Laufen, Schauen, Denken Sonntags Tagebuch |
Die schlimmste Information: Beim 20. Stuttgart-Lauf ist ein 24jähriger Halbmarathonläufer beim Einlauf im Stadion zusammengebrochen und gestorben. An den Umständen kann es nicht gelegen haben, weder am Wetter noch an mangelnder Vorsorge. Der tödliche Zusammenbruch ereignete sich vor einer Rettungsstation; der Notarzt war in Sekundenschnelle bei dem Läufer. Die Eltern des Todesopfers hielten sich im Stadion auf. Das Unglück geschah etwa zwei Stunden und zwanzig Minuten nach dem Start.
Es ist das vierte Todesopfer in der zwanzigjährigen Entwicklung des Stuttgart-Laufes. Was soll man tun? Die Umstände sprechen wie in ähnlichen Fällen für das Vorliegen einer Herz-Kreislauf-Erkrankung. Auch der Stuttgarter Veranstalter hat im Vorfeld den Hinweis auf eine Gesundheitskontrolle ausgesprochen. Die Verantwortung liegt bei uns, den Teilnehmern.
Von dem Todesfall habe ich erst nach der Veranstaltung erfahren. Da hatte ich schon diese Einleitung geschrieben: Sehe ich das richtig? Der Stuttgart-Lauf erholt sich von der Innenstadt. Vier Jahre hatte der Halbmarathon von der Mercedesstraße im Daimler-Viertel in die Stuttgarter Innenstadt geführt. Die Teilnehmerzahlen erreichten ihren Tiefpunkt. Den Läufern war, wie ich empfand, eine temporär tote Stadt vorgeführt worden. In der Stuttgarter Innenstadt wohnt man nicht, wenn es nicht sein muß. Die Geschäfte, Dienststellen, Praxen und Firmenvertretungen sind am Sonntag geschlossen; es gibt keinen Grund, an diesem Tage gegen 9.30 oder 10 Uhr auf die Straße zu gehen. Nicht einmal der Stuttgart-Lauf schaffte diesen Grund. Obendrein war der organisatorische Aufwand beträchtlich gewachsen; auch wenn die Straßen verkehrsleer waren, – sie mußten für die Halbmarathonläufer gesperrt werden.
Nach der Brücke über den Neckar in Stuttgart-Hofen
wird der Rückweg angetreten |
Noch knapp 3 Kilometer bis zum Ziel
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Der Veranstalter, der Württembergische Leichtathletik-Verband, hat das Ruder herumgeworfen. Die Halbmarathon-Läufer sind im vorigen Jahr wieder an den Neckar zurückgekehrt . Da bilden sich in den Wohnquartieren Zuschauernester, und die Leute schauen aus dem Fenster. Vor allem aber läuft man weite Strecken am Neckar entlang. Man blickt auf Weinberge und hat relativ viel Grün. Auf jeden Fall hat die Strecke Tradition. Der Zieleinlauf findet wieder im Stadion statt, das sich vom Neckarstadion über das Daimler-Stadion zur Mercedes-Benz-Arena gewandelt hat. Wenngleich das Stadion keine Laufstrecke mehr hat, – auch das Fußballstadion gilt als beliebte Ziel-Arena.
Der Stuttgart-Lauf ist kein Stuttgarter Zeitung Lauf mehr; als Sponsoren treten unter anderem Cannstatter Zeitung und Untertürkheimer Zeitung auf. Damit erfährt man, daß es sie gibt. Die Teilnehmerzahl des Halbmarathons ist wieder auf dem aufsteigenden Ast; sie hat mit 7835 geringfügig die Zahl von vor zehn Jahren (7743) übertroffen. Geworben wird freilich mit etwa 20.000 Teilnehmern, da die anderen Wettbewerbe einschließlich Kinderläufen dazugerechnet werden.
Jogging mit Kind – alles ist möglich
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Stadtführung oder Aufmunterung?
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Es war die 20. Veranstaltung dieser Art. Da man heute mit Jubiläumsanlässen ziemlich großzügig umgeht, ist die Zwanzig – statt der 25. Wiederkehr – schon als Jubiläum begangen worden.
An drei Stellen, dort wo mein falsches Parken noch am einfachsten möglich war, habe ich mir den Lauf angesehen. Etliche Läufer waren wieder kostümiert, und auch Michel Descombes, nun in M 70 – wie die Zeit vergeht! – war am Ende wieder dabei. Nimmt man dazu Gehbehinderte und Übergewichtige, bot sich ein echter Volkslauf dar. Als letzte Einlaufzeit wurden 3:50:06 Stunden registriert.
Photos: Sonntag
Eine meiner ersten Lauferfahrungen war: „Es genügt nicht, Strecken zu markieren. Man sollte sich mehr um die Teilnehmer kümmern.“ Geschrieben nach etwa anderthalbjährigem Training, veröffentlicht am 6. Oktober 1967 in der „Stuttgarter Zeitung“. „Quo vadis, Volksläufer?“ fragte ich, „Weniger Organisationseifer und mehr Anleitung, dann kommen wir schon hin – nämlich zur Breitenwirkung des Sports. Darüber nachzudenken, zahlt sich vielleicht sogar für die Vereine und damit für den Leistungssport aus.“
Das Nachdenken ließ noch auf sich warten. Erst 1974 wurden die ersten offiziellen Lauftreffs gegründet. Noch etwas fiel mir damals auf: Immer wurden die positiven medizinischen Wirkungen des Laufens betont. Doch an mir selbst und an anderen beobachtete ich: Ebenso eindrucksvoll sind die psychischen Wirkungen. Wieso eigentlich kümmerte sich die Psychologie nicht darum?
Meine Frage beruhte auf Unkenntnis. Es gab einen, der darüber nachdachte. Nur sprach und schrieb er noch nicht darüber, sondern sammelte Erfahrungen. Es ist der diplomierte Psychologe und Hochschullehrer Professor Dr. Alexander Weber gewesen. Er nahm das Lauftraining ungefähr um dieselbe Zeit wie ich auf, bildete laufende Klientengruppen, beispielsweise von Alkoholikern, und registrierte, was geschah. Er publizierte, trat auch dem Deutschen Verband langlaufender Ärzte und Apotheker bei und schritt dann zur Tat. Er stellte die Lauftherapie auf die Beine und gründete – so der spätere Name – das Deutsche Lauftherapiezentrum (DLZ). |
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Professor Dr. Alexander Weber
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Das ist jetzt 25 Jahre her, und das Jubiläum ist am Wochenende in Bad Lippspringe, dem Sitz der Institution, gefeiert worden. Vier Aufgaben hat sich das DLZ gestellt, nämlich die Lauftherapie in Theorie und Praxis, in Forschung und Lehre zu fördern, sich für die Anerkennung und Anwendung der Lauftherapie in der Praxis einzusetzen, Vorträge, Seminare, Kurse, Tagungen und Workshops zu veranstalten und Lauftherapeuten, Laufpädagogen und Laufgruppenleiter aus- und weiterzubilden. Diese Ausbildung ist 1991 begonnen worden. Seither sind 21 Kurse veranstaltet und etwa 400 Lauftherapeuten zertifiziert worden. Etwa 6000 Menschen haben Veranstaltungen des DLZ besucht.
Alexander Weber hat den Aufbau bedachtsam und gründlich vorgenommen. Die Teilnahme an der Aus- und Weiterbildung setzt einen psychosozialen Beruf voraus. Der Kurs erstreckt sich über 14 Monate. Das bedeutet jeweils einmal im Monat eine Reise nach Bad Lippspringe zu einem Wochenend-Unterricht und ein sechstägiges Kompaktseminar sowie Hospitationsstunden in der praktischen Lauftherapie. Alles in allem stehen Professor Weber 27 Dozenten zur Verfügung; zwei davon kommen aus der eigenen Familie: Dr. med. Cora Weber und Urs Weber, Redakteur der deutschen „Runner’s World“. Eine solche Ausbildung ist auch in München vorgesehen.
Webers Initiative hat auch die Wirkung eines Beispiels gehabt. Vor zehn Jahren gründete Professor Ulrich Bartmann mit der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie ein ähnliches Institut in Würzburg. Bartmann war, wie er selbst mitgeteilt hat, ursprünglich angetreten, die Ansichten Alexander Webers zu widerlegen. Aus dem Saulus ist ein Paulus geworden…
Als Weber das Deutsche Lauftherapiezentrum ins Leben rief, gab es den Begriff „Lauftherapie“ in der deutschen Sprache noch nicht. Jetzt kann man im Internet unter diesem Stichwort viele Seiten unter diesem Begriff anklicken. Laufen therapeutisch zu nutzen, - diese Vision hat der angesehene amerikanische Psychiater Thaddeus Kostrubala gehabt. Wolfgang W. Schüler, Dozent am Deutschen Lauftherapiezentrum, hat ihn vor nicht langer Zeit besucht; seine Besprechung des 1976 erstmals erschienenen und nun wiederaufgelegten „The Joy of Running“, in dem Kostrubala seine Ansichten vom Laufen vertritt, steht in LaufReport. 1984 erschien „Running as Therapy“ von M. L. Sachs und G. W. Buffone. Kostrubala hat seine Erkenntnisse und Absichten nicht in eine reale Handlungsweise umsetzen können; er hält die Realisierung in Deutschland für vorbildlich. Weber ist immer auch bemüht gewesen, das Ausbildungskonzept veränderten Einsichten anzupassen.
Die zertifizierten Lauftherapeuten haben sich zu einem praxisnahen Verband zusammengeschlossen. Wie Lauftherapeuten ihre Ausbildung auswerten, ist unterschiedlich. Eine Anzahl von ihnen hat eigene Laufschulen gegründet oder integriert das Laufen in ihre therapeutischen Angebote, andere stehen zumindest nebenberuflich in sozialen Diensten oder wenden ihre Erkenntnisse in Laufgruppen an. Es ist das Verdienst Alexander Webers und seiner Mitarbeiter, daß Therapie auf der Basis gemeinsamen Laufens ein seriöses und anerkanntes Angebot ist. Der Ruf des Lauftherapiezentrums ist auch nach Österreich und in die Schweiz gedrungen.
Es versteht sich, daß die Jubiläumsveranstaltung in Bad Lippspringe nicht nur aus Vorträgen und Festreden bestand; gefeiert wurde auch laufend. Der 21. Kurs hat zudem einen siebentägigen Lauf von München nach Bad Lippspringe organisiert, dessen Läufer am 15. Juni von den Festteilnehmern empfangen worden sind.
Der Mythos von Biel ist vorbei – es leben die Bieler Lauftage! Das könnte die Formel sein, die das gegenwärtige Bild der Bieler Lauftage beschreibt. Die erste Aussage fiel am Sonntag beim Frühstück im Hotel: Der Mythos von Biel ist vorbei.
Das mag negativ klingen. Es gibt zum Beispiel eine ganze Anzahl von Läufern, die dem Eisstadion nachtrauern. Dabei hat das Eisstadion nur eine langjährige Phase der Entwicklung bedeutet. Weder wurden hier die ersten Bieler 100-Kilometer-Läufe gestartet noch hat es den Komfort der Turnhalle Esplanade geboten. Der „Mythos von Biel“ hat sich in den Erzählungen abgespielt. Sicher, für die Entwicklung war das in der Laufszene wohl wichtig. |
Aber was nach emotionalem Verlust klingt, nach Verlorenem, ist auch ein Fortschritt. Die Lauftage von Biel sind in der Gegenwart angekommen. Sie sind das, was man ein Event nennt, ein Ereignis erster Güte. Und zwar eben nicht nur für die Teilnehmer, sondern in großem Umfang auch für die Öffentlichkeit. Wahrscheinlich ist das inzwischen, im 55. Veranstaltungsjahr, auch von der Verwaltung erkannt worden.
Start und Ziel am Kongreßgebäude mitten in der Stadt. Von dort gibt es keinen Weg mehr zurück. Der 100-Kilometer-Lauf beginnt und endet als Stadtmarathon, ganz ohne den Mythos der „Verrückten“, der Außenseiter. In diesem Jahr hat man am Tage vor dem Start der Wettbewerbe einen „Lauf für alle“, eine Anderthalb-Kilometer-Runde für jedermann (der ein Startgeld zahlt), vorgeschaltet, eine Demonstration des Laufens, die den Start zum Ultramarathon weniger exotisch macht. |
Eine andere Neuerung hat sich zwangsläufig ergeben, ist aber von nicht wenigen als Attraktion wahrgenommen worden. Das Festzelt konnte wegen Bauarbeiten nicht am alten Platz aufgebaut werden; man hat kurzerhand die Silbergasse damit überbaut und die Strecke ohne Änderung durch das Zelt geführt. Das ist von Läufern wie von Zuschauern als Vorzug begrüßt worden.
Die „Zieldarstellung“ der Einlaufenden beginnt früher, und Zuschauen ist nun sitzend möglich. Das sollte man, wenn man Stunden am Ziel verbringt, nicht geringschätzen. Siegerehrungen sind zudem nun in das Laufgeschehen eingebunden. Freilich, die ersten Gratulationen finden nun bereits etwa 100 Meter vor der Ziellinie statt und verlängern die Laufzeit. Doch wer wollte so kurz vor dem Ziel noch mit Sekunden geizen! |
In einer Zeit, in der in Deutschland Zehntausende vor dem Hochwasser fliehen mußten, ist auch dies bemerkenswert: das Laufwetter. Bei sommerlicher Wärme ist gestartet worden, die Temperatur kühlte in der Nacht auf 11 Grad ab. Regenschauer gab es erst etwa eine Stunde nach dem Zielschluß des 100-km-Laufs. Man konnte als Laufbekleidung alles Mögliche sehen, einerseits Laufhose und ärmelloses Laufhemd, einen Läufer sah ich mit freiem Oberkörper ins Ziel laufen, andererseits aber nachts auch Teilnehmer mit Handschuhen.
Erstmals habe ich die Bieler Lauftage allein als Zuschauer erlebt. Das ist so einfach nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich nach der Beobachtung des Starts das Parkhaus mit meinem Auto wiedergefunden hatte. In dieser Zeit hatten die 100-km-Läufer bereits vier Kilometer zurückgelegt. Dann steuerte ich Aarberg an, das war die leichteste Übung.
Doch in Aarberg brauchte ich viel Zeit, einen Parkplatz zu finden. Offenbar hatte die Laufveranstaltung - mit dem ersten Wechsel der Staffelläufer - einen erklecklichen ruhenden Verkehr generiert. Der Zufall schließlich verhalf mir zu einer Parkmöglichkeit; auf meiner Suche machte ein wegfahrendes Fahrzeug eine Lücke frei. Da hatten die Führenden längst schon die Brücke und den Markplatz passiert. Doch nun konnte ich in aller Ruhe den Empfang der Läufergruppen erleben; in meiner 100-km-aktiven Zeit hatte dieser Höhepunkt nur ein, zwei Minuten gedauert. |
Dann fuhr ich über die Autobahn nach Kirchberg. Da kam ich früh genug an, auch die Führenden zu erleben. Für sie war, so schien es, der ganze umfangreiche Infrastruktur-Betrieb nur eine Kulisse; sie schwebten am Buffet vorbei, schneller, als ich die Kamera startklar bekam.
Nun wollte ich mit dem Auto an den Ho-Chi-Minh-Pfad heran, da gab es ja in Utzenstorf eine Verpflegungsstation, die mit dem Auto erreichbar war. Das Navigationssystem führte mich richtig nach Utzenstorf; aber die Straße über die Emme konnte ich in der Dunkelheit nicht finden, verfranzte mich auch im Gewirr totlaufender Wohnsträßchen und würde mich wohl jetzt noch dort befinden, wenn ich nicht kurz entschlossen als nächste Station Biberist eingegeben hätte. Siehe da, die Straße kreuzte die Laufroute. Das ist die Stelle bei der Bahnüberquerung. Hier konnte ich bequem parken und auch eine Stunde dem Morgen entgegenschlafen.
Die 100-km-Läufer haben hier etwa zwei Drittel der Strecke zurückgelegt. Wenn ich an die Jahre denke, in denen ich schon hier zu kämpfen begonnen hatte, fand ich die Läuferkette, die hier auf Biberist zutrabte, in sehr guter Verfassung. Das Trainingsniveau hat sich, wie mir auch andere bestätigt haben, erheblich verbessert. Zwar kann man am Sonntag sportlich Gekleidete ausmachen, die sich sehr gemessenen Schrittes vorwärts bewegen; aber ich habe niemanden mehr gesehen, der eine Treppe rückwärts hinuntergegangen wäre, um die Spannung im Oberschenkel zu mildern.
Die Passage in Bibern, nach Kilometer 76, wollte ich mir ansehen; ich wurde weitergewunken – in den Ort hinein und wieder hinaus. Auto an Auto parkte hier. Um zur Strecke zurückzukehren, hätte ich wohl zwei Kilometer zurück gehen müssen. Bibern, das letzte Finish meines 100-km-Laufs im Jahr 2010, mußte ausfallen. Also nach Büren an der Aare, etwa Kilometer 87. Die Läufergruppen, die zu einer Kette zusammengeschmolzen waren, haben sich vereinzelt. Wer 100 Kilometer läuft, muß auch lernen, allein zu laufen. |
Ein Fahrradbegleiter sprach mich an. Ich muß wohl ziemlich verständnislos geguckt haben. Er erinnerte mich: Peter Camenzind. Er hat den Bieler Hunderter 1990, 1991 und 1996 gewonnen und dabei mit 6:37:59 Stunden den Streckenrekord aufgestellt.
Zum Frühstücken an der Strecke war es mir zu kalt. Ich fuhr nach Biel und setzte – setzte! – mich an den Zieleinlauf. Und reflektierte. Die Spitzenleistungen sind sicher nicht besser geworden; mag auch sein, daß die Spitzenläufer auf anderen Veranstaltungen zu finden sind. Doch das Leistungsniveau insgesamt ist sichtbar gewachsen. Der Mythos von Biel ist vorbei – es leben die Bieler Lauftage!
Photos: LaufReport
Das Leben kann grausam sein, so grausam, daß es keinen Trost gibt.
Ein Mann, 56 Jahre alt, fährt zum Rennsteiglauf und übernachtet in Frauenwald bei Schmiedefeld. Er will um 6 Uhr in Eisenach zum Supermarathon starten. Das bedeutet, er muß mit dem Autobus des Veranstalters zum Start fahren, der Schmiedefeld um 3.15 Uhr verläßt und in etlichen Stationen hält. Um 4.05 trifft er in Oberhof am Bus-Bahnhof ein. Um 5.15 Uhr wird er in Eisenach sein. Der Mann, der in Frauenwald übernachtet hat, muß also nach Schmiedefeld gehen oder laufen. Dazu benützt er eine Abkürzung. Doch da stellt sich ihm ein eiserner Zaun entgegen. Der Mann klettert auf den Zaun. Gewiß, man klettert nicht über Zäune, schon gar nicht nachts; aber er muß unbedingt den Autobus nach Eisenach erreichen. War er zu hastig, war er zu aufgeregt? Er verletzt sich an einer Eisenspitze, und zwar so unglücklich, daß eine Schlagader getroffen wird. Um diese Zeit ist in Frauenwald niemand unterwegs. Der Mann hat ein Mobilphon bei sich; wahrscheinlich will er damit noch Hilfe herbeirufen. Doch es ist zu spät; der Mann verblutet. Etwa zur Startzeit wird er tot aufgefunden. Das Leben eines Läufers, der fit genug gewesen ist, den Supermarathon zu bewältigen, ist innerhalb ganz kurzer Zeit zu Ende.
Das Leben kann grausam sein, so grausam, daß es keinen Trost gibt.
Von dieser Tragödie habe ich erst am Montag erfahren. Es bleibt nur die Trauer, das Mitleiden mit den Angehörigen.
Die Tragödie am Rennsteig hat ein Satyrspiel. Vor Jahren hat mir ein Posten am Grenzadler bei Oberhof die Geschichte erzählt. Ein Läufer stürzt. Das kommt auf einer Strecke wie dem Supermarathon-Kurs des Rennsteiglaufs nicht gar so selten vor. Meistens kommt man mit einer Hautabschürfung davon und kann weiterlaufen. Doch der Gestürzte wurde in Sekunden puterrot; er bekam keine Luft mehr. Jener Posten, der mir das erzählt hat, war jedoch Augenzeuge des Sturzes und der unerwarteten Folge. Seine Aufmerksamkeit, seine Erfahrung, seine Intelligenz oder was immer führten ihn zur sofortigen und richtigen Reaktion: Der Gestürzte trug eine Zahnprothese; bei dem Sturz hatte sie sich gelockert und unglücklicherweise die Luftröhre blockiert. Der Posten griff dem Gestürzten in den Mund und entfernte die Prothese. Der Mann, wieder bei Atem, war gerettet. Er konnte sogar den Lauf nach Schmiedefeld fortsetzen.
Wem immer dies passiert ist, ich denke, ich sollte das Vorkommnis nicht für mich behalten. Je mehr wir erfahren, was alles vorkommen kann, desto schärfer kann unsere Umsicht werden.
Die Veranstaltung: Zum zwanzigsten Mal bin ich nun am Rennsteig gewesen, wenn man meine Fahrradtour 1950 nicht rechnet. Vierzehn Mal bin ich den Supermarathon gelaufen, zuletzt gelaufen und gegangen. Die Marathonstrecke kenne ich und die Nordic-Walking-Strecke von Schnepfenthal nach Oberhof, nun auch die 17 Kilometer der Familienwanderung von Oberhof nach Schmiedefeld. Auch den westlichen und den östlichen Abschnitt des Rennweges bin ich im Verlauf des GutsMuths-Rennsteiglaufs, ohne Wertung, gelaufen. Mein Fazit lautet: Ich kenne keine Veranstaltung, die eine solche Verflechtung von Strecken für Leistungssportler wie für alte Läufer ausweist wie diese hier. Verflechtung bedeutet: Es ist keine Addition von Strecken, sondern man ist, auf welcher Strecke auch immer, eingebunden in die eine große Veranstaltung. Schmiedefeld ist für einige Stunden eine Läufer-Hauptstadt. Wer wie die Schnepfenthaler Nordic-Wanderer nicht zu Fuß in Schmiedefeld ankommt, hat doch unterwegs für eine Weile die Begegnung mit den Supermarathonläufern, die in Eisenach gestartet sind.
Beim Wandern hat man Zeit, sich am Beerberg zu einem
Gruppenphoto zu arrangieren.
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„Familienwanderung“, das ist wörtlich zu nehmen. Kinder
machten mit, die kleinsten auf den Schultern des Vaters
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Die Strecken: Angesichts von über 15.000 Teilnehmern auf Wanderwegen, einer überraschend hohen Zahl für ein Jahr nach dem 40-Jahr-Jubiläum, hat man die Veranstaltung weiter diversifiziert. Die über 6.000 Halbmarathonläufer sind in Oberhof auf der Tambacher Straße gestartet, wir Geher und Wanderer auf dem Sportplatz, und die Laufstrecke trennte sich mehrfach von der Gehstrecke. Infolge des feuchten Wetters waren die Wege ziemlich aufgeweicht; dennoch – kein Vergleich mit dem Zustand zur DDR-Zeit! Welches Glück, daß es am Samstag bis zum Abend trocken blieb! Es war kühl, doch es war gutes Laufwetter und auch für uns Wanderer erträglich. Der Anblick einiger Läufer in Shorts, kurzärmeligen T-Shirts und Handschuhen mag nur für Außenstehende ungewöhnlich gewesen sein; im Grunde waren sie richtig angezogen. Zum fünfzehnten Mal habe ich diesen Streckenteil der Supermarathon- und Halbmarathonstrecke zurückgelegt, nun ganz hinten in der „Kinderabteilung“; diesmal habe ich Zeit für die Strecke gehabt.
Begegnungen: Ein ungewohntes Gefühl – bei der Familienwanderung bin ich nicht mehr allein geblieben. Vor mir und hinter mir Wanderer, wir machten zu unterschiedlicher Zeit Pausen, ich brauchte sie zum Photographieren, endlich konnte ich eine Spiegelreflex statt der Kompaktkamera mitführen; insgesamt hatten wir ungefähr dieselbe Gehgeschwindigkeit. Zweimal machten mich Mit-Wanderer darauf aufmerksam, daß mir der Schnürsenkel aufgegangen war. Ich hatte vorsichtshalber die Wanderschuhe statt der Laufschuhe gewählt, und ein Schnürsenkel war defekt. |
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Verpflegungsstelle an der Suhler Hütte
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Die Wanderstöcke, zu denen ich mich entschlossen hatte, waren für mich durchaus angebracht. Eine Wanderin, die mir im Wald entgegenkam, sprach mich an: Ob ich nicht die Gummistopfen entfernen wolle? Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie mir einen Stock aus der Hand und nahm den Gummiaufsatz vom Stock. Sie hatte ja recht. Für den Kopf hatte ich irgendeine speckige Schirmmütze gegriffen, es war eine vom New-York-Marathon. Obwohl das Emblem kaum erkennbar war, sprach mich ein Mitwanderer an. Ein anderer fabulierte hinzu: Ich sei immer vor ihm gewesen, und er habe mich nicht überholen können. Zwei Marathonläufer unter den Familienwanderern, ich war nicht allein. In Schmiedefeld, auf dem letzten Kilometer, umarmte mich Natalia, was sie mindestens fünf Sekunden kostete. Ich sagte schon: Ich war nicht allein.
Supermarathon-Läufer oberhalb von Schmiedefeld
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Nach etwa acht Stunden in Schmiedefeld
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Das Fazit: Ein bißchen Wehmut ist zwar im Spiel, wenn man von der Supermarathon-Strecke über den Marathon und im vorigen Jahr die 36-Kilometer-Nordic-Walking-Strecke zur Familienwanderung abgestiegen ist; aber man kann sich nach wie vor als Teil der Veranstaltung im Thüringer Wald fühlen. Die Tradition, auf die man beim OK des Rennsteiglaufs abhebt, scheint eben nicht bloß ein Reklame-Argument zu sein.
Photos: Sonntag
Alles was ich heute hier schreibe, entstammt dem Internet. Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, mir die Aktion ein paar Stunden lang anzusehen. Doch das Alter hat seinen Preis. Ich mochte nicht verreisen. Schon gar nicht zu Pfingsten. Es wären zwar am Freitag nur zweieinhalb Autostunden gewesen, aber die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Lindau hätte sich zu Pfingsten auch verdoppeln können. Den Zeitaufwand habe ich gescheut. Also habe ich geklickt.
Nun aber bitte erst einmal die Information: Mark Hofmann aus München hat die 1. Vegane Ultramarathonstaffel auf der B 12 von Lindau im Bodensee (ja, größtenteils im!) über München nach Phillipsreut an der tschechischen Grenze veranstaltet. 9 Staffeln haben die etwa 440 Kilometer lange Strecke vom Freitag bis zum Pfingstsonntag zurückgelegt, jede Staffel etwa 50 Kilometer. Werbung für vegane Ernährung? Ja, sicher auch. Mark Hofmann, Jahrgang 1976, bezeichnet sich als „ganz normalen Hobbysportler, der auf seine Art und Weise einen Weg gefunden hat, vieles unter einen Hut zu bringen“. Erst im Jahr 2010 fand er zum Laufen, und es packte ihn. Im Oktober 2011 lief er seinen ersten Marathon – „Es war ein unglaubliches Ereignis. Eine fantastische Selbsterfahrung und ungeachtet der Qualen eine Belohnung für die letzten zwölf Monate, in denen ich fünf Mal pro Woche mehrere Stunden trainierte.“ Wie ist er Veganer geworden? Nach dem Konsum einer fleischhaltigen Mahlzeit habe ihn ein starkes Gefühl des Ekels und der Schuld überkommen. „Ich erkannte plötzlich, daß ich Teil von etwas Furchtbarem war und dies nie wieder sein wollte.“ |
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Der vegane Läufer Mark Hofmann
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Höchste Zeit für meinen Kommentar. Es kann als sicher gelten, daß viele Menschen nur aus Konvention Fleisch essen. Eine kleine Anzahl davon ißt Fleisch am liebsten so, daß die Tier-Teile, die auf dem Teller liegen, nicht mehr als einem Tier zugehörig erkennbar sind. Zu diesen Menschen zählte ich einst auch. Ich aß Fleisch, weil ich es so gewöhnt war, verabscheute jedoch einen Vogel, der mir im Krieg als Mahlzeit angeboten worden war, und für Marianne war es sicher eine Enttäuschung, daß ich die Taube, die sie auf dem Markt gekauft hatte, nicht essen mochte. Vielleicht hängt diese Scheu mit der Tötungshemmung zusammen, die wohl den meisten von uns zu eigen ist. Die Selbsterkenntnis von Mark kommt für mich nicht überraschend.
Ich bin 1981 durch den Deutschlandlauf der Pilotstudie von Professor Klaus Jung zum Vegetarier geworden. Mark hat es aus eigener Einsicht geschafft, und er ist gleich zum Veganer geworden. Vegane Ernährung bedeutet im Gegensatz zur vegetabilen Ernährung, daß man auf jegliche Nahrung vom Tier, also auch Milcherzeugnisse, Eier und Honig, verzichtet. Das klingt konsequent, ist es aber nur eingeschränkt, nämlich nur dann, wenn man auch auf Lederschuhe, Ledergürtel und anderes vom Tier verzichtet. Das Argument, Lederwaren könne man auch vom nicht geschlachteten Tier gewinnen, ist die pure Theorie.
Mark Hofmann hat eine Aktion ins Leben gerufen: Laufen gegen Leiden. Er will auf die „schrecklichen Dinge“ der Massentierhaltung und der Doppelmoral hinweisen und denjenigen helfen, die dagegen kämpfen. Sein Staffellauf auf der B 12 dient einer Spendenaktion für die Tierschutz-Stiftung Hof Butenland. Dies ist ein „Altersheim“ für Kühe, betrieben von dem Landwirtschaftsmeister Jan Gerdes, der zunächst einen konventionellen, dann einen Demeter-Hof bewirtschaftet hat und nun vegan lebt. Er will Tieren ein nutzfreies Altern ermöglichen. Ich habe erst auf der Website (www.stiftung-fuer-tierschutz.de/tierschutz_stiftung.html) erfahren, daß Kühe bis zu dreißig Jahre alt werden. „Fleisch“-Rinder werden nach der Mästung getötet, „Milch“-Rinder im Durchschnitt nach fünfeinhalb Jahren, sobald sie nicht mehr „rentabel“ sind. Man mag einwenden, daß im Zeitalter der Massentierhaltung eine solche Alters-Initiative wie Hof Butenland ein Tropfen auf den heißen Stein sei. Doch – das ist auch die Überzeugung von Gerdes – es kommt darauf an, wenigstens Zeichen zu setzen.
Das hat sich auch der Läufer Mark Hofmann gesagt und sammelt für Hof Butenland. Seine Botschaft ist verstanden worden. Er konnte neun Gruppen aus veganen Läufern bilden, die jeweils eine 50-Kilometer-Etappe zurücklegten. Nach 54 Laufstunden und 4253 Höhenmetern war das Ziel erreicht; alle Teilnehmer haben ihre Aufgabe gelöst. Der Lauf auf der Bundesstraße 12 oder parallel zu ihr ist eine Anspielung auf das Vitamin B 12, von dem behauptet wird, vegane Läufer würden nur unzureichend mit ihm versorgt. Ich erinnere mich, daß einst auch gegen vegetarische Ernährung „wissenschaftliche“ Vorurteile erhoben worden waren. Inzwischen gibt es genügend leistungsstarke Läufer in der Welt, die sich vegan ernähren. Das Buch eines veganen Läufers werde ich demnächst vorstellen. |
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Die neunte Gruppe ist am Ziel (von links: Mark Hofmann,
Christian Bierbaum, Ute Zentgraf, Jörg Just)
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Photos: Ultramarathonstaffel
Erst dem Mai-Heft der „Laufzeit“ habe ich entnommen: Heinz Spies ist tot. Auf mehreren Internet-Seiten hätte ich es vorher lesen können. Doch wer kann schon wöchentlich all die zahlreichen Läufer-Websites anklicken! So kommt es, daß ich nach einer fehlerhaften Eintragung – der NDR hat in seiner Übertragung vom Hannover-Marathon das Jubiläum von Christian Hottas doch erwähnt, und zwar in jener Minute, in der ich das Fernsehgerät verlassen hatte – eine verspätete Eintragung mache. Doch es ist mir auch ein persönliches Bedürfnis, Heinz Spies zu würdigen. In einem Nachruf könnte es heißen: Das Leben eines Laufpioniers hat sich vollendet. Doch das Leben von Heinz Spies hat sich nicht vollendet, es ist zu Ende gegangen. Nach sechs Herzinfarkten und einer Krebserkrankung ist er im Alter von 78 Jahren gestorben. Vollendet hat sich dieses Leben in Bremen deshalb nicht, weil Heinz Spies unentwegt organisiert und geplant hat. Er hatte sich vorgenommen, den Kinderlauf zu fördern und sich wie früher schon einmal mit dem Barfuß-Laufen zu befassen. |
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Heinz Spies 1988
Fotoarchiv © Gustav Schröder |
In einem Interview des „Weser-Kuriers“ vom 1. Februar dieses Jahres lese ich: „Ab März will ich mich wieder aufbauen, nach meinem System Trainingsmix, das ich in meinem Buch erkläre. Das heißt, ich will das ganze komplexe System mit Rollator-Gymnastik verbinden. Wäre ja ganz schön, wenn ich eine Gruppe hätte. Aber alles aus Spaß und Freude – nicht auf Leistung.“ Heinz Spies hätte, auch wenn er länger gelebt hätte, sich nicht zur Ruhe gesetzt.
In dem Interview schildert er seinen ungewöhnlichen Tageslauf: Um zehn Uhr abends ging er zu Bett, schlief vier Stunden und arbeitete dann ungestört bis um vier Uhr morgens, legte sich wieder zu Bett und schlief abermals vier Stunden, bis acht Uhr. Früher sei er jedoch schon um sechs Uhr morgens wieder laufen gegangen. Heinz Spies war das, was man gewöhnlich einen unruhigen Geist nennt. Das hat die Zusammenarbeit mit ihm wahrscheinlich nicht erleichtert. Seine Website, die man noch jetzt lesen kann, wirkt chaotisch. Mit großen Worten sparte er nicht. Dabei hat er ja wirklich Großes geleistet.
1934 in Rotterdam geboren, kam er auf Betreiben seiner Großmutter 1938 nach Bremen, lebte, nachdem das Haus in Bremen durch Bomben völlig zerstört worden war, drei Jahre in Polenz nahe dem Elbsandsteingebirge und trat 1946 in den Sportverein TURA Bremen ein. Damals bereits führte er, wie er mitgeteilt hat, ein Lauftagebuch. In diesem Alter von zwölf Jahren habe er als Assistenztrainer für Lauf im Handball fungiert. Während seiner Zimmermannslehre sei er sehr oft, nämlich mindestens dreimal wöchentlich, von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück gelaufen, das machte 24 Kilometer. Den Lauf zur Arbeit, den Fred Lebow propagierte, Heinz Spies hat ihn praktiziert, noch ehe alle liefen. 1953 trat er in den Polizeidienst ein, machte das Abend-Abitur, nahm das Fernstudium Kriminologie sowie später Molekular-Biologie auf und war Kriminalpolizist in Bremerhaven, nach seiner Angabe der jüngste in der Bundesrepublik. Für 1960 hat er die Einführung der Laufmethode nach van Aaken und Lydiard angegeben. 1966 veranstaltete er in Bremen den ersten norddeutschen Volkslauf, drei Jahre nach dem ersten deutschen Volkslauf. Die Zahl der Teilnehmer gab er mit 3865 an, das sei der weltweit größte Volkslauf gewesen. 1982 erfand er die Bezeichnung „Marathoni“ und „Marathona“ für die Marathon-Teilnehmer, einen Begriff, der in die Sprache der Läufer und den Duden eingegangen ist. 1983 veranstaltete er den 1. Bremen-Marathon, zwei Jahre nach den beiden ersten deutschen City-Marathonen. 1985 endet sein Bremen-Marathon in einer Halle; Frankfurt am Main und Davos sind später diesem Muster gefolgt.
In seiner biographischen Tabelle nennt Heinz Spies, der immer wieder auch mit seinen Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte, seine Laufleistungen; die persönliche Marathon-Bestzeit betrug 2:40:23 Stunden („aus dem Mittelstreckentraining und so zum Spaß“). Der Tabelle kann man seine berufliche Aktivität – 1964 beendete er seine Beamtenlaufbahn und schloß einen Vertrag mit McKinsey ab, seine Frau gründete eine Agentur für Direktwerbung und Zeitungsvertrieb –, seine Ehrenämter und seine organisatorischen Bemühungen um Lauftraining und -veranstaltungen entnehmen. Immer wieder hat er auf mangelnde Unterstützung und Behinderung durch Funktionäre des Leichtathletik-Verbandes hingewiesen. Die Terminierung des 1. Hamburg-Marathons auf den Termin des Bremen-Marathons machte dies in der ganzen Bundesrepublik deutlich. Heinz Spies gehört wie Otto Hosse zu denjenigen, die meine Distanz zum Deutschen Leichtathletik-Verband begreifbar gemacht haben.
Mit Herzschmerzen begann 1997 seine Krankengeschichte. Verständlich, daß seine Teilnahme am historischen Marathon 2004 in Athen (5:54 Stunden) ein überwältigendes Ereignis für ihn war.
Heinz Spies hat mir im vorigen Jahr eine CD mit seinem Laufbuch „Das Jahrhundert-Rennen“ geschenkt. Ich habe mich mit dem Konzept, der Verbindung von Roman und Lexikon, nicht anfreunden können. Die Roman-Handlung überzeugt mich nicht. Ich fürchte, daß sich sein Ziel, 1,5 Prozent der Läufer für das Buch und damit eine Auflage von 75.000 gewinnen zu können, nicht erreichen läßt. Andererseits vermittelt das Buch einen Querschnitt durch die Aktivitäten von Heinz Spies. Auf diese Weise ist das „Jahrhundert-Rennen“ zu seinem Lauf-Testament geworden.
Im großen Ganzen hat sich im Verlauf der Jahrzehnte die Marathon-Berichterstattung im Fernsehen verbessert. Nun ja, wenn in Hannover sogar der Ministerpräsident zu 10 Kilometern startet… Nach langer Zeit habe ich mir im Fernsehen wieder einmal einen Marathon angeschaut, nämlich den TUI-Marathon in Hannover, soweit er vom NDR übertragen worden ist. ARD und ZDF, die öffentlich-rechtlichen Anstalten, klinken sich da ja aus; die sind mit Formel 1 und Fußball genügend beschäftigt, die gewünschte Quote zu erzielen. Gegen die Berichterstattung des NDR am Sonntag in Hannover wäre nichts einzuwenden, wenn … .
Die eingeklinkten Spots über Hannover haben ein Bild der Stadt vermittelt. Ich bin zwar einige Male in Hannover gewesen – und hier sogar meine persönliche Bestzeit gelaufen, doch das ist 34 Jahre her –, aber ich kann nicht behaupten, daß ich die Stadt kennte. Die wenigen Erinnerungen, nämlich vor allem an den Maschsee, die Herrenhäuser Gärten und das Wilhelm-Busch-Museum für Karikaturen, sind wieder aufgefrischt worden. Allerdings, auch wenn ich Wilhelm Busch schätze, – die Vorläufer des Comics sind älter, als von einem Berichterstatter behauptet; als „Erfinder“ kann man den Engländer William Hogarth und den Schweizer Rodolphe Toepfer bezeichnen.
Was den Marathon angeht, da war mehrfach die Rede von 16000 Teilnehmern. Ach diese Schönrechnerei! Die 16000 oder sogar 18000 Läufer betreffen die gesamte Veranstaltung. Der Marathon zählte 1533 Finisher. Paßt leider nicht in die Liga der großen City-Marathone.
Die Übertragung dauerte drei Stunden. Dafür kann man Verständnis haben. Die Redaktion war sogar darum bemüht, nach dem Zieleinlauf, jeweils mit Streckenrekord, die Masse der Läufer ins Bild zu setzen. Ein bekannter Läufer war auch darunter, Dieter Baumann, der als Zug- und Bremsläufer der Drei-Stunden-Klasse fungierte (er erfüllte diese Aufgabe mit 2:56:30 – na also!). Nun wartete ich auf den Weltrekord in der Zahl der Marathonläufe, auf den Läufer mit der Startnummer 2000. Den Einlauf nach 5:30:52 konnte man verständlicherweise nicht zeigen. Nach knapp 2:40 Stunden hatte der Weltrekordler gerade einmal die Halbmarathonmarke erreicht. Doch er wurde nicht gezeigt, er wurde nicht einmal erwähnt. Christian Hottas ist, wie angekündigt, seinen 2000. Marathon gelaufen. Er markiert die Weltspitze. Als ob das nicht ein journalistisches Thema wäre, und sei es, daß es kritisch behandelt worden wäre!
Er ist nicht allein gelaufen, sondern hat sich mit einer „Eskorte 2000“ umgeben; das waren etwa 50 Läufer, die teils vor ihm teils nach ihm im Ziel eintrafen. Kein Wort über ihn. Auch in den Pressemitteilungen des Organisators habe ich vergeblich gesucht. Ich schüttle den Kopf. Was drückt sich in der Nachrichten-Auswahl aus? Vielleicht die übliche Fixierung auf die Bestleistung, die zwar das Ziel eines Wettbewerbs ist, aber den gesellschaftlichen Hintergrund einer solchen Veranstaltung völlig ausblendet? |
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Die"Hottas-Eskorte 2000". Dazwischen ist Christian
Hottas im roten Hemd nicht zu erkennen - Foto © Michael Schardt
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Mit Sicherheit kann man vor dem Anlaß schon zu feiern beginnen: Christian Hottas läuft am Sonntag, dem 5. Mai, in Hannover seinen 2000. Marathon. Er ist der Mensch mit den meisten Marathonen (und Ultramarathonen) in der Welt.
Begonnen hatte der mehr oder weniger heimliche Wettbewerb um den Zahlenrekord mit Rolf Brokmeier und Alfred Pohlan, die jeden erreichbaren Marathon sammelten. Das war in den siebziger Jahren, lange vor dem Beginn des Lauftourismus. Horst Preisler und Christian Hottas hatten da noch gar nicht ans Laufen gedacht. Brokmeier nahm das Sammeln sehr ernst; ich durfte einen Blick in seine sorgfältig geführten Listen tun. Alfred Pohlan, der Münchener Marathon-Spaßvogel, betrieb das Sammeln eher beiläufig. Wenn ich nicht irre, kam Brokmeier auf 349 Marathone, Pohlan blieb wohl etwas darunter. Solche Zahlen klingen heute nicht überwältigend; damals jedoch bedeuteten sie, zumindest in der Bundesrepublik, die quantitative Spitze.
Dann betrat Horst Preisler die Laufszene. Er behauptete zwar lange, es nicht auf die Spitze abgesehen zu haben; aber wer erlebt hat, welche Mühen und Entbehrungen er auf sich nahm, um an einem Wochenende zwei voneinander weit entfernte Marathone mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, wird nicht unterstellen, daß dies aus Vergnügungssucht geschehen ist. Am 2. August 2011 ist er von Christian Hottas eingeholt und in der Folge übertroffen worden. Hottas hat im Jahr 1986 zum Laufen gefunden und im Jahr darauf den ersten Marathon zurückgelegt. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß er 27 Jahre lang jährlich 74 Mal Marathon (oder Ultramarathon) gelaufen ist, mit anderen Worten im Durchschnitt jeweils ein halbes Jahr lang in jeder Woche einen und ein halbes Jahr lang zwei. Dies als Arzt für Allgemeinmedizin, Angehöriger einer Berufsgruppe also, die gemeinhin nicht zu den Unterbeschäftigten zählt.
Christian Hottas hat zudem die Laufszene bereichert: Er hat 1999 die Gründung des deutschen 100 Marathon Clubs initiiert und ihn einige Jahre geleitet. Damit ist die Basis geschaffen worden, neutral individuelle Marathon-Teilnahmen zu zählen – sowohl von Mitgliedern als auch nach Möglichkeit von Nichtmitgliedern. Zusammen mit seiner Partnerin entdeckte er, daß man den alten Elbtunnel in Hamburg sehr gut als witterungsunabhängige Marathonstrecke nutzen kann (sie kann nur gegenwärtig wegen der kompletten Restaurierung des Tunnels nicht benützt werden). Schließlich rief er den Teichwiesen-Marathon ins Leben, um damit Marathon-Sammlern die Möglichkeit zu geben, in Hamburg das ganze Jahr hindurch Marathon laufen zu können; Hauptsache ist dabei nur, daß drei Läufer am Start sind. Diese Marathone tragen den Namen einer mehr oder weniger bekannten Persönlichkeit, die am Veranstaltungstag Geburtstag hat; auch das ist eine originelle Idee.
Kritische Geister mögen das Marathon-Sammeln allein zu dem Zweck, eine hohe Teilnahmezahl zu erreichen, in Frage stellen. Ich sehe jedoch einige Argumente, die für die Akzeptanz sprechen: Wie auf anderen Gebieten kann die Medizin Erfahrungen gewinnen. Experimente mit Menschen sind verboten; aber wen es drängt, so viele Marathone wie möglich zu laufen? Wer so oft wie möglich Marathon oder Ultramarathon läuft, wird dies nicht mit Leistungsehrgeiz tun. Christian Hottas benötigt für seine Marathone fünf bis sechs Stunden. Dabei hat er mit einer persönlichen Bestzeit von 2:59:20 und 8:14:51 Stunden für 100 Kilometer gezeigt, daß er es auch durchaus schneller konnte. Für die Laufbewegung insgesamt entfalten Zahlen ihre eigene Magie; wenn Schnelligkeit in Hundertstel Sekunden gemessen wird, warum dann nicht auch die Zahl der Marathone?
Der Wind war eisig. Er trieb mir den Regen scharf ins Gesicht. Anfangs hatte ich noch gehofft, den Regenschauer überwinden zu können. Doch dann entschloß ich mich zur Umkehr – nur noch heim! Nun also zwei Kilometer bei eisigem Gegenwind und scharfkantigem Regen! Die Gehgeschwindigkeit hatte ich verschärft, aber sie ließ sich nicht mehr steigern. Warm wird man auf diese Weise nicht.
Nun ja, die zwei Kilometer schaffte ich. Bloß die nassen Sachen vom Leib und unter die Dusche! - Ein Alltagserlebnis aus dem Läuferleben.
Der Frühling hatte zwei Tage vorher stattgefunden. Deshalb berichte ich von meinem Wintererlebnis im April. Innerhalb von wenigen Tagen hat sich die Topographie gründlich verwandelt. All überall knallgelbe Forsythien, Kirschbäume in Blüte – so schnell kann man gar nicht gucken, wie sich in diesem Jahr die Natur geöffnet hat!
Auch wenn eine solche Beschreibung langweilig klingt – in einem Tagebuch muß dieser Frühling, der innerhalb von Tagen ausgebrochen ist, festgehalten werden. Versteht sich, daß ich die kurze Sporthose und ein kurzärmeliges Laufhemd angezogen habe.
Doch zwei Tage später: Zwar nach wie vor Blüte, aber sonst grimmiger Winter. Jetzt ist das Wetter indifferent. Nach anhaltendem Regen bedeckter Himmel. Hoffnung gibt der Wetterbericht. Es soll wieder wärmer werden. Wir lassen uns doch den Frühling nicht nehmen!
Das Ereignis betrifft uns alle, die wir an Wettbewerben teilnehmen oder zu Laufveranstaltungen reisen. Ich bin zwar in Israel beim Tel-Aviv-Marathon schon auf einer Strecke gelaufen, die von Militärposten mit umgehängter Maschinenpistole gesichert worden ist; aber so richtig ernst haben wir die Gefahr für uns Läufer wohl nicht genommen. Im Gegensatz zu Veranstaltern von großen City-Marathonen. Doch selbst diese treten nun, nach dem Anschlag in Boston, in weitere Beratungen ein. Am dringendsten geschieht dies bei den Veranstaltern des London-Marathons und des Hamburg-Marathons, die beide am selben Sonntag, dem 21. April, stattfinden.
Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal einen Kommentar wie diesen schreiben würde. Wir haben erlebt und erlitten, was alles auf einem Marathon oder Ultramarathon passieren kann: Verletzungen, Magen-Darm-Beschwerden, Krämpfe, Wettereinbrüche, Unfälle. Ein Risiko ist immer dabei. Wir wissen es. Doch daß wir gezielt angegriffen werden? Das ist zwar in mindestens einem Fall schon vorgekommen, galt aber dem führenden Läufer. Wir waren nicht betroffen.
Was sich am 15. April in Boston beim 117. Marathon, dem ältesten noch ausgetragenen Marathon der Welt, ereignet hat, ist ein Anschlag auf uns alle. Mit Sicherheit sind wir nicht gemeint, aber jeden von uns, so sehen wir, kann es treffen. Nicht einmal nur uns, die wir ins Ziel einlaufen wollen, sondern alle, die an der Strecke stehen. Einer der drei Toten von Boston ist ein Achtjähriger, der zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester am Zieleinlauf auf seinen Vater gewartet hat; er hat ihn nach dem Einlauf umarmt, der Läufer ist weitergegangen, der Junge kehrte zu seiner Mutter zurück. Dann explodierte die Bombe, die den Achtjährigen das Leben kostete. Die Mutter ist schwerverletzt worden, die Tochter hat ein Bein verloren. Der Vater im Zielbereich blieb unverletzt.
Von welchem Zynismus mag der oder mögen die Attentäter erfüllt sein? Jede Antwort, vor allem die nach den Terroristen, muß gegenwärtig Spekulation bleiben. Uns bleibt gegenwärtig nichts als die Trauer, der Händedruck nach Boston.
Wir müssen einsehen: Der Marathon als das Aushängeschild des Laufens hat die Öffentlichkeit erreicht. Das bedeutet, wie sich zeigt, auch ein Risiko, das kein persönliches Risiko mehr ist.
Der Vorgang ist kompliziert. Den Lesern von Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie mag ja alles klar sein: „Die Kontroverse, ob der in Traubenschalen und in Rotwein vorkommende Naturstoff Resveratrol imstande ist, das Sirtuin-Enzym SIRT 1 eigenständig zu aktivieren, konnte jetzt in zwei zeitgleich erschienenen Veröffentlichungen gelöst werden.“ Halten wir uns nicht mit der Übersetzung auf, sondern bemerken nur, daß sowohl Wissenschaftler der Universität Boston um den Genetiker David Sinclair als auch eine Arbeitsgruppe an der Universität Bayreuth unter der Leitung von Prof. Dr. Clemens Steegborn in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Mike Schutkowski (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) übereinstimmend zu demselben Ergebnis gekommen sind. Im Grunde sei die Wirkung von Resveratrol bereits vor einem Jahr behauptet worden, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (Prof. Dr. Klaus-D. Döhler); aber die Publikationen seien von der Connecticut Universität dutzendweise gefälscht worden, so daß das ganze Fachgebiet in Mißkredit geraten sei.
Weshalb ich eine Wissenschaftsnachricht – auch noch verstümmelt – wiedergebe, hängt mit der Überschrift zusammen: „Wirkmechanismus von Resveratrol in Rotweinextrakt aufgeklärt – können wir wirklich 150 Jahre alt werden?“ Mag ja sein, daß der Autor die Nachricht damit etwas aufpeppen wollte – was offenbar nicht nur im Journalismus vorkommt – , aber die Vision von der Lebenserwartung 150 Jahre, wenn auch mit Fragezeichen, deutet die Richtung der Forschung an.
Da sollten wir uns an eine Publikation von Dr. Ernst van Aaken zurückerinnern; sie trägt den Titel „Programmiert für 100 Lebensjahre“. Das wurde damals, vor fast vierzig Jahren, schlicht als Provokation empfunden. Wer wurde schon hundert Jahre alt? Doch wir haben in den letzten Jahrzehnten einen signifikanten Anstieg der menschlichen Lebenserwartung zu verzeichnen; männliche Neugeborene haben heute in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von 77 Jahren und 6,3 Monaten, weibliche Neugeborene von 82 Jahren und 7,7 Monaten. Unterschiede zwischen den alten Bundesländern und den Ländern der früheren DDR haben sich fast angeglichen. Vor zwanzig Jahren lebten in Deutschland 2616 Hundertjährige; heute sind es etwa 17.000. Diese Versechsfachung läßt die Differenz zwischen einer Lebensdauer von 100 Jahren und der Vision oder Utopie von 150 Jahren nicht gar so wirklichkeitsfremd erscheinen. Der bisher älteste Mensch, der je gelebt hat, ist 120 Jahre alt geworden.
„Programmiert für 100 Lebensjahre“ – der Titel der van Aakenschen Aufsatz-Sammlung sollte besagen, was der Verfasser in wohl jedem Vortrag verkündete: Man müsse nur laufen, wenn man alt werden wolle. Bewegungsmangel ist zwar ein Risikofaktor, aber Laufen allein genügt beileibe nicht. Das haben wir in der Laufszene leider immer wieder erfahren müssen. Die Objektivität gebietet es festzuhalten, daß die Verlängerung der Lebensdauer, von der wir heute profitieren, wahrscheinlich auf die Fortschritte der Medizin, vor allem der Kardiologie, zurückzuführen sein dürfte. Genauer läßt sich das nicht ausdrücken. Mehrere Faktoren der Langlebigkeit kommen zusammen: außer der Medizin die Änderung des Lebensverhaltens durch Gesundheitsbewußtsein, Ernährung und Sport. Die genetische Ausstattung wird nur zu einem Viertel für die Lebensdauer verantwortlich gemacht.
In diesem Zusammenhang noch etwas zum Nachdenken: Untersuchungen amerikanischer Wissenschaftler beherrschen heute die medizinische Wissenschaft einschließlich der Ernährung. Erst was auf Englisch publiziert worden ist, ist der Weltöffentlichkeit zugänglich. Man kann wohl keine Laufzeitschrift aufschlagen, keineswegs nur die „größte der Welt“, ohne darin nicht irgend ein amerikanisches Untersuchungsergebnis, eine Anleihe aus der amerikanischen Laufwelt oder amerikanische Ernährungsratschläge zu finden. So sehr ich für Wissenschafts- und Praxisaustausch bin, gibt es nicht zu denken, was „Spiegel online“ (am 10. Januar 2013) berichtet hat? Wir lesen: „Die Lebenserwartung von US-Amerikanern ist erschreckend niedrig. Männer liegen in einem neuen Vergleich unter 17 Industrienationen auf dem letzten, Frauen auf dem vorletzten Platz. Die Studie nennt die Ursachen für das schlechte Abschneiden: Unfälle, Drogen und Schußwaffen. Bei den Todesfällen durch Herz-Kreislauf-Krankheiten belegen die USA den vorletzten Platz, bei Todesfällen infolge von Lungenerkrankungen ebenfalls.“
„Wir hatten erwartet, einige schlechte und einige gute Ergebnisse zu bekommen“, zitiert die „New York Times“ laut „Spiegel online“ den Mitautor Steven Woolf von der Virginia Commonwealth University. „Doch die USA liegen bei praktisch jedem Gesundheitsindikator knapp vor oder auf dem letzten Platz. Das hat uns verblüfft.“ Für die knapp 400 Seiten starke Studie waren die Gesundheitsdaten der USA mit denen aus Australien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, der Schweiz und der Niederlande verglichen worden. Die Ergebnisse werden auch deshalb als erstaunlich bezeichnet, weil keines der genannten Länder mehr in die Gesundheit seiner Bürger investiere als die USA; die Pro-Kopf-Ausgaben betragen in OECD-Ländern 3200 US-Dollar, die USA dagegen geben fast 8000 Dollar aus.
Mich überrascht die Studie nicht so sehr. Wer die Augen aufmacht, kann zum Beispiel in vergleichbaren Bildern aus dem Alltagsleben nirgendwo anders soviele erschreckend Adipöse finden wie in den USA. Irgendwie scheint die amerikanische Wissenschaft in der Bevölkerung nicht anzukommen. Ernährungsratschläge, die aus den USA kommen, stoßen daher bei mir zunächst einmal auf tiefes Mißtrauen.
Viel zu früh. Im 60. Lebensjahr, hat Ingeborg Urbach von uns gehen müssen; sie ist am 4. April ihrer schweren Erkrankung erlegen.
Ingeborg Urbach ist mehr gewesen als die Frau eines Ehrenmitglieds der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung, mehr als nur ein Gründungsmitglied der DUV. Sie trat zwar häufig mit ihrem Mann, Helmut Urbach, auf; aber sie ist eine Ultraläuferin von eigenem Profil gewesen. In der Statistik ist größtenteils nachzulesen, wo sie in über dreißigjähriger Ultra-Aktivität gestartet ist. Gewiß, ein Schwerpunkt war ihre Kölner Umgebung; in Brühl hat sie angefangen und ist in Unna und Troisdorf gestartet, hat den Röntgenlauf absolviert und den 48-Stunden-Self-Transzendence-Lauf von Köln. Doch sie war auch beim GutsMuths-Rennsteiglauf, beim Schwäbische-Alb-Marathon, hat in Leipzig den 100-km-Lauf am Auensee in 10:56:15 Stunden zurückgelegt, den 100-km-Lauf in Rodenbach in 9:59:07 Stunden und 24-Stunden-Läufe in Basel und Schmallenberg (192,239 km als erste in W 40). Den Swiss Alpine Marathon hat sie kennengelernt und am Swiss Jura Marathon teilgenommen. Immer wieder ist sie mit Helmut in Biel gestartet, zuletzt in den Jahren 2007 und 2008 (13:46:25). Es war immer ein erfreuliches Bild, Ingeborg und Helmut gemeinsam in einem Lauf zu sehen. | ||
Auf diese Weise haben sie auch den Two-Oceans-Marathon bewältigt. Beim Spartathlon allerdings hat sie ausscheiden müssen, 1996 noch nach 205 km, 1997 noch vor dem Sangaspaß, während Helmut das Ziel in 32:43 Stunden schaffte.
Die andere Seite ihrer Aktivität war die Organisation von Veranstaltungen. Ein Blick auf Helmuts Website nötigt Hochachtung dafür ab, in welchem Maße sich die beiden in der Laufszene von Köln-Porz eingebracht haben. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, daß Ingeborg Urbach schon vor ihrer tödlichen Erkrankung gesundheitlich schwer angeschlagen war. Ihre Aktivität war vermutlich ein Mittel der Lebensbewältigung. Auch in dieser Hinsicht ist sie uns ein Vorbild gewesen. Wer sie nicht gekannt hatte, hätte in dem zierlichen Persönchen mit 40 Kilogramm Körpergewicht kaum ein solches Energiebündel vermutet.
Mit ihrer resoluten Art hat sie hervorragend an die Seite von Helmut gepaßt. Wie Sportfreunde berichten, hat sie ihre Erkrankung mit Würde ertragen.
Die Laufszene ist um eine energiereiche Persönlichkeit ärmer geworden. Mein Mitgefühl gilt vor allem ihrem Partner. Mit Helmut trauern wir um einen Menschen, der uns fehlen wird. In unserer Erinnerung wird Ingeborg weiterleben.
Der neunzigjährige Horst Feiler (jetzt einundneunzig) hat im vorigen Jahr auf einem 24-Stunden-Lauf in Höxter 101,633 Kilometer zurückgelegt. Er dürfte zur Zeit der einzige in Deutschland sein, der in diesem Alter die 100 Kilometer bewältigt. Für uns andere liegt der läuferische Lebens-Zielschluß früher. Nein, keine Trauer. Alles hat einmal ein Ende, so wie alles einmal einen Anfang hat. Wir sind, ohne unseren Willen, in eine bestimmte Zeit hineingeboren; an uns liegt es, das Beste daraus zu machen. Vor hundert Jahren hätte für mich allenfalls die (ganz geringe) Chance bestanden, zu einem Marathon zu finden. Kann ich nicht froh sein, nun zu den frühen Teilnehmern der Ultramarathon-Bewegung zu gehören?
Freilich, die Zeit der aufregenden Ultramarathone hat erst Mitte der achtziger Jahre begonnen, und es scheint, als werde der Ultramarathon erst jetzt in breitem Ausmaß entdeckt, als Ultra-Trail nämlich. An diesem neuen Stadium kann meine Generation keinen aktiven Anteil mehr haben.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Zum einen, sich zurückzuziehen und soviel wie möglich von der eigenen Laufvergangenheit zu vergessen. Die Resignation kann für einen Läufer keine Lösung sein. Dann lieber die andere Möglichkeit: Sich unters Publikum zu mischen und emotional wie gedanklich teilzuhaben an den Ereignissen von heute und morgen. Ich habe mir zu Ostern den Ultralaufkalender angesehen. Auf welchen der noch nicht gelaufenen Strecken würde ich an einer Veranstaltung teilnehmen wollen?
Ganz oben steht für mich der Eigerultratrail, der neue, 101 Kilometer lange Ultramarathon im Berner Oberland. Wenn die Organisation der alpinen Großartigkeit nicht nachsteht, bekommen wir damit eine Spitzenveranstaltung. Vielleicht, obgleich mir die Strecken größtenteils bekannt sind, sehe ich mir die Premiere an. Höhepunkt einer Ultraläufer-Karriere ist außer dem Spartathlon der Ultra-Trail du Mont-Blanc (UTMB). Ihn würde ich, wie seinerzeit den Spartathlon, in Angriff nehmen; allerdings würde ich damit nicht bis nahezu dem Rentenalter warten wollen.
Bei meinem Phantasieplan geht es mir keineswegs um immer größere Herausforderungen, wenngleich der Badwater-Lauf, wie seinerzeit der Comrades, dazugehören sollte. Vielmehr geht es um die Attraktivität der Strecke, soweit ich diese beurteilen kann, ohne sie gelaufen zu sein. Daher würde ich in meine Wunschliste auch den 45 Kilometer langen Lauf über den Petit-Ballon im Elsaß einbeziehen. Keineswegs würde ich mich nur auf Bergläufe beschränken; mich würde auch die Umrundung des Müritz-Sees (75 km) reizen. Nach wie vor ziehen mich neue Laufveranstaltungen wie der Mozart100 und der Dirndltal-extrem an. Wer wie ich immer wieder über den Rennsteig gelaufen ist, wird auch den Thüringenultra mit Start in Fröttstädt schätzen; er ist für mich ebenso wie der Chiemgauer 100-Meilen-Lauf zu spät gekommen.
Ein weiterer Gesichtspunkt: die „vergessenen“ Läufe. Mir ist jetzt noch nicht klar, weshalb ich den Fidelitas-Nachtlauf von Karlsruhe in den Schwarzwald nie gelaufen bin, obwohl ich bis zum Start nur eine einzige Autostunde gebraucht hätte. Unbedingt würde ich den Röntgen-Lauf um Remscheid absolvieren.
Schließlich gibt es Ultralaufveranstaltungen, über die gesprochen wird. Daran würde ich mich gern aus eigener Erfahrung beteiligen. Also müßte ich nach Kienbaum in Berlin-Grünheide und zum Leipziger 100-km-Lauf.
Ich bin sicher: In einem fiktiven Läuferleben würde mich immer wieder aufs neue die Neugier packen.
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