –, von Jahr zu Jahr beträchtlich ändern.

Bis zum Potschtobel steigt die Strecke nach Monstein. Mehrfach vermutete ich irrtümlich bei jedem plätschernden Rinnsal den Potschtobel. Doch die Strecke stieg weiter. Auf diesen Kilometern eilte ich mit meinen Gedanken weit voraus. Birgit Lennartz mag es auf diesen 3 Kilometern ähnlich ergangen sein.

Dann jedoch senkte sich der Waldweg tatsächlich und trat schließlich aus dem Wald heraus. Einer der eindrucksvollsten Momente ist es, wenn man an dieser Stelle auf die Bergkapelle und den kleinen Kirchhof blickt. Unten liegt – man wird es bald sehen – die Verpflegungsstelle von Monstein. An der u-förmigen Richtungsänderung stand ein Posten. Kompliment an die Organisation: Auch für den Letzten noch war die Orientierung durch Posten oder Absperr- und Signalbänder perfekt, das Angebot an Getränken und Verpflegung ausreichend.

 

Die sich senkende Asphaltstraße lud zum Traben ein, ebenso die Serpentinen des Waldwegs hinab zum Bahnhof Monstein. Am Schmelzboden und in der Zügenschlucht Begegnungen mit dem Tourismus. Wie oft bin ich hier entlang getrabt oder gewandert! Die Eindrücke sind nicht mehr so plastisch wie vor Jahren, dennoch aber bewegend. Freilich, es stellt sich nach der Gewöhnung das Warten auf den Waldpfad zur Station Wiesen ein. Was war an der Abzweigung von der Wanderstraße in der Zügenschlucht schon dabei! Jetzt, mit 84 Jahren, taste ich mich vorsichtig die unebenen Stufen hinab. Der Blick auf die Verpflegungsstation vor dem Bahnhof; doch das Bild wird jetzt von den Touristen, nicht mehr von den Läufern geprägt. Ein Posten an der Bahnstrecke betrachtet mich kritisch und kommentiert, als ich zügig den Bahnübergang passiert und von der Weggabelung ohne Zögern den Weg zum Viadukt gewählt habe, ich sei den Weg wohl schon gelaufen. Der Viadukt ist in diesem Jahr völlig frei von Menschen. Der Aufstieg danach macht mir Mühe. Die Besenradfahrerin hat mich eingeholt; wir haben zwar ein paar Worte miteinander gewechselt, aber sie hält sich zurück. Während ich nach Auftrittsflächen suche – früher ein automatischer Vorgang –, schreitet die Anzeige der Uhr voran. In etwa fünfdreiviertel Stunden hatte ich Filisur zu erreichen gehofft. Auch wenn ich nun am Kulminationspunkt bin, sich wenig später das Tal mit Filisur öffnet, – die Zeit ist vergangen. Ursprünglich hatte die Eliminationszeit sechs Stunden betragen. Vielleicht hätte ich das geschafft. Doch ich bin heilfroh, daß ich die Verlängerung um eine halbe Stunde angeregt habe; zweieinhalb Stunden für die 11 Kilometer nach Tiefencastel schienen mir ausreichend zu sein. Obwohl ich erheblich später als der oder die Vorletzte dran bin, ist noch eine komplette Jubelschar vorhanden, die dem Letzten eine Olé-Welle bereitet.

Der Durchgang durch Filisur vollzieht sich für C-42-Teilnehmer nicht sehr erfreulich; es ist eine Art Hinterausgang. Danach freilich folgen 7 Kilometer bequemer Wanderweg, vorbei an Bad Alvaneu, vorbei am Golfplatz. Bei Surava (38,6 km) ist die letzte Durchgangszeit 16 Uhr zu beachten. Nach Kilometer 38 kommt der Trail-Abschnitt mit Pfaden, Cross-Abschnitten, Brücken, ich fühle mich erstmals unsicher. Es liegt nicht am Pfad, sondern an der Ermüdung. Anstieg zur Straße und ein Stück an der Leitplanke entlang (der Straße abgekehrt), Treppe zur Fußgängerbrücke, das Ziel in Sicht. Alles spielt sich ab wie wohl vorher 332mal: die Medaille mit dem Jubiläumsmotiv umgehängt, die Finisher-Jacke erhalten, auch in M vorrätig. Im Schulhaus duschen mag ich nicht, lieber zum Bahnhof – ich weiß schließlich nicht, wie lange ich brauchen werde. Den nächsten Zug um 16.47 Uhr kann ich hoch oben auf dem Gleiskörper erkennen; doch es war mir vorher schon unmöglich erschienen, ihn noch zu erreichen.

Die Stunde Wartezeit bis zum nächsten ist erträglich, Einkehren mag ich nicht. Im Zug Kontrolle – ich muß die Startnummer vorzeigen, Stichwort für eine Mitreisende, sich als Läuferin erkennen zu geben. Umsteigen in Filisur, der Zug nach Davos hat auf den Regionalzug Chur – Samedan gewartet. Das Internet im Hotel bringt Klarheit: netto 8:32:27 Stunden; im letzten Jahr waren es trotz Sturz 8:07. Ein Jahr älter – 25 Minuten länger, eine halbe Minute mehr für den Kilometer. Damit kann, muß man leben.

Eintragung vom 20. Juli 10

 

Allmählich wird der Koffer gepackt – der Swiss Alpine ist Anlaß, vierzehn Tage in Davos zu verbringen.

Der Swiss Alpine Marathon hat sein 25-Jahr-Jubiläum vorbereitet. Wenn wir an andere Jubiläen denken, die sich allein auf die Zahl der Wiederholungen beziehen können, so haben wir es hier mit einem sehr originären Jubiläum zu tun. Der Swiss Alpine hat einen neuen Typ von Lauf dargestellt und diesen entscheidend geprägt. Die „Leichtathletik“ schrieb über einen „außergewöhnlichen Härtetest“. Es ist nicht nur die Ausdauer, die hier beansprucht wird. Es gab ja schon die 100-Kilometer- und die 24-Stunden-Läufe sowie andere Ausdauer-Aufgaben. Dieser Ultra ist ein Ultra-Berglauf mit 2300 Metern Höhenunterschied. Auch Bergläufe gab es schon; doch dieser hier führt nicht nur hinauf, sondern auch wieder hinunter. Das hat ihm damals bei Fachleuten, die gern gewohnten Spuren folgen, Kritik eingetragen. Wir Läufer haben ihn sofort angenommen.

Die „Leichtathletik“ schrieb: „Diese Art der Ultraläufe als Landschaftslauf mit Abenteuercharakter ist sicherlich eine neue Herausforderung unserer Zeit.“ Anzeichen dafür hatten sich bereits vorher abgezeichnet. Der New York City Marathon verkörperte erstmals den städtischen Erlebnislauf über 42 Kilometer, der Honolulu-Marathon den touristischen Landschaftslauf mit nur geringem Wettbewerbscharakter. Immer mehr Bergläufe wurden organisiert, und deren Teilnehmerzahlen wuchsen. Laufen als soziales Erlebnis war vorher schon bei den von der IGÄL ins Leben gerufenen Laufurlaubsreisen nach Teneriffa deutlich geworden. Der Zug der Läufer auf dem Parallelgleis zum Wettbewerbsgleis verstärkte sich, und er beschleunigte sich.

Andrea Tuffli, der Ingenieur aus Chur, hatte die Zeichen der Zeit erkannt, vielleicht hatte er sie auch nur an sich selbst erkannt. Seine Idee eines Ultraberglaufs, die ihm 1982 in seinem Maiensäß an der Albula-Bahn gekommen war, fiel auf fruchtbaren Boden. Ursprünglich sollte der Swiss Alpine nur alle zwei Jahre stattfinden. Doch bereits beim ersten Lauf am 26. Juli 1986 fiel die Entscheidung: künftig jährlich. Dazu haben zwei Aspekte beigetragen, zum einen, daß Andrea unsere tatsächlichen Bedürfnisse wahrgenommen und die Zahl der Anmeldungen die Erwartungen erheblich übertroffen hatte, zum anderen, daß sich die Bergstadt Davos um ein sommersportliches Profil bemühte. Investitionen in die Sportanlagen waren realisiert worden. Tufflis Idee einer Sportveranstaltung in der Infrastruktur des Wanderwegenetzes versprach, den touristischen Bemühungen einen Schub zu geben.

Die erste Ergebnisliste weist für die 66,2-km-Strecke über den Sertigpaß, die sich später als 72,1 km lang herausgestellt hat, 732 männliche und 38 weibliche Finisher aus; den 28 km langen Landwasser-Lauf beendeten 123 Männer und 37 Frauen, den Sertig-Lauf von 38,2 km, den hochalpinen Abschnitt des Ultras, 114 Männer und 10 Frauen. Der Anteil der deutschen Teilnehmer galt als erheblich. Dabei wirkte sich auch die frühzeitige Patenschaft durch Horst Mildes Berlin-Marathon aus. Später ist der Anteil der Deutschen beim Supermarathon auf die Hälfte der Teilnehmerschaft angewachsen. Charly Doll, der Küchenmeister und Hotel-Geschäftsführer, hat den Supermarathon bereits 1987 und 1988 gewonnen, Birgit Lennartz, die profilierteste deutsche Ultralangstrecklerin, hat ihn zehnmal gewonnen. Die Teilnehmer kommen aus fast 50 Nationen. Der Swiss Alpine ist zu einem Markenzeichen geworden.  

Zwar wurden zusammen 15.000 Franken Preisgeld ausgesetzt – damals noch ungewöhnlich: für Männer und Frauen in derselben Höhe –, aber Andrea Tuffli betonte in seiner Eröffnungsansprache1986: „Es ist unverkennbar: Der Alpine-Marathon stellt eine neue und verwegene Herausforderung dar. Ein großes Abenteuer, ein Erlebnis von besonderer Art. Hier zählt nicht die Laufzeit, sondern das Bestehen.“ Verschiedentlich tauchten in der Berichterstattung nicht sehr schmeichelhafte Attribute wie „verrückt“ und „crazy“ auf. Auf uns Teilnehmer wirkte jedoch dieser neuartige Lauf durchaus nicht so, zumal da die Organisation bereits beim erstenmal hervorragend war, was allerdings die eine oder andere spätere Panne nicht verhindern konnte. Sicherlich hat der Swiss Alpine eine anregende Wirkung gehabt; all die anderen Bergmarathone wie der Jungfrau-, der Liechtensteiner, der Graubünden- und der Zermatt-Marathon sowie die deutschen Alpen-Marathone konnten von den hier gewonnenen Erkenntnissen profitieren.

Der Swiss Alpine ist das klassische Beispiel einer Veranstaltung, die fast jedes Jahr eine Änderung oder eine Neuerung aufweist. Ständig wird an der Streckenführung, am Angebot und am Konzept herumgefeilt. Bei der zweiten Austragung wurde ein durchaus anspruchsvolles, allerdings kostenpflichtiges Symposium eingeführt, dieses jedoch nach 1996 wieder aufgegeben. Die gründlichste Änderung geschah im Jahr 1998, als statt des Sertig-Passes die Route vom Val Tuors zur Kesch-Hütte und weiter über den Scaletta-Paß nach Dürrboden und durchs Dischma-Tal nach Davos gewählt wurde. Ausgerechnet im Jahr der Einführung ereignete sich ein gewittriger Wetterumschlag, mit dem selbst am Start noch niemand gerechnet hatte.

Der um etwa 100 Höhenmeter höhere Sertig-Paß hatte den Vorzug geboten, daß man, wenn man den Scheitelpunkt erreicht hatte, sofort wieder absteigen konnte. Allerdings war der steile Abstieg problematisch. Der etwa 7 Kilometer lange Steig von der Kesch-Hütte zum Scaletta-Paß hingegen bietet ein einzigartiges hochalpines Panorama. Aus den glücklicherweise folgenlosen Vorkommnissen 1998 in 2600 Meter Höhe, den Unterkühlungen und den Inanspruchnahmen im überfüllten Sanitätszelt am Scaletta-Paß, hat die Organisation die Lehren gezogen. In Bergün, nach knapp 40 Kilometern Laufstrecke also, können die K 78-Teilnehmer wärmende Kleidung deponieren.

Andere Laufstrecken sind hinzugekommen, vor allem im Jahr 2006 der C 42, der Kultur-Marathon von der romanischen Kirche Mistail bei Tiefencastel über Filisur nach Davos, seit dem Jahr 2008 in umgekehrter Richtung, seit 2009 mit verlängertem Zielschluß und als der Marathon für Senioren und Einsteiger ausgewiesen. Allerdings endet der Lauf seit vorigem Jahr am Schulhaus; zur Kirche sollte man an einem anderen Tag gehen. Seit der Inbetriebnahme der Sunniberg-Brücke, die Klosters vom Durchgangsverkehr entlastet, wird der Halbmarathon seit dem Jahr 2007 auf der Brücke gestartet.

Von Beginn an hat Andrea Tuffli auch nichtläuferische Gesichtspunkte einbezogen, außer dem touristischen vor allem auch den Umwelt-Aspekt, die Eisenbahn bis Bergün als Zuschauergalerie, das Regio-Ticket und das schweizerische An- und Abreiseticket, dazu auch den kulturellen Aspekt.

 

Als ich 1986 erstmals am Ultramarathon über den Sertig-Paß teilnahm, habe ich keinen Gedanken daran verschwendet, nun 25 Jahre lang im Juli nach Davos zu fahren. Schließlich war ich da ja schon 60 Jahre alt. Doch der Swiss Alpine zog mich jedes Jahr an. Alle zwölfmal bin ich über den Sertig-Paß gestiegen, und bei einem Gewitter mit Hagel, das mich erst im Sertig-Dörfli erreichte, konnte mir Marianne noch Kleidung reichen. Auch die neue Strecke 1998 hätte ich ohne den Wetterumschlag sicherlich zurückgelegt, es waren ja nur noch der Abstieg zum Dürrboden und der Lauf durchs Dischmatal zu meistern. Im Jahr darauf wurde ich, nun 73 Jahre alt, an der Kesch-Hütte aus dem Rennen genommen; ich hatte die Durchgangszeit, damals 16 Uhr, um fünf Minuten überschritten. Ein auf 6 Uhr vorgezogener Start wie im Jubiläumsjahr hätte mir Chancen noch für die folgenden Jahre gegeben. Daraufhin meldete ich in den nächsten Jahren zum K 42, dem Marathon von Bergün über die Keschhütte nach Davos. Bis zum Jahr 2005 schaffte ich es, vor Zielschluß anzukommen. Im Jahr 2006 dann die Bypaß-Operation; mein erster Wettbewerb danach war der Halbmarathon des Swiss Alpine. Ich bin ihn größtenteils gegangen; aber ich freue mich noch jetzt, daß ich ein knappes halbes Jahr nach der Operation wieder auf der Strecke sein konnte. Im Jahr darauf weitete ich die Strecke auf die 28 Kilometer nach Filisur aus. Im Jahr 2008 wollte ich den C 42 bewältigen, wurde jedoch in Filisur, bei Kilometer 31, wegen Zeitüberschreitung aus dem Rennen genommen. Inzwischen ist die Zeit verlängert, so daß ich im vorigen Jahr ankommen konnte.

Auch für dieses Jahr habe ich für den C 42 gemeldet; im vorigen Jahr sind wir immerhin drei in M 80 gewesen.

Eintragung vom 13. Juli 10

Es ist einer der unzähligen Läufe, über die außerhalb des Veranstaltungsortes nicht berichtet wird, der Eßlinger Zeitung Lauf. Er geht seit dem Jahr 2003 über 10 Kilometer, in den drei Jahren zuvor waren es 8,5 Kilometer. Als die Veranstaltung im Jahr 2000 ins Leben gerufen worden war, zählte man 313 Teilnehmer. Niemand in der Organisation hatte sich damals vorstellen können, daß es zehn Jahre später 1555 sein würden. Nimmt man die Kinder- und Schülerläufe hinzu, so handelt es sich um die größte Breitensportveranstaltung im Kreis Esslingen, einem ausgedehnten und dichtbesiedelten Landkreis, der an die Großstadt Stuttgart angrenzt und seit der Landkreisreform bis auf die Schwäbische Alb hinaufreicht.

 

Wahrscheinlich alles kein Grund, darüber zu erzählen. Schließlich haben am Wochenende 10./11. Juli in Deutschland 40 DLV-Läufe über 10 Kilometer und ähnliche Distanzen stattgefunden. Doch diese Laufstrecke liegt etwa 4 Kilometer von unserem Haus entfernt. Versteht sich, daß ich den EZ-Lauf auch einmal gelaufen bin – im Jahr 2005. Die Veranstaltung ist zum einen so typisch für diese Provinzläufe, die sich allein dank dem Engagement der Beteiligten, einschließlich der Läufer, entwickelt haben; andererseits sind sie so speziell, daß sie schon deshalb Interesse beanspruchen können.

Das Besondere: Esslingen zählt, allerdings mit den eingemeindeten, früher selbständigen Orten, über 91.000 Einwohner, ist also fast eine Großstadt, davon etwa ein Viertel überwiegend türkische Einwanderer. Unter den Zuschauern habe ich zwei junge Türkinnen gesehen. Ob ich das als Zeichen sich verbessernder Integration nehmen kann? Zwar hat auch schon ein Italiener den Lauf gewonnen, aber Türkinnen unter den geschätzten 15.000 Zuschauern sind so selten, daß sie einem auffallen. Farbige hingegen – sowohl unter den Teilnehmern als auch unter den Zuschauern – fallen nicht im geringsten mehr auf.

Esslingen am Neckar, das sich seit den sechziger Jahren mit Doppel-S schreibt, während die 142 Jahre alte Eßlinger Zeitung das traditionsreiche ß beibehalten hat, gefällt durch seine Lage und den mittelalterlichen Zuschnitt seiner Innenstadt, durch die der Laufkurs führt. Anders als Stuttgart, wo die Halbmarathon-Teilnehmer im Monat vorher sonntagvormittags durch eine fast leere Innenstadt liefen, sind die 2,5 Kilometer in Esslingen dicht von Zuschauern besetzt. Allerdings findet der Lauf immer am Bürgerfest-Wochenende statt, und der Marktplatz mit Umgebung ist mit unzähligen Verkaufs- und Imbißbuden und -zelten bestückt. Es ist schwer auszumachen, ob die Leute am Sonntagvormittag des Laufens oder des Essens wegen gekommen sind. Vielleicht brauchen sie auch nur irgend einen Grund, durch die kleinstädtische Innenstadt zu bummeln. Anders als in meiner armen Vaterstadt Görlitz ist auch gemeinhin genügend Geld unter den Leuten. Auf jeden Fall, die Leute, auch die Trinkenden und Essenden, schauen beim Laufen zu. Wer primär am Laufen interessiert ist, kann ohne Mühe seine Position verändern und die Läufer auch öfter als nur viermal an sich vorüber ziehen sehen. Das hintere Feld der Teilnehmer hat den Vorteil, auch die letzte Runde noch vor Publikum zu laufen. Die Zielregion ist bis zum Schluß dicht besetzt.

  Der Lauf durch die mittelalterliche und barocke Innenstadt hat allerdings seinen Preis. Erst als Zuschauer sind mir die leichten Steigungen aufgefallen; es gibt sogar als speziellen Gag eine „Bergwertung“, wobei nicht der Schnellste gewinnt, sondern derjenige – oder diejenige –, der jene Steigung in einer vorher geheim festgelegten Zeit passiert. Ein erklecklicher Teil der Strecke führt über Pflaster. Und zusammen mit den spitzen Ecken ist es wahrhaftig keine schnelle Strecke. Die „blaue Linie“ ist hier rot, eine der beiden Esslinger Stadtfarben. In einem der elf Laufjahre hatte es nachts heftig geregnet; es half nichts, als zunächst Meter für Meter der Laufstrecke zu trocknen, bevor man den Aufstrich anbringen konnte.

Wenn auf einer Strecke, deren Rekorde Dr. med. Eduard Scherer, neurologischer Oberarzt am Esslinger Klinikum, auf 32:56 Minuten und Kathrin Knodel auf 39:31 gesetzt haben, in diesem Jahr schnellstens 37:15 (Steffen Lang) und 43:17 (Christine Sigg-Sohn) gelaufen worden sind, besagt dies: Es war heiß, wieder einmal heiß. Vor fünf Jahren bereits hatte ich an dieser Stelle den damals mittäglichen Start um halbeins kritisiert; er wurde auf 11 Uhr vorgezogen. Als ob das ausgereicht hätte, eine Temperatur von 33 Grad plus zu umgehen! Die Hitze-Reflexion der engen Straßenzeilen sorgte auch nicht gerade für Durchzug. Bereits in der Anfangszeit der Volksläufe, in den sechziger Jahren, hatte der DLV-Volkslaufwart Otto Hosse gegen solche Startzeiten gewettert.

  In diesem Jahr haben die Organisatoren den diensthabenden Arzt zu einer Mahnung vor dem Startschuß veranlaßt – die Bestzeiten könne man getrost vergessen. 92 der Gestarteten brachen ihren Lauf unterwegs ab. Nicht weniger als 334 Gemeldete hatten schon vorher aufgegeben; sie waren gar nicht erst gestartet. Anderenfalls wäre dies mit 1699 Teilnehmern des Hauptlaufs der bisher stärkste EZ-Lauf gewesen. Auch der Esslinger Oberbürgermeister, Dr. Jürgen Zieger, konnte erstmals nicht mitlaufen; nicht die Hitze, sondern eine Muskelverletzung, die er sich beim Radfahren geholt hatte, verhinderte dies. Erstmals in M 80 war Walter Bittmann am Start, Deutscher Marathonmeister der M 75 und nun der älteste Teilnehmer; seine Zeit: 54:02 Minuten. Damit zählte er fast noch zum ersten Drittel.

Gewiß habe ich bedauert, nicht mehr gestartet zu sein. Doch ich gestehe auch: Am Sonntag war mir das Zuschauen angenehmer. Es ist auch niemand kollabiert – im Gegensatz zu Eisenbahn-Fahrgästen am Wochenende.

Eintragung vom 6. Juli 10

Immer treffe ich auf meiner Runde Läufer und Walker. Immer? In dem langen Winter war die Strecke leer. Dieser Tage, als das Thermometer auf über 30 Grad stand, erblickte ich auf dem kilometerlangen Panoramaweg keinen einzigen Menschen. Später freilich überholten mich Radfahrer, darunter sogar eine ganze Betriebssportgruppe. Einundeineviertel Stunde war ich unterwegs, dann begegnete mir ein Läuferpaar. Als ich nach zweieinhalb Stunden fast zu Hause war, kam mir noch ein Walker entgegen. Am Tage danach: In zweieinhalb Stunden ein einziger Walker, sonst nur ein paar Radfahrer und zwei Mütter mit sonnenschirmgeschützten Kinderwagen, sofern man diese Jogginggeräte noch so bezeichnen kann.

Noch eine Beobachtung: Die Kühe auf der Weide weideten nicht, sondern hatten sich aufs Gras geworfen und dösten träge. Die Pferde mit dem Fliegenschutz über den Augen hatten sich im Schatten von Bäumen versammelt. Dennoch, sommerliche Trägheit breitete sich nicht überall aus. An drei Stellen meiner Strecke waren drei Traktoren zugleich am Mähen des hohen Grases. Nach etwa einer Stunde lief mir der Schweiß in die Augen. Vor Wettkämpfen hatte ich mir häufig Vaseline auf die Augenbrauen geschmiert, aber wer denkt an so etwas vor einer Trainingsrunde?

Am Samstagnachmittag, dem 3. Juli, herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Nur die Flugzeuge hatten ihre übliche Start- und Landefolge. Als ich meine Runde um halbvier Uhr begann, überholte mich noch ein Läufer, wenig später eine Läuferin. Wollten auch sie um 16 Uhr vor dem Fernsehgerät sitzen oder scherten sie sich wie ich den Teufel um die Fußballweltmeisterschaft? Drei Minuten nach vier kriegte ich das erste Tor gegen Argentinien mit, nur das erste, verkündet durch einen Stoß in das Blasinstrument, Tröte genannt, dazu der Ruf „Tor!“ Doch nach etwa einer Stunde, im nächsten Wohngebiet, terrorisierte ein Trötenbläser die Umgebung ganz ohne Tor. Anderenfalls wären Dutzende von Toren gefallen. Ich kriegte also kein Tor mit, sondern den Terror durch einen wahrscheinlich kindlichen oder jugendlichen Toren. Ich war froh, daß ich ihm entrinnen konnte.

Erst jetzt, nachdem ich reichlich spät die Höllenkraft der Tröten kennengelernt hatte, habe ich mich mit diesem Blasinstrument befaßt, mit der Vuvuzela. Erst jetzt erfuhr ich durch das stille Internet, daß die halbe Nation seit drei Wochen über dieses Blasinstrument mit einer Schallwirkung von über 120 Dezibel diskutiert. Stimmt nicht, fast die ganze Nation ist dagegen; nach einer Befragung lehnen etwas über 93 Prozent die Vuvuzela ab. Sie gilt als afrikanisches Blasinstrument, vor etwa zehn Jahren eingeführt – wahrscheinlich von den weißen Teufeln. Aber erstmals bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft von weltweiter Wirkung. Sie schafft nichts als Probleme, indem sie feinere Bekundungen der Sympathie für eine Mannschaft, wie Sprechchöre und Gesänge, verhindert, die Sender von Fernsehübertragungen zu technischen Überlegungen zwingt und sogar den Nationaltrainer dem Anschein nach dazu veranlaßt hat, die Zeichensprache zu erlernen, um sich während eines Spiels den Spielern mitteilen zu können. Dennoch, von nun an wird die Vuvuzela nicht mehr auszurotten sein – eventuelle Verbote hin oder her. Gibt man bei Google das Stichwort „Tröte“ ein, erhält man eine Unmenge von Angeboten an Vuvuzela, selbst von Musikhäusern. Das Klavier ist tot – es lebe die Vuvuzela!

Während ich über meine Runde trottete, sinnierte ich weiter. Nichts, nicht einmal dieses Tagebuch, kann die Vuvuzela von Laufveranstaltungen fernhalten. Damit sind City-Marathone im Kern bedroht. Wo ein Trötenbläser auftaucht, werden sich Zuschauernester unweigerlich verkrümeln. Da das Tröten so ansteckend ist wie das Beflaggen, werden die Zuschauer des Berlin-Marathons daheim bleiben und die Fenster schließen. Ohne Publikum jedoch findet sich kein Sponsor mehr. Der Stadtmarathon ist tot. Trööööt.

Als ich nach Hause kam, war Marianne im Garten. Ihre ersten Worte an mich waren: Vier zu null. Daß die deutsche Mannschaft gewonnen hatte, hatte ich aber bereits dem Hupen von Autofahrern entnehmen können.

Kinder aus der Nachbarschaft eilten mit der deutschen Flagge durch die Straße. Wahrscheinlich mußten sie mit anderen feiern gehen. Apropos Flagge: Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich die deutsche Flagge falsch herum angebracht sah! Schwarz muß oben sein oder, wenn sie nicht frei weht, links; die Farbbezeichnung lautet ja nicht goldrotschwarz, sondern umgekehrt. Der Besitzer eines in unserer Straße geparkten Autos hatte es noch am selben Tag gemerkt. Da ich mehrfach auf das Fahrzeug blicken konnte, entging mir nicht, daß er Stunden später die Fähnchen umgedreht hatte.

Nun ja, besser nur die Fahne verkehrt als das Nationalgefühl verfälscht. Ich habe den Eindruck, daß die Deutschen inzwischen gelernt haben, mit Spielergebnissen umzugehen. Keine Schmähungen des Gegners, weder in Medien noch auf der Straße. Der Stolz war nicht arrogant, die Emotionen nicht ausufernd. Nichts reicht an dieses emotionale Ereignis heran, nicht Bundespräsidentenwahl, nicht angebliches Rauchverbot in Bayerns Kneipenkultur, nicht Krankenkassen-Beitragserhöhung, nichts, was uns sonst aus dem trötenlosen Trott bringen könnte.

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