Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 30. Dezember 05

Die Schneefälle luden dazu ein, die Laufstrecke auf Ski zurückzulegen, wenn, ja wenn die Wege nicht geräumt oder festgestampft würden. Ich kann mich erinnern, daß ich vor Jahren auf meiner Laufstrecke Skiläufern auf Wanderski begegnet bin, seit Jahren nicht mehr. In der Kabarettsendung Scheibenwischer am Donnerstag glossierte einer der Kabarettisten sinngemäß: Wenn es früher geschneit hat, sagte man, der Winter sei eingekehrt. Wenn es heute schneit, bezeichnet man das als Schneekatastrophe.

Die gesamte 11-Kilometer-Runde ist auch nach Schneefall gut laufend zu bewältigen. Doch da ich auf dem unebenen Untergrund noch langsamer bin und auch ein Stück länger im Schritt gehe, stellte sich wieder die Folge ein: Nachts wachte ich auf, weil mir die große Zehe wehtat; sie war dunkel verfärbt – eine Erfrierung. Die normalen Laufschuhe sind für Minusgrade nicht geeignet. Haben die Laufschuhproduzenten für diese Witterungslage vorgesorgt? Ich muß mich informieren.

Da ich die Weihnachtsnummer der „Eßlinger Zeitung“ erst zu Weihnachten gelesen habe, erfuhr ich verspätet, daß Walter Bittmann 75 Jahre alt werde. Wir sind uns bisher zweimal begegnet, das letztemal beim Eßlinger Stadtlauf. Im Telefonbuch fand ich Walter Bittmann nicht, und so ist mein Glückwunsch unterblieben. So ist der Mensch.

Anruf von Harry Arndt: Zwanzig Jahre sei es nun her, daß wir am 29. Dezember die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung gegründet haben. Einige träfen sich bei ihm in Rodenbach. In Anbetracht der unsicheren Witterung habe ich abgesagt. Ich wäre gern dabei gewesen, weil es mir heute nach dem Schisma der Ultralangläufer wichtiger denn je erscheint, menschliche Verbundenheit zu zeigen.

Aus Faulheit habe ich einigen Neujahrsglückwünschen, die ich dafür kurz halten konnte, einen Rundbrief beigefügt, einen Rückblick auf mein Lauf- und Lebensjahr 2005: Das Laufjahr, soweit es sich in Veranstaltungsterminen widerspiegelt, begann ziemlich spät. Eine hartnäckige Bronchitis war daran schuld. Ich folgte ärztlichem Rat und lief erst wieder, als die Bronchien einigermaßen frei waren. Die Folge war der späte Marathonbeginn, am 17. April beim Ruhrmarathon. Es sind dann doch noch zehn Marathon- und Ultramarathonläufe im Jahr herausgekommen. Ein Jahr mit Abschieden.

Regulär werde ich den Supermarathon des Rennsteiglaufs nicht mehr bewältigen können. Sollte ich es noch einmal versuchen, dann wahrscheinlich nur bis zum Grenzadler oder mit beträchtlicher Überziehung des Zielschlusses. Den K 42 des Swiss Alpine bin ich zum letztenmal gelaufen, im Jahr 2006 wechsle ich auf den C 42 von Bergün nach Davos, von der Alpin- auf die Mittelgebirgsstrecke also. Eine Woche in Davos ist mir inzwischen zur Gewohnheit geworden, eine Woche, die Marianne im Thermalbad verbringt. Besondere Erlebnisse waren der erste Basler City-Marathon und der Monaco-Marathon. Dazwischen die Premiere des Einstein-Marathons in Ulm. Die Bestzeit des Jahres erbrachte der Magdeburger Marathon mit 5:09:11 Stunden.

Noch bin ich innerhalb der Sollzeiten geblieben, ausgenommen die Ultrastrecke des Wachau-Marathons. Doch da hatte ich vorher schon angekündigt, daß mir die Zeit nicht reichen würde, und man kam mir entgegen. Dank dem Wachau-Marathon konnte ich im Europacup der Ultramarathons geführt werden, als einziger in M 75. Mit dem Siebengebirgsmarathon am 11. Dezember habe ich Abschied von der M 75 genommen. Jeden Marathon, den ich noch laufen kann, werde ich fortan als Geschenk empfinden – ... laufen, ohne zum Gespött von Zuschauern zu werden. Hoffentlich merke ich, wenn mein Laufen kein Laufen mehr ist.

Außer dem Laufen? Als Marianne und ich vor fünfzig Jahren geheiratet haben, nahmen an der Hochzeitsfeier in Schwäbisch Gmünd fünf Menschen teil, einschließlich uns. Bis zur Goldenen Hochzeit würde sich der Kreis vergrößern, dachten wir. Als es nun soweit war, beschlossen wir, die Goldene Hochzeit in aller Stille zu feiern. Wir eröffneten den Tag mit Champagner, den unser Sohn vor Jahr und Tag aus Frankreich mitgebracht hatte, und unternahmen einen Spaziergang durch den Park von Schloß Hohenheim. Ich trug meinen Hochzeitsanzug von vor fünfzig Jahren. Damals brauchte ich einen weiten Hosenbund, jetzt brauche ich ihn wieder. Abends ein Essen zu viert. Wir waren es zufrieden. Nichts Offizielles, keine umfangreiche Glückwunschpost zu beantworten, Karten, die man sich aufhebt und von denen später keiner weiß, was er damit anfangen soll. Die Stunde genießen, das genügt.

Für das Jahr 2006 das Entree in die M 80. Der Termin im Frühjahr ist noch offen, da können die offenbar sensiblen Bronchien machen, was sie wollen. Spätestens der Hamburg-Marathon. Im Mai statt des Rennsteiglaufs der Marathon in meiner Heimatstadt Görlitz. Welche Emotionen werden mich bewegen, wenn wir durch die jetzt polnischen Teile von Görlitz laufen? Das große Erlebnis Biel, mit dem ich ein weiteres Stück am Bieler Jubiläumskuchen des Jahres 2008 zu ergattern hoffe. Eine Woche in Davos. Ende September wahrscheinlich Berlin. Da sind so viele Fußkranke, daß ich zu welcher Zeit auch immer Gesellschaft haben werde. Das sind die Fixpunkte. Dazwischen wird sich einiges finden, was mich reizt und ich zu bewältigen hoffe.

Laufen werde ich, schreiben werde ich. Manches Mal ist mir eine Aufgabe, ein Termin lästig gewesen. Und doch bin ich glücklich, daß ich in der Lage bin, mich zu artikulieren, mir Gelegenheit geboten wird, mich anderen mitzuteilen, und andere daraufhin mit mir kommunizieren. Angesichts dessen, was medial verbreitet wird, auch literarisch, fällt es beim Schreiben am wenigsten auf, daß man alt wird. Viel weniger als beim Laufen.

Eintragung vom 21. Dezember 05

Im Sinne des Wortes war es ein  einzigartiger Tag, der Dienstag. Einige Zeit schon, bevor ich zum Laufen vor die Haustür trat, hatte es zu schneien begonnen. Niemand, auch von den Eilfertigen nicht, war dazu gekommen, die Wege zu räumen. Ich lief über eine 3 oder 4 Zentimeter hohe Schneeschicht, und da kaum jemand unterwegs war, war sie noch nicht festgetreten. Der Schnee hemmte mich nicht sehr, im Sinne des Wortes: Ich hatte keine Hemmungen.

Napoleon, der größte unter den Hunden hier, dessen schwarzes Fell sich effektvoll abhob, nahm die Flocken gleichmütig hin. Ein Radfahrer bewies artistisches Geschick; er durfte nicht zu langsam sein. Wie würde er es am Gefälle halten? Als ich ins Körschtal hinablaufen wollte, wich ich lieber auf den Acker aus, die Asphaltstraße war zu rutschig. Neben mir plötzlich ein großer Schatten. Ein unbemerkt gebliebener Läufer, der ebenfalls den Acker vorzog, überholte mich.

Die vertraute Landschaft nun wie aus einem Bilderbuch vergangener Tage. In der Dämmerung eine Wiese wie mit  Kalksteinen besetzt, man findet sie so auf den Wacholderweiden der  Schwäbischen Alb. Die grauen Steine waren Schafe, die sich nicht bewegten. Eine Anzahl zupfte Gras,  so es zu finden war, andere blickten starr in die Ferne. Was sich auf dem Weg tat, interessierte nicht. Ein lyrischer Lauf, für den ich mir Zeit nahm, schon deshalb, weil ich glatte Stellen befürchten mußte.

An den Häusern, an denen ich später vorbeitrabte, Lichterdekorationen wie gehabt, als gäbe es keine Strompreiserhöhung. Jetzt stimmte das Bild, das die Dekoration sonst nur vorgaukelt, ein weihnachtliches Bild, obwohl wir uns nur einbilden, Schnee, Weihnachten und Lichterglanz gehörten zusammen. Geräusche gedämpft, nur der Geruch nach schlechtem Fett herüber von  der amerikanischen Schnellfutterstation war penetrant ungedämpft.

Ein alltäglicher Lauf, aber ich werde ihn nicht gleich vergessen. Denn anderntags war alles wieder wie immer, der Asphalt schwarz, die Defekte darin krümelig. Nur die Schafe verhielten sich wie am Tage zuvor; diesmal waren sie im Pferch auf der anderen Seite des Weges. Und heute bildeten sie ein Rechteck, wie mit dem Lineal gezogen. Hatte der Hund sie so formiert? Standen sie bereit, um in den Stall getrieben zu werden? Leise blökten sie.

Eintragung vom 15. Dezember 05

Der Drang, alle paar Wochen hinauszuziehen zum Marathon, ist um diese Jahreszeit fühlbar gebremst; es bedarf eines festen Entschlusses, vielleicht sogar der Überwindung. Kein Impuls, sondern eine Überlegung. Ohne Marathon gegen Ende des Jahres ist der Winter so lang. Der Advents-Marathon zu Bad Arolsen wäre ja in Frage gekommen, und ich stellte mir vor, wie ich danach voller Wohlgefühl im Schloßhotel essen würde, bei Kerzenlicht und in völligem Kontrast zu dem Stück zermatschter Banane am letzten, im Abbau begriffenen Verpflegungsstand.. Doch es drängte sich auch die Vorstellung dazwischen, in der Dunkelheit einsam am Twistesee entlang zu traben und zu wissen, daß die beiden Leute am Ziel – mehr stünden dort nicht, und sie stünden dort gezwungenermaßen – auf das Eintreffen der Letzten warten. Die Wetterprognose enthob mich weiterer Überlegungen. Ich würde nicht nach Bad Arolsen fahren. Es gab noch eine Chance, den letzten Marathon im Jahr zu laufen, den Siebengebirgsmarathon, den 7. Wir haben zwar weit mehr Marathonläufe als Sonntage, aber im November und Dezember gibt es wenig Konkurrenz. Advents- und Siebengebirgsmarathon profitieren von der jahreszeitlichen Nische; der Trend, daß die kleinen Marathons desto mehr abnehmen, je größer die großen werden, macht vor diesen beiden Marathons Halt. Der Siebengebirgsmarathon hat drei Dutzend Teilnehmer, sprich Zielläufer hinzugewonnen, seit dem Jahr 2002 immerhin 121. Mehr als 800 Anmeldungen möchte man ohnehin nicht haben. Und da die Termine entzerrt sind, machen die beiden Veranstaltungen einander keine Konkurrenz mehr.

Es war schön, daß ich nach Bad Honnef gefahren bin. Eine Art Sonntagsausflug unter sportlichen Vorzeichen. Zuweilen kollidierten wir mit den Spaziergängern alten Stils; doch die Verklumpung hielt sich in Grenzen, und sie machten ja selbst vor mir bereitwillig Platz. Frost hatte den Boden hart gemacht, erst zur Mittagszeit weichte er an einigen Stellen auf. Sonne, Blick auf die harmlosen, aber malerischen Gipfel. Der Knotenpunkt Löwenburg vermittelte das Gefühl, sich auch als Einzelner nicht gar so weit von der menschlichen Gesellschaft entfernt zu haben. Allein, aber nicht verlassen. Die Steigung vor Kilometer 37 nicht gar so schlimm, vor allem wenn man sie ohnehin geht, und dann senkt sich die Strecke bis zum Aegidiusplatz. Dort bekommt kaum jemand mit, daß man den sachten Anstieg 50 Meter vor dem Ziel im Schritt geht. Die letzten 10 Meter neigt sich die Strecke hinein ins Bürgerhaus; man prescht geradezu ins Ziel, als ob nichts gewesen wäre. Da sich vielleicht 200 Läufer zur Siegerehrung versammelt haben, bleibt auch nach fünfeinhalb Stunden kein Einlauf unbemerkt. Bei welchem Landschaftslauf widerfährt einem das? Dem Immunsystem wird in der warmen Halle nicht Gewalt angetan. In aller Ruhe kann man trinken, sich verpflegen und erlebt alsbald die Siegerehrung, zügig abgewickelt in 45 Minuten. Es reicht für die meisten zur Heimfahrt.

Wer an die Spitze seiner Klasse steigt, den bedroht der Schwindel – man kennt das vom Management, vor dem das Schild aufgestellt ist: Aufstieg nur für Schwindelfreie. Das Treppchen auf der Bühne bestand aus drei Miniatur-Kunststoffhockern, Trittfläche etwa ein Fuß im Quadrat. Als ich oben stand, sagte ich insgeheim: Hoppla. Nur die Balance wahren! Wenn man der einzige seiner Altersklasse ist, ist man auch der einzige auf dem engen Podest, ungestützt von einem Zweiten und einem Dritten. Ich hoffe, es hat niemand gemerkt, daß es Mühe gekostet hat, die exponierte Stellung für die Dauer des würdigen Aktes zu bewahren.

Eintragung vom 10. Dezember 05

Wir werden thematisiert, wir Alten. Im Großen wie im Kleinen. Alexander Weber konzipiert einen Kongreß „Gesundheit – Alter – Bewegung“ im September in Bad Lippspringe. Da könnte ich dann nach der ersten Hälfte gerade noch zum Berlin-Marathon weiterfahren. Marco Caimi, der Baseler Läuferarzt, den ich vor dem Basel-Marathon kennengelernt habe, macht Ende Januar ein Symposium über Laufen im Alter. Die Sportklinik Stuttgart hat am ersten Dezember-Samstag eine Fortbildungsveranstaltung „Alter und Sport“ gehabt. Wenn das schon vor der Haustür stattfindet, 20 Minuten – da bin ich hingefahren. Bekannte Fakten wurden vorgetragen; doch für die Praktiker war es sicher wichtig, besser vorbereitet zu sein als jener Sportarzt in der Jugend- und Sportleiterschule Ruit, den ich vor 38 Jahren vor meinem ersten Marathon konsultierte. Er fand zwar nichts, was mich am Marathon hätte hindern können; aber er fand es angebracht, die Frage aufzuwerfen, ob ich denn in meinem Alter wirklich noch mit dem Marathon anfangen wolle. Da war ich 41 Jahre alt. Achim Conzelmann wäre ich gern begegnet. Als ich die „Condition“ machte und schon davor, hat er als Student seine Alterssport-Untersuchungen – sein Vater war ein bekannter Alterssportler – in der Zeitschrift veröffentlicht. Jetzt ist er Professor in Bern; in Stuttgart ließ er seine Untersuchung „Sportliche Leistungsfähigkeit und Trainierbarkeit im Alter“ von einer Mitarbeiterin vortragen. Demographische Ausgangslage: Die Alterspyramide wird zum Alterspilz. 30 Prozent der im Ruhestand Lebenden wollen (nach Opaschowsky) auf irgend eine Weise Sport treiben. Conzelmanns Untersuchung hat ergeben: Der Leistungsrückgang setzt viel später ein als angenommen. Die motorischen Fähigkeiten seien während der gesamten Lebensspanne in hohem Maße beeinflußbar. Nur verlangsame sich die Anpassungsgeschwindigkeit im Alter. Na, wem sagt man das? Hochleistungssport im Alter – ich mag nicht mehr Referate wiedergeben. Wer mein Tagebuch liest, vermag punktuelle Informationen einzuordnen. Notiert habe ich mir aus dem Referat von Andreas Niess, das ebenfalls vertretungsweise wiedergegeben wurde, ein Hundertjähriger habe einen Sprint über 100 Meter in 30,86 Sekunden hingelegt. Umgerechnet, er ist in einem Fünf-Minuten-Tempo gelaufen. Motivation für Wettbewerbssport im Alter sind: gesundheitliche Aspekte, Leistungsvergleich, Erfolg/ Ansehen/ Selbstbestätigung, Streßbewältigung, Erlebnisgewinn, Erfahrungsaustausch/ soziale Kontakte. Erstaunlicherweise ist der Leistungsvergleich das dauerhafteste Trainingsmotiv. Hauptrisiken im Alter sind: unzureichende Vorbereitung, gesundheitliche Einschränkungen, unangemessene Zielsetzung. Nicht nur im Alter... Wieder einmal ist der Sinn von Nahrungsergänzungsmitteln verneint worden; dennoch nehmen zwei Drittel der Sportler sie zu sich. Ein weiterer Experte, Michael R. Sarkat, beleuchtete die Bedeutung von Bewegung und Sport bei Osteoporose. 100.000 Altersfrakturen haben wir jährlich in Deutschland. Um Knochen zu erhalten, müsse man sie stimulieren. Wintersport im Alter, Belastungsfähigkeit der Wirbelsäule bei Sport im Alter, Beeinflußt Sport die Lebensdauer von Prothesen? Eine weitere alte Erkenntnis: Sport, den man ein Leben lang getrieben hat, kann man auch im Alter weitertreiben. Am Arlberg hat man auch schon einen Siebenundneunzigjährigen skilaufen gesehen. Mehr als drei Stunden Sport in der Woche erhöht die Knochendichte. Dafür jedoch, daß Nordic Walking die Knochendichte erhöhe, gebe es keinen Beweis. Bei über Fünfundsiebzigjährigen ereigneten sich jährlich ungefähr 5 Millionen Stürze; davon seien 10 Prozent behandlungspflichtig.

Dann bin ich gegangen; was noch folgte, waren klinische Therapie und Rehabilitation. Erstmals habe ich dank diesem Symposium das Haus des Sports in Stuttgart, SpOrt, kennengelernt, ein einzigartiges Zentrum, in dem nun eine Anzahl Verbände ihren zentralen Sitz hat. Ich bin davon überzeugt, daß diese Investition angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports sinnvoll ist, während ich die immensen direkten und indirekten Ausgaben für die Fußballweltmeisterschaft für ein Land in der Krise als unangemessen ansehe.

D. hat mir neulich von seinem Sportunfall erzählt. Infolge unglücklicher Umstände bei einem Sturz habe er am Kopf fürchterlich geblutet. Also wurde verständlicherweise ein Sanitätswagen geholt. Im Krankenhaus wurde die Wunde genäht und D. noch am selben Abend nach Hause entlassen. Für den Transport zum etwa 9 Kilometer entfernten Krankenhaus durch zwei Sanitäter habe der Arbeitersamariterbund eine Rechnung über 661 Euro ausgestellt.

Eintragung vom 4. Dezember 05

Als ich aus ganz anderem Anlaß die DUV-Website anklickte, sprang mir das schwarze Kreuz entgegen. Barbara Szlachetka ist ihrem Krebsleiden erlegen. Lange hatte ich nichts mehr über sie gehört, und ich hatte die Hoffnung, ihr Wiedereinstieg in den Wettkampfsport bedeute die Rückkehr ins Leben. Vielleicht werden manche sagen, sie habe zuviel gemacht. Die freien Radikalen... Doch so einfach läßt sich Kausalität nicht herstellen. Im Laufen hat Barbara eine neue Heimat gefunden. Die Lauferfahrung eines viel längeren Lebens hat sie in eine kurze Spanne packen müssen. So wie sie gelaufen ist, war es gut. Herbert hat einen warmherzigen Nachruf geschrieben. Das schwarze Kreuz hat mich bis in die Nacht nicht losgelassen. Es war der Tag ihrer Beisetzung an ihrem polnischen Wohnort.

Die DUV-Website habe ich angeklickt, weil ich Informationen über die Vorgänge in der DUV sammeln wollte. Wenn ich an die Fakten denke, die zur Fronde gegen den Präsidenten führten, waren es im Grunde Lächerlichkeiten. Doch dahinter muß wohl weit mehr gestanden sein, das Menschliche, die Art des Umgangs. Ich weiß es nicht, denn ich kenne den vormaligen Präsidenten nicht. Gedankenaustausch in e-mails mit Sportfreunden haben mich in meiner Annahme bestätigt. Das neue Präsidium ist demokratisch gewählt worden. Der Stimmenvorsprung für die Neubesetzung ist gering, doch bei Kampfabstimmungen ist das nun einmal so. Der Ausgang der Hauptversammlung ist legitim; das Verhältnis der Teilnehmer zur Gesamtzahl der Mitglieder entspricht dem anderer überregionaler Vereinigungen. Übrigens ist es auch eine Faustregel, daß nur höchstens 10 Prozent einer Interessengruppe eine entsprechende Zeitschrift lesen, und das ist immerhin leichter, als sich auf die Reise zu einer Versammlung zu begeben. Das neue Präsidium muß nun zeigen, daß es zu Recht gewählt ist. Der Blick auf die Website und eine Anfrage an mich (was mir beim vormaligen Präsidenten nicht widerfahren war), haben mich davon überzeugt, daß die Aufgabe mit Schwung angepackt wird. Ich sehe keinen Grund, es an Loyalität fehlen zu lassen. Über allem Widerstreit muß die Seriosität der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung gewahrt bleiben und deren Aufgabe weitergetragen werden. Wer der DUV den Rücken kehrt, stellt persönliche Interessen höher als die Aufgabe der DUV. Aufgabe der DUV ist nicht, verlängerter Arm des Deutschen Leichtathletik-Verbandes zu sein; der DLV ist ihr Partner, nicht mehr und nicht weniger. Ein Zweckbündnis, da es denn zu einer eigenständigen Lauforganisation, dem Läuferbund, den es nur als Absichtserklärung gab, nicht gereicht hat.

Vierzehn Tage nach dem New York Marathon ist bei ebay eine Finisher-Medaille angeboten worden; ein Engländer (Zeit: 4:26 Stunden) hat sie verkauft. Einen Tag vor Auktionsende stand das Gebot bei 79 US-Dollar. Am Anfang, nach den ersten, kurzen Volksläufen hatte auch ich ein kühles Verhältnis zu Medaillen. Die Abstraktion der Leistung in Zahlen genügte mir. Im Grunde wären mir viele Medaillen entbehrlich, doch welche, wenn ich vor dieser Frage stünde? Jetzt mag ich mich von den Medaillen nicht trennen, selbst wenn mir Geld dafür geboten würde.

Noch etwas Kurioses habe ich im Internet gefunden. Die Domain www.spreewald-marathon.de ist zu verkaufen. Ja, was? Das Aus für den noch jungen Marathon? Ich habe mich vergewissert: Der 4. Spreewald-Marathon findet am 23. April 2006 statt. Nur findet er als Spreewaldmarathon statt, die Website also in einem Wort geschrieben. Und das Konzept des Streckenmarathons von Cottbus nach Burg ist aufgegeben. Nun ist es auch hier eine Halbmarathonrunde – von Burg nach Burg –, die zweimal zu durchlaufen ist. Allerdings ist mir Cottbus in denkbar schlechter Erinnerung, weil ich hier wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit gebührenpflichtig verwarnt worden bin, nicht als Läufer, sondern Tags zuvor als Autofahrer. Bei der Ausfahrt aus Cottbus wähnte ich mich in einem Waldteil bereits außerhalb der Stadt. Erst nach dem Wald jedoch standen das Ortsschild und die Polizei. Ich fühlte mich nachgerade gelinkt, es war ein Verbotsirrtum und keine Ausrede. Ein Brief an den Cottbuser Verkehrsreferenten mit dem Vorschlag, die Kennzeichnung des Stadtgebiets zu verbessern, blieb unbeantwortet. Dennoch wäre ich, wenn sich Gelegenheit geboten hätte, nochmals in Cottbus gestartet. Eine Zweirundenstrecke widerstrebt dem Charakter eines Landschaftsmarathons. In Bräunlingen, wo dieses Konzept ja auch probiert worden ist, hat man sich offenbar Witz gekauft und ist von den zwei Runden zur klassischen großen Runde zurückgekehrt. Weshalb nun eine Domain verkauft wird, obwohl es den Marathon weiterhin gibt, – die Frage bleibt offen.

Eintragung vom 25. November 05

Heute morgen war alles weiß, doch innerhalb weniger Stunden sind nur gefrorene Spuren von Schnee übrig geblieben. In Aussicht genommen hatte ich den Arolser Advent-Marathon; doch zum einen muß man sich früher anmelden, als mir das nach dem Monaco-Marathon lieb gewesen ist, zum anderen wäre ich in Anbetracht der Wetterlage ohnehin nicht mit dem Auto nach Bad Arolsen gefahren. Der Zug jedoch, – zweimal umsteigen, zweimal länger unterwegs..., bis ich überhaupt im Zug sitze, hätte ich mit dem Auto bereits ein Viertel der Strecke zurückgelegt. Jetzt schaue ich, ob der Siebengebirgsmarathon in Frage kommt.

Aus Frankreich habe ich mir ein Zielphoto vom Monaco-Marathon bestellt. Zwecks Dokumentation, wie ein alter Mann am Ziel aussieht. Auf der Rechnung im Internet steht nicht nur der Preis von 12 Euro, sondern auch 78,71 FrF, will besagen französische Francs. Auch im Supermarkt wird der Euro-Preis zum Vergleich in Francs angegeben. Sind Franzosen die schlechteren Europäer? Sicher nicht, sie sind nur wachsamer. In Deutschland verliert sich allmählich das Gefühl für D-Mark-Preise, obwohl Mißtrauische wie ich noch immer Euro-Preise in D-Mark umrechnen. 1,10 Euro für den Liter Diesel – das klingt anders als die tatsächlichen 2,15 Mark. Ich erinnere mich an die Empörung, als die Grünen einen Benzinpreis von 3 Mark je Liter als ihre politische Vision verkündeten. Die Startgebühr für den Hamburg-Marathon, zu dem ich mich angemeldet habe, beträgt nun ungefähr 117 Mark. Vor einigen Jahren hätte ich dafür die Strecke mit dem Taxi abfahren können. Und selbst wenn man 10 Runden auf einer 5-km-Strecke laufen will, kostet das soviel wie früher ein Stadtmarathon. Der erste Stadtlauf an meinem Wohnort über lächerliche 7,5 Kilometer in lächerlichen 5 Runden hat 8 Euro gleich ungefähr 15,60 Mark gekostet. Wenn ich die fünf Kilometer nach Esslingen mit dem Autobus führe, macht das inzwischen 4,50 Mark Als Adidas seinen Elektronik-Chip-Schuh aus Känguruh-Leder für 300 Mark auf den Markt brachte, ging ein Aufschrei durch die Marathonlaufszene. Heute kostet jeder wenn auch gute, aber ganz normale Laufschuh mehr als das. Nur klingt’s in Euro weniger. Nicht die Preise haben sich im Europa der Währungseinheit halbiert, sondern unsere Einkommen, und dann hätten wir noch immer Glück damit. Ich halte die Angabe in der alten Währung, wie es die Franzosen machen, für ein gutes Marktinstrument. Aber die deutschen Polit-Opportunisten sind ja besorgt, daß wir in Brüssel einen schlechten Eindruck machen könnten. Frankreich ist da offenbar unbekümmert, ein Zeichen für innere Souveränität.

Ich bewundere Handwerker, die fast immer wissen, wie man einen Defekt behebt; ich schätze trotz PISA wissenschaftliche Leistungen in Deutschland hoch. Doch ich meine, mit der praktischen Intelligenz auf dem wichtigsten Gebiet, nämlich wie das Leben zu bewältigen sei, hapert es. Es ist so einfach: Bewegungsmangel kuriert man durch Bewegung. Obwohl ich mich von Jugend an wandernd, später ausgiebig radfahrend bewegt habe, habe ich das Wohlgefühl des Laufens erst entdeckt, als vor fast vierzig Jahren ein Arzt den Anstoß gab. Wenn ich bedenke, wie wenige wir damals waren und daß es vierzig Jahre gedauert hat, bis wir Damaligen von verhöhnten Außenseitern zu Vor-Läufern geworden sind, obwohl der heutige Erkenntnisstand im wesentlichen schon damals bestand, zweifle ich an der praktischen Lebensintelligenz meiner Zeitgenossen. Auf dem Gebiet der Ernährung spielt sich ein ähnlicher Prozeß ab; die Umsetzung auf diesem Gebiet entspricht dem Stand des Laufens in den sechziger Jahren. Wie damals gibt es auch heute Anstöße, ja, weit mehr Anstöße als damals, und die Symptome der Fehlernährung sind weit deutlicher als die Symptome des Bewegungsmangels in den sechziger Jahren. Noch immer übernehmen wir Ernährungsgewohnheiten und Ernährungsempfehlungen aus den USA, obwohl dort die Fehlernährung besonders kraß ist. Gesundheit ist, wie uns Max-Otto Bruker sagte, ein Informationsproblem. So wichtig es ist, daß man sich informiert, ist es, sich darüber klar zu werden, wo man sich informiert. Auf dem Gebiet der Ernährung ist dies schwieriger als auf dem Gebiet des Laufens. Denn die professionellen Berater können sich immer auf irgend eine richtige wissenschaftliche Erkenntnis berufen; nur fehlt es am Denken in Zusammenhängen.

Ich will in mein Tagebuch keinen erkenntnistheoretischen Beitrag schreiben, sondern nur Bemerkungen zum Fleischskandal einleiten. Alle paar Jahre ein Fleischskandal – so war es früher. Jetzt geht einer nahezu nahtlos in den anderen über, die Vogelgrippe in den Betrug mit Fleisch. Der Politik fällt wieder einmal Verschärfung der Strafen ein. Doch erst muß man die Betrüger fassen, die Lebensmittelkontrolle ist ein Feigenblatt, mit dem der Staat die Blöße seiner Ohnmacht bedeckt. Die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt, Nahrungsmittel nicht mehr als Lebensmittel zu betrachten, sondern als eine Ware, die möglichst billig zu sein hat, wie hoch der gesellschaftliche und ethische Preis dafür auch sein mag. Verräterisch die Sprache – ach ja, in Leserbriefen an „Runner’s World“ werde ich ob meiner Sprachauffassung gescholten –, in der Landwirtschaft wächsen keine Tiere mehr auf, sondern es wird Fleisch „produziert“. Lebewesen werden zur toten Ware gemacht. O, wenn Erich Fromm noch lebte, seine These von der Nekrophilie der Technikorientierung erhielte neuen Zündstoff. Nicht die Kriminalität von Betrügern, die wahrscheinlich keine soviel höhere kriminelle Energie haben als wir alle, ist das Kernproblem, sondern die Massentierhaltung. Die Verbraucher haben sich selbst in die Falle navigiert. Warum haben wir eine Massentierhaltung? Weil der Fleischverzehr zugenommen hat und weil man ihn über einen niedrigen Preis hochhalten will. Wer von uns die dreißiger und vielleicht noch die fünfziger Jahre bewußt wahrnehmen konnte, weiß: Fleisch gab es sonntags, in der Woche vielleicht noch ein-, zweimal Wurst als Brotauflage. Wer sich in der Gastronomie umschaut: Es scheint für viele nicht so ungewöhnlich zu sein, dreimal am Tage Fleisch oder Wurst zu essen. Mag auch ein leichter Rückgang dieser Verzehrgewohnheit eingetreten sein, – ohne einen Ruck wird es nicht gehen. Der Ruck bedeutet, zu den Verzehrgewohnheiten unserer Vorfahren, sofern diese nicht zu den privilegierten Schichten zählten, zurückzukehren. Die Vision sollte sein: Aufgeben der Massentierhaltung und damit der tierquälerischen Tiertransporte, erzwungen durch Fleischverzicht. Drei Gründe sprechen für Vegetarismus: ethische, ökologische und gesundheitliche. Das Christentum mit seiner menschenzentrierten Weltsicht nimmt keinen Anstoß am Töten von Tieren, andere Religionen sind sensibler. Wenn man Tiere umbringt, dann nur insoweit, als nach Darwin das Überleben von Menschen davon abhängt. Weiterhin werden Regenwälder abgeholzt, damit man dafür Rinder weiden lassen kann. Deren Steaks werden in das nimmersatte Europa verkauft. Die Darmgase der Milliarden Rinder sind inzwischen zu einem Problem der Luftverunreinigung geworden. Energie über die Fleischerzeugung zu gewinnen, ist die unrationellste Art. Die Fläche, die ein Rind braucht, könnte ungefähr zehn Menschen ernähren. Vegetarismus könnte zur Linderung des Hungers in der Welt beitragen. Ich habe gelesen, daß zudem ein Rind zu geringeren Teilen als früher verzehrt wird. Manches darf man nicht mehr essen, nämlich die vergiftete Leber, anderes mag man nicht mehr essen; nur im Schwäbischen haben sich die „Kutteln“ auf dem Mittagstisch erhalten. Zubereitetes Fleisch, also gekochtes oder gebratenes, ist tote Nahrung. Gewiß, wir essen nicht mehr der Energiegewinnung wegen, sondern aus Genuß; wem Fleisch Genuß bedeutet, sollte ihn, wie alle Genüsse, beschränken. Eben auf einmal die Woche wie unsere Großeltern. Fleisch sollte zur Beilage werden und nicht Salat und Kartoffeln zur Beilage zum Fleisch. Zur Energiegewinnung brauchen wir kein Fleisch, auch wenn uns das manche Ernährungsphysiologen und Mediziner einreden wollen. Pflanzliches Eiweiß ist hochwertiger und reicht zur Eiweißversorgung, die ohnehin überschätzt worden ist, so daß der „Normbedarf“, so es einen gibt, auf Konsensus-Konferenzen mehrfach heruntergesetzt worden ist.

Fange ich an zu predigen? Anfang der siebziger Jahre wohl hat mir Friedrich Tempel, einer der besten Altersläufer, in einem Brief nahegelegt, meine Ernährung auf vegetarische umzustellen. Ich brauchte dann noch knapp zehn Jahre dazu. Der eine Brief war zu wenig. Friedrich Tempel hätte es mindestens dreimal sagen müssen. So wie es auch in der Medizin ist, verhalten sich die Medien im Hinblick auf den Fleischskandal: Sie berichten anschaulich über die unappetitlichen Betrügereien, aber sie dringen nicht zu den Ursachen vor.

Eintragung vom 18. November 05

Gestern erstmals wieder mit Handschuhen und Mütze gelaufen. Heute hat es geschneit. Der Wechsel konnte nicht abrupter sein. Vor einer Woche sah ich, als ich in Nizza angekommen war, einen Mann im Meer schwimmen, als wir am Montag eine Wanderung unternahmen, ebenfalls. Am Strand an der Promenade des Anglais sonnten sich Frauen im Bikini. Über fünfzehn Jahre ist es her, daß ich das letztemal an der Côte d’Azur war. Eberhard lebt seit 1961 hier. Aus allen Fenstern seiner Wohnung blickt man aufs Meer. Ich bezweifle, ob ich angesichts einer solchen Aussicht zum Arbeiten käme. Ihm gelingt es, sofern ihn nicht ein Besuch wie meiner davon abhält. Das Auffälligste seit meinem letzten Besuch war, daß ich vom Autobus aus mehrere Läuferinnen und Läufer sah. Damals war ich der einzige gewesen.

Eberhard war ein Grund, mich zum Marathon de Monaco et des Riviera anzumelden. Hätte ich das auch sonst getan? Doch, es gibt Gründe. In Monaco Marathon zu laufen, das ist so wie ein Marathon auf Helgoland, wenn man Sinn fürs Kuriose hat. Ein Staat so groß wie die vier Dörfer der angeblichen Stadt, in der ich lebe – 32000 Einwohner, davon offenbar nur 6000 monegassische Staatsbürger. Gewiss, das Wort vom Operettenstaat ist rasch bei der Hand. Doch das wäre eine Verharmlosung. Die Hochhäuser und Prunkbauten hier sind ja nicht nur Unterkünfte für die 10000 Touristen. Europas kapitalistische Fluchtburg braucht Raum. Die Stadt Monaco ist horizontal gegliedert, inzwischen ins Meer hinein, die Verkehrswege verlaufen auf verschiedenen Ebenen. Am Samstag, als ich im berühmten Stadion Louis II. die Startnummer geholt hatte, regnete es. Erst stellte ich mich – wie auch eine Gruppe Berliner – auf der von einem Vordach überwölbten Freitreppe des Casinos unter. Einen Blick warf ich ins Vestibül, wo uniformierte Portiers wachten. Für 10 Euros hätte ich das Casino besichtigen können; das Geld hätte mich gereut. So blickte ich unter dem Vordach auf das Hotel Paris. Einmal in seinem Leben war Eberhard dorthin eingeladen worden. Doch ich bin kein Mäzen, und Rollenspiele müssen mir zumindest heimlich Spaß machen. Eberhard und ich können einander nichts vorspielen. Die Makkaroni mit Tomatensauce, die Eberhard kochte, waren auf jeden Fall weit billiger als die Pasta-Party für 10 Euro, und Eberhard hatte keine Büchse aufgemacht, sondern frischen Tomaten die Haut abgezogen.

Für zehn Minuten bewahrte mich der Straßentunnel, durch den wir anderntags liefen, vor dem Regen. Auf dem Rückweg folgte ich dem Hinweis auf den Bahnhof. Auch hier ist man eine Weile unterirdisch unterwegs. Rolltreppen überall, und sie funktionieren. Der Bahnhof ist eine unterirdische Halle, ein einfacher Durchgangsbahnhof mit zwei Gleisen, aber größer als alles, was ich bisher unter der Erde gesehen habe, ob nun in Moskau, Paris oder Berlin.

Im Grunde genügt es, in Monaco Marathon zu laufen, wenn man einen Eindruck von Monaco haben will. Zum fürstlichen Palais kann man ja, wenn man im Stadion die Startnummer holt, den Weg über den Berg nehmen. Ich war ganz froh, in Beaulieu zu wohnen, 8 Kilometer entfernt, dort, wo die Côte d’Azur noch die Lebenswelt auch der kleinen Leute ist. Mit dem Patron meines Hotels und seiner Frau konnte ich flüssig radebrechen, und er war es auch, der mich darauf aufmerksam machte, daß die Autobusse häufig Verspätung hätten. In der Tat, als ich später zum Flughafen fuhr, verkehrte mein Bus fünf Minuten nach dem folgenden Bus, wenn denn der pünktlich gekommen wäre. Die Fahrpreise erheblich niedriger als daheim, die Kontrolle dafür strenger.

Läufe am Wasser entlang sind wohl immer attraktiv, so auch oder erst recht ein Riviera-Lauf. Das Küsten-Panorama – das leuchtende Meer, Strand, Jachthäfen, Felsen – ist durchaus ein Grund, hier Marathon zu laufen. Zum Start – noch immer wird auch die französische Bezeichnung départ verwendet – entließen uns Prinz Albert II. und Paula Radcliffe, die auf einem Balkon über dem Boulevard des Moulins gestanden sein sollen, es war mir nicht so wichtig. Eine Runde durch Monaco – das geht nicht ohne Anstieg ab. Dann von der Küstenstraße nach Cap Martin, das Gefälle hier bedeutet: Da müssen wir auch wieder hinauf. In Menton geht’s hin durch die Stadt, zurück am Wasser. Die Grenzstation dient nun als Verpflegungsstation. Innerhalb der Halbmarathondistanz drei Länder: Monaco, Frankreich, Italien. Von Italien bleibt fast keine Erinnerung, nach dem langen Tunnel durch die Felsküste kommt auch schon bald die Wendemarke. Etwa 8 Kilometer lief ich als der letzte hinter den anderen her. Doch mir war klar, es würde nicht dabei bleiben. Ich hatte kein anderes Ziel, als die Eliminationspunkte km 30 und 37 rechtzeitig zu erreichen. Da war es auch drin, die Steigung auf Cap Martin hinauf zu gehen. Der Kurs für einen einsamen Läufer wäre zurück unübersichtlich, wären da nicht die dicht placierten Posten in gelben Jacken. Dort, wo sich im Felsen der Tunnel verzweigt, stand allerdings keiner. Doch da wußte ich, daß ich zum Stadion nach links mußte. Vor dem letzten Kilometer erblickte ich auf einer Trage einen Läufer, es schien mir ernst zu sein. Zwei Fahrzeuge des Roten Kreuzes waren abfahrtsbereit. Im Monaco-Matin las ich anderntags, ein 49jähriger Läufer habe einen Herzinfarkt erlitten. Auch er hatte ein ärztliches Attest vorlegen müssen; mein Doktor, selbst Marathonläufer, hatte es für 5 Euro billig gemacht. Dennoch ärgern mich solche überflüssigen Ausgaben. Selbst eine eingehende Untersuchung kann nur ein einziges Ergebnis haben, nämlich daß der Untersuchte im Moment der Untersuchung ohne Krankheitsbefund gewesen sei. Ob ich das nächste Attest fälsche? Markus könnte mir vielleicht aus Dubai irgend etwas Fremdländisches mitbringen.

Einlauf in das riesige Stadion. Diejenigen, die sich das ausdenken, ob in Monaco, in München oder in Stuttgart, stellen sich das so beeindruckend vor. Das ist es vielleicht für die ersten. Solche Stadien sind für Zehntausende von Zuschauern gebaut. Da läuft so ein Menschlein auf der noch nicht von den Fußballern abgerissenen Tartanbahn ins Ziel, ein paar verloren wirkende Gestalten haben auf den Läufer gewartet. Doch in Monaco werden die Katakomben genutzt.

Sobald man den oberen Rand der Schüssel erklommen hat, sind die Stationen wohl organisiert: Verpflegungsstände, auf denen wirklich noch etwas oben ist, sogar Rosinen – jetzt hat man Zeit zum Trinken und Essen – , eine wärmende Aluminiumfolie statt kalten Kunststoffs, Massageliegen, Gepäckausgabe, WC, Duschen, Ausgang. Ein Ziel der kurzen Wege. Nach unten führt – natürlich – eine Rolltreppe. Zum Autobus wenige Minuten. Selbst das Hemd, das man mit der Startnummer bekommen hat, ist nicht alltäglich; es hat lange Ärmel und ist für die Übergangszeit geeignet.

Eintragung vom 10. November 05

Wenn es sich ergibt, schaue ich mir daheim die Sendung „Wetten, daß...“ an. Richtig überlegt, weshalb ich das tue, habe ich noch nicht. Ich schaue sie an, weil Marianne sie anschaut. Einfach so zum Amüsieren, mit Sicherheit habe ich dazu eine Flasche Wein entkorkt, sie wird zwei, drei Tage reichen. Allerdings, wenn jeweils die Pop-Darsteller ans Mikrophon treten, stellen wir den Ton ab, Marianne liest weiter, ich leere vielleicht den e-mail-Briefkasten. Wir schütteln den Kopf darüber, daß Showstars, die nun wahrhaftig kein bißchen Stimme haben, zu Auftritten in eine Sendung für Millionen, meist sind es Reklameauftritte, geholt werden. Wieso treffen gesangliche Nichtskönner den Geschmack eines jugendlichen Publikums? Die Frage ist nicht nur bei Popmusik berechtigt.

Am letzten Samstag wurde eine Wette geboten, die mich besonders berührte; ein Hornbläser wettete, er könne mit seinen Tönen eine beliebige Kuhherde anlocken. Tatsächlich, binnen kurzem trottete, als der Jagdhornbläser seine Kunst zeigte, die vordem gänzlich desinteressierte Herde heran – nicht ganz so nah, wie der Bläser wohl erwartet hatte, aber doch eindeutig. Der Bläser erklärte die Zurückhaltung mit den vielen Zuschauern, die im Hintergrund standen. Der Effekt war jedenfalls überraschend. Marianne meinte, es sei Neugier gewesen. Ich meine, es war mehr, die Bereitschaft zu einem Dialog. Ich vermute, daß die Tiere sich angesprochen fühlten und die Töne als eine Art Kommunikationsversuch wahrnahmen. Bei diesem Phänomen fühlte ich mich an ein Erlebnis erinnert, das ich bei unserem Deutschlandlauf 1981 hatte. Unsere kleine Gruppe lief in Norddeutschland am Zaun einer riesigen Weide entlang. Kaum daß wir sechs von den Kühen bemerkt worden waren, setzten sie sich ebenfalls in Trab, parallel zu uns jenseits des Zaunes. Ein merkwürdiger Anblick, die sonst so träge erscheinenden Tiere im Galopp zu sehen. Es war kein Ausbruchsversuch, keine Revolte, sie machten einfach nach, was sie sahen. Vielleicht auch zeigen sie, daß sie auf kurzen Strecken besser sind. Später wiederholte sich das Erlebnis, so daß Zufälle ausgeschlossen sind. Mir fällt dazu das Gemälde „Gotthardpost“ ein, auf dem ein Kalb vor einer Postkutsche herläuft. Klaus Oberle hat mir erzählt, bei einem Abenteuerlauf in Alaska habe ihn am Waldsaum ein Rudel Wölfe begleitet. Ihm sei gar nicht wohl gewesen, doch die Tiere sahen in ihm wohl einen Oberwolf.

Ich werde immer wieder in der Ansicht bestärkt, daß Tiere, auch scheinbar einfach strukturierte, ein Gefühlsleben haben. Ob man ihnen eine Seele zuschreibt, was die christliche Theologie ja abstreitet, oder nach ethologischen Erklärungen sucht, scheint mir zweitrangig zu sein. Ich halte Tiere für unsere Mitgeschöpfe. Da wir ihnen Lebensraum genommen oder ihre Vermehrung allein zu unserem Nutzen gesteuert haben, tragen wir als angeblich höherentwickelte Lebewesen Verantwortung für sie. Bei meinem ersten New-York-Marathon beeindruckte mich die Aufschrift eines T-Shirts: „Be kind to animals, don’t eat them.“ Albert, der Lehrer aus dem salzburgischen Lungau, der auf dem Lande groß geworden war, erzählte mir, auf dem winzigen Bauernhof seiner Eltern habe nur eine einzige Kuh gelebt; sie sei wie ein Familienmitglied gehalten worden. Nach langer Zeit – den Grund habe ich vergessen – habe sie zur Schlachtbank geführt werden müssen. Albert versicherte, das Tier habe geahnt, was ihm bevorstehe. Mit tieftraurigen Augen – Albert versicherte, die Kuh habe Tränen gehabt – habe sie Abschied von der Familie genommen. Als ich Vegetarier wurde, hatten mich zunächst ernährungsphysiologische Gründe dazu bewogen. Fleisch ist in vollwertiger Ernährung überflüssig. Doch als ich mich mit dem Vegetarismus zu beschäftigen begann, wurde mir klar, daß es vor allem humanitäre und ökologische Gründe sind, die den Ausschlag dafür geben, vegetarisch zu leben. Langstreckenläufer waren Anfang des 20. Jahrhunderts Aushängeschilder des Vegetarismus. Rationale Gründe, auf vegetarische Ernährung umzustellen, werden in immer kürzeren Zeitabständen vom Markt geliefert. Der neue Fleischskandal macht wieder einmal einige Journalisten nachdenklich. Erst wenn es an die eigene Sicherheit geht, setzt Nachdenken ein.

Morgen fliege ich nach Nizza. Auch dort hat es gebrannt. Von Gettoisierung der Schwarzafrikaner zu sprechen, scheint mir eine Beleidigung der in den jüdischen Gettos Umgekommenen und der Aufständischen im Warschauer Getto zu sein. Es ist wahr, die französische Regierung hat in den siebziger Jahren in den Vorstädten große Wohnblöcke emporgezogen, um die Einwanderer unterbringen zu können. Als „Republikflüchtiger“ kenne ich die Situation. Ich hätte mir 1952 gewünscht, in Stuttgart in einem „Getto“ unterzukommen, unter Landsleuten und vielleicht mit einem Minimum an Versorgung im Krankheitsfall. Da mir das Arbeitsamt schon damals keine Arbeit besorgen konnte, war ich nicht krankenversichert. Das Sozialamt war nicht zuständig, weil ich nur eine „Duldungserlaubnis“ hatte. Wo ist in Nizza, einer der schönsten Gegenden Europas, das Getto? Haben die 12 Millionen im Krieg und vor allem nach dem Krieg entwurzelten Deutschen, mit ihrem Schicksal hadernd, bei ihren Gastgebern Brände gelegt? Gewiß, Hunderttausende haben Kohlrüben vom Feld gestohlen und Kohlen aus den Waggons, mehr ist nicht passiert. Sind die Afrikaner nicht Bürgerkriegen, entsetzlichen Metzeleien, Aids und Hunger entkommen? Was ist da in eintönigen Vorstädten so furchtbar? Arbeitslos sind auch andere, die wenigsten Arbeitslosen handeln mit Drogen. Ob es den Gutmenschen, die in den seltensten Fällen Tür an Tür mit Kriminellen wohnen, nun paßt oder nicht, – man muß wie der französische Innenminister Gesindel so nennen dürfen. Vor einigen Jahren wäre ich mit dieser Ansicht in die rechtsextreme Ecke gestellt worden, heute wohl nicht mehr. Inzwischen ist die Furcht, daß es auch bei uns zu Ausschreitungen von Einwanderern – und eben nicht nur diesen – kommen könnte, zu verbreitet. Während ich dies schreibe, ist der Aufzug der Stadtbahnstation, acht Minuten von hier, vielleicht wieder von jugendlichen Rußlanddeutschen demoliert. Als die ersten „Gastarbeiter“, damals aus Italien, kamen und in Baracken untergebracht wurden, sah ich auf die Sportvereine eine neue gesellschaftliche Aufgabe zukommen, und das sagte ich auch – 1972 beim TV Nellingen. Der spätere Bundeslauftreffwart entgegnete mir damals, wir hätten ja nicht einmal genügend Sporthallen für unsere Leute.

Eintragung vom 3. November 05

Die gehbehinderte Frau des Gartenbesitzers im Körschtal grüßte ich am Sonntag freundlich mit „Guten Abend!“ Nur, ich hatte übersehen, daß es erst halbfünf Uhr nachmittags war. Ich hatte die Zeitumstellung vergessen und war, weil es nun eher dunkel wird, früher weggelaufen. Doch die Frau grüßte ernsthaft und wie selbstverständlich zurück: „Guten Abend!“

Michael hat mich gebeten, ob ich ihm nicht Startnummern vom Rennsteiglauf, dem Supermarathon, versteht sich, scannen könne. Er habe eine Website mit jeweils einer Startnummer für jedes Jahr angelegt. Ich habe ihm außer zwei Nummern auch jene beiden Nummern von 1983 und 1984 übermittelt, die zwei DDR-Läufern zugeteilt worden waren. Beide hatten mir verbotenerweise den Start an der Hohen Sonne ermöglicht. Da Michael nach Möglichkeit zu jeder Startnummer ein paar Informationen oder eine kleine Geschichte haben möchte, habe ich kurz den Hintergrund geschildert und die Namen jener beiden Läufer festgehalten, die damals wider den Stachel gelöckt und Sportkameradschaft höhergestellt hatten als die Weisung des obersten Sportfunktionärs Ewald. Man kann freilich fragen: Was soll das – ein solcher Flickenteppich aus Startnummern? Doch eine Bastelarbeit muß nicht immer Sinn machen. Den Kölner Dom aus Streichhölzern erbaut, wenn jemand Spaß daran hat.... Warum soll sich Laufen nicht auf solche Weise spiegeln! Die Seite heißt: www.dromeus.de/Rennsteig/Startnummern.html

Elisabeth hat zur Hauptversammlung der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung einen Antrag zur Frage der Zeitlimite von Läufen gestellt. Auch auf e-mail-Austausch und ein Gespräch mit ihr geht mein Beitrag in „Ultramarathon“ zurück. Ich muß nur den Eindruck vermeiden, als ginge es allein um mich, um die Möglichkeit, daß ich noch an Laufveranstaltungen teilnehmen kann, für die ich die Voraussetzungen nicht mehr mitbringe. Tatsache ist jedoch, daß mein individuelles Problem eine demographische Frage ist, der sich die Veranstalter stellen müssen. Wir in den höchsten Altersklassen sind mehr geworden, und die Alterspyramide wird sich auch auf diesem Gebiet noch weiter verbreitern. Beim Bieler 100-km-Lauf hat man bereits eingelenkt, die zweite Reduzierung der Laufzeit um zwei Stunden ist zur Hälfte zurückgenommen worden. Zielschluß wird im nächsten Jahr um 19 Uhr sein. Ein Dr. Adolf Weidmann hätte wieder eine Chance.

Dieser Tage wollte ich bei Siegfried Lenz nachschlagen, „Brot und Spiele“. Da fiel mir ein anderes Buch in die Hände, „Der Läufer“ von Hans Breidbach-Bernau. Er hatte die Anfänge der Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer begleitet und in „Im Schatten des Herakles“ ein Porträt van Aakens geschrieben. „Der Läufer“ ist ein Roman aus der Nachkriegszeit, 1955 erschienen. Literarisch nicht gerade eine Offenbarung; Hedwig Courths-Mahler, der ich in meiner Jugend das verdanke, was damals Etikette genannt wurde, wirkte noch nach. Sportliteratur wurde noch nicht ernst genommen. Der Dualismus Körper – Geist war noch längst nicht überwunden, Sportredakteure bildeten in der Hierarchie von Zeitungsredaktionen die niederste Kaste. In dem Roman beeindruckte mich Breidbachs Vision, die er einem zu Tode verunglückten Sportprofessor in den Mund legt: „Hör zu! Es muß gelaufen werden, – verstehst du? Ja? Laß dir nicht einreden, daß es nicht wichtig sei, glaube mir: Es muß gelaufen werden, vergiß das nicht! Es ist nicht nur Spielerei mit dem Ehrgeiz und törichte Eitelkeit, Zeitvergeudung und Lebensflucht, – nein! Von all dem ist einiges darin, – und dennoch: Es muß gelaufen werden! Ich habe nicht soviel Luft und soviel Zeit, um es dir im einzelnen erklären zu können, – vielleicht könnte ich es auch gar nicht. Du hast es ja selber in dir! Aber laß dich nicht irre machen und gib es weiter, in dieser Welt, die an ihrem eigenen Fortschritt zugrunde geht, – vielleicht gibt’s eine Rettung oder doch einen Aufschub, und darum: Es muß gelaufen werden!“ Der Professor fügt seinen Worten an einen von ihm geförderten jungen Läufer hinzu: „Und du wirst deinen Weg gehen, Junge, du wirst noch viele Rennen laufen, siegen und vielleicht sogar dein großes Ziel erreichen. Und doch sage ich dir: Klebe nicht daran. Es kommt nicht auf die Siege an. Wir sollen nicht laufen, damit die anderen, die nichts davon verstehen, uns sehen und beklatschen können. Eines Tages wirst du’s erkennen, dann wirst du die ganzen Diplome und Preise verbrennen oder in einen Winkel stellen, – aber laufen wirst du immer noch, im Walde, im Verborgenen, für dich allein – nicht für die anderen.“ Bemerkenswert, daß ein Schriftsteller auf ganz naive Weise schon vor über fünfzig Jahren artikuliert hat, daß Laufen einen doppelten Boden hat, Sport ist nur die Oberfläche.

Eintragung vom 26. Oktober 05

Längst ist es für einen, der es nicht auf größtmögliche Marathon-Quantität abgesehen hat, unmöglich geworden, alle neuen Marathonläufe bei ihrer Premiere zu besuchen. Auch zum 2. Magdeburg-Marathon wäre ich sicher nicht gekommen, wenn nicht die terminliche Konstellation gepaßt hätte. Zur Wahl stand der Schwäbische-Alb-Marathon mit der DUV-Meisterschaft; doch dort wäre ich einsam hinter dem Feld her getrottet – immer unter dem Druck: Du kannst sie am Ziel nicht so lange warten lassen. Magdeburg versprach einen Zielschluß nach sechs Stunden. Nach Magdeburg bin ich zum erstenmal in meinem Leben gekommen.

Laufen: Es lief gut. Parkplatz, Messehalle, Startaufstellung ohne einen Schritt zuviel, eine optimale Eröffnung. Als ich das Auto verlassen wollte, zog ich mir noch ein Unterhemd unter das Laufhemd. Die viertelstündige Startverzögerung – anders als in Ulm wurde der Grund genannt, nämlich Probleme mit den Parkplätzen – nützte ich dazu, zum Auto zurückzutraben und das Unterhemd wieder auszuziehen. Die Entscheidung war richtig. Es gab zwar ein paar Regenspritzer, doch im allgemeinen war es trocken und die Luft mild. Die Strecke gefällt mir gut. Mit der Stadt hat der Magdeburg-Marathon wenig zu tun; nach der Überquerung der Elbe führt der Kurs ein paar Kilometer durch die Stadt, da allerdings an Sehenswertem vorbei, dann durch den Stadtpark und wieder über die Elbe zurück; von da an war es gewissermaßen eine Wendepunktstrecke, auch wenn abschnittsweise Parallelverkehr stattfand. Obwohl ich die Weinberg-Steigung hinauf ging, schaffte ich noch 5:09:11 Stunden. Da war ich zufrieden, daß die vormaligen 5:17 noch nicht endgültig waren.

Schauen: Die Stadtanlage nicht unbedingt schön, aber großzügig. Die sozialistischen Spuren sind verwischt – Düsseldorf und Main-Frankfurt auch in Magdeburg. Historisches nur punktuell, wenn man von Pflasterstrecken absieht. Pfeile auf Kopfsteine gemalt leiten über den Domplatz, ein Ensemble, das einen Ruhepunkt zu bilden scheint. In einer anderen Passage großbürgerliche Architektur der Gründerzeit, auch darin wird Stadtgeschichte sichtbar.

Denken: Unweit des beschaulichen Domplatzes, unter dem wahrscheinlich die Spuren zwölfhundertjähriger Geschichte liegen, mitten in der Zeile der Kommerztempel ist seit neuestem die bunte Hundertwasser-Architekturlandschaft eingepflanzt, die „grüne Zitadelle“, Hundertwassers letztes Architekturwerk. Viele Bürger haben es auch an diesem Wochenende mit den Augen in Besitz genommen. Ganz erstaunlich, das gewaltige Bauwerk paßt sowohl zum Dom als auch zur Kaufmeile. Wahrscheinlich, weil es Architektur wieder zu den Ursprüngen in der Natur zurückführt. Gotische Kreuzrippengewölbe, das sind sich wölbende Alleen, Rosetten als steinerne Blütenkränze. Korinthische Kapitelle sind üppiger Natur nachempfunden. Die Lilie ist vielenorts in Frankreich in Stein gehauen. Barock und Rokoko verkörpern schwellende Blütenpracht. Der Jugendstil – ein Versuch, nach der Bombastik der Gründerzeit wieder aus der Natur zu schöpfen. Von den Architekten, die nach dem Krieg unsere Städte aufgebaut haben und heute in der „Formensprache“ unserer Zeit radebrechen, habe ich keine hohe Meinung. Eine Architektengeneration hat bereits begonnen, die Arbeit der vorangegangenen abzureißen, ohne jedoch in der „Postmoderne“ mehr als nur Arabesken der Einfallslosigkeit zu schaffen. In meiner Nachbarschaft ist ein großflächiger Militärflugplatz überbaut worden. Die Chance war einzigartig, sie ist vertan. Das städtebauliche Konzept wird hochgelobt – aber nur von Architekten und ihren Auftraggebern. Das „Stadthaus“, dessen integraler „Wasservorhang“ alsbald stillgelegt werden mußte, hat gar einen Architekturpreis bekommen. Vor diesem Solitär soll ein „Marktplatz“ entstehen; er besteht aus phantasielos angeordneten Blöcken. Wer wird sich auf diesem Marktplatz treffen, über ihn schlendern, an ihm Platz nehmen? Die soziale Lust an der Begegnung wird im Keime erstickt werden. Ein Café, das an einem viel zu engen Kreisverkehr eröffnet worden ist, bezeichne ich als „Café Feinstaub“. Das ganze Konglomerat mit viel Backstein, der nach Norddeutschland, aber nicht ins Schwäbische gehört, ist völlig austauschbar. Schwäbische Kleinkariertheit hat wieder einmal einen Purzelbaum in unangemessene Großspurigkeit geschlagen. Der „Scharnhauser Park“ meiner Retortenstadt kam mir angesichts des Hundertwasser-Kunstwerks in den Sinn. Der Maler Hundertwasser bekräftigt meinen Verdacht, daß unsere Lebenswelt nicht von „Fachidioten“, sondern nur von außen gerettet werden kann, dort wo Kreativität noch üppig wuchern darf.

Während daheim erstmals ein „Kirbe-Lauf“, der Kirchweihlauf, stattfand – 7,5 Kilometer in drei Runden zu 8 Euro Startgebühr, da sind in Magdeburg 25 Euro mit Funktionshemd recht preiswert – , strebte ich aus dem Stadtpark in die Elbauen. Ich befand mich unter lauter Halbmarathonläufern. Ein Schlußradfahrer wurde nicht müde, kilometerweise die Position des letzten Marathonläufers durchzugeben. Er sei jetzt am Winterhafen. Das war ich. Als ob es zu dieser Stunde irgend jemanden interessieren müßte, wo sich der letzte Marathonläufer – die letzte Marathonläuferin, Sigrid, folgte noch – befand! Müssen wir uns, die letzten, das eigentlich gefallen lassen? Sollen wir einen Verein gründen – „Die letzten e.V.“ ? Für diesmal erledigte sich mein Problem, ich überholte einfach die vorletzten. Sigrid erzählte mir danach, sie sei nachdrücklich auf ihren Rückstand zu anderen aufmerksam gemacht worden. Sie entgegnete zutreffend, sie habe ja sechs Stunden Zeit. Mit uns Alten ist nicht zu spaßen, wir werden eine gewaltige Protestbewegung entfachen: Rettet die letzten vor dem gefräßigen Schlußfahrzeug! Wir haben Anspruch darauf, unterwegs nicht belästigt zu werden! Das Schlußfahrzeug hat außerhalb unserer Sicht- und Hörweite zu bleiben.

Angenehm war bei diesem Lauf, daß auch wir hinten immer wieder andere Läufer zu Gesicht bekamen. Das war schon in der Stadt der Fall, dann an der Elbe und am „Blauen Kreuz“. Auf meinem Magdeburger Laufhemd steht „Zwischen Dom und Blauem Kreuz“. Und es steht oben: „Geschafft“ statt des blöden Finnischer (Schreibweise im Vorgriff auf die nächste Rechtschreibreform). Das Blaue Kreuz ist die Überquerung der Elbe für die Schiffahrt (mit zwei f bitte) auf dem Mittellandkanal mittels einer gigantischen Trogbrücke. Eine eindrucksvolle Wendepunktmarke – 900 Meter an einer Seite hin, 900 Meter auf der anderen Seite dicht am Wasser entlang zurück. Unterzuckerung mit dem Symptom des Taumelns sollte hier nicht allzu symptomreich ausfallen. Auf der rechten Trogseite blies der Wind empfindlich, merkwürdigerweise dann auch am Schluß, in der Herrenkrugstraße. Ob die Investitionen in die Binnenschiffahrt wirklich lohnend sind, ist bereits entschieden worden. Die nächste Generation wird die endgültige Antwort wissen. Für mich bleibt Verwunderung: Die Binnenschiffahrtswege werden staatlich finanziert, die von den Autofahrern über den Staat finanzierten Autobahnen hingegen verkauft, damit deren Benützer sie künftig noch einmal finanzieren und unterhalten. Es gibt halt mehr Autofahrer als Binnenschiffer. Im Dom, dem ersten gotisch konzipierten auf deutschem Boden, wird einem die Relativität von Ansichten wieder einmal bewußt. Engagierte Führung im Dom.

Danach war ich in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Als ich die Zellen sah und die Tafeln mit den Strukturen der für die Quälereien Verantwortlichen, kam mir der Gedanke: Wie zuvor in der Nazizeit waren auch am Betrieb der Haftanstalt am Magdeburger Moritzplatz Hunderte beteiligt – von den MfS-Generälen bis zu den Wärtern. Sie leben, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Unrechtsstaats, unter uns, und nicht wenige beziehen ihre staatliche Rente. Sie leben wahrscheinlich besser als ihre Opfer, deren berufliche Perspektiven sie zerstört haben. Zorn kommt in mir auf, als ich das Dokumentationszentrum des Bürgerkomitees Sachsen-Anhalt besichtige. Verantwortungsträger einer Zeit des Unrechts erheben mit ihrer Partei den Anspruch, künftige Politik zu gestalten. Nach der vom Bundesfamilienministerium herausgegebenen Übersicht sind in der Zeit von 1941 bis 1989 3,7 Millionen Deutsche der stalinistischen Gewaltherrschaft zum tödlichen Opfer gefallen. In das Gästebuch des Museums habe ich meinen Namen geschrieben – mit dem Zusatz: „Republikflüchtling 1952 – gewußt, weshalb“.

Nie wäre ich nach Magdeburg gekommen ohne den Magdeburg-Marathon.

Eintragung vom 20. Oktober 05

Beim Wachau-Marathon habe ich noch überlegt, ob ich einen Kürbis als Souvenir mitbringen solle. Von der Strecke aus war ein Stand mit einer Vielfalt von Kürbisarten zu sehen. Doch einmal auf diese dekorative Frucht aufmerksam geworden, habe ich bemerkt, daß die Kürbiszeit überall ausgebrochen ist. An meiner Laufstrecke ist ein Sitzplatz mit Kürbissen dekoriert. Bei meiner ersten Marathonreise in die USA rätselte ich über einer mir unbekannten Vokabel; unter den Desserts war ein pumpkin cake angeboten worden. Seither weiß ich: Pumpkin ist ein Kürbis, lateinisch cucurbita. Im Brockhaus las ich, 27 Arten gebe es. Ich mag ihn, den Kürbis, am liebsten süßsauer; offenbar ist diese Vorliebe in meiner Kindheit durch die in Schlesien beliebte Kürbiszubereitung geprägt worden.

In Hamburg bin ich um einiges älter gemacht worden, Geburtsjahr 1799. Nach dem GutsMuths-Rennsteiglaufverein e.V. bin ich noch gar nicht geboren. Das steht mir erst für 2026 bevor. Jedenfalls enthält mein Mitgliedsbogen, der mir zwecks Ergänzung zugesandt worden ist, dieses Geburtsjahr. Können sich die Vereine nicht mal über mich und mein wahres Alter einigen?

In meiner Zeitung habe ich neulich aus lokalem Interesse einen halbseitigen Bericht über Handball gelesen. Regionalliga: „Schlimmere Auswirkungen als zunächst vermutet hatte das Foul von Alexis Gula an Florian Bleher... Der Neuhausener Rechtsaußen hat sich einen Knorpelriß in der Schulter zugezogen.“ Verbandsliga: „Bei Wolfschlugen dürfte wohl Kai Haenssler wieder fit sein, aber ein großes Fragezeichen steht noch hinter dem Einsatz von Benjamin Brack.“ Landesliga: „Der Einsatz der angeschlagenen Tobias Schmid, Roger Aebi und Jörg Ulmer ist fraglich.“ Bezirksliga: „Neben den bisherigen Verletzten wird Tobia Labude definitiv nicht dabei sein, hinter Matthias Bristle steht, wegen einer Verletzung, noch ein großes Fragezeichen.“ Bezirksklasse: Kreisliga: Frauen – DHB-Pokal: Württembergliga: „Ungewiß ist noch der Einsatz von Florence Koutny, die sich eine Kapselverletzung an der Hand zugezogen hat.“ Verbandsliga: „Trainer Andreas Andert stehen bis auf ...und Miriam Pohl (Reha nach Knieoperation) alle Spielerinnen zur Verfügung.“ Nächste Seite: Turnerinnen. In der Altersklasse neun Jahre .. ging Lena Hermann „verletzungsbedingt nur an einem Gerät an den Start“. Unter Medaillenflut in München bei den deutschen Judoka: „Yvonne Böhringer verletzte sich bei ihrem abschließenden Kampf und mußte aufgeben.“ Manchmal macht der Sportteil den Eindruck eines Krankheitsbulletins. Muß das eigentlich sein, daß selbst auf lokalem Niveau Leistungssport bis zur Gesundheitsschädigung betrieben wird? Wie sähe die Alternative aus? Moderat Sport treiben und sich dafür wegen fehlender Siege von den Medien und im Verein beschimpfen lassen. Brechts Wort, daß der große Sport da beginne, wo er nicht mehr gesund sei, gilt längst nicht mehr nur für Berufssportler.


Eintragung vom 11. Oktober 05

Es wird immer schwerer, eine Satire zu schreiben. Die Wirklichkeit holt sie allzu rasch ein. Als wir einen Kanzler und eine designierte Kanzlerin hatten, schlug ich vor, sie sollten nacheinander regieren. Daß es eine solche Lösung in Israel gegeben hat, war mir nicht mehr gegenwärtig. Ich hielt meinen Geistesblitz für pure Satire. Er war es nicht und somit auch kein Geistesblitz, die „israelische Lösung“ ist ernsthaft erwogen worden.

Die Vignette für deutsche Autobahnen ist so lange und so vehement dementiert worden, daß sie eines Tages kommen wird. Nicht von ungefähr formiert sich die Initiative unter Führung von Baden-Württemberg, dem Land, in dem der Folgelastenbeitrag erfunden worden ist – Gemeinden durften von neu zugezogenen .Hauskäufern eine Abgabe erheben (5 Prozent der Baukosten) – und in dem seit etwa zwei Jahrzehnten die Zweitwohnungssteuer erhoben wird (wer sein Geld beispielsweise nicht in Stuttgarter Nobelkarossen anlegt, sondern lieber in einer Ferienwohnung, die er vielleicht sogar überwiegend der touristischen Infrastruktur zur Verfügung stellt, muß jährlich eine Steuer zahlen, ohne Rücksicht darauf, ob er nicht vielleicht schon Grunderwerbssteuer gezahlt hat und Jahr für Jahr Grundsteuer entrichtet. Wer im Allgäu zu investieren beabsichtigt, sollte die Landesgrenzen genau beachten. In Stoibers bayerischem Allgäu ist die Ferienwohnung steuerfrei, im württembergischen Allgäu wird sie mit Zweitwohnungssteuer belegt). Der Föderalismus ist ein hohes Gut; die regionalen Einnahmequellen wird man sich doch nicht durch bundeseinheitliche Angleichungen entwinden lassen! Meine Erfindung des „Laufpfennigs“ ist noch eine Satire; aber auch sie ist an der Wirklichkeit orientiert, am Kohle- und am Wasserpfennig und an der Koppelung des Gaspreises an den Ölpreis. Für die Energieerzeuger, zu denen Politiker gern wechseln – sind die Stellen besetzt, tut’s in Baden-Württemberg auch der Vorstandssitz der Badischen Staatsbrauerei Rothaus –, findet die Marktwirtschaft nicht statt.

Handelt sich’s bei meiner Bemerkung um eine Übersprung-Aggression? Auf dem etwa vier Meter breiten Asphaltweg behinderte mich eine Frau; sie führte zwei Hunde mit sich. Erst kurz hinter ihr sah ich, da ich ohne Brille laufe, daß beide Hunde angeleint waren. Ich hatte mich zu entscheiden, rechts oder links vorbei? Ich entschloß mich, dem Rechtsfahr-Gebot zu folgen und links zu überholen. Der eine Hund schnupperte rechts am Wegesrand, den linken Hund zog es an langer Leine nach links ins Gras. Da dies einen Meter vor mir geschah, klatschte ich laut in die Hände. Der Hund kapierte und begab sich in den Schutz der Hundehalterin. Die Frau sagte: „Huch, habe ich mich aber erschreckt!“ Ich sah keinen Grund, um Entschuldigung zu bitten, sondern lief schweigend weiter. Vielleicht hat sie dem Radfahrer, der später hinter mir kam, Platz gemacht.

Zufällig habe ich dieser Tage entdeckt, daß ich ja mit Rechtsschutz laufe. Da ich eine Verkehrsrechtsschutzversicherung habe, wollte ich das Angebot eines Konkurrenten prüfen. Dieser wirbt damit, daß sich der Rechtsschutz auch auf Laufen und Reiten, Rudern und Surfen, Rollschuh- und Skateboardfahren erstrecke und auch “Benützer ähnlicher Fortbewegungsmittel“ einbeziehe. Flugs schlug ich in den Versicherungsbedingungen meiner Gesellschaft nach, da fand sich derselbe Wortlaut. Nun kann ich gefaßt jeder Walkerinnenreihe entgegentraben. Wenn sie mich mit ihren Stöcken pieken, weil sie keinen Platz machen und ich nicht ausweichen will, – ich bin für den Rechtsfall gerüstet.

Obwohl auch die Reiterinnen versichert sind, machen sie mir, wenn sie zu zweit nebeneinander reiten, rücksichtsvoll Platz. Hole ich sie ein, merken die Pferde als erste, daß ich mich nähere; irgendwie teilen sie das dann den Reiterinnen mit, so daß diese mit dem Zügel steuern.

Und noch etwas ist mir aufgefallen. Bei jedem Lauf überquere ich die Denkendorfer Straße, eine dicht befahrene Ortsverbindungsstraße. Die Anlegung eines Fußgänger-Überwegs ist jüngst erst abgelehnt worden. Gestern bin ich wieder einmal in den Berufsverkehr geraten. Ein Auto nach dem anderen, jedoch an der Spitze gebremst durch einen Kreisverkehr. Gestern ist mir der Vorgang bewußt geworden: Ich spähe nach einer Lücke, sie würde jedoch nicht reichen hindurch zu schlüpfen, wenn nicht der Autolenker die Geschwindigkeit vermindert. Zunächst blicke ich nach links, gewiss; wenn da völlig frei ist, kann ich mich auf die andere Straßenhälfte konzentrieren. Dabei habe ich mich gestern dabei ertappt, daß ich unbewußt Fahrzeuge taxiere. Niemals vor einem Kleinlieferwagen! Die müssen irgendwohin, die Insassen haben ohnehin die Schnauze voll, Wegegeld kassieren die Handwerker für die Wegstrecke, nicht für die Zeit, die sie dazu brauchen. Kleinwagen sind mir suspekt. Darin sitzen auch die Unerfahrenen, wenn nicht die verhinderten Rennfahrer, sitzen Leute, die Probleme haben, sie nicht delegieren können und dies abreagieren müssen, in ihrem Kleinwagen fühlen sie sich stärker als Fußgänger. Entgegenkommen ist nicht zu erwarten. In den ersten Jahren der Wiedervereinigung habe ich sie, wenn ich in die neuen Länder fuhr, erlebt, die nun freigelassenen, wildgewordenen Kleinbürger in ihrem ersten Westwagen. Inzwischen sind die Rowdys wohl auch dort die Ausnahme. Am liebsten sind mir bei der Straßenüberquerung die Autos der Premium-Klasse. Gestern hob ich den Arm bei Annäherung eines sportlichen Coupés. Wer ein solches Auto fährt, muß nicht mehr kompensieren. Die Autos der Premium-Klasse sind schnell genug, daß man an einen Sekundenverlust durch Gaswegnehmen keinen Gedanken verschwenden muß. Ihre Fahrer zeichnen sich durch gutes Benehmen aus, Rücksicht auf den Schwächeren, vielleicht auch durch Sportsgeist. Wer sportlich fährt, achtet auch den Mitsportler in kurzen Hosen. Ein Zyniker freilich könnte sagen, wenn man schon unter die Räder komme, dann bitte nicht unter eine Schrottkiste, sondern unter etwas Edles, Sechszylinder und Lederlenkrad. Heute blieb einer gar ganz stehen, der Fahrer bedeutete mir, daß ich vor ihm die Straße überqueren könne. Er fuhr zwar nicht Premium-Klasse, aber doch eben ein großes Auto. Meine Theorie scheint sich zu bestätigen.

Im letzten Viertel meiner Strecke überquere ich auch die Schienen der Stadtbahn, gesichert durch eine Ampelanlage. Was heißt da: gesichert? Wir sind voller Respekt voreinander, die Straßenbahnführer und ich. Wenn ich nicht dem Zug entgegenblicke, klingelt er oder sie vorsichtshalber. Ich habe es mir angewöhnt, zehn Meter vor dem Übergang stehenzubleiben, sofern die Ampel rot ist, dem Zug entgegenzublicken und eine Dehnübung zu machen. Dann weiß auch der Fahrer des vielleicht von der anderen Seite nahenden Gegenzuges, daß der Läufer da nicht gleich auf die Schienen sprinten wird.

Oft denke ich dabei an ein Erlebnis in San Diego. Bei einem Ausflug während einer Marathonreise näherten wir uns im Autobus einem Bahnübergang. Die Bahnlinie war einsehbar. Aufgefallen war mir ein Mann, der gesenkten Blicks entlang den Schienen ging, wie einer, der etwas sucht. Dann kam der Zug, der Mann sprang auf die Schienen. Mich durchschoß der Gedanke: Mann, das war aber knapp! Denn ich meinte, der Mann habe noch vor dem Zug das Gleis überquert. Der Triebwagenführer gab ein schrilles Signal ab, das galt aber nur noch den Fahrgästen, denn er leitete die Notbremsung ein. Der Mann hatte die Gleise nicht überquert, nicht überqueren wollen. Es war ein Suizid. Ein sonniger Tag Anfang Dezember 1984 in San Diego. Ich lief 3:22:06 Stunden.

In Deutschland ist die Zahl der Suizide fast doppelt so hoch wie die Zahl der tödlichen Verkehrsopfer, wobei man nicht weiß, ob nicht auch darin verschleierte Suizide enthalten sind. Nach internationalen Untersuchungen entfallen auf jeden vollendeten Suizid zehn Versuche. Jedes Jahr also wollen in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 120000 Menschen nicht länger leben. Wer kümmert sich über der Vogelgrippe um diese seit Beginn von Statistiken grassierende Seuche? Auch Läufer sind vor Depressionen, die meistens die Ursache eines Suizids sind, nicht gefeit.

Eintragung vom 4. Oktober 05

Ohne mein Zutun habe ich mich beim Einstein-Marathon um zwei Plätze verbessert, vom 1539. auf den 1537. Platz. Darauf einen Bottwartäler, – hat auch mit dem Laufen zu tun. Im Forum des Einstein-Marathons habe ich gelesen, der Erste der M 60 sei aus der Liste entfernt worden. Er war zu schnell, angeblich in 8 Minuten die letzten 10 Kilometer. Ein Diskutant vermutet, der Mann sei direkt ins Kino gelaufen statt geradeaus weiter durch die Scheußlichkeiten Ulms. Darüber, daß bei mir und anderen die 32-Kilometer-Zeit fehlt, bin ich noch nicht aufgeklärt worden. Ein erfolgreicher Altersklassenläufer hat meine Kritik an der fehlenden Auslaufmöglichkeit bestätigt. Ich kann an meiner ersten Eintragung über den Ulm/Neu-Ulmer Einstein-Marathon und der Kritik insbesondere an der letzten Wendepunktstrecke festhalten, zumal da ich auf der Online-Seite der Südwestpresse noch immer kein kritisches Wort über die eigene Veranstaltung gelesen habe. Eine Urkunde konnte ich mir tatsächlich nicht ausdrucken. Ich hätte die Ausschreibung genauer lesen müssen. Da ist nämlich nur die Rede davon, daß man sie auf dem Münsterplatz abholen könne. Längst ist der Urkundenausdruck am heimischen Rechner Standard, selbst beim ostalgischen Rennsteiglauf.

Die Geschwindigkeit des Klassenbesten der M 60 in Ulm hätte ich auf der Heimfahrt mit dem Auto haben sollen. Für die ersten 26 Kilometer benötigte ich drei Stunden sowie einen Dieselverbrauch von 15,8 Litern auf 100 Kilometer (mein Normverbrauch ist 6,2 Liter). Zwischen Ulm-West und Merklingen war eine kilometerlange Baustelle, der Verkehr verengte sich auf eine Fahrspur. Das war alles. Gewiß, ich hätte in Ulm schon Verkehrsfunk hören sollen, dann hätte ich die Bundesstraße über die Schwäbische Alb benützt, wo die Stauung nur 2 Kilometer betrug. Doch wer rechnet schon immer mit der Gleichgültigkeit von Verwaltungen, die Zehntausende von Autofahrern in die Falle fahren lassen und einen Kraftstoff-Mehrverbrauch produzieren, gegen den Kurse für sparsames Fahren ein lächerliches Unterfangen sind! Auch die Südwestpresse hat es auf dem Ulmer Münsterplatz nicht fertiggebracht, westwärts heimfahrenden Läufern einen Tip zu geben.

Während ich in Ulm Marathon lief, hat Marianne die Übertragung vom Berlin-Marathon angeschaut. Wieder einmal hat sie sich darüber empört, daß Spitzenläufer sofort mit Mikrophon und Filmkamera überfallen werden. Man solle ihnen doch wenigstens ein paar Minuten lassen, sich zu sammeln. Ich gebe ihr recht. Die Artikulation hinter der Ziellinie wird nicht besser oder ursprünglicher, als wenn sich eine Läuferin, ein Läufer ein paar Minuten später äußert. Die Anstrengung wird auch dann noch spürbar. Mir selbst ist ein solcher Überfall auch schon passiert. Doch ganz hinten kann man es sich leisten zu sagen: „Gern, aber in fünf Minuten erst....“ Die armen Teufel an der Spitze sind Getriebene. Beim Ruhr-Marathon, wo man mich auch nach dem Einlauf vor dem Mikrophon haben wollte, habe ich schlicht den Moderator nicht gefunden. Für die Welt war’s sicher ein großer Verlust.

Vorige Woche in Steinheim an der Murr an einem Forum zur Vorbereitung auf den Bottwartal-Marathon teilgenommen. Im Grund sind es immer dieselben Fragen. Ich habe aber den Eindruck, daß Läuferinnen und Läufer etwas über ihren Sport hören möchten, auch wenn man ihnen nichts Neues sagen kann. Da das Thema des Abends Walking einschloß, waren auch Walker gekommen. Vielleicht sollte ich meine Haltung definieren. Weil ich mich verschiedentlich über Walker lustig gemacht habe – im Forum zum Einstein-Marathon hat mich gar einer mit dem Kabarettisten Christoph Sonntag verwechselt – , versichere ich, daß ich mich nur über Randerscheinungen mokiere. Walking selbst, das ja nur die angloamerikanische Bezeichnung für sportlichen Gehen ist – und das hat es in Deutschland lange schon vor dem „Walking“ gegeben –, halte ich für die beste Fitneßmethode in allen Fällen, in denen ein intensiveres Training, das Lauftraining, nicht oder noch nicht möglich ist. In meinem Degerlocher Lauftreff, den ich 1974 in Stuttgart gegründet habe, bin ich mit vielen Neueinsteigern über Wochen hindurch die 5 Kilometer nur flott gegangen.

Der Abend in Steinheim zeichnete sich wie der 1. Bottwartal-Marathon durch eine familiäre Atmosphäre aus. Von schwäbischem Geiz keine Spur, Getränke einschließlich des Bottwartäler Weins waren frei. Der schwäbische Geiz ist keine Erfindung. Als unsere Laufgruppe des TV Nellingen Anfang der siebziger Jahre einige Male im Autobus nach Bräunlingen zum Schwarzwaldmarathon fuhr – so viele Marathonläufer waren wir –, zahlten wir nicht nur das Startgeld selbst, sondern auch den Autobus, und selbst die Flasche Bier, die wir auf der Rückfahrt tranken, mußte von uns bezahlt werden. Und dies, obwohl wir das ganze Jahr hindurch dem Verein keine Kosten verursachten, weil die meisten von uns keine einzige Leistung des Vereins in Anspruch nahmen.

Im Bottwartal geht es auch beim Marathon nicht knickerig zu. Nach dem Abend in Steinheim an der Murr tut es mir um so mehr leid, daß ich am 2. Bottwartal-Marathon am 16. Oktober nicht teilnehmen kann.

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