Laufen, Schauen, Denken Sonntags Tagebuch |
„Runner’s World“ hat im Juli-Heft ein Kapitel aus Haruki Murakamis „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ nachgedruckt, nämlich über seinen einzigen 100-km-Lauf. Es war die von Dumont verwendete Übersetzung durch Ursula Gräfe. Da war ich auf diese Stelle gespannt: „Ich hatte errechnet, daß ich bei einem Schnitt von sechs Kilometern pro Stunde etwa zehn Stunden für die gesamte Strecke brauchen würde. Zusätzlich der Pausen zum Ausruhen und Essen würde ich unter elf Stunden bleiben. (Erst später wurde mir klar, wie optimistisch diese Einschätzung war.)“ Alles war bei „Runner’s World“ wiedergegeben wie im Buch bis auf diese Stelle; sie lautet bei RW: „Ich hatte errechnet, daß ich bei einem Schnitt von sechs Minuten pro Kilometer etwa zehn Stunden für die gesamte Strecke brauchen würde.“Na also, nun hat’s noch jemand gemerkt oder aber meine Buchbesprechung bei LaufReport ist aufmerksam gelesen worden.
Nebenbei: Den RW-Lesern bleibt überlassen herauszufinden, was an diesem Bericht des „Star-Schriftstellers“ und „Kultautors“ Murakami das Besondere oder das Literarische sein soll. Die Ankündigung „Mein erster Ultralauf“ impliziert, es habe noch weitere Ultraläufe gegeben. Hat es aber nicht, und Murakami beteuert im Buch, er habe es auch nicht vor. Und nochmals nebenbei: Manche Erlebnisberichte von Amateuren über 100-km-Läufe sind bei weitem packender geschrieben und haben auch mehr Substanz.
Ein Leser nimmt offenbar Anstoß an meiner Einordnung des Bieler 100-km-Laufs, den ich als Wiege des Ultramarathons bezeichnet habe. Der Leser weist zu Recht auf die Ultrastrecken der Geschichte hin, insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte des Ultralaufs ist mir bekannt, einen Querschnitt habe ich in „Mehr als Marathon“ (1985) gegeben. In den „Bieler Juni-Nächten“ habe ich ausgeführt, weshalb die Bieler 100 km die moderne Ultramarathon-Bewegung ausgelöst haben. Es ist wie beim Marathon: Er ist auch schon vor dem ersten Marathon 1896 gelaufen worden. Wende keiner ein: Ja, aber die Norm von 42,195 km.... Diese Streckenlänge gibt es erst seit 1908. Obwohl also marathonähnliche Strecken schon früher gelaufen worden sind, wird der erste olympische Lauf von Marathon nach Athen als die Geburtsstunde des Marathons bezeichnet aus gutem Grund, denn erst jetzt hat die Kontinuität des Marathons eingesetzt. Es blieb nicht beim Marathon alle vier Jahre. Vielmehr entstand eine neue sportliche Disziplin daraus. Beim Ultralanglauf haben weder der Comrades noch der Lauf von London nach Brighton Folgen gehabt. Erst Biel lockte in stetig zunehmender Zahl Läuferinnen und Läufer an, die wiederholt diese Strecke liefen oder gar als Veranstalter den Bieler Hunderter nachahmten.
Bei Formulierungen im Tagebuch kann ich nicht jede Behauptung begründen. Die Darstellung von Zusammenhängen muß Buch- und Zeitschriften-Veröffentlichungen vorbehalten bleiben.
Über dem Bieler Jubiläum des 50. 100-km-Laufs ist ein anderes Jubiläum unbeachtet geblieben, das 100-Jahr-Jubiläum des Staffellaufs Potsdam - Berlin. Das Sportmuseum Berlin AIMS-Museum of Running hat darauf aufmerksam gemacht. Jener Staffellauf, obwohl er sich aus lauter Kurzstrecken zusammensetzte, hat das Erscheinungsbild späterer City-Marathons vorweggenommen. Darin besteht seine Bedeutung. Carl Diem, der diese volkstümliche Veranstaltung begründet und erstmals organisiert hat, hatte bei den Olympischen Spielen 1906 in Athen eine Vision. Das Erlebnis des Marathon-Einlaufs habe sich tief in die Herzen eingegraben. „Ein solches Stadion und einen solchen Marathon, vom Volksjubel getragen, wollten auch wir Deutschen schaffen“, schreibt er in einem Rückblick zum 25jährigen Bestehen. |
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„Ich wollte auch einmal die Bevölkerung der Stadt so aufregen, ihnen ein sportliches Ereignis vor die Nase setzen, wie dies die Athener vermocht hatten. Um die Verwegenheit des Gedankens zu würdigen, muß man sich in jene Zeit zurückversetzen; war ich doch im gleichen Jahre (1908) noch wegen ,Durchführung einer nicht angemeldeten Veranstaltung’ mit sechs Mark polizeilich bestraft worden. Ich hatte nämlich im schützenden Dunkel des Winterabends mit einigen Freunden Waldlauf gepflegt.“ Straßenwettläufe waren nur unter Schwierigkeiten gediehen. „Es schien daher ein etwas wahnwitziges Unterfangen, einen Wettlauf durch die Straßen Berlins versuchen zu wollen. Zudem mußte ich befürchten, daß der Anblick eines Marathonlaufs, wie ich ihn in Athen erlebt hatte, bei uns die gegenteilige Wirkung auslösen würde. Rief man uns doch schon bei den harmlosen Waldläufen Zweifel am Verstande und Töne des tiefsten Bedauerns nach, daß wir derartig gegen unsere Gesundheit wüteten und uns ,die Lunge aus dem Halse liefen’. Ich verfiel also auf den Gedanken, zwar einen großen Lauf zu wagen, das Publikum aber zu betrügen, indem jedweder immer einen frischen Mann sehen sollte. Ich dachte an einen Groß-Staffellauf von Potsdam nach Berlin, und zwar vom Potsdamer Stadtschloß bis zum Berliner Stadtschloß.“
Fast versteht sich, daß das Gesuch polizeilich abgelehnt wurde. Doch die Organisatoren beherrschten die Kunst der Diplomatie. Im Verband Brandenburgischer Athletik-Vereine schmückte man sich jeweils mit einem prominenten Namen. Zu jener Zeit war es ein Kavalleriegeneral, Graf v. d. Asseburg, der mehr als nur seinen Namen hergab. Er war von der Bedeutung des Sports überzeugt. Was ein Staffellauf ist, machte ihm Carl Diem allerdings erst an Hand von Streichhölzern klar. Die wichtigsten Informationen schrieb sich der Graf auf die Manschetten, und da er zur Suite des Kaisers gehörte, trug er das Projekt keinem Geringeren als dem Kaiser vor. Ihm gefiel offenbar die sportliche Verbindung zwischen seinen beiden Schlössern, und er sagte Unterstützung zu. Jetzt war es die Polizei, die den vordem lästigen Bittsteller ins Präsidium bat.
Diems Konzept sah vor, die 25 Kilometer lange Strecke unter je 50 Läufer aufzuteilen. Dabei gab es nur einen einzigen Verein, der mehr als 50 Mitglieder hatte. Doch den Vereinen wurde ausnahmsweise gestattet, auch Nichtvereinsmitglieder auf die Strecke zu schicken oder sich zu Mannschaften zusammenzuschließen. Schließlich traten am 14. Juni 1908 acht Mannschaften an.
Begleit-Autos für das Renngericht standen noch nicht zur Verfügung. Johannes Krause, der 1. Vorsitzende des Verbandes Brandenburgischer Athletik-Vereine, schilderte: „Das Rennen wurde von auf der Strecke postierten Ordnern überwacht. Die Zeitnehmung erfolgte in der Form, daß einige Zeitnehmer in Potsdam beim Startschuß ihre Uhren in Gang setzten und schleunigst mit der Eisenbahn nach Berlin zum Ziel fuhren. Hier hatten andere Zeitnehmer beim Einlaufen der ersten Mannschaft ebenfalls ihre Uhren in Gang gesetzt. Nach Eintreffen aller Mannschaften wurden alle Uhren gleichzeitig abgestoppt und aus den Differenzen zwischen ,Start’- und ,Ziel’-Uhren die Laufzeiten festgestellt.“ |
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Aus dem bescheidenen Anfang entwickelte sich eines der bedeutendsten sportlichen Ereignisse, das auch im Ausland beachtet wurde. Der Staffellauf Potsdam Berlin wurde zum Vorbild ähnlicher Läufe. 1937 nahmen 142 Mannschaften mit 6600 Läufern an dem „Groß-Staffellauf“ teil, lesen wir in „Sport in Berlin des LSB Berlin“. Unterwegs und am Ziel versammelten sich Tausende von Zuschauern, nicht anders als später beim Marathon. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1948 eine Strecke von 20 Kilometern gelaufen. Die Teilung der Stadt führte zu einer Verkürzung auf 8 Kilometer, beschränkt auf den Westteil Berlins. 1969 fand der ehemalige Staffellauf Potsdam Berlin zum letztenmal statt.
Es ist ungewöhnlich, wenn man bereits Jahre vor einem bestimmten Lauf wünscht, an ihm teilzunehmen. Nun ist es soweit gewesen: Ich habe wie so viele andere den 50. 100-km-Lauf von Biel durch die Teilnahme gefeiert. Es ist für mich der härteste 100-km-Lauf gewesen.
Ich muß einen Irrtum korrigieren: Ich dachte, wenn man ihn fast nur im Gehschritt zurücklege, müsse er leichter fallen. Gewiß, man strengt sich nicht so an, aber die Kilometer werden länger, und alle Beschwerden, die bei einem 100-km-Lauf zwangsläufig auftreten, summieren sich mit der Zahl der Stunden. Vielleicht werden die Gelenke geschont, wenngleich ich sie am Tag danach empfindlich gespürt habe, auch nachts; aber die Sohlen brennen, und zwar am Mittelfuß. Eindeutig muß ich jenen Ärzten widersprechen, die den Vorfußlauf empfehlen; sie haben offenbar keine oder zu wenig Ultra-Erfahrung. Bekannte Namen machen diesen Mangel nicht wett. Ich habe dann im Gegenteil versucht, ganz betont mit der Ferse abzurollen, das hat den Vorfuß entlastet. Offenbar sind Laufschuhe zum Laufen und nicht zum Gehen konzipiert. Eine Bedarfslücke tut sich auf: der Schuh für Ultras, der zum Laufen wie zum anhaltenden Gehen taugt. Im nachhinein möchte ich diese Geh-Erfahrung über 100 km, die ich ja vorher immer nur temporär gehabt habe, nicht missen.
Im vorigen Jahr bin ich noch längere Passagen getrabt. Doch ich schaffe das nicht mehr. Zudem warnte mich das Herz kein Angina-pectoris-Schmerz, kein Infarkt-Syndrom, aber das Gefühl, das Herz brenne. Da wird man vorsichtig, selbst wenn ich vor zwei Jahren grünes Licht für die Fortsetzung meiner Laufaktivität erhalten habe.
Die Laufgeschwindigkeit nähert sich ohnehin immer mehr einem Walking-Schritt. Also bevorzugte ich von vornher den Geh-Schritt von zehn Minuten je Kilometer. In Oberramsern hatte er sich unmerklich verlangsamt und sank auf einen Schnitt von 12 Minuten je Kilometer, also auf eine Wandergeschwindigkeit. Doch was so gemütlich klingt, fällt von Stunde zu Stunde saurer. Selbst am Schluß, wenn es nur noch 5 Kilometer bis zum Eisstadion sind, stellt sich kein Adrenalinstoß mehr ein; man weiß ja, es wird noch eine ganze Stunde dauern. Definitiv kann ich nun sagen, auch 12 Stunden oder länger zu laufen, ist leichter als 20 Stunden zu gehen.
Wieder habe ich mich an der Aare vor Büren auf eine Bank gesetzt und mich für einige Minuten entspannt. Es tat mir gut. Beim Laufen kann das für die Fortsetzung tödlich sein. Man kommt nicht mehr in die Gänge. Anders als früher beim Laufen hatte ich auch bei fortgeschrittener Kilometerzahl keine muskulären Beschwerden.
Als ich vor dem Lauf nach meiner Zeitvorstellung gefragt wurde, habe ich 20 bis 21 Stunden angegeben. Doch mein heimliches Ziel waren 19 Stunden, nämlich soviel wie im vorigen Jahr, wenn ich meinen Umweg durch Verlaufen abrechne. Doch ohne längere Laufpassagen waren die 19 Stunden nicht zu schaffen. Die Zeit spielte dann nur noch insoweit eine Rolle, als ich bis zum Zielschluß ankommen wollte.
Versteht sich, daß ich ans Aufgeben dachte. Die Fremdsteuerung, die ich sonst ablehne, nahm ich in Anspruch: Mich motivierte, daß es der Jubiläumslauf war und daß ich am Ziel die Medaille mit dem geprägten Kopf von Franz Reist bekommen würde. Daß ich sie wie viele andere erst im Herbst erhalten soll, war eine beträchtliche Enttäuschung.
Also, ich quälte mich, viel zu früh schon, über die Strecke. Mein Fazit ist gewesen: Dies ist der letzte 100-km-Lauf. Ich kenne das ja, den Verzicht. Als ich den dritten Spartathlon beendet hatte, den mit Verspätung, so daß ich nicht in die Wertung kam, mußte ich einsehen, daß eine Wiederholung zwecklos sei. Ich startete dann nur noch einmal zu einem Nostalgie-Lauf bis Korinth. Jetzt war die Trauer um den Abschied von den 100 Kilometern so groß, daß er die andere Möglichkeit ganz verdrängte: Ich kann ja in Biel starten und das tun, was einige Hundert jedes Jahr tun, nämlich in Kirchberg auszusteigen. Die Ankunft an den drei Zwischenstationen wird ja gewertet. Der Abschied von den 100 Kilometern muß nicht der Abschied von Biel sein. Der Gedanke baut auf. Wenn ich ganz ökonomisch versuchen würde, von vornherein nur im 12-Minuten-Tempo zu wandern, käme ich vielleicht in Kirchberg in besserer Verfassung an; dann jedoch würde ich mich wohl dennoch quälen, um noch Bibern bei km 76 zu erreichen.
Selbst wenn es nur bis Oberramsern reichen würde, ich würde mich aus der Bieler Laufszene nicht ausschließen. Ich träfe sie alle wieder, ohne nur Zuschauer zu sein. Sicher, der grandiose Empfang, die Siegerehrung, die Glückwünsche würden meinem Narzißmus verloren gehen; doch ein Sport, den man allein der sozialen Prämiierung wegen treibt, scheint mir wertlos zu sein.
Vor einigen Jahren habe ich mir gewünscht: Ach, wäre das schön, wenn ich das Jubiläum aktiv erleben könnte! Am Freitag ist es soweit, und wenn mir keiner der berüchtigten Dachziegel auf den Kopf oder auch nur auf die Zehen fällt, werde ich in Biel am Start zum 50. 100-km-Lauf stehen, ganz hinten, und ich werde versuchen, in 20 Stunden anzukommen. Alle, mit denen ich in diesen Wochen wegen des Bieler Hunderters in Kontakt gekommen bin, sind in Feststimmung, obwohl sich an der Art der Herausforderung nicht das mindeste geändert hat. Die 100 Kilometer werden nicht kürzer. Da ich jedoch keinen anderen Ehrgeiz mehr habe, mehr haben kann, als gesund anzukommen, gehe ich die Strecke gelassen an, ganz ohne die Bangigkeit: Um wieviel länger werde ich in diesem Jahr brauchen? Der Vorzug des Altersläufers oder in diesem Fall Altersgehers: Laufen und Gehen pur.
Alle, mit denen ich gesprochen habe, empfinden die Einzigartigkeit der Bieler Veranstaltung. Ungewöhnlich, daß drei Veröffentlichungen zum Jubiläum erschienen sind und in der Eishalle angeboten werden. Der Esel nennt sich zuerst: Doch der Chronologie nach waren meine „Bieler Juni-Nächte“ mit dem Erscheinungstermin Mitte März nun einmal am Anfang gestanden. Das mußte sein, weil das persönliche Jubiläumsbuch auch ein Ratgeber für erstmalige Biel-Starter sein sollte. Die beiden anderen Projekte sind mir bekannt gewesen, doch keiner der Herausgeber hat wohl im Produkt des anderen eine Überschneidung gesehen. Den Band mit Bieler Erlebnisberichten durfte ich, da der Titel „Irgendwann warst du in Biel“ eine Reminiszenz an mein literarisches Biel-Buch darstellt, vor zwei Jahren schon zu Gesicht bekommen. Von nun an kann er von allen Biel-Teilnehmern und -Interessenten erworben werden, ein schöner Anlaß, daß auch die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung wieder in Biel offiziell präsent ist. |
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Die offizielle Broschüre der Bieler Lauftage „50 Jahre Bieler 100-km-Lauf“ 2008 bringt außer der Statistik personenbezogene Reminiszenzen eine symbolische Geste des Dankes an etwa 1000 Helferinnen und Helfer, die Jahr für Jahr zur Stelle gewesen sind.
Insofern also ist das Bieler 100-km-Jubiläum publizistisch umfassend abgedeckt, zumal da das „Bieler Tagblatt“ auch wieder auf bewährte Weise kooperiert. Doch über die Laufpresse habe ich mich gewundert. Sie hat, soweit ich das überblicken kann, unisono beträchtliche Abstinenz an den Tag gelegt. Zwar mag die PR-Arbeit der Bieler Lauftage als sehr zurückhaltend zu bezeichnen sein, aber man wird deutschen Laufmagazinen nicht unterstellen dürfen, daß sie einen Stoff erst dann finden, wenn für ihn getrommelt worden ist. Was mag in Redaktionskonferenzen besprochen worden sein? Ist überhaupt über den 50jährigen 100-km-Lauf gesprochen worden? Bei redaktionellen Entscheidungen spielt eine Rolle, ob man den Lesern, von denen die wenigsten Ultramarathon laufen, zumuten kann, zweimal über eine Veranstaltung zu lesen, nämlich vor dem Jubiläum und danach über die Austragung. Das Problem verschärft sich dadurch, daß die Mehrzahl der Lauf- und Ausdauersport-Magazine nicht monatlich erscheint. Nur fällt mir auf, daß dieses für andere Sportveranstaltungen nicht zu gelten scheint. Da werden im Vorfeld Jubiläen gewürdigt, die keine sind. Selbst die fünfte Austragung des Freiburg-Marathons war da nicht zu lächerlich, von einem Jubiläum zu schreiben. Zehn Jahre eine Veranstaltung oder ein anderes Projekt durchzuziehen, scheint für Laufpublizisten eine Großtat zu sein. Bei 20 Jahren wird das eigentlich erst bei 25 Jahren fällige Jubiläum publizistisch vorgezogen. Selbst 35 Jahre werden gewürdigt, weil sie schon stark in läuferischer Bronzezeit mit Pokalen aus Schnurkeramik zu wurzeln scheinen. 50 Jahre? Ham wa nich. Na ja, bis auf die Bieler 100 Kilometer. Doch soweit reicht der Horizont nicht. Das ist zum einen Steinzeit man bedenke, vier Jahre vor dem ersten deutschen Volkslauf, und wem ist dieser graue Anfang in Bobingen (nicht: Böblingen) bewußt? und zum anderen liegen 100 Kilometer außerhalb der publizistischen Interessensphäre. Wenn da mal ein Dean Karnazes in den USA sein Ego dramatisiert, ist die Ehrfurcht so groß, daß der Nachbar daheim, der ebenfalls 100 Kilometer, 100 Meilen, 24 Stunden oder sechs Tage läuft, glatt übersehen wird.
Der Ultramarathon ist publizistisch unterrepräsentiert. Wahrscheinlich fürchten Redakteure, von denen die wenigsten überhaupt Erfahrung mit der Ultrastrecke haben, daß sie ihre von null-auf-zweiundvierzig-Leser vergrätzen. Dabei halte ich jeden gutgeschriebenen Ultramarathon-Erlebnisbericht für einen hervorragenden Lesestoff auch für diejenigen, die nicht daran denken, auf derartigen Strecken zu starten. Doch wenn Lesen nicht mehr gefragt ist, sondern nur noch der Schnell-Imbiß von Informationshappen, braucht man auch keinen Lesestoff. „Focus“ genügt, man weiß dann zwar nichts, aber man ist informiert.
Was die 100 Kilometer von Biel betrifft, so sind sich die Fünf-Jahr-Jubiläen-Jubler nicht im klaren darüber, daß das Bieler Jubiläum mehr als nur ein beliebiges Veranstaltungsjubiläum ist. Gewiss, in den zehn Zeilen Jubiläumsvorschau der Internet-Seite von „Runner’s World“ ist darauf hingewiesen worden, daß in Biel die Wiege der 100-km-Läufe in Europa stand. Eine neue Laufdisziplin, der Ultramarathon, ist damit begründet worden. Doch ist den Kollegen der Print-Laufpresse bewußt, daß der Bieler 100-km-Lauf, in der Folge dann in Deutschland Unna, Illertissen, Hamm, Kusel und der Rennsteiglauf, den Boden bereitet hat für alle Läufe, die nichts mehr mit den bis dahin geltenden Normen der Leichtathletik zu tun haben? Erst der Zustrom nach Biel hat gezeigt, welches Läufer-Potential abseits der phantasielosen Straßenläufe durch austauschbare Vorstädte zu aktivieren war. Abenteuerliche Landschaftsläufe, sich immer mehr steigernde Bergläufe, Ausdauerleistungen im Triathlon Biel hat das läuferische Bewußtsein geweitet, nicht die Sportverbände, nicht die Vereine, nicht die Sportjournalisten. All das ist der Laufpresse keine Würdigung vor dem Jubiläum wert?
Mich beschleicht ein Verdacht: Ob nicht die Organisation der Bieler Lauftage zu wenig inseriert hat? Ja, dann...
Seit Jahrzehnten dieselbe Standardstrecke und doch gibt es immer wieder einmal eine neue Beobachtung: Zwischen zwei Bäumen war ein Seil gespannt, nicht irgend eines, sondern eines mit professionell wirkenden Befestigungsschlingen. Das Seil war in kaum einem halben Meter Höhe. Ein junger Mann probte barfüßig Seillaufen; statt einer Balancierstange hatte er die Arme ausgebreitet. Seine Freundin schaute ihm ernsthaft zu. Die Sonne schien im Sinne des Wortes also eine Szene aus dem Cirque de Soleil. Was es nicht alles gibt! Ganz sicher eine hervorragende Koordinationsübung. Und so symbolisch das Leben als Balanceakt wörtlich genommen.
Am 23. April habe ich im Zusammenhang mit einem 100jährigen Teilnehmer des London-Marathons den Ersten der M 80 angeführt, Kenneth Clarke, mit seiner Zeit von 4:17:16 Stunden. Mein Kommentar: „Da fällt einem der Kinnladen herunter.“ Eine Leserin der Eintragung hat es damit nicht bewenden lassen. Ob ich mir die Zwischenzeiten von Kenneth Clarke angesehen hätte? Nein, das habe ich erst jetzt getan, nachdem mich die Leserin darauf aufmerksam gemacht hat. Mr. Clarke ist die erste Hälfte in 2:46:54 Stunden gelaufen. Und die zweite Hälfte dann in anderthalb Stunden? Phänomenal. Doch siehe da, die Zwischenzeiten bei 25 und bei 30 km fehlen. Die 35 km hat er in 3:12:55 Stunden zurückgelegt; das bedeutet, er hätte für die vorangegangenen 14 km 26 Minuten gebraucht.
Der Flora-London-Marathon fand am 13. April statt. Ich habe nach der Leserinnen-Zuschrift eigens noch gewartet. Denn es müßte, meine ich, den Organisatoren ja doch wohl aufgefallen sein, wenn sich beim Sieger einer Altersklasse eine solche Unstimmigkeit herausstellt. Doch nach wie vor steht die im Sinne des Wortes Schwindel erregende Zeit im offiziellen Ergebnis. Der London-Marathon zählt zu den „Big Five“, zu den WorldMarathonMajors. In den Details jedoch offenbar nicht Weltklasse. Da fällt mir ein, daß mir Markus aus eigenem Erleben neulich von den Zuständen beim Hitzelauf in Chicago, einem anderen der Big Five, erzählt hat. Er wundere sich, daß der Renndirektor danach nicht zurückgetreten sei. Das ist wohl wie im wirklichen Leben. Wer weit genug oben ist, kann ungestraft einen Krieg anzetteln oder Milliarden verzocken.
Zurück ins Läuferleben, wo es immer wieder auch erfreuliche Begebenheiten gibt. Markus hat nach dem Rennsteiglauf im Autobus von Schmiedefeld nach Eisenach, als wir ausstiegen, seine Mütze liegengelassen. Nicht irgend ein Reklame-Textil, sondern ein gekauftes Andenken an den Tokyo-Marathon. Auf dem Fußweg ins Hotel fiel’s ihm ein. Doch da war der Autobus schon uneinholbar weg. Als am Bahnhof in Eisenach die Letzten den Autobus verließen, fiel einem Frankfurter Läufer die herrenlose Mütze auf dem Sitz vor ihm auf. Nun kannte er zwar ihren Besitzer nicht, wohl aber mich. Auf dem Weg über die DUV wozu Organisationen nicht alles gut sind! erfuhr er meine e-mail-Adresse. Ob ich vielleicht wisse, wer mein Nebensitzer gewesen sei. Ich wußte es und konnte ihm die Adresse von Markus mitteilen. Der hat nun seine Tokyo-Mütze wieder. Über den emotionalen Wert des Andenkens hinaus ist allein diese Kommunikation bemerkenswert. Das Leben wird reicher, wenn wir Gleichgültigkeit aus ihm verbannen.
Zwar bin ich vor Jahren in einer Läufergarderobe auch schon regelrecht bestohlen worden; ich hatte einen Zehn-Mark-Schein in die Lauftasche zurückgesteckt und war, wie mir hinterher sogar einfiel, dabei beobachtet worden. Nach dem Lauf war der Schein weg. Aber im allgemeinen kann man Läufern vertrauen. Einmal war ich in Biel meiner nicht mehr funktionierenden Taschenlampe überdrüssig ich warf sie weg. Wenig später holte mich ein Läufer ein und überreichte mir meine Lampe, die ich nach seiner Ansicht verloren hatte. Ich brachte es nicht fertig, ihm die Wahrheit zu sagen, sondern bedankte mich erfreut.
Wie harmlos waren doch einst die Roßtäuscher, die lahme Gäule als feurige Rappen verkauften an diejenigen, die sich nicht auskannten. Wer kennt sich schon in der digitalen Welt aus! Die kriminellen Ausspähungsaktionen bei der Telekom wundern mich nicht im geringsten. Mein Drucker tut nicht mehr. Daher sehen die Büchersendungen, die ich jetzt verschickt habe, wenig professionell aus Adresse und Rechnung mit der Hand hingekrakelt. Für den professionellen Drucker, den ich vorher gehabt hatte (Brother), habe ich in vier Jahren 3032 Mark an Reparaturen gezahlt, die Toner-Kartuschen nicht gerechnet. Allein der immer wieder fällige Toner-Abfallbehälter, ein schlichtes Plasticgefäß, kostete knapp 40 Mark. Nachdem längst eine neue Reparatur notwendig gewesen wäre, kaufte ich mir im Oktober 2006 einen nicht ganz so professionellen Drucker (HP). Nun, nach anderthalb Jahren, druckt er nicht mehr. Die Werkstatt am Media-Markt kam zu dem Schluß, die Reparatur lohne nicht. Die telefonische Unterstützung der Firma mit der Empfehlung, ein werkseitiges Programm herunterzuladen, führte ins Leere. Der Drucker hat eine Garantiezeit von einem Jahr. Ein Jurist kann mir vielleicht erklären, weshalb diese Frist trotz anderslautenden Gesetzen legal ist. Der alltägliche Schmu: Die Garantiefrist wird gerechnet vom Rechnungsdatum an, hier dem 28. Oktober. In Betrieb nehmen konnte ich den Drucker laut Lieferschein jedoch erst 16 Tage später. Wenn der Drucker nicht funktioniert, schiebt das der Hersteller gern auf die Software des Rechners. Nun habe ich einen neuen Drucker gekauft, denselben Typ, nicht weil ich die Firma für den Schrott belohnen wollte, sondern damit ich die teuren Kartuschen, darunter eine neue Reserve-Kartusche, noch benützen kann. Siehe da, der Drucker funktioniert mit derselben Software wie bei dem defekten Drucker.
Ein Freund, ein Karikaturist, berichtete mir, sein Drucker (Epson) habe ziemlich bald den Geist aufgegeben. War er nicht fein heraus, daß der Defekt noch in die Garantiezeit fiel? Doch womit sollte er während der Reparaturzeit seine Karikaturen vervielfältigen? Für Folgekosten kommt kein Hersteller auf. Mit jedem Fortschritt sind wir ein Stück abhängiger geworden.
Ich fühle mich in der digitalen Warenwelt wie in einer Gesellschaft krimineller Vereinigungen, die es darauf angelegt haben, Wünsche zu wecken und mich bei der Erfüllung hereinzulegen. Umsatz wird mit Produkten gemacht, die nach raschem Verfallsdatum nur noch Schrott sind. Reparaturen lohnen nicht; ein Computer-Techniker nimmt für die Stunde 75 Euro, exklusive Anfahrtskosten. Es ist ein pures Glücksspiel, ob ein Gerät mehrere Jahre einwandfrei arbeitet oder nicht. Und immer glauben wir nur, daß wir Glück hätten. Die Support-Programme scheinen mir Augenauswischerei zu sein, sofern sie ein Benützer, der nicht computersüchtig ist, überhaupt verstehen kann. Die Arbeitserleichterung, die uns die Digitalisierung bringt, wird aufgehoben durch die unproduktive Vergeudung von Zeit bei der Fehlersuche. Auf diese Weise habe ich ganze drei Tage verplempert. In dieser Zeit hätte einst ein Dorfschmied eine verunfallte Kalesche wieder fahrbereit gemacht, anstatt sie zu verheizen. Mögen die Empfänger meiner handschriftlich ausgefertigten Büchersendungen diese also als Gruß aus alter, vordigitaler Zeit empfinden!
Am Sonntag habe ich einen ganz persönlichen Gedenktag gefeiert: Vor vierzig Jahren bin ich meinen ersten Marathon gelaufen. Es war in Baarn in Holland. Warum gerade dort? Es war der „1. Internationale Veteranen-Marathon“, ein Lauf allein für über 40jährige Läufer. Wie ich davon erfahren habe, kann ich mir nur mühsam zusammenreimen. Es gab ja kaum Marathon-Veranstaltungen; fünf Jahre nach dem ersten Volkslauf war der Marathon noch eine Sache von trainierten Leichtathleten. Möglicherweise hatte mir mein Laufmentor, Dr. Dieter Maisch, einige Rundbriefe der Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer geliehen, und dort las ich wohl die Ankündigung dieses ersten Marathons für Ältere. Da wollte ich dabei sein, die Herausforderung lockte, und mir schien ein neues Sportverständnis zu erwachen. Zwei Jahre zuvor hatte ich mit dem Laufen begonnen. Ich korrespondierte mit Meinrad Nägele, der die Struktur der IGL aufgebaut hatte. In Baarn lernte ich Ernst van Aaken kennen.
Bei der Halbmarathonmarke schon glaubte ich, körperlich am Ende zu sein. Eine Weile lief ich gemeinsam mit Cornelius Jungmann, einem schon erfahrenen Marathonläufer; er rettete mich über die frühe Krise. Im nachhinein empfand ich meine Zeit von 4:29:20 als gar nicht so schlecht. Über die Veranstaltung berichtete ich in der „Stuttgarter Zeitung“; diesen Text habe ich jetzt dem Ordner entnommen, um ihn der Vergessenheit zu entreißen. Unter dem Titel „Zum Anfangen ist es nie zu spät“ schrieb ich: „Die Schnellsten liefen am Samstag in Baarn (Holland) die Marathonstrecke in zwei Stunden und 29 Minuten (die Qualifikationszeit der deutschen Teilnehmer für Mexiko beträgt zwei Stunden 23 Minuten). Die Schnellsten in Baarn sind 44 und 47 Jahre alt. Der Letzte legte die 42,195 km lange Strecke größtenteils barfuß in fünfeinhalb Stunden zurück. Er stand im 64. Lebensjahr. |
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In Baarn, einer freundlich durchgrünten Kleinstadt in der Nähe von Hilversum, fand am 25. Mai der Erste Internationale Marathonlauf für über 40jährige statt. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer betrug 49,5 Jahre; die ältesten waren 67 Jahre alt. In der Entwicklung des Alterssports hat der Tag einen Markstein gesetzt; die älteren Läufer haben damit dokumentiert, daß der Ausdauersport leistungsfähig erhält und daß sie Wert auf die eigenständige Ausübung ihres Sportes legen und in ihren Vereinen nicht bloß unter ,ferner liefen’ oder zum Vorzeigen vor den jüngeren geführt werden wollen. Unter diesem Gesichtspunkt Pflege des Ausdauerlaufes für über 40jährige, sportmedizinischer Ratschläge und Informationen über Startmöglichkeiten und Leistungen arbeiten in verschiedenen Ländern, unter anderem in Schweden, Norwegen, den USA und Holland, Veteranenverbände, in der Bundesrepublik seit fünf Jahren die ,Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer’, die etwa 500 Mitglieder zählt, 200 davon im Ausland. Sie tragen am Trainingsanzug eine waagerechte Acht, das mathematische Zeichen für unendlich; der Langstreckenlauf kennt keine Altersgrenze. Und auch zum Anfangen ist es nie zu spät, wie der Vorsitzende der Sportmediziner, Dr. van Aaken aus Waldniel, betont.
Die ,jungenhafte Freude’ vor dem Lauf, wie einer der Ärzte bei der Untersuchung am Startplatz sagte, hatte bei allen den Puls um 10 bis 20 Schläge höher getrieben. Die Strecke wurde psychologisch erschwerend mit doppeltem Wendepunkt gelaufen, mußte also viermal zurückgelegt werden. Temperaturen von 23 Grad nach dem Start um 14 Uhr auf der schattenarmen Straßenstrecke, dazu starker Wind, führten nach sportärztlichem Urteil dazu, daß die Zeiten geübter Marathonläufer um 10 bis 30 Minuten unter dem Gewohnten lagen. Immerhin: von den 161 Teilnehmerrn kamen 144 innerhalb von fünf Stunden ins Ziel. Einer mußte wegen Übelkeit, jedoch nicht bedeutender Art, hervorgerufen durch Salzmangel, ins Krankenhaus gebracht werden. Der Sanitätsdienst konnte sich auf das Verpflastern von Druckstellen und das Massieren bei Wadenkrämpfen beschränken. Außer Konkurrenz liefen zwei Mädchen mit; eines, die 19 Jahre alte Monika Boers aus Waldniel, schaffte drei Stunden und 40 Minuten. Auf den letzten 2000 m lieferten sich der Schwede Oestbye, der bis Kilometer 35 mit einer Minute Vorsprung geführt hatte, und der Darmstädter Weba einen äußerst dramatischen Kampf, aus dem Weba mit einem Vorsprung von 18 Sekunden hervorging. Der 44 Jahre alte Weba ist damit ;Europäischer Marathonmeister der über 40jährigen Altersklassenläufer’. Man sieht: mit einem ,Opalauf’ hatte diese Veranstaltung nichts gemein.“
Ich weiß, man zitiert sich nicht selbst. Doch ich finde ganz interessant, was mir damals berichtenswert zu sein schien. Zwar hatte ich noch nicht gelernt, Ergebnisse korrekt in Ziffern mit Doppelpunkt zu schreiben, aber ich empfand eine Ahnung davon, den Fuß in ein neues Zeitalter gesetzt zu haben. Über diesen Marathonlauf und andere dürften noch nicht viele Berichte erschienen sein; doch der Sportressortleiter der „Stuttgarter Zeitung“ war aufgeschlossen und ließ mir freie Hand. Im selben Jahr noch nahm ich an zwei weiteren Marathonläufen teil, dem Brenztalmarathon in Heidenheim, wo ich gleich einen Hitzemarathon kennenlernte, und den ersten Schwarzwaldmarathon. Ich hatte meinen Sport gefunden. Obwohl wir in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden, war ich überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Daran habe ich mich etwa zwanzig Jahre später erinnert, als ich mich mit der Vollwertkost Dr. Brukers befaßte. Mir war beim Marathon-Einstieg klar geworden, daß man den Mut haben mußte, Überzeugungen gegen Widerstände zu vertreten, gegen Ignoranz und Spott. Eines Tages machen es die anderen nach. Und damit, daß die Nachmacher dann glauben, sie hätten das Rad erfunden, muß man leben.
Ich bin beim Supermarathon des Rennsteiglaufs gewesen, aber sehr viel habe ich mit ihm nicht mehr zu tun gehabt. Da war die Abholung der Startnummer, der Kaffee unter lauter Läufern auf dem Markt, anderntags der Start auf dem Eisenacher Marktplatz, das Gewusel in der sechsten Morgenstunde, immerhin an die 1800 Ultraläufer. Gemessen an den Massenstarts zur DDR-Zeit an der Hohen Sonne ist das zwar nur ein Bruchteil, aber für die Zeit der unbegrenzten Auswahlmöglichkeiten ist es ein Spitzenergebnis. Mehr Teilnehmer als beim Bieler Klassiker.
Einige Begegnungen, gemeinsames Traben durch die Fußgängerstraße, durchs Nikolaitor, in die Wartburgallee, und schon war ich beim Aufstieg zur Hohen Sonne allein. Vor mir erblickte ich eine kurze Weile noch einen Läufer, und später überraschte mich ein anderer, der es geschafft hatte, hinter mir zu bleiben. Da er an Verpflegungsstationen keine Eile hatte, traf ich ihn wieder, ehe er für immer meinen Blicken entschwand.. Einige Zeit konnte ich mich daran freuen, einen Kilometerschnitt von zehn Minuten einzuhalten. Ein solcher Schnitt würde reichen, die 72,7 Kilometer bis Schmiedefeld fast in der Sollzeit zu bewältigen. Jedermann weiß, daß eine solche Hochrechnung Spinnerei ist. Zwischen Eisenach und Schmiedefeld summieren sich die Steigungen auf über 1500 Höhenmeter.
Vor drei Jahren habe ich dank der Zeitkontrolle durch Markus die Strecke noch bis drei Minuten vor Zielschluß bewältigt. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Mir war klar, daß mir der Supermarathon von nun an verschlossen bleiben würde. Weshalb habe ich dann gemeldet? Der erste Marathon nach der Bypaß-Operation, der Rennsteig-Marathon im vorigen Jahr, war zufriedenstellend verlaufen. Tollkühn entschloß ich mich, noch einmal zum Supermarathon zu starten mit der Vorgabe, am Grenzadler auszusteigen. Die 54,2 Kilometer sollten der Vorbereitung auf Biel dienen. Zum anderen wollte ich noch einmal das Erlebnis des Supermarathons haben. Mit Markus ein Kulturprogramm verabredet.
Man könnte die Teilnahme als Hochstapelei bezeichnen, auf jeden Fall war es eine Zumutung für die Organisation. Ich bitte um Nachsicht, es soll die einzige bleiben. Zwar hat Horst Feiler in meinem Alter noch die ganze Strecke geschafft, aber es gibt halt auch im Alter Leistungsunterschiede. Höchstwahrscheinlich hat die Bypaß-Operation mit sieben Wochen Bettlägerigkeit doch zu einem nicht mehr zu beseitigenden Leistungsknick geführt. Ich muß froh sein, überhaupt wieder zum Laufen zurückgefunden zu haben. Insofern war die Teilnahme am Supermarathon auch ein Test: Wie weit habe ich zurückgefunden? Wäre ich nicht, wie man mir sagte, 20 Minuten hinter dem Vorletzten geblieben, hätte ich es wagen können, auch noch die letzten 18 Kilometer zu bewältigen. Vorsichtshalber hatte ich mir Geld fürs Taxi eingesteckt, das Ankommen nach der letzten Busabfahrt wäre mir die Taxifahrt zurück nach Eisenach wert gewesen.
Unmöglich, den 10-Minuten-Schnitt durchzuhalten. Da waren die Steigungen, insbesondere zum Oberen Beerberg und zum Inselsberg. Der steile Abstieg ging nicht viel schneller. Da war die Wurzelstrecke, da war die zunehmende Ermüdung. Ich traf dann einen Wanderer von der 35-km-Strecke. Fortan legten wir die Strecke gemeinsam zurück. Mit weit über einer Stunde Verspätung traf ich am Grenzadler ein, die Matten waren schon aufgeräumt. Bestenfalls hätte ich noch dreieinhalb Stunden marschieren müssen. Zugemutet hätte ich es mir, aber den Zeitnehmern wäre es nicht zuzumuten gewesen. Habe ich doch ohnehin schon den Abbau der Verpflegungsstände bis zum Grenzadler verzögert.
Was bleibt? Einsicht in die Realität, Abschied vom Supermarathon. Keine Trauer, aber auch kein Hochgefühl, kein Runner’s High. Wo bleiben denn eigentlich die Endorphine? Ich denke, nach dem in „Runner’s World“ berichteten Experiment stellen sie sich bei solchen Ereignissen zwangsläufig ein, überdecken gar die Schmerzen? Ich vermute, die Empirie erweist sich wieder einmal als stärker denn die Wissenschaft, die immer nur ein Bruchstück eines komplexen psychophysischen Vorgangs verifizieren kann.
Shuttle-Transport vom Grenzadler nach Schmiedefeld auch das hervorragend organisiert. Unterwegs konnte ich noch diejenigen sehen, die sich über die letzten 10 Kilometer quälten und länger als 12 Stunden brauchen würden. Wie hatte ich diese Kilometer früher verflucht, wie sehr beneidete ich jetzt aus dem Autofenster die aus dem Läufer-Lot geratenen Gestalten, die dem Ziel entgegenschlurften! In Schmiedefeld das vertraute Flair eines Zielgeländes, das seinesgleichen sucht. Keine Medaille, aber ein am Vortag nun zu Unrecht erhaltenes Finisher-Shirt, das sich aber vielleicht auf die vergangenen 14 Supermarathon-Zielankünfte transponieren läßt. Den Maßstab meiner Leistung muß ich mir selber bilden: Welche Altersgenossen legen noch 54 Kilometer ohne andere Pausen als zum raschen Empfang von Wasser, Tee, Haferschleim und Banane in zügigem Wanderschritt zurück? Was bleibt? Auf jeden Fall, die Herausforderung, wenn auch auf niedrigerem, dem Alter entsprechenden Niveau, angenommen zu haben. Der Supermarathon bleibt verschlossen, so wie für Tausende von Comrades-Teilnehmern das Stadion von Durban oder Pietermaritzburg. Schmiedefeld jedoch bleibt nicht unerreichbar, andere Wege führen dahin. Wenn schon der thüringische Ministerpräsident sich nur den Halbmarathon des GutsMuths-Rennsteiglaufs zutrauen kann, dann werde ich wohl zumindest noch beim nächstenmal zum Marathon zurückkehren können. Selbst dem 100jährigen Kurt Ost aus Saalfeld, der mit 95 Jahren in neun Tagen die gesamten 168 Kilometer des Rennsteigs gewandert ist, hat der Rennsteiglauf 1997 noch eine Alternative geboten, die 15-km-Wanderung.
Nicht nur Menschen werden ungerecht behandelt, auch Bücher. Da gibt es Blender, und es gibt Kantige, die wenig Freunde haben, weil sie unbequem sind. Es gibt Marktschreier, und es gibt Stille. Typisch für die erste Sorte Bücher erscheint mir „Mein langer Lauf zu mir selbst“. Ich habe es bis auf Auszüge nicht gelesen, weil mir der Autor suspekt gewesen ist. Der Autor soll mal in Hamburg und New York Marathon gelaufen, bald jedoch zum alten Übergewicht zurückgekehrt sein. Wie glaubwürdig ist ein Buchautor, der das, was er als seine persönliche Erweckung preist, wenige Jahre danach wieder aufgibt? Da muß man gar nicht seine politische Karriere im Auge haben, die läuferische genügt. Angeblich 200.000 Menschen haben damals sein Buch gekauft, nur deshalb gekauft, weil sich der Autor, Josef Fischer, in der Politik einen Namen gemacht hat. Man muß nichts zu sagen haben, der Name genügt.
Das andere, auf das ich hinauswill: Ein kantiges Buch, es ist nicht unterhaltsam, enthält viele Daten und läßt sich nicht im mindesten in einem Zuge lesen. Es sind 1229 Seiten in drei Bänden. Der Autor hat zwar einen Namen, aber einen als Wissenschaftler, insbesondere als Historiker der Olympischen Spiele. Man weiß ja, daß Wissenschaft trocken ist. Es ist ein wichtiges Werk, doch wo eigentlich ist es gewürdigt worden? Reden wir nicht von Medien, deren Betreiber einen Conferencier wie Achilles, einen Redakteur des „Spiegel“, der sich jahrelang über Läufer lustig gemacht hat, zu ihren Lieblingsautoren zählen! Kommen wir zum Kern! In der Reihe „100 Jahre Leichtathletik in Deutschland“ hat Karl Lennartz eine Geschichte des Marathonlaufs veröffentlicht. Dem ersten Band, der im Jahr 2005 erschienen ist, sind im vorigen Jahr die beiden weiteren Bände gefolgt, merkwürdigerweise nicht mehr im Verlag des ersten Bandes. Den ersten Band habe ich besprochen. Auf der Website deutscher Marathonveranstalter (sie heißen daher German Road Races), wo in den „Rezessionen“ wirklich, so steht es da der Anspruch einer deutschen Laufsport-Bibliographie erhoben wird, ist das Werk nicht erwähnt.
Nach meiner Ansicht bedeutet das Erscheinen der drei Bände „Marathonlauf“ ein Laufbuch-Ereignis. Das Werk hat den Fehler, daß es nicht auf Englisch erschienen ist, dann wäre wahrscheinlich gebührend Notiz genommen worden.
Was ich hier schreibe, ist nicht der Ansatz einer Besprechung. Ich möchte nur mein Herz ausschütten über die Ignoranz, die dem Werk von Karl Lennartz zuteil geworden ist. Daher habe ich das Tagebuch gewählt, um mich in der nun offenbar über uns hereinbrechenden Flut der Laufbücher über die Art der Rezipienz eines seriösen wissenschaftlichen Werkes, zu dem ich dem Verfasser und seinen Mitarbeitern im Hintergrund gratuliere, zu äußern.
Für die Leser dieser Tagebuch-Eintragung einige Informationen: Im 1. Band hat Dr. Lennartz die Entstehung und Entwicklung des Marathonlaufs bis in das Pionierstadium in der Zeit Ernst van Aakens dokumentiert und beschreibend kommentiert. Der Teil 2 beginnt mit der Gründung der Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer und stellt die Entwicklung des Marathons in der Bundesrepublik, der DDR und gesamtdeutsch bis zum Jahr 2004 dar. Manches hätte ich gern ausführlicher geschildert gesehen; doch der Band ist ohnehin voluminös. Der 3. Band ist den Marathonläuferinnen gewidmet. Schon die Dokumentation des Frauen-Marathons von Melpomene bis Kathy Switzer, von Christa Vahlensieck bis zu Katrin Dörre und Uta Pippig ist verdienstlich. Und wieder: Auf einer Website, die sich anheischig macht, eine Bibliographie über Frauen im Sport zu erarbeiten, kein Hinweis auf diesen Band, der schließlich die Brücke schlägt zu all den vielen Marathonläuferinnen in Landschafts- und in Citymarathons. Dabei gibt es einige Trainingsbücher für Frauen. Als ob diese so sehr viel anders trainierten denn Männer! Es wird also zu Recht ein Markt gesehen. Doch an den zugegeben spröden Grundlagen des Frauen-Marathons besteht offenbar kein mediales Interesse.
Sicher, das Erscheinen der drei Bände „Marathonlauf“ in der Reihe „100 Jahre Leichtathletik in Deutschland“ brilliert nicht gerade durch professionelles Marketing. Band 1 ist bei Spiridon erschienen, Band 2 und 3 bei Verlag Werbung UM Sport. Entsprechend sind die beiden Bände 2 und 3 mit Werbung befrachtet. Die ist nicht schlechthin des Teufels, den Inserenten ist zu danken, daß sie einen günstigen Verkaufspreis ermöglicht haben; doch dem Erscheinungsbild eines Buches tut es nicht gut die Deutsche Post befördert Bücher mit mehr als zwei Seiten Werbung (wobei es auf die Placierung auch noch ankommt) nicht mehr zum ermäßigten Tarif als Büchersendung. Ich frage mich, was sich manche Inserenten dabei gedacht haben mögen, als sie in Büchern, die eine Halbwertzeit von Jahrzehnten haben, Anzeigen mit bereits jetzt längst vergangenen Terminen placiert haben.
Obwohl die Druckerei nicht gewechselt hat, ist das Rot des Einbandes in unterschiedlichen Tönungen. Das alles ist absolut kein Grund, vom Kauf der drei Bände Abstand zu nehmen. Für Läufer mit historischem Interesse gehört das Werk „Marathonlauf“ in die Handbibliothek. Anders als so manches Plauderstück, das mediale Begeisterung hervorruft, eignet es sich nicht zu kurzweiliger Lektüre, wohl aber zu häufigem Nachschlagen. Im Grunde genommen wäre in einigen Jahren die Fortsetzung der Reihe zu begrüßen. |
Spätestens seit Beginn der Laufbewegung weiß man, daß die körperlichen Funktionen auch Auswirkungen auf die geistig-seelischen Funktionen haben. Zu van Aakens Zeiten begnügte man sich mit der allgemeinen Erkenntnis, daß vermehrte Sauerstoffversorgung auch die Hirndurchblutung verbessere. Es ist jedoch nicht allein der Sauerstoff, der kognitive und psychische Prozesse in Gang setzt oder vertieft. Mit zunehmender Einsicht in biochemische Prozesse haben sich immer neue Fragestellungen ergeben und Erkenntnisse konkretisiert. Eine neue Untersuchung am Universitätsklinikum Ulm, genau: an der Akademie für Gesundheitsberufe, hat einen deutlichen positiven Effekt eines Ausdauertrainings auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns nachgewiesen. Professor Manfred Spitzer, der die Studie vor kurzem vorstellte, formulierte bündig: „Sport macht das Gehirn effektiver“.
Da ich mich nicht mit der Pressemitteilung begnügen mochte, hat mir einer der beiden Leiter der Studie, Dr. Ralf K. Reinhardt, Dozent an der Akademie für Gesundheitsberufe, eine Zusammenfassung der Untersuchung übermittelt. Der Studie war im Jahr 2005 eine Pilotstudie vorausgegangen. Danach waren 28 Schüler und Schülerinnen der Schule für Medizinisch-technische Laboratoriumsassistenz (MTLA) nach dem Zufälligkeitsprinzip in eine Läufer- und eine Nichtläufer-Gruppe eingeteilt worden. Die Sportgruppe ging nach einem sportwissenschaftlich fundierten Trainingsplan dreimal wöchentlich laufen, die anderen trieben keinen Sport. Nach sechs Wochen wurde gewechselt, aus der Nichtläufer-Gruppe wurde eine Läufergruppe. Am Beginn und am Ende jedes der beiden Trainingsabschnitte wurden psychologische Tests vorgenommen. Bei beiden Gruppen bewirkte das Lauftraining eine Verbesserung von Hirnfunktionen, vor allem in den Bereichen visuell-räumliches Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit und positive Stimmung. „Bemerkenswert ist, daß die positiven Effekte des Lauftrainings offensichtlich über Zeiträume von mehreren Wochen bestehen bleiben, was das gute Abschneiden der ersten Läufer/-innen-Gruppe im zweiten Teil der Pilotstudie zeigt.“
Um den physiologischen Ursachen besser auf die Spur zu kommen, begann man in Ulm mit einer erheblich differenzierteren und aufwendiger angelegten neuen Studie. Diesmal nahmen 128 Probanden davon 77 über die gesamte Dauer teil. Das Trainingsprogramm, das mit dem Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Karlsruhe (Professor Klaus Bös) aufgestellt worden war, erstreckte sich über 17 Wochen. Die psychologischen Tests zu Beginn und am Ende der Hauptstudie 2006 waren, wie es in der Zusammenfassung der Studie heißt, umfangreicher angelegt und umfaßten sowohl das räumliche Vorstellungsvermögen als auch unterschiedliche Bereiche der sogenannten exekutiven Funktionen, zu denen zielgerichtetes Planen, Impulskontrolle, Fehlerkorrektur, emotionale Regulation und Arbeitsgedächtnis gerechnet werden. Im Hinblick auf diese Funktionen konnten die Läufer und Läuferinnen ihre Leistungen während des Trainingsprogramms zum Teil hochsignifikant verbessern. Die Nichtläufer hingegen zeigten kaum Veränderungen. Die deutlichsten Verbesserungen waren bei denjenigen Läufern und Läuferinnen zu beobachten, die zu Beginn der Studie zu den weniger fitten Probanden zählten.
Ein weiteres Untersuchungsziel der Hauptstudie war, das Enzym COMT (Catechol-O-Methyltransferase) zu bestimmen, das unter anderem beim Abbau des Neurotransmitters Dopamin eine Rolle spielt. Der Dopaminspiegel steht wiederum in Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit im Bereich der exekutiven Funktionen. Erstmals konnte eine Aussage darüber gemacht werden, ob und inwieweit eine Leistungsverbesserung durch Lauftraining im Bereich der exekutiven Funktionen vom Genotyp des Enzyms (schnelle oder langsame COMT) abhängt. Von dem Lauftraining profitierten danach gerade die anfangs benachteiligten Probanden am meisten, nämlich diejenigen mit der schnelleren Form der COMT und damit weniger Dopamin in der Hirnregion des präfrontalen Kortex. Sie konnten im Verlauf des Trainingsprogramms ihr „Defizit“ ausgleichen und zu den Probanden mit dem höheren Dopaminspiegel aufschließen.
Eine weitere Untersuchung waren Elektroenzephalogramme (EEG), mit denen Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche, hervorgerufen durch physiologische Vorgänge im Gehirn, gemessen werden. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der EEG-Untersuchung einen eindeutigen Zusammenhang zwischen körperlicher Fitneß und hirnelektrischen Prozessen. Größere körperliche Fitneß geht einher mit einer erhöhten Bereitschaft, auf einen Reiz zu reagieren, sowie mit effizienterer Hemmung von eingeleiteten Reaktionen und einer schnelleren Reizverarbeitungsgeschwindigkeit. Zusammengefaßt hat die Hauptstudie gezeigt, daß die Leistungsfähigkeit des Gehirns unter anderem genetisch bedingt ist. „Probanden mit ungünstigeren genetischen Ausgangsbedingungen sind nach unseren Ergebnissen in der Lage, diese Nachteile durch aerobes Ausdauertraining auszugleichen und hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Gehirns zu den begünstigteren Probanden aufzuschließen. Im EEG wird darüber hinaus deutlich, daß fittere Probanden eine schnellere und effizientere Reizverarbeitung zeigen.“
Wenn ich das übersetze: Genies, die faule Säcke sind, haben keinen Vorzug im Vergleich zu biochemisch weniger gut ausgestatteten Menschen, wenn diese etwas für ihre körperliche und damit auch geistige Fitneß tun. Der Aufhänger der Pressemitteilung über die diffizilen Vorgänge lautete: Trug die Pilotstudie „Macht Laufen schlau?“ noch ein Fragezeichen, so habe die Hauptstudie jetzt das Fragezeichen beseitigt Laufen macht schlau. Sanna Stroth, die ebenfalls für die Hauptstudie verantwortlich zeichnet, meinte aber auch: Vokabeln müsse man trotzdem lernen. Das Potential des Gehirns lasse sich durch Ausdauertraining steigern, aber nur Laufen reiche auch nicht. Denn das räumliche Vorstellungsvermögen profitiere mehr von den körperlichen Aktivitäten als die verbale Merkfähigkeit.
Auch wenn noch Fragen offen sind nämlich: Welche Bewegungsformen sind für die geistige Leistungsfähigkeit besonders geeignet? Welche Dauer der Aktivitäten ist optimal? , so ergibt sich nach Ansicht der beiden Wissenschaftler auf jeden Fall eine Konsequenz für die Schulpolitik und die Unterrichtsgestaltung; reduzierte oder gar ausfallende Sportstunden seien der falsche Ansatz. Und wieso nur Sportstunden? Gibt es nicht auch in der Familie Möglichkeiten, die aerobe Ausdauer zu fördern? Die Bewegungsarmut fängt doch schon damit an, daß die noch nicht Schulpflichtigen rasch mit dem Auto in den Kindergarten gebracht werden (müssen), die politisch gewollte Tendenz zu mehrzügigen Schulen zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zwingt und der Sonntagsausflug, wenn er denn stattfindet, mit dem Auto statt mit dem Fahrrad oder zu Fuß unternommen wird. Das fürchterliche Resultat, das uns im Umkehrschluß von „Laufen macht schlau“ nun droht, wird sein: Die Menschen der Industriegesellschaft werden dümmer.
Am Montag nach dem London-Marathon war ich beim Arzt. Unabhängig voneinander sprachen mich der Doktor und seine Frau auf die Nachricht an, daß ein Hunderteinjähriger am London-Marathon teilgenommen habe. Ich selbst hatte die Nachricht nicht gehört, Marianne hat sie mir erzählt. Offenbar fehlte jedoch die Information, wie lange er gebraucht habe. Die FAZ hat zwar ein Porträt gebracht, aber das war drei Tage vor dem Marathon. Was da über den ältesten Marathonläufer der Welt, namens Buster Martin, zu lesen war, verwunderte mich. „Er ist kein geübter Langstreckler, hat keine Langlauferfahrung, jedenfalls keine in sportlichen Maßstäben.“
Ich begann zu recherchieren. Früher hätte ich mit Andy Milroy in London, dem Statistiker der International Association of Ultrarunners, korrespondieren müssen; heute genügt eine Stunde Surfen im Internet, und man ist im Bilde. Naheliegend war, die Website des Flora London Marathon aufzurufen. In der Ergebnisliste kommt Buster Martin nicht vor. Die M 80+ wird angeführt von Kenneth Clarke mit 4:17:16 Stunden. Da fällt einem der Kinnladen herunter. Beim zweiten wird’s dann schon menschlich: 5:20:20. Der dritte liegt mit 5:50:37 über meiner Berliner und Münchner Marathonzeit vom vorigen Jahr Mann, bin ich gut! Warum bloß nicht in Freiburg ein halbes Jahr später? Die einzige Frau in W 80, einer Altersklasse, die sonst kaum vorkommt, lief ebenfalls 5:50:45. Der siebente trudelte dann in 7:31:17 Stunden ein. Das ist alles in allem eine ordentliche Perspektive; man muß nicht aufhören, wenn man in Freiburg aufgibt. Der Starterliste nach waren 18 Männer und eine Frau in der Klasse 80+ für den London-Marathon gemeldet. Offen bleibt, wie viele tatsächlich am Start waren. Buster Martin also kam nicht in die Wertung, die Zeitmessung war schon abgestellt, als er nach etwas über zehn Stunden eintraf.
So recht befriedigt das Recherche-Ergebnis nicht. Doch es kommt schlimmer. Schon das FAZ-Porträt ließ eine schillernde Persönlichkeit erkennen. Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia jedoch weiß mehr. Danach erkennt die Redaktion des Guinness-Buchs der Rekorde die Leistung des angeblich ältesten Marathonläufers der Welt nicht an. Kann sie ja wohl auch nicht, wenn der Einlauf nicht offiziell festgestellt worden ist.
Nicht nur, daß Buster Martin eigentlich Pierre Jean Martin heißt, er soll auch sieben Jahre jünger sein. Es existieren keinerlei amtliche Dokumente über sein Geburtsdatum; er ist in Frankreich geboren und kam mit sechs Jahren nach Cornwall ins Waisenhaus. Wieder in Frankreich soll er im Alter von 14 Jahren, wie er laut Wikipedia selbst angibt, geheiratet und 17 Kinder gezeugt haben. Der älteste Sohn soll 86 Jahre alt sein, habe ich in „France dimanche“ gelesen, das mir ein Sportfreund zugeschickt hat; als Ansporn wahrscheinlich. Der 86jährige Sohn eines 15 oder 16 Jahre alten frühreifen Vaters das spräche dafür, daß Martin am 1. September tatsächlich seinen 102. Geburtstag feiert. Buster Martin selbst soll jedoch vor Jahren einmal der Gesundheitsbehörde als Geburtsdatum den 1. September 1913 angegeben haben. Er wäre damit also erst 94 Jahre alt. Das reicht nicht für einen Altersrekord, schon gar nicht mit über zehn Stunden. | ||
"France Dimanche" berichtete
über Buster Martin |
Josef Galia ist mit 92 Jahren den New York Marathon in 7:32 Stunden gelaufen. Den Weltrekord in M 90 hält der in Essex lebende Inder Fauja Singh, aufgestellt im Alter von 93 Jahren in Toronto, mit 5:40 Stunden. Fauja Singh ist jetzt 97 Jahre alt. Er ist aus anderem Holz geschnitzt als Buster Martin, der mit 7 Jahren anfing zu rauchen und unbefangen über seinen Biergenuß plaudert. Fauja Singh ist bereits in der Jugend gelaufen und nahm im Alter von 81 Jahren, als er nach Großbritannien kam, das Lauftraining wieder auf. Er raucht nicht, er trinkt keinen Alkohol, und er ist Vegetarier. Doch auch wenn Buster Martin sieben Jahre jünger sein sollte, wäre Fauja Singh wahrscheinlich nicht der älteste Marathonläufer der Welt, noch nicht.
Das ist angeblich der Grieche Dimitrion Yordanidis (Jordanides) gewesen, der 1976 im Alter von 98 Jahren auf der klassischen Strecke von Marathon nach Athen 7:33 Stunden unterwegs gewesen war. Da ich ebenfalls bei diesem Lauf, einem Hitzelauf, gewesen bin, habe ich die Berichte darüber besonders interessiert gelesen. Manfred Steffny hat damals in „Spiridon“ diese Altersleistung angezweifelt und behauptet, Yordanidis sei ein Stück im Auto gefahren.
In Griechenland, das ja auch seinen Beitritt in die Eurozone mit staatlichen Lügen erschlichen hat, war so etwas damals nicht auszuschließen (beim Spartathlon ging es dann korrekt zu). Die Redaktion des Guinness-Buches der Rekorde arbeitet zwar sorgfältig und prüft kritisch, aber wenn Yordanidis aufgeführt ist, zeigt das, daß man offenbar den offiziellen Angaben vertraut hat. So kommt es, daß solche Altersleistungen leider eher ins Kuriositätenkabinett rücken. Dabei sind die Leistungen von Martin und Singh, ihre Flexibilität und ihr Koordinationsvermögen, wirklich bemerkenswert (man kann sie bei YouTube gemeinsam trainieren sehen); sie zeigen, daß auch ein hohes Alter nicht zum Verdämmern in Demenz führen muß. Buster Martin hat einen kleinen Job bei einem Installationsbetrieb; er wäscht die Autos. Er ist Schlagzeuger in einer Band namens the Zimmers, deren jüngstes Mitglied 67 Jahre alt ist. Ein Bild in „France Dimanche“ zeigt ihn beim Boxtraining. |
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"France Dimanche" berichtete ausführlich
über den Wunderläufer Buster Martin
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Das Salutogenese-Modell, das uns statt Krankheiten die Faktoren der Gesundheit erklären soll, fände im Marathon der Hochbetagten reiches Anschauungsmaterial. Dazu müssen jedoch die Voraussetzungen stimmen. Seit der Chip-Kontrolle mit der Zeitmessung unterwegs ist dem Betrug ein Riegel vorgeschoben; die großen City-Marathons verstärken, anders als auf menschenleeren Strecken wie zwischen Marathon und Athen, die soziale Kontrolle. Wenn jetzt noch französische Behörden tätig würden, um das wahre Alter von Pierre Jean Martin zu ermitteln, wäre nicht nur dem Guinness-Buch der Rekorde gedient.
Am Samstag habe ich auf meiner Laufrunde ständig Gesellschaft gehabt. Kurz zuvor war eine Demonstration gegen den Bau einer zweiten Start- und Landebahn des Flughafens beendet worden, und die 15.000 Teilnehmer wanderten in alle Himmelsrichtungen nach Hause. Meine Laufrunde führt über die Filder, was auf Hochdeutsch schlicht Felder heißt. Geographisch sind die Filder eine weite Hochebene zwischen Neckar und Schwäbischer Alb. Ein fruchtbares Ackerland, das jedoch mehr und mehr besiedelt und mit Betrieben, zuletzt mit der Landesmesse, bestückt worden ist.
Im Westen, in Echterdingen, liegt der Stuttgarter Flughafen. Die Landebahn führt jedoch 3,3 Kilometer weit über die Filder-Hochebene. Wenn auf dem Flughafen die Turbinen eines Jets auf Hochlast gefahren werden, klirren bei uns, so der Wind ungünstig steht, die Fensterscheiben. Dabei wohnen wir im Osten der Filder in dieser Beziehung noch günstig, andere leiden direkt unter dem Verkehr auf den Anflugschneisen. In den neunziger Jahren ist die Start- und Landebahn nach Osten verlängert worden. Der Ministerrat der damaligen Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Späth hat in Anbetracht des sich schon damals regenden Widerstandes versichert, dies sei die letzte Inanspruchnahme des Filder-Bodens. Auch wer sich für den Stuttgarter Flughafen nicht im mindesten interessiert, findet hier ein klassisches Beispiel dafür, was von Zusicherungen politischer Mandatsträger zu halten ist. Sie gelten allenfalls für die Dauer der Amtszeit.
Nach Fertigstellung des Ausbaus ging die Flughafengesellschaft daran, eine Anzahl von Billigfliegern nach Stuttgart zu ziehen. So wird im Ländle, das neun Flugplätze hat, Verkehrspolitik gemacht. Die „Eßlinger Zeitung“ hat eine schöne Serie über die interessanten Arbeitsplätze auf dem Stuttgarter Flughafen gebracht die wenigsten Leser, vielleicht nicht einmal die Verfasser selbst, dürften die Beiträge als PR-Aktion erkannt haben, Public Relations für den weiteren Ausbau des Flughafens in einem dicht besiedelten Gebiet. München-Riem ist aufgegeben worden, Berlin-Tempelhof wird aufgegeben.
Die Stuttgarter Flughafengesellschaft ist in einem Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, eine zweite Start- und Landebahn müsse her. Sie rechnet mit einem Zuwachs von 7 Millionen Fluggästen bis zum Jahr 2020; 10 Millionen sind es schon. Immer ist die Bedeutung des Flughafens für die heimische Wirtschaft betont worden, und selbst in den Billigfliegern so wurde verlautet säßen Geschäftsleute. Aha, drum hat man wohl auch eine durchgehende Autobuslinie von Eßlingen zum Flughafen eingerichtet, weil die Geschäftsleute ja im Autobus zum Flughafen zu fahren pflegen. Das Gutachten der Flughafengesellschaft sieht mehrere Varianten für die zweite Rollbahn vor; das bedeutet, die gesamte Einwohnerschaft der Filder ist damit betroffen. Nur einer nicht, der Geschäftsführer Professor Georg Fundel; er wohnt im 30 Kilometer entfernten Reutlingen. Da zudem eine Reduzierung des Nachtflugverbotes gefordert wird, sind die Bürger auf die Barrikaden gestiegen, was hierzulande wahrhaftig nicht jede Woche geschieht. Kommunen und Kreisverwaltung haben sich zu einem Schutzverband zusammengeschlossen. Die Demonstration fand an den beiden Aussiedlerhöfen statt, die auf jeden Fall der Startbahn weichen müßten (Wären die Erbauer mal schön im beengten, aber unantastbaren Ortskern geblieben! Demnächst sind die Investitionen futsch). Die CDU-Landtagsabgeordneten des Kreises hatten bedauerlicherweise am Samstagnachmittag keine Zeit.
Die Situation ist politisch heikel. Die Flughafengesellschaft mit beschränkter Haftung gehört zur Hälfte (demnächst mehrheitlich) dem CDU-regierten Land Baden-Württemberg, zur Hälfte der Stadt Stuttgart. Ministerpräsident Oettinger (CDU) hatte sich bis zum Samstag damit gerettet, daß er die Machbarkeitsuntersuchungen „ergebnisoffen“ diskutieren will. Seit der Demonstration hält er eine Kompetenzteilung für möglich, nämlich daß in Echterdingen mehr Geschäftsflüge abgewickelt werden könnten und in Baden-Airport, der ebenfalls der Stuttgarter Flughafengesellschaft gehört, mehr Urlaubsflüge. Wie ich heute in der Zeitung gelesen habe, hatte diesen Vorschlag bereits die SPD-Opposition im Jahr 2006 gemacht. Der Innen- und Verkehrsminister (CDU) hatte die Schwerpunkt-Setzung damals zurückgewiesen, weil in einer Marktwirtschaft nicht umsetzbar.
Vielleicht sorgt sich der Ministerpräsident nun um den Ausgang der nächsten Landtagswahl? Doch ich bin sicher, die Einwohnerschaft der Filder wird mehrheitlich wieder CDU wählen, die Regierungspartei, die seit Jahrzehnten die Expansion des 400 Hektar großen Flughafens zu verantworten hat. Die Flughafengesellschaft (jährlicher Umsatz 211 Millionen Euro) brüstet sich in ihrem Gutachten damit, Anschub für den Tourismus zu geben. Auch da bin ich sicher: Kein Filder-Bewohner wird sich fragen, ob er nicht auf seinen nächsten Urlaubsflug ab Stuttgart verzichten soll. Demonstrieren ist einfacher.
Marianne hat mir heute gesagt, außer dem ersten Satz habe das überhaupt nichts mit dem Laufen zu tun. Daran dachte ich, als ich heute durchs Körschtal trabte. Auf diesem ein Kilometer langen Abschnitt kreuzten vier Jets jeweils auf dem Anflug meine Laufroute. Immer wenn ein Jet anfliegt, höre ich nicht, wenn sich mir auf dem für den öffentlichen Verkehr gesperrten Sträßchen von hinten ein Auto nähert. Die Autofahrer wissen offenbar nicht, daß ich sie nicht hören kann. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt es nicht, da die Straße ja nur von landwirtschaftlichen Fahrzeugen und Anliegern befahren werden darf. Bis jetzt habe ich Glück gehabt.
Alles im Leben passiert irgendwann zum ersten und zum letzten Mal. Es sieht so aus, als wäre am Sonntag beides zusammengekommen. Doch da ich für den Berlin-Marathon gemeldet habe, kann es nicht der letzte Marathon gewesen sein. Aber es ist der erste Marathon, bei dem ich aufgegeben habe. Zwar bin ich beim Zermatt- und wohl auch beim Alpin-Marathon im Allgäu nicht mehr in die Wertung gekommen, weil ich erst nach Zielschluß eintraf. Aber ich habe noch jeden Marathon beendet, zu dem ich gestartet war. Am Sonntag, beim Freiburg-Marathon, ist es das erstemal gewesen, daß ich mich zum Aufgeben entschloß.
Ich werde nicht von einem persönlichen Waterloo sprechen, Marathon ist kein Krieg, auch wenn er auf Krieg zurückgeht. Ich muß mich mit der Realität vertraut machen. Wohl haben Sportfreunde von mir schon, wohl mehr im Scherz, als von einem Laufwunder gesprochen. Doch zum einen habe ich mich nicht als solches gefühlt, zum anderen gibt es zumindest auf diesem Gebiet keine Wunder. Wenn man auf Ausnahmenaturen blickt, dann muß man in Deutschland Arthur Lambert, Josef Galia und Adolf Weidmann im Auge haben und, wenn man Spitzenleistungen im Alter meint, Heinrich Gutbier, Walter Bittmann und einige andere. Ich bin, was ich in vierzig Jahren Marathon gewesen bin, auch mit Altersleistungen nur guter Durchschnitt. Im Alter fällt unsereiner deshalb auf, weil es noch so wenige gibt, die sich einer Leistungsmessung aussetzen.
Vorurteile erstrecken sich bis in Läuferkreise hinein. Im April-Heft von „Spiridon“ ist ein Leserbrief abgedruckt, der auf die Klage Bezug nimmt, daß so wenige ehemals erfolgreiche Langstreckler in der Masterklasse zu finden seien. Der Verfasser bringt Argumente der Ästhetik ins Spiel. Es gebe eben keine grauen Gazellen, bestenfalls wackelnde graue Kamele. Nun bin ich zwar auch nicht dafür, mit Siebzig Hürden zu erklettern oder den Hochsprung zum Stabhochsprung zu machen, aber was spricht dagegen, Sport in einer Wettkampfdisziplin zu betreiben, deren Voraussetzung länger erhalten bleibt als die anderer Sportarten, nämlich die Ausdauer? Für wen treiben wir denn Sport für Leute, die keine wackelnden Kamele sehen wollen? Wer im Marathon keine grauen Kamele erblicken möchte, braucht bloß die Strecke, so er sie denn aufgesucht hat, rechtzeitig zu verlassen. Emil Zatopek, der seine Weltrekorde ja auch nicht gerade als Gazelle vollbrachte, hätte ich lieber als wackelndes graues Kamel neben mir gesehen als nur am Start mit der Pistole in der Hand. Die Vorurteile des Leserbrief-Verfassers erinnern mich stark an die Vorurteile gegen Leistungssport von Frauen, die bis in die fünfziger Jahre, im Verbandssport auch noch länger, reichten. Ich sehe schon, ich muß das Buch, das ich im Hinterkopf habe, unbedingt schreiben.
Hier und jetzt versuche ich, mich freizuschreiben von dem, was am Sonntag passiert ist. Ich leide nicht, wenngleich ich enttäuscht bin; ich reflektiere. Im vorigen Jahr, nach der Rehabilitation, bin ich in Berlin und München Marathon in 5:31 Stunden gelaufen, zwar nicht Spitze in der M 80, aber auch nicht schlecht, ja, für einen im Jahr zuvor am Herzen Operierten hervorragend. Nach dem Arolser Advents-Waldmarathon sollte der Freiburg-Marathon der erste in diesem Jahr werden. Ich habe schon bei den langen Trainingseinheiten gemerkt, daß sie mir schwer fielen. Ich habe im Training keine Halbmarathonstrecke laufend zurückgelegt, sondern immer nur mit längeren Gehpassagen zwischendrin. Nach jeder Gehpassage fiel mir das Laufen schwerer. Nun hatte ich noch die Hoffnung, daß mich ein Wettkampf motivieren würde durchzutraben wie in Berlin und München, wenn man von Gehpausen an Verpflegungsstellen absieht. Die Voraussetzungen in Freiburg waren günstig. Der Veranstalter hatte mir gar einen VIP-Status eingeräumt. Nicht daß ich diesen erstmaligen Status genossen hätte als wichtiger denn andere zu gelten, schafft ja auch Distanz , aber es war angenehm, einen gesonderten Umkleideraum zu haben und sich dort entspannt sitzend bis kurz vor dem Start aufhalten zu können.
Noch beunruhigte mich nicht, daß mir der Antritt schwer fiel. Den Moment, das Feld meinen Augen entschweben zu sehen, bin ich seit Jahren gewohnt. Man muß den Willen haben, sein eigenes Rennen zu laufen. Beim Blick auf die Uhr erkannte ich eine Verschärfung meines Trainingstempos. Drum fielen mir diese ersten Kilometer so schwer. Nach etwa fünf Kilometern hatte ich mich eingelaufen, spürbar, wie wenn es einen Ruck gegeben hätte. Ich hatte das Wohlfühltempo erreicht. Leider schwächte es sich wenige Kilometer später wieder ab. Nach Kilometer 9, wo ja angeblich die Endorphine nur so ins Hirn purzeln, fühlte ich mich ermattet, als ob ich bereits 30 Kilometer zurückgelegt hätte. Bei Kilometer 15 hatte ich das dringende Bedürfnis nach einer Gehpause. Danach ging es besser, aber das Bedürfnis nach einer Gehpause übermannte mich immer rascher. Drei Kilometer vor dem Ende der ersten Runde stellte ich mir die Frage: Weitermachen oder aufgeben? Bei einem Landschaftsmarathon wäre ich in immer kürzeren Intervallen weiter getrabt und gewandert. Irgendwann wäre ich schon angekommen. Doch hier in Freiburg mitten durch die Stadt und angesichts der zahlreichen Publikumsnester um die Bands herum, ich hätte die zweite Runde als Spießrutenlaufen und jede Anfeuerung als Hohn empfunden. Wenn es keiner gesagt hätte, so bildete ich mir doch ein, daß es mancher gedacht hätte: Was muß der alte Mann sich da noch schinden! Wären mir diese Gedanken bei Kilometer 30 gekommen, hätte ich sie beiseite gewischt - Augen zu und durch! Selbst wenn ich die 6 Stunden überschritten hätte. Aber wenn dies die Situation bei Kilometer 18 ist, redet die Vernunft, so sie bei einem bald 82jährigen Marathonläufer noch vorhanden ist, ein gewichtiges Wort. Ich faßte den Entschluß, in den Zielkanal einzubiegen 2:57:07 für die 21,1 Kilometer. Beim Halbmarathon, der mir nicht anspruchsvoll genug erschienen war, wäre ich damit nicht einmal der Letzte gewesen. Ein Trost, aber die Frage bleibt offen: Wie geht es weiter?
Es gibt, gestehe ich, gefälligere Lauftagebücher.
Irgendwo habe ich gelesen, die Entzündung der olympischen Fackel in Olympia sei gestört worden. Eine Delegation von „Reporter ohne Grenzen“, einer Organisation für die Pressefreiheit, hatte ein Schriftband entrollt, auf dem Chinas Unterdrückung der Tibeter angeprangert wurde. In den Köpfen von Journalisten, die das als Störung ansehen, sind Demonstrationen mithin Störungen. Wenn die Journalistenverbände für Einkommensverbesserungen ihrer Mitglieder auf die Straße gehen und demonstrieren, stören sie also. Das muß man wissen.
Nun kann ich mir auch vorstellen, wie die Regimekritik der Tausende von Sportjournalisten in Peking aussehen wird: Sollte es zu Demonstrationen während der Olympischen Spiele kommen, wird das journalistisch als Störung bezeichnet werden. Störungen beseitigt man, so rasch es geht. Nichts anderes macht das Regime, als Störungen in Tibet zu unterbinden. Es weiß sich nun des Einverständnisses im Westen sicher. Für das Regime gibt es daher keinen Grund, von seiner blutigen Linie abzuweichen. Außenminister Steinmeier hat versichert, Regierungsmitglieder würden nicht nach Peking reisen. Aber, beeilte er sich hinzuzufügen, das sei eh nicht geplant gewesen. So sieht die Haltung der deutschen Politik zu Menschenrechtsverletzungen in Tibet aus.
Auf meine letzte Eintragung habe ich Zuschriften bekommen, keine Schmähungen, sondern ernstzunehmende Einwände. Wie denn überhaupt die Forumsdiskussion über mögliche Reaktionen auf die Vorgänge in Tibet und die Zensur auf einem hohen Niveau verläuft. Jede Fraktion, die der Boykott-Befürworter und die der -Gegner, kann Argumente der Gegenseite akzeptieren. Ich habe nur starke Zweifel, ob sich während der Olympischen Spiele Regimekritik artikulieren kann. Ein Boykott dagegen wäre eindeutig. Einigkeit scheint bei allen Diskutanten, ob für oder gegen Boykott, darin zu bestehen, daß man die Spiele 2001 nicht nach Peking hätte vergeben dürfen. Das Tibet-Problem bestand ja schon damals. Nur hat es die Welt, die mit China Handel treiben will, nicht wahrhaben wollen. Das Internationale Olympische Komitee hat sich korrumpieren lassen. Ich unterstelle keine persönliche Vorteilsnahme der Mitglieder, obwohl auch das in der Vergangenheit nicht auszuschließen war; aber das Komitee hat sich von Peking den neuen Superlativ Olympischer Spiele und damit Einnahmensteigerung und Ruhm versprochen. Und die Mitglieder des deutschen NOK hüten sich, durch Kritik den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen. Das verstehe ich unter Korruption.
Von der lauten Agora zum stillen Tagebuch. Am letzten März-Wochenende hat sich die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK) auf ihrer Jahrestagung in Mannheim mit Todesfällen im Sport befaßt, die ja seit einigen Jahren thematisiert sind. Zugrunde lag eine Studie am Westdeutschen Herzzentrum in Essen. Anlaß dazu war der Fall eines 63jährigen Läufers, bei dem in Essen wenige Tage nach einem erfolgreich absolvierten Marathonlauf zufällig ein beschwerdefrei verlaufener Herzinfarkt entdeckt worden war. Wie Dr. Stefan Möhlenkamp vortrug, sind in Essen 108 äußerlich gesunde, über 50 Jahre alte Läufer untersucht worden, die in den letzten fünf Jahren mindestens fünf Marathons gelaufen waren. Es verwundert nicht, daß die Marathonläufer, wie sich zeigte, ein um 50 Prozent geringeres kardiovaskuläres Risikoprofil im Vergleich zur gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung haben. Dagegen läßt dieser Befund aufhorchen: Die Ausprägung der Koronarverkalkung war bei der Marathongruppe ähnlich wie bei der Vergleichsgruppe. 36 Prozent der Läufer hatten wie die anderen im Hinblick auf Kalk Meßwerte, die ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko anzeigen. Bei 12 Prozent der Marathonläufer wurden Hinweise auf einen bis dahin nicht bekannten Herzmuskelschaden gefunden. Läufer mit einer besonders hohen Kalklast und diejenigen mit sehr vielen Marathonwettkämpfen hatten auch besonders häufig eine Herzmuskelschädigung.
Für manche Medien ist das ganz sicher ein gefundenes Nachrichten-Fressen gewesen. Leider trug dazu der Titel des Statements von Dr. Möhlenkamp bei: „Wie schädlich ist Langstreckenlauf?“ Denn ein solcher Titel muß implizieren, daß Langstreckenlauf generell schädlich ist. Dabei hat Dr. Möhlenkamp nicht versäumt, auf die Gesundheitsqualität des Ausdauersports hinzuweisen. Nur eben, so hat die Studie ergeben, liegt bei älteren, vermeintlich gesunden Marathonläufern oft eine bedeutende Koronarsklerose vor, die unterschätzt wird. Läufer mit ausgeprägter Arteriosklerose haben eine höhere Rate an unerkannten Herzmuskelschädigungen.
Wer aus der Studie eine Kausalität ableitet, könnte wahrscheinlich ebenso gut ein erhöhtes Risiko bei katholischen Brillenträgern oder linksrheinischen Radfahrern entdecken. Dr. Möhlenkamp versucht, dem vorzubeugen: Ob Marathonlaufen selbst zur Herzmuskelschädigung beitragen könne, müsse weiter untersucht werden. Nun denn, ich habe meine Antwort gefunden: Der Marathon bringt es nur an den Tag.
Die Ursache der auch in der Studie ermittelten arteriosklerotischen Veränderungen liegt woanders. Ich halte es mit dem großen Gesundheitslehrer Max Otto Bruker, der vor Jahrzehnten schon die Arteriosklerose auf Fehlernährung zurückgeführt hat. In „Leben ohne Herz- und Kreislaufkrankheiten“ schreibt er: „Die Stoffwechselstörungen, die durch den Verzehr raffinierter Kohlenhydrate und anderer denaturierter Nahrungsmittel entstehen, können durch körperliche Bewegung nicht verhütet oder ausgeglichen werden. Wenn Sport mit falscher Ernährung kombiniert wird, schützt er nicht vor den Degenerations- und Ablagerungskrankheiten und vor anderen ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten.“ Aus dem Kontext (in „Sport und Vollwerternährung“ habe ich ausführlich zitiert) ergibt sich, daß Dr. Bruker dem Bewegungstraining durchaus einen hohen Stellenwert beimaß; seine Erkenntnis jedoch, daß Sport allein Koronarschäden nicht verhütet, hat wieder einmal seine Bestätigung gefunden.
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