Laufen, Schauen, Denken Sonntags Tagebuch |
In hohem Alter wendet der Mensch den Blick rückwärts. Das mag ja stimmen, denn an der Zukunft hat unsereins wahrscheinlich nur noch einen klitzekleinen Anteil. Doch ich habe noch andere Gründe, historische. Der Geschäftsführer der PR-Gesellschaft des DLV, Frank Lebert, hat behauptet, in den siebziger Jahren sei der DLV der Motor der Laufbewegung gewesen. Das war er nicht.
Es begann schon damit, daß der DLV, der Dachverband der Sportdisziplinen Laufen, Springen, Werfen, nicht erkannt hat, was sich in den sechziger Jahren tat. Otto Hosse und Freunde hatten, modifiziert nach Schweizer Vorbild, für die Bundesrepublik den „Volkslauf“ erfunden. Dr. Ernst van Aaken hatte bereits Beiträge über den gesundheitlichen Nutzen des Dauerlaufs publiziert, das Ausdauertraining dem Freiburger Intervalltraining gegenübergestellt und neue Ideen, insbesondere das Ausdauertraining von Frauen und Kindern, entwickelt. In der von ihm angeregten IGÄL (Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer) sammelte er ältere Leichtathleten und neue Einsteiger wie mich.
Im Mai 1966 hatte ich mit dem Lauftraining begonnen, 1967 an den ersten (kurzen) Volksläufen teilgenommen und Kontakt zu einem Sportverein gesucht. Meine ersten Erfahrungen und Reflexionen legte ich in einem Beitrag nieder, der am 6. Oktober 1967 in der „Stuttgarter Zeitung“ erschienen ist. Der damalige langjährige Leiter des Sportressorts, Reinhold Appel, war aufgeschlossen; er bildete das Gegenstück zu dem „Eins-zu-Null“-Sportjournalismus. Diese Aufgeschlossenheit für das Laufen als Gesundheitssport fand ich auch bei der „ZEIT“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, während sich der „Spiegel“ noch jahrelang in Ironie erging. Deshalb kann ich die heutige Begeisterung über Achim Achilles, den Laufschriftsteller eines im Hinblick auf das Laufen total gewendeten „Spiegel“, nicht so recht teilen.
Den Beitrag in der „Stuttgarter Zeitung“ habe ich neulich – beim „Blick zurück“ – nach Jahrzehnten wieder gelesen und mich entschlossen, ihn den Lesern dieses Tagebuchs zu präsentieren. Manches ist nicht mehr relevant, aber im allgemeinen gibt er die Position von uns Einsteigern, die wir auf unseren Trainingsläufen von Passanten mit „Eins, zwei, eins, zwei“ verspottet wurden, und die Chancen, die der DLV damals gehabt hätte, zutreffend wieder. Hier nun der unveränderte Text vom Herbst 1967:
Es geht nicht um Silber, sondern um die Gesundheit Probleme eines Volksläufers – Man muß sich mehr um die Neulinge kümmern Im Oktober eilt das Volk wieder zu den Startplätzen: Am 8. Oktober findet in Weilheim an der Teck ein Volkslauf statt, am 15. in Heidenheim an der Brenz, am 22. in Frickenhausen im Neuffener Tal und am 29. Oktober in Ellwangen an der Jagst. In den Ausschreibungen stehen gute Worte von der „Idee des Volkssports“, von der Absicht, auch denjenigen eine Möglichkeit zur Bewegung und sportlichen Betätigung zu geben, „die heute noch abseits des Sports stehen“, vom Volkslauf als Spitzen- und Breitensport. Die Begeisterung, die dieser „zweite Bildungsweg zum Sport“ geweckt hat, die hohen Teilnehmerzahlen, die in den nächsten Jahren eher wachsen denn abnehmen dürften – denn das Interesse an der Gesundheitsvorsorge nimmt zu – und die Arbeit, die sich die Sportvereine damit aufgehalst haben, sollten kritische Betrachtungen nicht verhindern. Fragen wir einmal nicht die Veranstalter und Schirmherren, fragen wir keinen Spitzenläufer, fragen wir einmal einen aus dem Fußvolk des Volkslaufes, der wenig mehr mitbringt als den Willen, körperlich fit zu bleiben, einen Inaktiven, der im Schwabenalter aktiv werden will, kurz: fragen wir einen Mann des Volkes, das die Veranstalter von Volksläufen und -märschen anzusprechen bemüht sind, fragen wir mich: Kann der Volkslauf, so wie er heute betrieben wird, die Erwartungen erfüllen, die in ihn gesetzt werden – gesetzt werden müssen, wenn er wirklich breite Schichten zu sportlicher Betätigung aktivieren soll? Das „Volk“ stellt die Statisten Die Volksfestatmosphäre der Volksläufe kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Titelheld des Volksstückes noch keineswegs das Volk ist. Wir fungieren nur als Statisten; Hauptakteure sind die Leistungssportler. Der Volkslauf ist ein Langstreckenlauf, den der Club der Schnellen austrägt; wir, das Volk, sorgen nur für die schöne hohe Teilnehmerzahl. Die Sprache ist immer verräterisch: Als „Hauptlauf“ wird der Wettbewerb der Neunzehn- bis Einunddreißigjährigen bezeichnet. Wenn man also den Gruppen der Älteren von vornherein die Rolle „Ferner liefen...“ zuweist, klassifiziert man den Volkslauf als Sport von Spitzensportlern. Ich weiß, daß ich damit an die Terminologie des Sportes rühre; aber wer für den Sport wirbt, muß sich – wie in jeder Werbung – dem Begriffsvermögen der Anzusprechenden anpassen. Der Volkslauf, der Mini-Marathonlauf über 12 Kilometer, wird auch auf den nächsten Veranstaltungen wieder so ausfallen, daß sich drei Gruppen abzeichnen: das Feld der absoluten Spitzenläufer, mit denen insbesondere Weilheim Reklame macht (Lutz Philipp, Ludwig Müller, Schweizer, Brugger) – der Langsamste unter ihnen braucht für die 12 Kilometer noch keine 50 Minuten –, dann die Masse trainierter Vereinsläufer und weit danach die Gruppe, die läuft, um anzukommen. Denn es ist einfach nicht wahr, daß die Sollzeit einer Strecke wie der Weilheimer – sie ist schwerer als die Stuttgarter – für uns, die eigentlichen Volksläufer, „leicht erreichbar“ sei. Ich hab’s gemerkt: Um seine Zeit zu verbessern, muß man das Äußerste aus sich herausholen – und dann ist unsereins ganze fünf Minuten schneller als beim ersten Lauf. Zwischen den Schnellen und der Nachhut, die keiner so recht ernst nimmt – bitte, es macht mir nichts aus –, liegt ein Abstand nicht nur von mehreren Kilometern, sondern auch von Jahren – von Lebens- und von Trainingsjahren, wobei das Verhältnis häufig umgekehrt proportional ist. Die schnellen Jungen haben das längste Training. Die Zeitnahme sagt, wer alt ist Der Volksmarsch, bei dem nun wirklich jeder mitmachen kann – in Stuttgart sah man einen Beinamputierten und einen achtzigjährigen Professor – spiegelt sich in der Wertung als reiner Geherwettbewerb wider. Man kann darüber streiten – und ich bin gewillt, es zu tun –, ob das überhaupt ein sinnvoller Sport ist; schließlich hängt man sich ja auch keinen Rucksack zum Hochsprung um, damit man nicht so hoch komme. Den Geschwindschritt lasse ich allenfalls für Militärformationen gelten (denn aus Lebenserfahrung weiß ich, was Eilmärsche auf Rückzügen wert sind, wenngleich ordentliche Langstreckenläufe den zweiten Weltkrieg weit mehr verkürzt hätten). Nun ist es ja jedem unbenommen, Sport in der Form zu betreiben, die einer für richtig hält. Aber die Sportgeher bleiben ja nicht unter sich. Man fordert die Bevölkerung zum Mithalten auf. Braven Albvereinswanderern wird Hüftwackeln vorexerziert; bejahrten Spaziergängern versichert man, Mitmachen sei alles; aber die elektronische Zeitnahme ist grausamer und sagt den Alten, daß sie alt seien. Zwischen den professionellen „Gehern“ vorn und dem Gros klafft eine Meinungsverschiedenheit. Man braucht die Teilnehmer nur zu betrachten – die Kampfgeher im Sportdreß, das Volk in Wanderhabit oder Freizeitmoden –, um zu sehen, was jeder unter dem Volksmarsch versteht: hier den Kampf um Zehntelsekunden, weiter hinten einen undramatischen Leistungsbeweis als Gemeinschaftserlebnis in der Form eines zügigen Ausflugs oder eines ausgelassenen Juxes. Man spannt nicht Rennpferde neben Ackergäule Kaum daß aus der bürgerlichen Hülle eines Journalisten ein klitzekleiner Volksläufer entschlüpft ist, hat er schon das eigene Nest beschmutzt. Was also will er? Ich meine, daß sich die Veranstalter nicht darauf beschränken sollten, die Organisation immer mehr zu verfeinern – in Weilheim mußten selbst unschuldige Brombeerhecken daran glauben, weil sie Läuferwaden pieken könnten –; ich meine, daß man die Volkslaufbewegung mit sportpädagogischer Hand steuern sollte. Der zweite Weg zum Sport setzt durchaus eine Symbiose von Leistungssport und Breitensport voraus; aber diese erreicht man doch wohl nicht dadurch, daß man Rennpferde neben Ackergäule spannt. Meine Vorschläge:
Quo vadis, Volksläufer? Weniger Organisationseifer und mehr Anleitung, dann kommen wir schon hin – nämlich zur Breitenwirkung des Sports. Darüber nachzudenken, zahlt sich vielleicht sogar für die Vereine und damit für den Leistungssport aus. |
Der Bundespräsident ist gewählt, er hat die Amtsgeschäfte übernommen. Das Photo ist überaus originell: Drei Bundespräsidenten auf einmal, nämlich der zurückgetretene Bundespräsident Wulff, der kommissarische Bundespräsident Seehofer und der neugewählte Bundespräsident Gauck. Eine solche Konstellation wird man wahrscheinlich nicht gleich wieder zu sehen bekommen.
Wenn ich an die Vergangenheit denke, wird mir wieder einmal klar, welch weiten historischen Abschnitt wir Hochaltrigen erlebt haben. Als ich am 1. Januar 1952 in die Bundesrepublik kam, war Theodor Heuss noch in seiner ersten Periode als erster Bundespräsident. In seinem Todesjahr 1963 sah ich ihn zum letztenmal im Stuttgarter Schauspielhaus, dem ein Jahr zuvor eröffneten „Kleinen Haus“. Er hatte eine Beinamputation offenbar gut überstanden. Als er den bereits gefüllten Theatersaal betrat, standen wir alle auf. Es war eine unabgesprochene schweigende Ehrung. Heuss war ein Glücksfall für den jungen demokratischen Staat gewesen.
Mit Heinrich Lübke, seinem Nachfolger (1959 – 1969), tat ich mich wie so viele andere schwer. Möglicherweise haben wir ihm unrecht getan; in seiner zweiten Amtsperiode war bei ihm eine Zerebralsklerose diagnostiziert worden. Das wußten wir jedoch nicht. Wir lauerten auf die rhetorischen Mängel seiner Reden. Erst später erfuhren wir, daß die heitersten Fehlgriffe („Meine Damen und Herren, liebe Neger“) vom „Spiegel“ erfunden waren. Zu jener Zeit schlug ein Zeitgenosse den „Blödsinnstaler“ vor, eine scherzhafte Auszeichnung, die für politischen Unsinn verliehen werden sollte. Ich schrieb damals in der „Stuttgarter Zeitung“, in der ich Redakteur war, eine Glosse, in der ich dafür plädierte, Heinrich Lübke den Blödsinnstaler zu verleihen – „für sein Lebenswerk“. Der Herausgeber des Blattes billigte dies nicht, wie mir zugetragen wurde; mit einer solchen Glosse werde das höchste Staatsamt der Lächerlichkeit preisgegeben, soll er gesagt haben. Über Lübkes Erkrankung hätte die Bevölkerung informiert werden müssen; dann wären die Witzeleien vielleicht unterblieben.
Persönlichen Kontakt hatte ich einen Tag lang zu Karl Carstens (1979 – 1984) auf seiner Wanderung durch die damalige Bundesrepublik. Den hatten an jenem Tage etwa hundert Leute, die mit ihm durch den Harz wanderten. Über das Unternehmen schrieb ich unter anderem in „Spiridon“ (11/1980). Darauf erhielt ich den bösen Brief eines Lesers; er nahm mir übel, daß ich das Projekt eines früheren NSDAP-Mitglieds gewürdigt hatte. | ||
Erinnerung an den „Wander-Präsidenten“ Karl Carstens
(1980) - Photo: Sonntag
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Ich bin noch heute der Meinung, daß ich – zumal in sportlichem Sinne – richtig gehandelt habe. Die Bundesversammlung hatte nun einmal einen Bundespräsidenten mit Nazi-Parteimitgliedschaft gewählt, so wie auch Adenauer keine Bedenken gegen einen Nazi als Minister gehabt hatte und die Regierungsparteien keine Bedenken gegen einen Bundeskanzler mit NSDAP-Vergangenheit; nach ihm, nach Kiesinger, ist ein Platz in Stuttgart benannt. Bei der historischen Vergangenheit des untergegangenen Deutschen Reiches konnte es wahrscheinlich nicht ausbleiben, daß die Liste von Politikern mit Nazi-Parteizugehörigkeit sehr lang ist; Karl Schiller (SPD) war einer von ihnen. Sicherlich waren es in der damaligen Bundesrepublik prozentual mehr als in der DDR; aber im Prinzip war es in der DDR nicht anders. Nur wurde dort das Thema einseitig auf die Bundesrepublik projiziert. Im Journalismus ereignete sich das Gleiche, weder „Spiegel“ noch „Stuttgarter Zeitung“ mit einem antifaschistischen Herausgeber waren davor gefeit, Nazis Unterschlupf zu bieten. Julius Viel, Redakteur der „Stuttgarter Zeitung“ und der „Schwäbischen Zeitung“, konnte erst im Jahr 2001 wegen der Ermordung von sieben Gefängnisinsassen im Frühjahr 1945 in Theresienstadt verurteilt werden. Noch jetzt ist eine Anzahl seiner Wander- und Radwanderführer, für die er das Bundesverdienstkreuz erhalten hatte, bei Amazon zum Verkauf eingestellt.
Vom Anlaß, der Wahl Gaucks zum Bundespräsidenten, bin ich weit abgekommen. Doch ich meine, es tue uns ganz gut, an frühere Zeiten zu erinnern. Offenbar sind wir heute sensibler als damals.
Die Reiher (Ardeidae). Amseln – man muß aufpassen, daß man nicht auf sie tritt; sie fliegen nicht weg, sondern gehen beiseite. Die Finken – sie schlagen. Im Garten, von wo wir Gemüse beziehen, picken Meisen der Gartenbesitzerin aus der Hand. Seit Jahrzehnten laufe und gehe ich an der Wohnung der Tauben vorbei. Auf den Feldern arbeiten Krähen; sie fliehen nicht, sondern halten nur eine gewisse Distanz zu den Fußgängern ein. Rebhühner habe ich im Spätsommer gesehen. Versteht sich, daß es an der Laufstrecke Bussarde gibt. Nun also neu der Reiher.
Es ist nicht der erste Reiher, den ich hier sehe. Einer pickte sich aus unserem Wasserbecken die Goldfische heraus. Seither haben wir ein Netz über das Becken gespannt. Ein Reiher – oder war es gar der Goldfischräuber? – schritt gravitätisch über den Rasen. Erst jetzt aber bemerkte ich einen Reiher auf dem Felde.
Immer – erst recht nach dem Goldfischraub – hatte ich geglaubt, Reiher klaubten sich ihre Nahrung aus dem Wasser. Der Reiher auf dem schmutzig-gelben Feld pickte. Das Feld reicht bis etwa drei Meter an die Straße heran, an deren gegenüberliegender Seite ich einige hundert Meter gehe, bis ich ins Landschaftsschutzgebiet abbiege. In der Nähe gibt es zwar einen Wasserlauf, aber es ist bebautes Gebiet, und dieser Reiher pickte auf dem Feld, keine 10 Meter von der Straße entfernt. Auf der Straße, die ich gewöhnlich zur Zeit des Berufsverkehrs erreiche, strömte der Verkehr. Höchstgeschwindigkeit 70 Ka-em-ha. Fast alle Autos haben die Scheinwerfer an. Der Reiher ließ sich nicht stören. Doch dann blieb ich stehen. Der Reiher muß mich längst wahrgenommen haben, so wie auch andere Fußgänger (eher selten) und Radfahrer (eher häufig). Erst als ich stehengeblieben war, muß ihm das verdächtig vorgekommen sein. Er flog weg, mit breiten Schwingen und etwa hundert Flügelschlägen in der Minute flog er dicht über das Feld, etwa hundert Meter weit und ließ sich dort nieder. Die hundert Flügelschläge habe ich nicht gezählt, sondern bei Wikipedia abgeschrieben.
Die Seite ist zuletzt am 7. Februar um 21.46 Uhr geändert worden. Ich bin von Ehrfurcht durchschauert. Ein Ignorant wie ich hatte geglaubt, alles über Reiher zu wissen. Und hier korrigiert ein Fachmann einen Text von sieben DIN-A-4-Seiten, in dem das Wissen von Generationen steckt. Ich habe den Reiher schreiten lassen, weil ich ihn schreiten gesehen habe. Wikipedia bestätigt, die Reiher sind eine Familie der Schreitvögel (Ciconiformes). Davon gebe es 62 Arten. Und es gibt Arten, so lese ich, die keineswegs Fische jagen.
Meinen Reiher entdeckte ich am folgenden Abend wieder, diesmal mitten im Feld. Wenn man erst einmal sensibilisiert ist, sucht man ihn. Eine ganze Woche lang, einen Abend nach dem anderen, habe ich meinen Reiher genau in diesem Feld entdeckt, noch einmal hielt er sich am Straßenrand auf. Zuletzt glaubte ich ihn schon von weitem zu sehen, doch es war Gestrüpp. Der Reiher ist weg. Die Spannung während meiner Trainingsrunde auch.
Die Eintragung könnte wie eine Doublette wirken; es geht um „mycityrun“ (bei LaufReport kann man darüber abstimmen). Gibt es neue Informationen seit der Pressekonferenz am 10. Februar in Mainz? O nein, zur Stunde ist noch immer nicht bekannt, in welchen Städten außer Berlin diese Aktion des Deutschen Leichtathletik-Verbandes von Ende Mai an stattfinden wird. Was ich zu schreiben habe, ist daher die pure Meinungsäußerung. Sie ist im Grunde schon in der LaufReport-Charakteristik von RunnersVote enthalten; ich zähle zu der im Kommentar „unerbittlich“ genannten Gruppe, die einen Bogen um alles macht, was vom DLV ausgeht.
So ganz grundsätzlich stimmt das, versteht sich, jedoch nicht. Wir brauchen einen Verband; es bedarf zum Beispiel einer Verbandsbasis, auf der Regelwerke vereinbart werden können. Mit „mycityrun“ hätte ich mich sogar anfreunden können, wenn der DLV dies in den siebziger Jahren praktiziert hätte. Damals waren wir über jede Unterstützung froh. Sponsorship setzte eine starke ideelle Bindung des Sponsors an den Laufsport voraus; Läufer waren Bittsteller, sie konnten nicht in Augenhöhe verhandeln.
Auf der Pressekonferenz hatte nach ZEIT-online der Chef der DLV-Marketing-Gesellschaft DLP, Frank Lebert, geäußert, der DLV sei in den siebziger Jahren der Motor der Laufbewegung gewesen, sie dann jedoch aus den Augen verloren. Über die Geschichtsklitterung kann ich nur bitter aufstöhnen. Die entscheidenden Impulse der deutschen Laufbewegung kamen jeweils von außen. Der Apologet des Laufens war nach dem zweiten Weltkrieg Dr. Ernst van Aaken. Der erste deutsche Volkslauf 1963 in Bobingen, heute zu Augsburg gehörend, war von Otto Hosse und seinen Lauffreunden initiiert worden. Auch andere Volksläufe und die ersten Marathone, die der Volkslaufbewegung zuzuordnen sind, entsprangen der privaten Initiative Einzelner. Da sie wohl immer einem Turn- und Sportverein angehörten, unterstellten sie ihre Veranstaltung dem zuständigen Dachverband. Otto Hosse war lange Zeit der erste Volkslaufwart des DLV; ich erinnere mich an seine Klagen über die mangelnde Unterstützung durch den Verband. Der Lauftreff war 1973 von dem Druckereibesitzer Busse erdacht und von der IGÄL ins Leben gerufen worden. Im Jahr darauf wurde die Lauftreff-Aktion vom Deutschen Sport-Bund eröffnet. Erst später wurden die Lauftreffs dem DLV übergeben. Der DLV stattete damals die Lauftreffs einmalig mit einem Hinweisschild aus und ließ eine Lauftreffmappe erarbeiten; die Landesverbände sorgten für die Ausbildung von Lauftreff-Leitern und -Trainern. Außer der zentralen Laufsaison-Eröffnung, dem „Trimm-Trab“ (Begriff von einer Werbeagentur geschaffen), steuerte der DLV die zunehmende Zahl von Läufern nicht im mindesten. Initiativen entfalteten sich auf örtlicher Basis. Die gesamte Ultramarathon-Bewegung entwickelte sich außerhalb des DLV; erst nach Gründung der DUV wurde der Ultralanglauf der Meisterschaften wegen auf Betreiben von Harry Arndt dem DLV unterstellt. Beim Berglauf mag es ähnlich gewesen sein; hier kenne ich jedoch die Fakten nicht präzise. Die spezielle DLV-Website für Läufer, www.laufen.de, ist noch sehr jungen Datums.
Die Laufbewegung mit ihren Facetten, der Ausrüstung, den Laufveranstaltungen, den Marathon-Reisen, dem Training, der Kommunikation, ist zu einem Markt geworden, einem Markt, der heute eine Spitzenstellung im Breitensport einnimmt. Wer von uns hätte sich in den siebziger Jahren vorstellen können, daß ein Automobil-Konzern der Sponsor eines der größten Marathone der Welt werden würde?
Nun also rührt sich etwas beim DLV. „mycityrun“ ist im Entstehen. Von Ende Mai an sollen sich in fünf deutschen Städten zehn Wochen lang an einem Abend in der Woche Läufer jeglicher Coleur zu einem gemeinsamen Citylauf treffen. Versprochen werden Professionalität und viel Event. Sponsor ist ein weltweiter Nahrungsmittelkonzern, der den Läufern die Marke eines Mineralwassers schmackhaft machen möchte. Damit nicht etwa der Event-Charakter leidet, wird nur 2 Kilometer lang gelaufen.
Ich gebe gern zu: In den siebziger Jahren hätte ich eine solche Aktion begrüßt; sie hätte dazu beigetragen, den Wert des Gesundheitslaufs bekannter zu machen. Heute? Laufen ist nach dem Radfahren der zweitbeliebteste Gesundheitssport. Da lohnt es sich, in den Teilnehmern einen lukrativen Markt zu sehen. Auch ich befürchte, für den DLV dürften nicht die Läufer die Motivation einer PR-Aktion sein.
Daher also habe ich in RunnersVote mein Kreuz bei der Gruppe derjenigen gemacht, die mycityrun nicht gut finden. Wir stehen im Gegensatz zu den knapp zwei Dritteln, die diese Marketing-Aktion gut heißen. Immerhin, ein starkes Drittel durchschaut offenbar die Hintergründe und stimmt wohl auch der kritischen Sichtweise in dem Beitrag der ZEIT zu.
Der Tag war das, was man einen Vorfrühlingstag nennt. So viele Läufer habe ich auf meiner Gehstrecke lange nicht mehr gesehen. Der folgende Tag war ebenfalls mild, aber unbeständig und windig. Es hatte geregnet, die Sonne brach nur zeitweise durch. Doch es waren nur wenige Läufer unterwegs. Ich nehme an, jener Vorfrühlingstag hatte vor allem Schönwetterläufer auf die Piste gelockt. Erstmals habe ich wieder Läufer in kurzen Hosen gesehen. Die Saison ist eröffnet.
Ich selbst habe die relativ schweren Wanderschuhe, die ich deshalb trug, weil ich mir in Laufschuhen einige Zehen erfroren habe, beiseitegestellt und wieder Laufschuhe angezogen. Meine Zehen sind einverstanden. Die Wollhandschuhe hatte ich gegen dünnere getauscht; doch bald steckte ich sie in die Jackentasche.
Im Tal waren Schafe auf der Weide, in dichter Wolle stehend. Sie hatten sich zu einer Herde versammelt und warteten. Offenbar sollten sie heimgetrieben werden. Einige hundert Meter führt der Weg, ein kombinierter Rad- und Fußweg, der Straße entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Reiher, keine zehn Meter vom Straßenrand entfernt. In dichter Folge brausten die Fahrzeuge entlang. Den Reiher schienen sie nicht zu stören. Oder hatte ich mich getäuscht – stand da eine Statue? Ich blieb stehen. Doch da breitete die Statue die Flügel aus und flog dicht über das Feld. Etwa hundert Meter weiter ließ sich der Reiher wieder nieder. Meine Annäherung hatte ihn nicht gestört, sehr wohl aber, daß ich ihn stehend beobachtete.
Frühlingsblüher muß man noch suchen. Unterwegs habe ich zunächst noch keine gesehen, sehr wohl aber von einem Tag auf den anderen im eigenen Gärtchen, Schneeglöckchen, Winterlinge, Märzenbecher; die junge Zaubernuß – die alte Hama melis mußte entfernt werden – schickt sich an zu zaubern. Auch für Läufer sieht die Welt nun anders aus. Kalendarisch haben wir noch Winter, aber wir erkennen: Demnächst wird es Frühling.
Ich weiß, Selbstverständlichkeiten sind das. Alles Große ist einfach. So wie das Laufen (oder Gehen).
Wie stark Laufen in die Alltagskultur eingegangen ist, zeigt sich unter anderem an Fasnacht und den Tagen davor (Fasnacht bitte ohne t vorn geschrieben, weil sie sich, zumindest im schwäbisch-alemannischen Bereich, von Faselnacht und nicht vom Fasten herleitet). Es sind die Tage, an denen sich die Fasnachtsnarren und die Karnevalisten verkleiden. Dieses Bedürfnis, in die Haut oder sagen wir besser: in das Kostüm einer Phantasiegestalt oder eines mythischen Typs zu schlüpfen, scheint in uns zu stecken. Außer der „Faselnacht“ hat das Laufen als Volksbewegung neue Möglichkeiten geboten.
Jahrzehntelang war Sport eine todernste Angelegenheit, erst recht der Marathon, der ja schließlich einen angeblichen tödlichen Unfall zu einem Opfer kultivierte. Diese manchmal oberlehrerhafte Haltung war noch Mitte der siebziger Jahre zu spüren. Damals konnte man ganz vereinzelt in einem Marathon einem verkleideten Läufer begegnen. Es gab tatsächlich damals Stimmen, die einen solchen Mummenschanz als „unsportlich“ verurteilten. Wenige Jahre später hatte sich das Blatt gewendet. Dazu hat der Stadtmarathon mit seiner Kommunikation zwischen Läufern und Publikum beigetragen. Doch wahrscheinlich vorher schon, also vor 1981, verkleideten sich zum Fasnachtstag in Narren- oder Karnevalisten-Bereichen die Mitglieder von Laufgruppen und legten ihren Lauf kostümiert zurück. Laufen war im Alltag und in der Festeskultur angekommen. |
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Zudem profilierten sich manche Marathon-Teilnehmer durch die Art ihrer Verkleidung. Der Architekt Alfred Pohlan, der außer in Laufschuhen in einem Tigerhöschen lief und sonst nichts, war auch in dieser Hinsicht ein Wegbereiter. Der in Frankfurt am Main lebende Franzose Michel Descombes, mittlerweile siebzigjährig, kostümiert sich seit 1989, wobei er sein jährlich neues Kostüm der französischen Motivwelt entnimmt, und sammelt Spenden für soziale Zwecke. Er ist zum Vorbild für Dietmar Mücke geworden, der seit 1995 als „Pumuckl“ verkleidet und nicht selten barfuß die Laufszene anreichert. Sicher gibt es in der weltweiten Laufszene noch weitere Läufer dieser Art.
Aus der Verkleidungslust beim Marathon haben die Veranstalter des Marathon du Médoc (seit 1984) ein Prinzip gemacht. Von Anfang an ist hier die Kostümierung ausdrücklich erwünscht gewesen. In der Tat läuft die Mehrzahl der über 8.000 Teilnehmer kostümiert. Bei meinen drei Teilnahmen im Médoc ist mir die Zahl der Gruppen aufgefallen, die jeweils das gleiche Kostüm tragen. Die Organisatoren des Trollinger-Marathons in Heilbronn haben sich in Paulliac zwar einiges abgeguckt, aber den hohen Kostümierungsgrad konnte man nicht erreichen. Inzwischen zählt wohl jeder Lauf mit einem breiten Publikum eine Anzahl bunter Spaßvögel. In Erinnerung sind mir insbesondere der London-Marathon und der Hawaii-Marathon. Allerdings, einen so hohen Aufwand mit laufend gezogenen oder geschobenen Fahrzeugen und Figuren wie im Médoc habe ich noch nirgends gesehen. |
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Inzwischen sind auch Silvesterläufe Kostümparaden. Es scheint so zu sein, daß dort, wo Teilnehmer primär nicht die Leistung anstreben, das Kostüm als Ausdruck der Individualität und Mittel der Kommunikation angesehen wird. Umgekehrt: In Spezial-Disziplinen wie dem Berglauf und dem Ultramarathon sind nach meiner Kenntnis keine Kostümierungen zu finden. Auch der Triathlon entzieht sich dem Wunsch nach Verkleidung.
Die androgynen Läufer beim Médoc-Marathon
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Nicht selten bedeutet Verkleidung auch Erschwernis. Wer mit Maske oder Perücke läuft, Lasten mit sich schleppt oder ein womöglich stoffreiches und schweres Kostüm trägt, bürdet sich weit mehr als nur die übliche Laufleistung auf. Doch das Vergnügen wiegt offenbar schwerer als das Kostüm. Laufen ist Lebensäußerung und Ausdrucksmittel.
Photos: Sonntag (2), privat (1)
Mein wöchentliches Streckenpensum hat sich erheblich reduziert, meine Laufzeit dagegen nicht. Das ist das Problem. Die Strecke, die ich lange Zeit in einer Stunde, zu den besten Zeiten in 56 Minuten, später in ein und einer viertel Stunde zurückgelegt habe, erfordert jetzt einschließlich der Straßenüberquerungen fast zweieinhalb Stunden. Denn meine Laufzeit ist eine Gehzeit.
Die Kälteperiode, die hinter uns liegt, hat die damit verbundenen Probleme deutlich gemacht. Es sind die Probleme von betagten Läufern wie mir. Doch da hoffentlich alle alt, sehr alt werden wollen, schreibe ich nieder, was die meisten Leser gegenwärtig noch gar nicht betrifft.
In fast allen Tips über Laufen im Winter kann man lesen, daß viele Läufer, wenn nicht die meisten, an kalten Lauftagen zu dick angezogen seien. Der Körper produziere nach einer Weile so viel Wärme, daß eine dünnere Bekleidung ausreichend sei. Wenn man jedoch nicht mehr läuft....? Beim Gehen ist die Wärmeproduktion erheblich reduziert, abgesehen davon, daß bei uns Älteren die Kälteempfindlichkeit gestiegen ist. Winterlich vermummt auf die Strecke zu gehen, ist daher nicht nur keine Fehlentscheidung, sondern geradezu eine Notwendigkeit. Hinter diesem Satz steckt mehrfache Erfahrung.
Wenn der Garderobenwechsel zum Training früher vor allem ein Kleider-Ablegen war, so ist er jetzt ein sorgfältiger, na ja, sagen wir: Schichtaufbau. Ich bin auf fünf Schichten gekommen: langärmeliges winterliches Funktionshemd, Angorahemd, das dickste Laufhemd, Pullover, gefütterte Wanderjacke, kurze Unterhose, Angora-Unterhose, Tights mit Windschutz, Trainingshose, Wollsocken. Gegangen bin ich in kräftigen Wanderschuhen – leider erst, nachdem ich Lehrgeld gezahlt habe. In Laufschuhen habe ich mir die beiden großen Zehen und ihre Nachbarzehen erfroren. In zweieinhalb Stunden Gehzeit habe ich die Füße nicht aus ihrer eisigen Erstarrung wecken können.
Die Strecke habe ich um 3 Kilometer gekürzt; damit ist eine langgestreckte Steigung, die ich relativ langsam gegangen bin, weggefallen. Die Gehzeit hat sich damit von zweieinhalb Stunden auf reichlich anderthalb Stunden verkürzt; es sind nur noch 8 Kilometer. Insbesondere an den Tagen mit scharfem Nordwind empfand ich das als Gewinn. Für den Kopf war mir eine Wollmütze mit Halsschutz, die ich früher zum Skilanglauf bei Minusgraden benützt hatte, gerade recht. So konnte ich im Bedarfsfall auch das Kinn noch wärmend schützen.
Nur, die Beweglichkeit hat sehr gelitten. Als mir ein Schnürsenkel aufgegangen war, konnte ich ihn kaum noch neu binden. Ich wartete damit, bis ich die Brücke mit dem Geländersockel erreicht hatte und den Fuß darauf stellen konnte.
Immerhin, ich war noch unterwegs. Aufgefallen ist mir, daß ich nur noch vereinzelt Walkern begegnet bin. Am letzten Samstag, der hervorragendes, wenn auch kaltes Laufwetter brachte, waren auf meiner Strecke auch nur wenige Läufer anzutreffen.
Heute schneit es. Aber die Laufschuhe ziehe ich dennoch nicht an, sondern gehe in Wollsocken und Wanderschuhen.
Die „Weltpremiere“ des Indoor Trails vom 3. bis zum 5. Februar in der Dortmunder Westfalenhalle liegt hinter uns. Sie hat, soweit Kenntnis von ihr genommen worden ist, ein positives Echo gefunden. Meine Informationen beruhen allerdings auf den Mitteilungen der Veranstalter und der DLV-Website laufen.de. Ich hatte ernstlich überlegt, selbst nach Dortmund zu fahren, den Gedanken jedoch wieder aufgegeben. Zu wenig schien mir die Beobachtung mit Lust verbunden. Man wird nicht annehmen, daß ich meine kritische Meinung zu einem künstlichen Trail innerhalb von sechs Wochen geändert habe. Ich bin daher froh, nicht nach Dortmund gereist zu sein; ich hätte mich an zwei oder drei Abenden mit einem schalen Gefühl ins Hotelbett gelegt.
Es ist ja nicht so, daß ein künstlicher Trail in der Halle die Natur ersetzen kann. Die Halle bleibt, selbst wenn man sie für die Schneepassage verläßt. Zudem ist der Trail eine Werbegalerie gewesen. Es dürfte für Photographen unmöglich gewesen sein, keine Reklame ins Bild zu bekommen, seien es die Werbedekorationen, seien es die Schilder entlang der Strecke; selbst die quergelegten Bäume enthielten einen Produktnamen.
Auf jeden Fall war die Strecke eine läuferische Aufgabe. Doch es blieb ein Kurs mit 17 Hindernissen, und ein Lauf über eine schräge Fläche mit Trittleisten und der Überwindung eines Galeriegeländers kann einen Bergpfad nicht ersetzen. Eine Gruppe von Weihnachtsbäumen, „fun forest“ genannt, ist kein Wald. Irgendwo in der Reklame tauchte bei Ecco die Bezeichnung „Natural motion“ auf. Die physischen Reaktionsformen der Teilnehmer mochten denen von „natural motion“ entsprechen, das psychische Erlebnis jedoch nicht im entferntesten. Die Strecke mit den 17 Hindernissen mäanderte in der Halle, erstreckte sich über Treppen, Galerien, Korridore, Keller und Freiflächen – 1,2 Kilometer. Dann, außer beim Sprint, wiederholte sich alles. Ich kann mir nicht vorstellen, daß unter den 1500 Teilnehmern insgesamt – beim Zehn-Runden-Lauf über 12 Kilometer 500 – viele Menschen gewesen sein sollten, die sich als „Naturläufer“ empfanden.
Rational gesehen: Am ehesten eignet sich die Veranstaltung, außer zur Reklame, wohl für die Kinder, die hier im „Kids Run“ ein professionell aufbereitetes kontrolliertes Abenteuer erleben konnten; für sie zumindest war’s ein Spaß. Alle Teilnehmer können sich an dem Gefühl erwärmen, Mitwirkende an einer Weltpremiere gewesen zu sein. Wie es einer Weltpremiere ansteht, verständigt man sich auf Englisch, es sei denn die Wegweisung „Nächste Runde“ und „Ziel“ sei für die sieben ausländischen Teilnehmer in „Next lap“ und „Finish“ übersetzt worden. Die Reklame für deutsche Läufer ist ja ohnehin durchweg ins Englische verfremdet; Deutsch wäre zu simpel und damit zu durchschaubar. Überhaupt, die ganze erfundene „Trail“-Szene mit Trail King und Trail Queen samt dem Auftritt des zweimaligen „Tough Guy“ ist anglifiziert.
Die Übertragung der Rennen durch eine Sponsor-Firma war verständlicherweise durch die Läufer dominiert; dennoch schien mir das Publikum eher gering vertreten gewesen zu sein, was sich auch an dem dünnen Beifall zeigte.
Die Informationen über die Veranstaltung beruhten, wie die in LaufReport, überwiegend auf den von der Veranstalterfirma verbreiteten Mitteilungen. Doch in einer Tageszeitung wurde der Chefredakteur eines Fachmagazins mit einer lobenden Äußerung zitiert; es war der Chefredakteur von „Runner’s World“, dem Mitveranstalter des Ecco Indoor Trails.
Gewiß, nach meiner Eintragung vom 27. Dezember ist klar, daß mein Kommentar parteiisch ist, wenn auch auf der spärlich besetzten Gegenseite. Wer die lautere Wahrheit sucht, muß wohl hinfahren; die Veranstaltung wird im nächsten Jahr wiederholt werden.
Peter Greif, Sportartikel-Händler und Trainer, fügt dem Angebot in seinem Newsletter jeweils einen Lauf-Kommentar bei. Meistens geht es um Schnelligkeit. Das ist nicht mein Thema. Der jüngste Brief jedoch bringt die Entwicklung des Marathons in Deutschland auf einen Punkt, an dem man nicht vorübergehen sollte. Die Greifsche Marathonbestenliste hat danach von 2007 bis 2011 fast 30.000 deutsche Marathonläufer eingebüßt. Der Tendenz nach entspricht die Tatsache des Teilnehmer-Rückgangs der Klinkschen Analyse im LaufReport. Die Zahl 30 000 jedoch elektrisiert unser Läufer-Bewußtsein.
„Wo sind sie nun hin, die 30.000 vermißten deutschen Läufer(innen)?“ fragt Peter Greif. Die Antwort muß offen bleiben. Meine Ansicht ist nur eine unter vielen. Einigen wir uns auf die Voraussetzung: Die Zahl der Läufer hat mit Sicherheit nicht ab-, sondern zugenommen. Ich meine, auch die im Verlauf der Jahre gestiegenen Startgebühren sind keine unüberwindbare Schwelle. Die Startgebühr ist bei einer Marathon-Reise wahrscheinlich der kleinste Unkostenfaktor.
Ich sehe den Schwund so: Der Marathon hat früher einen höheren Stellenwert gehabt als heute. Erinnern wir uns: Wer früher sein Leben auf eine gesündere Basis stellen wollte, begann mit dem Laufen. Eine sportliche Disziplin „Walking“ gab es noch nicht. Wer nicht laufen wollte, hatte bei der Vorwärtsbewegung nur die Wahl zwischen dem Sportgehen und dem Wandern. Das Sportgehen erfreute sich jedoch keiner sonderlichen Beliebtheit („Hüftwackeln“). Wandern galt damals bei vielen, insbesondere auch bei den Läufern, als unsportlich. Erst im Lauf der Zeit verbreitete sich auch in Deutschland das Walking, später das Nordic Walking. Laufen hat sich grundsätzlich „diversifiziert“. Der Berglauf ist „erfunden“ worden; der Triathlon entwickelte sich zu einer eigenen Sportbewegung.
In der Zeit zuvor hatte sich die Wahl des Gesundheitssports überwiegend darauf beschränkt zu laufen oder es schlicht sein zu lassen. Wer sich zum Laufen entschloß, betrieb es, vereinfacht ausgedrückt, entweder als Gesundheitssport oder als Leistungssport. Im zweiten Fall war der Marathon die Krönung der Läuferkarriere. Wieder kam es zu einer Trennung. Die einen beließen es bei einem einzigen Marathonlauf oder einigen wenigen, die anderen bauten ihr Training aus und ihre Leistung auf. Jeder neue Marathon war insgeheim von dem Wunsch begleitet, die persönliche Bestzeit zu verbessern oder die alte trotz Alterungsprozeß zu erhalten. Eine andere Motivation war das Sammeln, zunächst einmal möglichst viele interessant erscheinende Marathone zu absolvieren, für einen Teil der Läufer (typisch der 100 Marathon Club) möglichst viele Marathone überhaupt zu laufen. Der Marathon-Tourismus, der schon Mitte der siebziger Jahre einsetzte, entwickelte sich zu einer eigenständigen Tourismus-Branche. Schließlich wurden Marathone eigens dazu erfunden, weil man die Reiseaktivität fördern wollte.
War der Marathon zunächst das einzige Ziel ambitionierter Läufer, kam es im Laufe der Ausdifferenzierung des Langlaufsports zu einer Fülle unterschiedlicher Angebote. Deutlich sichtbar war der Zug „Weg vom Marathon“ bei der Entwicklung des Ultramarathons. Es war die Zeit, als in Biel mangels anderer populärer Startmöglichkeiten etwa 4000 Hundert-Kilometer-Läufer am Start waren. Sie blieben nicht in Biel, als sich vermehrt die Gelegenheit zu anderen Starts bot. Sicher wanderte auch mancher Marathon-Starter zum Berglauf ab. Dies bedeutet nicht selten, daß zwar der Marathon nicht völlig aufgegeben wurde, aber eben doch, daß immer wieder statt eines Marathons ein Berglauf vorgezogen wurde. Extrem- und Abenteuerläufe haben ebenfalls ambitionierte Marathonläufer an sich gezogen. Läufer mit extrinsischer Motivation, zum Beispiel die der „Von-null-auf Zweiundvierzig“-Aktion, blieben weg, als die Aktion nicht weitergeführt wurde. Das alles sind Ursachen eines Marathon-Teilnehmerrückgangs; doch sie reichen nicht als Erklärung.
Zu berücksichtigen ist, daß wahrscheinlich gar nicht so wenige leistungsorientierte Läufer nicht mehr den Marathon als ihr persönliches Ziel ansehen. Man erkennt dies zum Beispiel an der Hinwendung zum modischen „Trail“. Davor jedoch etablierten sich der Triathlon und das Mountain Biking. Nicht wenige Läufer – mich eingeschlossen – hatten ein Renn- oder Rennsportrad in der Garage stehen. Sportarten, die mit Technik verbunden sind, gelten in unserer Zeit als besonders attraktiv. Ich bin überzeugt: So mancher Mountain Biker wäre früher ein Marathon-Läufer gewesen. Das gilt sicher auch für den Triathlon, der zudem noch den Reiz des sportlich Elitären hat. Was ist schon ein Marathon, wenn ihn Achtzigjährige in fünf bis sechs Stunden zurücklegen oder die Strecke gar von einem angeblich Hundertjährigen begangen wird?
Ich maße mir keineswegs an, nun die Ursache des Marathon-Teilnehmer-Rückgangs ergründet zu haben. Es muß nicht stimmen, was ich mir zurechtgelegt habe. Tatsache jedoch ist, daß der Marathon als Leistungsziel nicht mehr so attraktiv ist wie früher. Wir müssen darob nicht in Wehklagen ausbrechen. Wenn ich auf meiner Lauf- und jetzigen Walkingrunde die vielen Nordic Walker sehe, bin ich überzeugt davon, daß die Zahl der Sporttreibenden in Deutschland keineswegs abgenommen hat.
Tausende Mal habe ich den Weg zu unserem Reihenhaus beschritten; er führt über drei Stufen, einen Absatz und zwei Stufen zu einer kleinen Treppe zum Haus. Wir bewohnen es seit 1965. Vor reichlich fünf Jahren stürzte ich zwei Stufen hinunter, weil ich den schweren Papiercontainer, den ich zum Leeren auf den Gehweg bringen wollte, nicht beherrschen konnte. Doch das war einige Wochen nach einem längeren Krankenhausaufenthalt. Dieser Tage bin ich abermals gestürzt.
Das kam so: Ich hatte glücklich und zufrieden meine Walking-Runde beendet; ich hatte sie, für meine Verhältnisse, ziemlich flott zurückgelegt. Nun stieg ich die Stufen im Vorgarten hinauf, es fiel mir etwas schwer. Die zwei Stufen schaffte ich nicht mehr. Offenbar hatte ich den Fuß nicht genügend gehoben, ich fand keinen Auftritt. Es durchzuckte mich noch die Reaktion: Höher! Doch ich hatte keine Kraft mehr, ich fiel ins Gras und schlug mir ein Knie ein wenig auf. Mehr war nicht passiert.
Doch ich kam ins Grübeln: Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Das war früher anders. Wenn ich an die Wurzelpfade des Rennsteig-Supermarathons denke! Da war der Rennsteig wirklich noch ein Trail, obwohl das Trail-Laufen angeblich erst jetzt entdeckt worden ist. Kritisch war es beim Abstieg vom Scalettapaß. Swiss-Alpine-Läufer haben ihn vor Augen: Bald nach der Paßhöhe kommt ein Geröllpfad, der erst später in einen Almweg übergeht. Es versteht sich, daß der Abstieg ein Ab-Lauf ist. Ich habe einmal auf die Uhr geblickt; die meisten sind in 40 bis 50 Minuten unten am Dürrboden, eine Strecke, die ein Wanderer beim Aufstieg in zweieinhalb Stunden zurücklegt. Man muß sich in Läufer hineinversetzen: Seit Stunden war es im Prinzip bergauf gegangen; doch vom Scaletta geht es zum Ziel in Davos im Prinzip nur noch bergab. Die Schranken der schweren Atmung sind mit einem Schlage geöffnet, dazu die Gewißheit, nun auf jeden Fall das Ziel zu erreichen. Ein Hochgefühl!
In dieser Situation trat ich auf einen losen Stein, ich spürte keinen Halt mehr, ein Sturz schien fast unvermeidlich. Doch irgendwie schaffte ich es, ich rettete mich mit einem Sprung und hatte wieder festen Boden – beschreiben kann ich die physische Reaktion nicht. Ein Läufer hinter mir hatte jedoch die Reaktion sehr wohl beobachtet und drückte mir mit einer Bemerkung seine Anerkennung aus. Das war vor etwa zehn Jahren.
Und jetzt? Die zweite Stufe im Vorgarten hatte ich verfehlt, der Impuls zu reagieren, nämlich den zu kurzen Auftritt zu korrigieren, war da, aber ich bekam den Fuß nicht mehr hinauf, mir fehlte die Kraft. Es blieb mir nur die Landung im Gras. Hier dauerte es Sekunden, bis ich mich in einer gewaltigen Anstrengung, wie mir schien, aufrappeln konnte.
Nun bin ich ins Grübeln gekommen. So ist das also mit dem Kraftverlust im Alter! Ich bin nachdenklich geworden – ausdauertrainiert, da habe ich mir wohl nichts vorzuwerfen. Doch krafttrainiert? Es war keine Entscheidung gegen ein Krafttraining gefallen, es war einfach Bequemlichkeit, sicher auch Abneigung gegen die Maschinen im Fitneß-Studio. Ein Krafttraining fand nicht statt, wenn man von unspezifischem Training beim Laufen und Bergwandern absieht. Jetzt kann ich das Defizit nicht mehr aufholen.
Wer immer diese Tagebuch-Eintragung liest: Ich will die Leser nicht mit meinen Stürzen langweilen, sondern den einen Satz, den Schlußsatz, begründen: Leute, denkt ans Krafttraining!
Unsere Beziehung war nicht eng – da war die Entfernung zwischen unseren Wohnorten, da war der Altersunterschied von zwölf Jahren, da war die Leistungsdifferenz zwischen einem Ultra-Spitzenläufer und einem Durchschnittsläufer, da lagen 36 Minuten persönliche Marathon-Bestzeit zwischen uns und gar 88 Kilometer beim 24-Stunden-Lauf. Aber es war eine sehr herzliche Beziehung, eine wärmende menschliche Nähe. Das lag nicht an der Gemeinsamkeit in der Aktivität für das gedruckte Wort. Es lag an seiner Persönlichkeit.
Am 8. Januar 2012 ist Peter Samulski gestorben. Sein relativ früher Tod war leider seit langem abzusehen gewesen. Zu meinem Geburtstag im vorigen Jahr hatte er mir geschrieben, zu meinem nächsten Geburtstag werde er mir nicht mehr gratulieren können. So ist es leider gekommen.
Peter Samulski ist geboren am 14. Dezember 1938 in Braunsberg in Ostpreußen, nahe der heutigen polnisch-russischen Grenze gelegen. Anfang der siebziger Jahre kam er als Bibliothekar nach Münster und war später Bibliotheksdirektor der Westfälischen Wilhelms-Universität. Nach eigenen Angaben war er ein „absoluter Workaholic“. Erst im Alter von 44 Jahren fand er über die bereits 1965 gegründete Laufgruppe Münster zum Laufen. „Bereits drei Jahre später finden sich 13 absolvierte Marathonläufe auf seinem Laufkonto. Seine Bestzeit hat er auf 2:40 geschraubt“, schreibt Dr. Stefan Hinze in seinem Porträt in „Ultramarathon“ 1/2009 (später 2:38). Nicht nur das, Peter Samulski wendet sich 1986 dem Ultralanglauf zu. Beim ersten 100-km-Lauf in Winschoten erreicht er bereits 7:38 Stunden. Diese Zeit verbessert er im Verlauf seiner Teilnahme an sieben Deutschen Meisterschaften auf 7:15 Stunden (alle faktischen Angaben von Stefan Hinze). An einem Deutschland-Lauf hat er teilgenommen. Dreimal wird er Deutscher Meister im 24-Stunden-Lauf. In Elze stellt er mit 261,029 km den Altersklassenweltrekord im 24-Stunden-Lauf auf; in der ewigen deutschen Bestenliste der männlichen 24-Stunden-Läufer steht er damit an vierter Stelle. „In seinem Leben bringt er es auf 107 Marathon- und insgesamt etwa 180 Ultramarathonläufe“, registriert Stefan Hinze. | ||
Peter Samulski im Jahr 1987. Damals nahm er in Torhout
an der ersten Weltmeisterschaft im 100-km-Lauf teil - Photo: Privat
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Im Jahr 2001 mußte er, nach der Krebs-Diagnose, den Ultralauf aufgeben und schließlich auch den Marathon. Der Laufszene ist Peter Samulski weiterhin, bis zu seinem Tode, verbunden geblieben.
Mehrmals sind wir gemeinsam gelaufen, nicht gerade Seite an Seite, sondern bei derselben Veranstaltung, im Jahr 1990 bei der Umrundung der Insel Sylt. Er war, versteht sich, der schnellste von uns 55 Teilnehmern – 10:16 Stunden, obwohl dieser Erlebnislauf nicht auf Schnelligkeit angelegt war. Wenige Male nur haben sich unsere Laufwege gekreuzt, 1990 in Rodenbach, 1992 in Rheine, 1995 beim Swiss Alpine Marathon, 1998 in Biel; aber irgendwie – dieser Ausdruck mag hier erlaubt sein – waren wir einander immer nah.
Vielleicht ist es auch anderen so ergangen. Unser Verlust besteht nicht so sehr darin, daß die Laufszene einen Hochleistungsläufer im Ultrabereich verloren hat, sondern ein Lauffreund von uns gegangen ist, der zutiefst von herzlicher Menschlichkeit erfüllt war. Wer ihn von den Jüngeren nicht gekannt hat, sollte wissen: Wir brauchen auch im Sport solche Menschen. Peter Samulski hat eine Lebensspur hinterlassen, der wir dankbar folgen. Noch zu Lebzeiten hat er einen Koffer mit seinen Laufutensilien und Trophäen dem Deutschen Sportmuseum zu Berlin geschickt; dort sind diese jetzt in einer Vitrine ausgestellt.
Nein, nein, das Tagebuch soll nicht zum Ultra-Tagebuch werden, und wenn ja, dann würde ich es sagen. Ich folge nur der Nachrichtenlage (nein, nicht der um den Bundespräsidenten). Udo Lohrengel (marathon-und-mehr) verdanke ich einen neuen Hinweis: „Die Österreicher lassen die Laufmuskeln spielen und rüsten auf. Schon wieder erfahre ich von einem Ultra-Traillauf-Vergnügen.“ Nein, eben nicht dem Dirndltal-extrem, den ich in der letzten Eintragung vorgestellt habe (mit einem Fehler: Start und Ziel sind in Ober-Grafendorf, nicht in Ober-Grabendorf – Entschuldigung!), sondern von Mozart 100.
Damit könnte ich es bewenden lassen, und jeder Interessierte könnte die Seite selber anklicken. Doch – daher das Tagebuch – ich habe ja einiges dazu zu sagen. Zunächst einmal möchte ich Bravo klatschen. Nachdem es in Österreich um Ultralauf-Ereignisse ziemlich still geworden war, haben wir nun in diesem Jahr gleich zwei Premieren. Allerdings, diese ist nun eine direkte Konkurrenz zu Biel. Mozart 100 findet am 23. Juni statt, 14 Tage nach Biel. Es wird wohl kaum jemand geben, der an beiden 100-Kilometer-Läufen teilnehmen will. Man wird sich also entscheiden müssen.
Im Gegensatz zum Dirndltal-Extrem-Ultralauf ist Mozart 100 auf den ersten Blick erheblich populärer angelegt, in jeder Hinsicht. Da ist zunächst einmal der Veranstaltungsort: Salzburg. Das liegt 140 Autobahn-Kilometer östlich von München. Wer mit dem Auto fährt und die letzten paar Kilometer statt auf der Autobahn auf Landstraßen zurücklegt, braucht kein „Pickerl“ an die Scheibe zu picken. Wer die Bahn benützt, kann die Wege vom Bahnhof zu Hotel, Wettkampfbüro und zu Start und Ziel, dem Mozartplatz, wahrscheinlich zu Fuß bewältigen. Horst Preisler kann hinfliegen, den Mozart 100 laufen und am Sonntag woanders traben, in München zum Beispiel. Salzburg ist in jeder Hinsicht eine attraktive Stadt, so attraktiv, daß man keine Reklame dafür machen muß. Wenn einem acht Tage vorher die Achillessehne einen Streich spielt, – man kann auch ohne Laufteilnahme nach Salzburg fahren.
Die Mozartstadt hat dem neuen 100-Kilometer-Lauf den Namen verliehen. Man kann darüber streiten. Was hatte Wolfgang Amadeus schon mit dem Laufen zu schaffen? Doch mit dem Skifahren – Skiregion Amadé – ja wohl erst recht nichts. Mozart 100 dürfte die einzige Laufveranstaltung sein, bei deren Namen man sofort den Startort assoziiert – na ja, die Bieler Lauftage lassen wir mal außer Betracht. Zudem finde ich Bezeichnungen wie GutsMuths-Rennsteiglauf oder Einstein-Marathon viel schöner als BMW-Marathon oder Kaufhaus-Kleckelmeyer-Halbmarathon. Mozart 100 ist, um es modisch zu sagen, genial. Die Streckenlänge ist damit auch schon im Namen fixiert.
Das Konzept ist eigenständig. Im Prinzip muß man zwei Runden laufen. Die erste Runde führt 46 Kilometer von Salzburg bis zum Westufer des Fuschlsees, die zweite Runde zusätzlich um ihn herum, macht 54 Kilometer. Das bedeutet, Ultra-Einsteiger können auch nur die zweite Runde laufen.
Erfunden haben diesen Ultramarathon zwei Läufer, Michael Fried und Josef Mayrhofer. Beide stammen aus Salzburg und leben in Wien. Magister Fried ist Gründer, Miteigentümer und Geschäftsführer der Webagentur essentialmind. Seine persönliche Marathonbestzeit beträgt 2:41. Die 100 Kilometer von Biel, den Marathon des Sables und den Jungl-Marathon kennt er vom Laufen. Magister Mayrhofer ist Managing Partner und Geschäftsführer von PKP BBDO, einer der bedeutenden Werbeagenturen Österreichs. Auch er ist Marathon unter drei Stunden gelaufen und hat an Ultra-Laufklassikern teilgenommen. Renndirektor ist Magister Josef Gruber, aus Tamsweg im Land Salzburg stammend. Er ist Betriebswirt und Sportwissenschaftler und Inhaber der Salzburger Sportagentur g-sport, zudem Streckenchef des Salzburg-Marathons und mehrfacher Ironman. Berufe, Funktion und Laufaktivität der drei versprechen eine professionelle Organisation. Man merkt dies, meine ich, auch der Website an. Weshalb man allerdings eine Ultra-Website mit einem Bild vom Tiefstart eines Sprints illustrieren muß, ist wohl der Einstellung in Medienagenturen geschuldet, in denen Emotion mehr zählt als Information. Das Attribut „Österreichs bester Ultra-Traillauf für Läufer und Nordic Walker“ ist eine unbewiesene Reklame-Behauptung.
Der Start der Einzelwettbewerbe ist bereits um 5 Uhr morgens. Das bedeutet also, man hat mit Sicherheit eine vergratschte Nacht vor dem Start. Zielschluß ist um 24 Uhr. Das teure Hotelzimmer muß man dann halt am Morgen abwohnen. Auf diese Weise bringen die Veranstalter 19 Laufstunden an einem einzigen Tage unter und hoffen, daß dies auch für Nordic Walker reicht. Infolge der zwei Runden kommen zusammen über 2000 Höhenmeter zustande, dreimal mehr als in Biel. Den Photos nach ist allerdings kein Trail zu erwarten, was mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß „Trail“ zum läuferischen Modewort. geworden ist; alles, was nicht „Straßenlauf“ ist, ist halt „Trail“. Das ist mindestens seit dem ersten Schwarzwaldmarathon 1968 so.
Wer sich bis zum 31. Januar anmeldet, zahlt nur 80 Euro Startgebühr (Biel und Dirndltal jeweils 100 Euro). Allerdings, für Kostenanstieg sorgen die Hotelpreise und die Parkgebühren in Salzburg. Gewundert habe ich mich, daß die Information über diese Ultra-Veranstaltung nicht gezielt in der Bundesrepublik verbreitet worden ist. Die Startliste der 100 Kilometer umfaßt bis heute nur 9 Namen, was aber auch an der Anmeldeagentur liegen kann.
Auch Mozart 100 würde ich gern als Beobachter kennenlernen; es geht jedoch terminlich nicht.
Nach St. Moritz fährt, wer es sich leisten kann, zum Trainieren; nach Davos fährt man zum Gewinnen und sei es von Eindrücken. Was ist mit Ober-Grafendorf?
Ich gestehe, vor wenigen Tagen wußte ich noch nicht, daß es den Ort gibt. Das Internet informiert uns zwar, aber es kann im Prinzip nur über das informieren, was abgefragt wird. Wer fragt schon nach Ober-Grafendorf? Den Laufkalendern hätte ich es entnehmen können. Doch wer liest schon Zeile für Zeile einen Terminplan mit Hunderten von Veranstaltungen? Ich habe von Ober-Grafendorf auf die älteste Art und Weise erfahren – vom Weitersagen. Ein Leser dieses Tagebuches meinte zu Recht, dieser Termin könne mich interessieren.
Ich habe vor, Ober-Grafendorf kennenzulernen. Dort wird am 28. Juli 2012 der Dirndltalextrem gestartet. Das Tal der Dirndl eignet sich jedoch ebenso schlecht zur geographischen Information wie Ober-Grafendorf. Der Zusatz „extrem“ deutet wenigstens schon einmal an, daß es sich wahrscheinlich um einen Lauf in den Bergen handelt. 100 Kilometer, jedoch – so heißt es – mit Höhenunterschieden von zusammen über 5000 Metern, damit fast doppelt soviel wie beim Swiss Alpine K 72. Doch es geht nicht auf Höhen wie den Gornergrat oder das Parpaner Rothorn. Es werden gerade einmal Erhebungen von knapp 1000 Metern überschritten.
Das Kuriose ist: Ich war schon einmal in der Gegend, weil ich mir die Mariazeller Bahn angesehen habe, eine Schmalspurbahn (Bosnische Spur = 760 mm) von St. Pölten nach Mariazell in der Steiermark. Ober-Grafendorf liegt wenige Kilometer von der A 1 Salzburg – Wien entfernt; nach St. Pölten sind es 12 Kilometer. Die Bahn geht der Pielach entlang. Gelaufen wird über die Höhen des Pielachtals in südwestlicher Richtung und dann über Frankenfels in nordöstlicher Richtung zurück zum Ausgangspunkt, dem ESV-Heim in Ober-Grafendorf. Einbezogen ist ein Rundwanderweg.
Weshalb nun heißt der Lauf „1. Dirndltal Extrem Ultramarathon“? Mit den Frauen im Dirndl-Gewand hat der Name jedoch nichts zu tun, sondern vielmehr mit dem Dirndlstrauch, der das Pielachtal vor allem im Frühjahr und im Spätsommer prägt. Die Dirndlfrucht ist die Kornelkirsche (Cornus mas). Die Touristiker haben in den letzten Jahren das Pielachtal zum Dirndltal gemacht. Da paßt ein Dirndltal-Lauf ganz gut dazu. Allerdings, auch diese Bezeichnung vermag nicht im mindesten zur geographischen Orientierung dienen.
Aber wir wissen nun: Es handelt sich um Österreich. Bedenkt man, daß dort die Alpen auch sehr schön sind, wundert es einen Läufer schon, daß Österreich außer dem flachen Wien-Marathon keine andere Laufveranstaltung von internationalem Ruf auf den Läufermarkt gebracht hat. Gewiss, da gab es die 100 Kilometer von Hirtenberg, wo man auch den Sprung auf die 150 Kilometer machen konnte, und den Marc-Aurel-100-km-Lauf und -Marsch; aber leider sind diese Veranstaltungen aus der Zeit vor dem Swiss Alpine verschwunden. Daher erfüllt es mich mit Freude, daß versucht wird, in Österreich eine neue Ultraveranstaltung zu etablieren. Dies geschieht genau am Tage des Swiss Alpine und des Chiemgauers, am 28. Juli. Andrea Tuffli wird damit leben können, und der Chiemgauer wird schwerlich Interessenten ans Dirndltal abgeben.
Angelegt ist der Lauf keinesfalls aus touristischen Gründen. Planung und Verantwortung liegen bei Gerhard Lusskandl, einem Ultramarathoner mit beträchtlicher leistungssportlicher Erfahrung, der im Jahr 2009 den Badwater (217 km mit 5100 Höhenmetern) als schnellster Europäer in 29:59:49 Stunden zurückgelegt hat. Das erklärt vielleicht, daß im Dirndltal nicht im mindesten das Muster der 100 Kilometer von Biel kopiert wird und die Teilnahmebedingungen offensichtlich auch auf den Fall von Felsabbrüchen und tagelange Verschollenheit der Teilnehmer zugeschnitten sind. Vorgeschrieben ist nämlich das Mitführen eines Wasservorrats von mindestens 1 Liter und von Verpflegung mit etwa 2000 Cal., einer Lampe (mit Ersatzbatterien, versteht sich) und einer Überlebensdecke. Eine ganze Liste führt die Zeitstrafen für alle möglichen Zuwiderhandlungen auf; eine Viertelstunde Laufen büßt ein, wer gefährliches Verhalten an den Tag legt, beispielsweise mit ungeschützten Stöcken herumfuchtelt. Auf diese Weise ist zu hoffen, daß die schwindelerregenden Höhen problemfrei bewältigt werden. Vielleicht ist es aber auch der Beruf des Organisators, der ihn zu allen möglichen Vorsorgemaßnahmen bewogen hat; Lusskandl ist Kriminalbeamter.
Eine Besonderheit dieses Laufs ist, daß er um 6 Uhr gestartet wird, der offizielle Schluß ist nach 18 Stunden, der endgültige Zielschluß nach 24 Stunden. Die Siegerehrung dürfte kurz werden; es gibt nur eine einzige Männer- und eine einzige Frauenklasse. Vierköpfige Staffeln sind ebenfalls zugelassen. 15 Prozent der Startgebühr von 100 Euro fließen an die St. Anna-Kinderkrebs-Forschung.
Vor zehn, fünfzehn Jahren hätte ich für diesen Lauf gemeldet, da hätte ich die Zwischenzeiten trotz den angeblich 5000 Höhenmetern schaffen können. Sofern ich nicht disqualifiziert worden wäre; denn wer sich, wie ich, zum Beispiel respektlos gegenüber Personen verhält, muß den Lauf für eine Stunde unterbrechen.
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