Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 27. September 11

Vor knapp dreißig Jahren holten sich die Touristiker Pest und Cholera an den Wörthersee. Was tut man nicht alles, um Kunden ins Land zu locken! An Pest und Cholera erinnert nur noch ein Denkmal in Reifnitz, ein aus etwa 25 Tonnen Granit gehauener VW Golf GTI. Das Denkmal wurde 1987 aufgestellt – zur Erinnerung an die Treffen von Golf GTI-Fahrern, die sich seit 1982 für einige Tage im Jahr am Wörthersee trafen. So ganz wohl war den Touristik-Fachleuten wahrscheinlich nicht dabei; sie limitierten die Anmeldungen auf 1250. Es gab die dreifache Zahl von Interessenten. Nicht verhindert werden konnte, daß das Treffen auch noch zahlreiche nicht angemeldete GTI-Fahrer mit ihren Fahrzeugen an den Wörthersee lockte.

Pest und Cholera? Es waren ja nicht die 1500 oder mehr Fahrzeuge, von denen infolge privater Eingriffe kaum eines dem anderen glich. Die Golf GTI wollten ja bewegt werden; sie wurden bewegt von überwiegend jungen Männern. Das Volkswagenwerk hatte ihnen ein Auto fürs Schnellfahren verkauft. Die abendliche Kommunikation der jungen GTI-Fahrer vollzog sich mit Hilfe von viel Alkohol. Nicht nur die Fahrzeuge waren laut.

Ich nehme einmal an, daß keiner so ganz glücklich war mit den GTI-Treffen, wohl auch nicht das Volkswagen-Werk. Ich nehme weiter an, daß ein solcher Auftrieb röhrender PS-Hirsche in einem Touristik-Gebiet heute wohl nicht mehr durchsetzbar wäre.

Die Zeiten haben sich geändert. Heute zieht man Läufer und Wanderer an. Zum drittenmal hat der Wörthersee-Trail stattgefunden. Ich habe mir die Veranstaltung am 24. September angesehen und am Sonntag an der Wanderung über 15 Kilometer teilgenommen. Mehrere Wettbewerbe sind hier, in Klagenfurt, zu einem Läuferfest verbunden. Ich beeile mich festzuhalten, daß ich positive Eindrücke empfangen habe. Denn nun kann ich erst einmal meine Kritik an der Bezeichnung artikulieren.

Der Trail ist mehr oder weniger eine Marketing-Bezeichnung. Was er aussagt, ist ziemlich alt. Wenn man so will, war bereits der erste Schwarzwald-Marathon 1968 in Bräunlingen ein Trail, auf jeden Fall der Rennsteiglauf in den siebziger Jahren. Der „Trail“ ist in Deutschland eine Erfindung der letzten Jahre. Klingt ja auch viel besser, modischer als der altväterische Landschaftslauf, der Erlebnislauf, der Cross. Ich wehre mich gegen die Unterstellung, wenn die Bezeichnung neu sei, sei es auch der Inhalt.

 

Hinter dem Wörthersee-Trail verbirgt sich die Umrundung des Sees auf dem blauweißblau markierten Rundwanderweg. Das klingt, zugegeben, recht harmlos. Man stellt sich einen Fußpfad am Seeufer vor. Weit gefehlt, der Rundwanderweg klettert über die Höhen und senkt sich mehrfach zum Seeufer ab. Etwa 1800 Höhenmeter kommen so zusammen. Bei der relativ dichten Bebauung des Gebietes hatte ich befürchtet, daß weite Streckenteile durch Orte führen. Es geht zwar notgedrungen durch Orte, aber – so wird angegeben – etwa 85 Prozent der 57 Kilometer langen Strecke sind Naturpfade.

Meine Wanderung am Sonntag führte über etwa 15 Kilometer von Maria Wörth nach Klagenfurt, genau auf der Strecke der Läufer. Da gab es nur ein einziges kurzes Stück Durchquerung von Reifnitz, da wo das GTI-Denkmal steht, und etwa 2 Kilometer durch ein Siedlungsgebiet von Klagenfurt.

Im vorigen Jahr hatte es während der Laufwettbewerbe geregnet. Ein Augenzeuge erzählte mir, der Pfad vom Pyramidenkogel hinunter habe sich in ein Rinnsal verwandelt, und darin mußte man bergab kommen. Jetzt hingegen – nach der Auflösung des Nebels über dem See herrlicher Sonnenschein. Von verschiedenen Stellen des Rundwanderweges hat man einen Ausblick auf den See. Auf meiner Wanderstrecke fand ich das Naturschutzgebiet um die Spintikteiche von besonderem Reiz. Der Weg verläuft zwar gelegentlich auch auf Forstwegen, enthält aber auch eine Anzahl sehr anspruchsvoller Passagen.

Die sorgfältige Markierung durch blauweiße Schilder und Pfeile ist lobenswert. Dennoch, in Reifnitz habe ich mich verlaufen. Nach Überqueren einer Fußgängerbrücke bin ich geradeaus gegangen, weil hier eine Markierung fehlte. Es war eine Anliegerstraße; man muß nach links, am GTI-Denkmal vorbei. Die vorzügliche Markierung deutet bereits darauf hin, daß die Veranstaltung hochprofessionell organisiert ist. Da können sich andere etwas abschauen. Plakate weisen auf die Veranstaltung hin. Das Festzelt – Entschuldigung, die Trail-City – steht auf Asphalt und ist zum Teil mit Teppichstreifen ausgelegt, Duschen kann man im benachbarten Strandbad, wenngleich heißes Wasser nicht garantiert werden kann. Die Parkplätze muß man sich mit zahlreichen Seebesuchern teilen, doch morgens hat man die Auswahl. Die Verpflegungsstationen sind gut bestückt. Information und Kommunikation verdienen Bestnoten. Zusammengefaßt: Im Kontakt mit den Touristikern ist es gelungen, eine Veranstaltung mit eigenem Gepräge und eigenem Charme aufzubauen. Mit dem Jones-Counter ist die Strecke sicher nicht meßbar. Die Teilnahme am Ultra-Trail wird für den Cup der Ultramarathone gewertet.

 

Das Angebot ist breitgefächert: Außer der vollständigen Umrundung des Wörthersees kann man auch nur von der Zwischenstation Velden bis Klagenfurt laufen – 30 Kilometer. Auf einer eigenen Strecke wird von Krumpendorf bis Klagenfurt ein „Speed Hiking“, ein sportliches Wandern, das aus den USA importiert worden ist, ausgetragen (28 km).

In Maria Wörth wird zum Walking gestartet (15 km). Auf dieser Strecke, dem letzten Teil des Ultra-Trails, wird am Sonntag, ohne Zeitnahme, auch gewandert. Die Anfahrt geschieht von Klagenfurt aus mit dem Schiff. Der Wörthersee-Trail spricht damit sowohl ambitionierte Läufer als auch Genußläufer, Walker und Wanderer an. Für Kinder ist eine Art Orientierungslauf geschaffen worden.

Hält man sich die Anstiege bis auf 750 Meter und die Beschaffenheit des Wanderwegs vor Augen, muß man vor den Spitzenläufern den Hut ziehen. Der Oberösterreicher Thomas Bosnjak erlief in 4:31:13 Stunden den neuen Streckenrekord; er hat auch die Bergwertung vom Trattnigteich zum Pyramidenkogel gewonnen. Ihm folgten Christian Stork mit 4:32:44 und Ralf Schmäding mit 4:47:31, beide aus Deutschland. Die schnellste Frau war, nun zum drittenmal, die 50jährige Ulrike Striednig mit 5:22:04; die zweite war Anita Waiß mit 5:26:20, die dritte Stephanie Lieb (D) mit 5:59:07 Stunden. Den See umrundeten 190 Männer und 34 Frauen. Zielschluß war nach zehn Stunden. An dem Lauf von Velden nach Klagenfurt nahmen 107 Läufer teil, am Speed Hiking 21 Frauen und 20 Männer, am 15-km-Walking 102 Walker. Bedenkt man den organisatorischen Aufwand, sind das sehr niedrige Teilnehmerzahlen. In den offiziellen Berichten ist von 800 Teilnehmern aus 13 Ländern die Rede.  

Allerdings wird ein lebhaftes Sponsoring betrieben. Eigens für den Wörthersee-Trail ist ein unter dem Bio-Etikett laufender Riegel geschaffen worden. Er wird vom Organisator des Trails vertrieben. Ich hätte den Riegel ja gern beschrieben; doch der Vorrat ist aufgebraucht. Er muß neu produziert werden, weil er nur zwei Monate haltbar ist. Das berührt mich so sympathisch, daß ich ihn zur Probe kaufen werde. Eine weitere Premiere: ein Musikstück mit dem Titel „Hero on this way“. Man erkennt also, daß hier verschiedene Aktivitäten gebündelt werden.

Eine Massenveranstaltung wird der Wörthersee-Trail nicht werden, darf er auch nicht. Landschafts- und Genußläufern ist er zu empfehlen. Der nächste Termin: 21. bis 23. September 2012.

Allerdings muß man, wenn man mit dem Auto kommt, eine Vignette kaufen und obendrein Tunnelmaut zahlen. Klagenfurt wird aus Deutschland direkt angeflogen.

Photos (3): Sonntag

Eintragung vom 20. September 11

Den folgenden Text – bedauere ich sagen zu müssen – hätte wahrscheinlich niemand von mir erwartet. Immer galt ich als Vertreter des Erlebnislaufes, des Landschaftslaufes oder um es modern zu sagen, des Trails, jedenfalls des weniger ergebnisorientierten Laufens. Meine Gegner waren die Strecken, nicht die Laufsportfreunde.

Und nun? Am 10. September haben in Winschoten (Niederlande) zum 25. Mal die Weltmeisterschaften im 100-Kilometer-Lauf stattgefunden. Daran haben 325 Männer und Frauen teilgenommen. Es waren zehn Runden zu laufen, eine ebene, völlig verkehrsfreie Strecke durch die Stadt, die übrigens seit dem vorigen Jahr nicht mehr Winschoten, sondern Oldambt heißt. Die Siegerzeit lautet auf 6:27:32 Stunden, aufgestellt durch den Italiener Giorgio Calcaterra, der mehrfach schon unter 6:30 geblieben ist. Nicht weniger als 7 Läufer blieben deutlich unter 7 Stunden, dann kommen ein Japaner und als neunter ein Deutscher, André Collet mit 7:04: 35 Stunden. Der, mit Verlaub, Altmeister Michael Sommer war auch dabei – 7:38:59 Stunden, knapp 10 Minuten später Achim Zimmermann. Bei den Läuferinnen: Tanja Hooss mit 8:14:39 auf dem 15. Platz, Antje Krause mit 8:55:02 auf dem 31. und Simone Stöppler mit 9:10:33 Stunden auf dem 35. Platz. Das wär’s.

Was will ich damit sagen? Nach den Schweizern in Biel haben die Deutschen erhebliche Beiträge zum Ultramarathon geleistet; man muß nur an die 100 Kilometer von Unna, den Rennsteiglauf und die Vielzahl von Ultra-Veranstaltungen, an die frühe Anerkenntnis des Landschaftslaufs wie die Fortentwicklung des Regelwerks denken. Die International Association of Ultrarunners (IAU) bestand im Gründungsjahr 1984 aus etlichen über die Welt verstreuten Ultraläufern, die sich ohne Wahl – wer hätte sie auch wählen sollen? – zusammengefunden hatten. Auch ich wurde beim Donaulauf gefragt, ob ich mitmachen wolle. Ich vertrat die Meinung, Harry Arndt sei die bessere Wahl. In der Tat, Harry Arndt verhalf der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung zur Gründung und erarbeitete das Regelwerk. Irgendwo habe ich gelesen, die DUV sei der mitgliederstärkste Verband der Ultraläufer in der Welt. In der Leistungsspitze jedoch spiegelt sich die deutsche Erfolgsgeschichte des Ultramarathons nicht recht wider.

Mir gefällt die Popularisierung des Ultralaufs ja sehr, die hohe Teilnehmerzahl aus Deutschland in Biel, der Rennsteiglauf, die anderen Landschaftsläufe, die Deutschland-Durchquerungen und die Transeuropa-Läufe. Aber damit halte ich den Hochleistungssport nicht für überflüssig.

Die Zeit von André Collet ist nicht gering zu achten, und die deutsche Männermannschaft, die nach dem Ausfall von Johannes Haßlinger auf drei Mitglieder reduziert werden mußte, hat in der Mannschaftswertung der Weltmeisterschaft immerhin den fünften Platz und in der Europameisterschaft den dritten Platz belegt. Zu berücksichtigen sind gewiß auch die am 10. September nicht einfachen Bedingungen; es war warm und schwül, zu erkennen beispielsweise daran, daß ein Niederländer die achte Runde von 10 Kilometern in 2:06:25 Stunden wanderte. Von 325 Startenden gab ein reichliches Drittel den Lauf auf, sechs davon erst nach der neunten Runde. Aus dem Nachbarland Deutschland waren 31 Läuferinnen und Läufer gekommen, 11 davon beendeten den Lauf vorzeitig. Zielschluß der Meisterschaften war nach 12 Stunden.

Dennoch, ich meine, wir haben schon ein höheres Niveau deutscher Läufer gehabt. Ich kann es an dieser Stelle nicht belegen; die Entwicklung im Hochleistungssport ist nicht mein Metier. Wie auch immer das Abschneiden der deutschen Teilnehmer bei den 25. IAU-Weltmeisterschaften zu bewerten ist, – die Erde dreht sich. Es bedarf aller Anstrengungen, dem Weltniveau zu folgen.

Eine Personalie: Die verdiente Renndirektorin Liesbeth Jansen, die nun in Winschoten die dritte Weltmeisterschaft organisiert hat, gibt diese Position ab; sie ist für ihre Verdienste ausgezeichnet worden.

In diesem Zusammenhang: Die 25. Deutsche 100-km-Meisterschaft wird am 6. Oktober 2012 in Rodenbach stattfinden.

Eintragung vom 13. September 11

Es ist ja nicht so, daß ich nicht bis siebzehn zählen könnte. Aber die 16 Teilnehmer an dem 100-km-Nostalgielauf von Unna habe ich aus einer privaten Nachricht im Internet abgeschrieben.

  Ich korrigiere: Im Herder-Stadion zu Unna sind am 3. September abends 17 Läuferinnen und Läufer gestartet. Es hat mir zwar niemand unterstellt, ich würde das Unternehmen herunterreden wollen, aber wenn ich daran denke, daß man jetzt ziemlich mühsam Zeugnisse der originalen 100-Kilometer-Läufe von Unna zusammensucht, ist nicht auszuschließen, daß jemand in zwanzig Jahren auf meine Tagebuch-Eintragung stößt.

Gemeldet hatten sich also 18 Läuferinnen und Läufer; die einzige von ihnen, die schon auf der Originalstrecke gelaufen war, hatte wegen einer Verletzung absagen müssen. Angekommen sind 14 Teilnehmer, drei schieden unterwegs aus.

Dazu ein Kommentar: Auch wenn eine Zeitnahme nicht stattfand und das Laufen in der Gruppe einen Vorzug haben mag, – einfacher ist es dadurch nicht geworden. In der Gruppe zu laufen, erfordert eine Anpassung sowohl nach oben als auch nach unten. Dies, obwohl Läufer unterschiedlicher Grundschnelligkeit unterwegs sind. Die fast zwangsläufigen Leistungseinbrüche sind individuell unterschiedlich. Während es bei den einen vielleicht noch gut läuft, schlägt bei anderen die Krise durch. Die Gruppe nimmt zwar Rücksicht auf die Schwächeren, aber sie kann sich nicht nur an den Schwächsten orientieren.

Mit 14:41 Stunden ist die von den Initiatoren auf 13 bis 14 Stunden veranschlagte Laufzeit deutlich überschritten worden.

  Es kommt nicht von ungefähr, daß man auf 100-Kilometer-Läufen, von Gehern abgesehen, kaum Läufer findet, die den kompletten Wettbewerb Seite an Seite gemeinsam bestreiten. Beim Spartathlon habe ich es ein einziges Mal erlebt, daß ich etwa 40 Kilometer gemeinsam mit einem anderen Läufer zurückgelegt habe. Es ist daher eine besondere Leistung der Teilnehmer, daß sie die ganze Strecke beieinander bleiben mußten. Das Ausscheiden von drei Teilnehmern entspricht, zumal bei den überdurchschnittlich hohen Temperaturen in der Laufnacht, dem Verhältnis bei Wettbewerben.

Wie der Tagespresse zu entnehmen ist, fanden sich am Start außer Helmut Urbach, dem fünffachen Unnaer Sieger, auch die jetzt 75jährige Inge Moenike, die bereits am Gründungslauf 1969 teilgenommen hatte, sowie 95 weitere Zuschauer, größtenteils ehemalige Läufer der Unnaer 100 Kilometer, ein.

Die Resonanz des Nostalgielaufs ist derart positiv, daß die Initiatoren Matthias Vogel und Andreas Dersch planen, ihn im nächsten Jahr zu wiederholen. Interessenten dafür haben sich gemeldet. Möglicherweise könnten dann, wie Matthias Vogel vorschwebt, zwei Laufgruppen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit gebildet werden, eine Gruppe von 12-Stunden-Läufern und eine Gruppe ohne festgelegte Zeit.

Eintragung vom 6. September 11

Das Laufen als Volkssport hat inzwischen seine eigene Geschichte. Nimmt man den 13. Oktober 1963 als das erste markante Datum der Entwicklung, nämlich den ersten deutschen Volkslauf, so nähern wir uns allmählich dem 50-Jahr-Jubiläum. Davon abgesehen, – schon feiern wir unsere eigenen Gedenktage. Am 3. und 4. September ist laufend des ersten 100-Kilometer-Laufs in Deutschland gedacht worden, und dies auf der – im Prinzip – Originalstrecke, nämlich der 100 Kilometer von Unna.

Beim gemeinsamen Laufen, genau genommen bei den 100 Kilometern Rund um Dortmund, einem Vier-Etappen-Lauf, war zwei Läufern aus dem Kreis Unna, Matthias Vogel und Andreas Dersch, die Idee gekommen, ob man nicht die 100 Kilometer in einem Stück auf dem früheren 100-Kilometer-Kurs von Unna laufen könne. Beide waren der Ansicht, daß die Erinnerung an den klassischen 100-Kilometer-Lauf von Unna gepflegt werden solle. Schließlich war dies der erste deutsche 100-Kilometer-Lauf gewesen, und er war bereits im Jahr 1969 ins Leben gerufen worden. Die beiden Läufer trugen Zeugnisse aus der Geschichte dieses Laufes zusammen und riefen zu einem Nostalgielauf am Tag des Stadtfestes, dem 3. September, auf.

Wer wie ich biographisch einen längeren Zeitraum überblickt, erkennt: Eine neue Generation ist am Start. Die beiden Läufer kennen den Originallauf nicht. Es drängte sie, den Kurs kennenzulernen – wenn man so will: läuferische Archäologie durch Nachvollziehen. Eine für jedermann geöffnete Veranstaltung sollte es nicht werden. Da der Kurs nicht für den Verkehr gesperrt war, begnügte man sich mit einem Einladungslauf. Eine Zeitnahme war nicht vorgesehen. Die Teilnehmer blieben als Gruppe beieinander.

Dennoch, es war kein Lauf in aller Heimlichkeit, sondern ein Beitrag zum Stadtfest. Und es war ein Tag für Helmut Urbach. Er war bereits 1969 beim ersten Lauf in Unna dabei und lief die Siegerzeit von 8:59:10 Stunden. 1971 legte er hier die 100 Kilometer in 6:57:55 Stunden zurück; er war der erste Mensch auf der Welt, der die 7-Stunden-Marke durchbrach. Fünfmal siegte er in Unna, Eva-Maria Westphal viermal. Am letzten Samstag stand er am Start, und am Sonntag erwartete er die Läufergruppe auch am Ziel.

Gestartet waren 16 Läufer; die einzige der Gemeldeten, die auf der Originalstrecke gelaufen war, mußte wegen einer Verletzung absagen und beobachtete den Lauf aus dem Versorgungsfahrzeug. Ein Bericht samt Photos ist für die Seite www.100km-lauf-unna.de angekündigt. Hans-Uwe, einer der Teilnehmer, schildert: „Es war warm und schwül, zunächst ging es durch etwas Landschaft, dann aber sehr lange durch Ortschaften, und da es bald dunkel wurde, der Verkehr natürlich nicht gesperrt war, mußten wir den Bürgersteig benutzen. Das hieß: Bordstein runter, Bordstein hoch, Achtung, Pfahl, Vorsicht, Laterne, schon wieder ein mobiles Verkehrsschild, rote Ampel usw. Das war so nervig und anstrengend... Über die Gegend kann ich nicht viel sagen (Dunkelheit), lediglich daß es ein flacher Kurs ist mit einer langgezogenen Steigung ... und natürlich auch zwischendurch einigen Muntermachern. Als es hell wurde, waren die ersten Leute, die uns begegneten, die Hundebesitzer, es folgten die Kirchgänger und dann die Jogger, die uns sogar beklatschten.“ Nach etwa 14 ½ Stunden lief die Gruppe im Herder-Stadion ein.

Aus dem Gästebuch geht hervor, daß es Interessenten für die Wiederholung dieses Nostalgielaufs gibt.

Da keimt in mir die Idee, ob sich aus dem Nostalgielauf um Unna über die Jahre nicht eine ganze Serie machen ließe? Wie wäre es, wenn im Jahr drauf auch die 100 Kilometer von Illertissen gelaufen würden! Und auch in Hamm, in Kusel, in Rodenbach und... und... und... Da würde mit einem jährlichen Traditionslauf unversehens die ganze Geschichte des Ultralaufens in Deutschland lebendig werden. Eine Vision, ich weiß.

Eintragung vom 30. August 11

Der 20. und 21. August in Berlin bedeutete mit dem 100-Meilen-Lauf ein Lauferlebnis. Aber nicht nur. Der Mauerweglauf über 160,9 Kilometer eröffnete zugleich eine touristische Entdeckung. Der Weg, der dank der Initiative Michael Cramers zusammengestellt und ausgewiesen worden ist, hat mit den 100 Meilen nicht nur 92 Läuferinnen und Läufern eine sportliche Herausforderung geboten; er ist auch eine Anregung, diesen Kurs zu erwandern oder mit dem Fahrrad zurückzulegen.

 

Nur ein reichliches Viertel der Strecke entfällt auf die einstige Trennung von West- und Ostberlin. Der Hauptteil der Berliner Mauer hatte Westberlin vom Umland, vom Land Brandenburg, abgeschlossen. Hier verläuft der Berliner Mauerweg zum großen Teil durch offene Landschaft. Doch auch die innerstädtische Route führt nicht nur durch großstädtische Straßenschluchten, sondern auch durch Grünflächen und über Spree- und Kanal-Brücken.

Das Schöne ist, daß man von den einzelnen Abschnitten mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Quartier zurückkehren und am nächsten Wochenende mit einem neuen Abschnitt beginnen kann.

Ich selbst bin von Kreuzberg zur Oberbaumbrücke gewandert und dann von Lichterfelde-Süd am Teltow-Kanal entlang zum Königsweg und zur S-Bahn-Station Griebnitzsee, von dort oberhalb des Griebnitzsees zur Glienicker Brücke und nordwärts zum Brauhaus Meierei am Jungfernsee. Von dort bin ich mit dem Autobus nach Potsdam gefahren und mit S- und U-Bahn nach Kreuzberg zurück. Sollte ich wieder nach Berlin kommen, werde ich mir wieder einen Tag für den Mauerweg freihalten und vom Jungfernsee zur Glienicker Heide wandern. Läufer seien auf eine Veranstaltung der Laufgemeinschaft Mauerweg hingewiesen; sie organisiert zum zweitenmal einen Ultralauf ohne Zeitnahme über den gesamten Mauerweg, jedoch in drei Tagesetappen (9. - 11. November 2012).

Den Reiz einer solchen Etappen-Tour sehe ich zum einen darin, daß man dabei die Ausdehnung einer Weltstadt nicht punktuell, sondern tatsächlich in der Fläche erlebt; der Mauerweg verbindet einzelne Wegabschnitte zu einer Rundtour, die durchaus landschaftliche Qualitäten hat. Zum anderen ist es eine Wanderung auf den Spuren der Geschichte, der kompletten Abschnürung Westberlins vom Zentrum und von den östlichen Stadtteilen Berlins – eine Wanderung durch das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg.

Nach der Zahl thematischer Wanderrouten, die in den letzten Jahrzehnten angelegt worden sind, besteht durchaus die Neigung, das Wandern mit Information und gedanklicher Beschäftigung mit einem Leitthema zu verbinden. Die Denkmale für die an der „Todesgrenze“ ums Leben Gekommenen wird man schwerlich ohne tiefe Emotion passieren; dabei kann hier nur der 136 dokumentierten Todesfälle gedacht werden; bei den anderen kennt man nicht einmal die genaue Zahl.

  Die Beschilderung des Mauerweges erlaubt auch Ortsunkundigen die wenigstens grobe Orientierung. Gäbe es nicht diesen Mauerweg, wüßte nicht einmal die jetzige Erwachsenen-Generation mehr, wie die bis zu 100 Meter tiefe Grenzanlage präzise verlaufen ist. Allzu eilig ist die trennende Mauer nach dem Untergang des DDR-Regimes beseitigt worden; nur Rudimente sind übrig geblieben. Manche Stellen sind bebaut worden. An der Gedenkstätte Bernauer Straße, wo man sich einige hundert Meter lang mit der jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen kann, habe ich fast einen ganzen Tag lang verbracht, die Tafeln mit historischen Aufnahmen und Video-Filmen betrachtet, die archäologisch gepflegten Funde der Teilung besichtigt, die Kapelle der Versöhnung besucht, das Dokumentationszentrum und in der Station Nordbahnhof die Ausstellung über die „Geisterbahnhöfe“ während der Teilung.

Die Laufveranstaltungen in Berlin, voran der Berlin-Marathon am 25. September, werden wieder viele Auswärtige nach Berlin führen. Der Mauerweg eignet sich hervorragend zu einer Regenerationswanderung.

Photos (4): Sonntag

Eintragung vom 23. August 11

Eine Laufveranstaltung mit 92 Teilnehmern, ein Lauf in der Geschwindigkeit zwischen reichlich 6 und etwas über 11 Minuten für den Kilometer – wer würde schon Notiz davon nehmen? Wenn dies ein Volkslauf gewesen wäre, hätte er in aller Heimlichkeit stattgefunden. Wir kennen das. Doch dieser Lauf weist einige Besonderheiten auf.

Sportlich: Es waren 100 Meilen, auf Deutsch 160,9 Kilometer. 100-Meilen-Läufe sind in Europa eine Seltenheit. Dies war der erste 100-Meilen-Lauf in Berlin.

Politisch: Der Lauf fand auf dem Mauerweg statt; der aktuelle Anlaß war das Gedenken zum 50. Jahrestag der Errichtung der Berliner Mauer. Diese Veranstaltung hat es geschafft, den Zaun – oder ist es eine Mauer? – zwischen einer Minderheit von Ultraläufern und der Öffentlichkeit zu überwinden. Der Bürgerrechtler Pfarrer und ehemalige Minister Rainer Eppelmann hatte die Schirmherrschaft übernommen; er war beim Start am 20. August um 6 Uhr morgens zugegen und bei der Abschlußfeier am 21. August mittags. Dies, obwohl er mit dem Laufen überhaupt nichts im Sinn gehabt hat. Zur Siegerehrung kamen der Innen- und Sportsenator von Berlin, Dr. Ehrhart Körting, und der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz, der Europa-Abgeordnete Michael Cramer, dem die Anlegung des Mauerweges und ein mehrfach aktualisierter Radwanderführer über den Mauer-Radweg zu danken sind, die Mutter des letzten tödlichen Maueropfers, Chris Gueffroy, dessen auf der Medaille gedacht wird, und der Sprecher der German Road Races, Horst Milde. Tatsächlich, auch der „Tagesspiegel“, die „Morgenpost“ und der RBB nahmen Notiz davon.

 

Touristisch: Der Mauer-Radweg ist entdeckt, als eine Kombination von Urbanität und Urlaub, von städtischen Passagen, die man auch als Berliner nicht unbedingt kennt, und ausgedehnten Landschaftswegen, die einem Urlaubsort nicht schlecht anstünden.

Läuferisch: Eine Herausforderung von besonderer Eigenart. Der Wunsch nach einer Wiederholung in zwei Jahren war allgemein.

Die Startnummer 1 trug Dr. Ronald Musil (25:48:54 Stunden). Er hatte im Gespräch mit Alexander von Uleniecki die Idee, aus dem Radweg eine Ultrastrecke zu machen und eine Veranstaltung zu organisieren. Ein Verein LG Mauerweglauf wurde im Jahr 2009 gegründet; Sinn ist insbesondere die Pflege des Ultralaufs. Den Vorsitz übernahm Alexander von Uleniecki; er leitete auch die Veranstaltung, die mit Absicht nicht auf den Jahrestag des Mauerbaus am 13. August, sondern auf das Wochenende danach gelegt wurde.

Ich selbst habe die Internet-Seite der Laufveranstaltung seit Monaten verfolgt und bin zu dem Eindruck gekommen, daß das Unternehmen hoch professionell organisiert worden ist. Nicht nur das, die Teilnehmer beteuerten, die lockere, freundliche Atmosphäre an den 24 Verpflegungsstationen habe ihnen gut gefallen. Als uns im Briefing die Markierung gezeigt wurde, war ich in der schlimmsten Erwartung. Doch der Streckenmarkierer hat hervorragende Arbeit geleistet. Die kleinen roten Aufkleber mit dem Pfeil waren überall dort zu finden, wo Information gefragt war. Sie waren in dem Informationsmosaik einer Großstadt unverwechselbar, ohne jedoch das Auge Unbeteiligter zu beleidigen. Dabei – auch das ist Berlin – war die Markierung aus unerfindlichen Motiven sabotiert worden, Aufkleber waren abgerissen und auf den Boden gemalte Pfeile verschmiert worden. Eine Nachmarkierung war notwendig. Die hoch, nämlich in Höhe der ehemaligen Mauer, angebrachten Schilder „Mauerweg“ halfen zwar, hätten aber bei weitem nicht ausgereicht. Dennoch, etliche Teilnehmer haben sich verlaufen und mußten ihren Irrtum mit längerer Laufzeit bezahlen. Auch ich, der ich nur partienweise als Fußgänger unterwegs war, habe einmal eine Abbiegung übersehen. Wenn ich jedoch die Markierung mit der des ersten Marburger 100-km-Laufs oder gar mit der des Vollmond-Marathons vergleiche, kann ich bestätigen: Auch die Markierung war in Berlin auf hohem Niveau. Außer festen Sanitätsstationen fuhren vier Sanitätsstreifen die Strecke ab.

  92 Teilnehmer hatten sich zum Start in der Kreuzburger Sportanlage Lobeckstraße versammelt, darunter Gäste aus Südafrika, den USA, Kanada, Dubai, der Türkei, Frankreich und China. Die beiden ersten Kilometer wurden in der Sportanlage zurückgelegt; damit sollte erreicht werden, daß sich das Feld auseinanderzog, bevor es auf die öffentlichen Verkehrswege ging.

Es lag sicher nur zum geringsten Teil an der frühen Stunde, daß auf diesem ersten Abschnitt kaum Straßenverkehr herrschte; hier wie auch anderswo haben 28 Jahre Teilung außerhalb der einstigen Übergangsstellen keine neuen Verkehrsrouten entstehen lassen.Erst an der Spree war eine Hauptverkehrsroute erreicht. Hier steht der längste erhaltene Teil der Mauer, die „East Side Gallery“. Nach der Grenzöffnung hatten Künstler die Gelegenheit erhalten, diese Mauer feldweise zu bemalen. Sie steht seither unter Denkmalschutz.

 

Fluchtversuche über die Berliner Mauer haben 136 dokumentierte Todesopfer gefordert. Ihrer wird an den Fluchtorten jeweils durch eine Stele und eine kurze Biographie gedacht. Auch an der East Side Gallery ist eine solche Gedenkstätte.

An der pittoresken Oberbaumbrücke beendete ich meine erste Wanderung auf der Route der Läufer und fuhr nach Lichterfelde-Süd, fand auch richtig den Mauerweg und wanderte auf der Laufstrecke. Wanderer waren an diesem Samstag nicht anzutreffen, dagegen außer zahlreichen Radfahrern immer wieder Läufer.

Das führte dazu, daß ich die späteren Sieger vom LG Nord Berlin Ultrateam mit zwei Trainierenden verwechselte. Auf den folgenden Kilometern holten mich zahlreiche Teilnehmer ein, die von Treptow über Altglienicke, Buckow und Marienfelde gekommen waren. Wahrscheinlich bewegte ich mich auf den landschaftlich schönsten Abschnitten der 100-Meilen-Route. Das Wetter spielte mit.

Auf einer Brücke überquerten wir die Autobahn und blickten auf Dreilinden, den früheren Kontrollpunkt für Berlin-Besucher aus dem Westen. Einige Male hatte auch ich dort gestanden und lange gewartet, bis ich nach dem erlösenden „Gute Fahrt!“, womöglich auf Sächsisch, auf die Insel Westberlin fahren durfte. Unvorstellbar damals, daß ich einstmals unkontrolliert auf dieser Brücke würde stehen können.

Mehrfach habe ich jetzt an den Gedenkstelen verweilt. Erschütternd zu lesen, wie jung die Opfer gewesen sind, als die tödlichen Schüsse der Grenzposten sie ereilten. Die Gleichaltrigen heute haben diese Zeit nicht mehr erlebt. Die Gedenkpunkte und die verwelkenden Kränze davor sind notwendig. Der Mauerweg rund um das einstige Westberlin ist ein Denkmal, eines, das als touristische Attraktion unserem Alltag nahe ist.

Am S-Bahnhof Griebnitzsee ist die erste der beiden Cut-off-Stationen gewesen. Das erste reichliche Drittel der 100 Meilen war hier geschafft. Ich bin die Karl-Marx-Straße oberhalb des Griebnitzsees weitergewandert. Beste Wohnlage. Die zwanzig Jahre nach dem Mauerfall haben gereicht, die meisten Villen zu altem und neuem Glanz zu restaurieren.

Über die Glienicker Brücke, über die sich jetzt der Ausflugsverkehr ergießt, in den Neuen Garten, immer mit dem Blick auf den Jungfernsee. An der Meierei der Verpflegungspunkt 8, die letzten Läufer wurden erwartet. Hier beendete ich meine Streckenwanderung und kehrte von Potsdam in die Berliner Lobeckstraße zurück.

Ich kam gerade zur rechten Zeit. Die beiden ersten Läufer wurden erwartet, Michael Vanicek (Startnummer 11) und Jan Prochaska (13) liefen Hand in Hand auf der Tartanbahn ein, locker, wie von einer abendlichen Trainingsrunde. Sie hatten den größten Teil der Strecke gemeinsam zurückgelegt. Ihr 100-Meilen-Sieg von 16:22:17 Stunden war nicht unerwartet gekommen. Der Dritte war Holger Hedelt vom Irene Road Running Club South Africa in 16:51:43 Stunden. Eine starke Leistung vollbrachte Marika Heinlein (1. FC Geesdorf), als erste Frau auf dem 5. Platz, in 17:49:05 Stunden. Ihr folgten später Grit Seidel (LG Nord Berlin Ultrateam) in 18:54:57 und Catherine Todd (Dubai Creek Striders) in 21:52:41 Stunden.  

Zu dieser Zeit hatte ich mir gestattet, mich ins Bett zu legen. Am Sonntag begab ich mich in die Bernauer Straße. Am Dokumentationszentrum der ausgedehnten Gedenkstätte war die vorletzte Verpflegungsstation aufgeschlagen. Hier erlebte ich die letzten Ankünfte. Alle 8 Kilometer bis zum Ziel zu gehen, reichte die Zeit nicht mehr. Am Hauptbahnhof nahm ich die S-Bahn.

Um 12 Uhr stand fest: 78 der 92 Teilnehmer waren innerhalb der 30 Stunden, der letzte sechseinhalb Minuten vor Zielschluß, angekommen. Es gab Stürze, jedoch keine ernstlichen Probleme. Die LG Mauerlauf kann zufrieden sein. Sie hat Laufgeschichte geschrieben, vielleicht sogar mehr als das.

Photos 4: Sonntag

Eintragung vom 16. August 11

Ernte, das Wort fliegt mir zu, wenn ich um mich blicke. Auf den Obstbaum-Grundstücken, an denen ich mich vorbeibewege, wirken die Apfelbäume wie aus dem Bilderbuch. Manche schwer behangenen Äste sind durch Latten gestützt. Prallvoll sind die Zweige mit grünen und roten Früchten. Unter einigen Bäumen liegen die abgefallenen Äpfel im Gras.

Die Zwetschgenbäume scheinen in diesem Jahr besonders reich zu tragen. Ich kann es nicht erkennen; aber wir haben Zwetschgen geschenkt bekommen. Der Ertrag übersteigt offenbar den Bedarf der Obstbaumbesitzer. Ein Gartenbesitzer wird wohl demnächst wieder ein Angebot am Gartenzaun machen. Der Verkauf ohne Verkäufer scheint zu funktionieren. Man sieht es an den Sonnenblumen-Plantagen. Die Kasse ist an einem Faß festgeschweißt. Da die Sonnenblumen jedes Jahr verkauft werden, scheint das Vertrauen der Grundbesitzer in die Ehrlichkeit der Mitmenschen gerechtfertigt zu sein. Irgendwie wirkt das beruhigend. Wir stehen wohl doch nicht vor einer Katastrophe der Moral.

Jenseits der vielbefahrenen Straße erntet ein Mähdrescher. Zum erstenmal in diesem Jahr erblicke ich einen. Dabei sind alle anderen Getreidefelder, an denen ich vorbei komme, schon leer. Jetzt fällt es mir auf. An dem Mäh- und Verarbeitungsprozeß fällt mir die Industrialisierung der Landwirtschaft am deutlichsten auf. In meiner Kindheit habe ich mehrere Sommerferien auf dem Lande verbracht. Da stand in der Remise noch die Flügel-Mähmaschine und wurde nicht mehr gebraucht. Denn das Getreide wurde mit dem Bindemäher geerntet. Zwei stämmige Pferde zogen ihn. Im Jahr darauf war der Deutz-Traktor da. Ich habe noch erlebt, wie die Lokomobile anrückte. Der Maschinist legte den Treibriemen auf, und die Lokomobile trieb die Dreschmaschine an. Es war noch wie in "Vor Sonnenaufgang" von Gerhart Hauptmann. Zwei Jahre später durfte ich mich an der Demontage der Dreschmaschine beteiligen; sie wurde nicht mehr gebraucht. Und nun also der Mähdrescher, der noch auf dem Feld Körner und Stroh säuberlich getrennt ausspuckt. Die Ernte vollzieht sich wie in einer Fabrik. Der ganze lange Prozeß, das Mähen, das Binden der Garben, das Aufstellen zu Puppen, der Transport, das Dreschen, die Ährenlese – all das, was wir auf den Gemälden der Impressionisten noch sehen können, ist Geschichte.

Jetzt, da die Getreidefelder leer sind, sehe ich, welche Menge Mais angebaut wird. Dort wo meine Hausrunde eben verläuft, bewege ich mich ständig entlang der bis zu zwei Meter hohen Stauden. Ich werde nachdenklich. Wozu braucht man diese Mengen? Wir essen doch allenfalls im Salat nur ein kleines Häufchen Mais. Sicher, und etwas wird zu Maisstärke verarbeitet. Und alles andere? Viehfutter und Biotechnik. Die Landwirtschaft ist nicht nur selbst industrialisiert, sie dient auch der Industrie.

Die Lauf- und Walkingrunde hat wieder einmal zu einer Erkenntnis geführt, einer bestürzenden Erkenntnis.

Eintragung vom 9. August 11

Andrea Tuffli versteht es, seinen Swiss Alpine im Gespräch zu halten, selbst dann, wenn er es gar nicht beabsichtigt hat.

Wie ein Paukenschlag war es, als er für den Lauf nach dem 25-Jahr-Jubiläum die angebliche Schlechtwetterroute über den Sertig ankündigte. Doch ein reiner Nostalgielauf sollte es auch wieder nicht sein. Die K78- und K42-Strecke ist wie bisher zur Kesch-Hütte emporgeführt worden; der Abschnitt von hier bis zum Sertigpaß ist für alle bis auf den Gipfelanstieg neu gewesen. Da es sich, wenn wir Andrea Tuffli richtig verstanden haben, um eine Erprobung der Organisation auf der Schlechtwettervariante unter realen Bedingungen handelte, stellte sich für die Masse der Teilnehmer das schlechte Wetter pünktlich ein. Nun kann man die Strecke, zumal nach bestandener Erprobung, abhaken. So dachten wir. Vielleicht dachte auch Andrea so.

Doch da gibt es ja auch noch die 2274 Teilnehmer (Finisher von K78 und K 42) dieses Kurses. Die wenigsten davon dürften die Sertigvariante aus den Jahren bis 1997 gekannt haben. Da standen sie nun auf dem Sertigpaß, allerdings bei Kälte und Regen nicht allzu lange, und stürzten sich talwärts, wateten über Wiesengelände und liefen über den Wanderweg nach Clavadel und hinab nach Davos. Das Erlebnis der neuen Strecke reproduzierte zwei Meinungen: Erstens – bloß nicht nochmals diese Strecke! Zweitens – auf dem Sertigpaß zu stehen, ist ja viel schöner als vor den Felswänden des Scaletta; laßt uns diese Route beibehalten!

Da hat sich Andrea Tuffli ein schönes Problem eingebrockt. Denn jetzt muß diskutiert werden: welche Route künftig? Das Gästebuch gibt darauf keine eindeutige Antwort. Beide Meinungen werden in den Eintragungen artikuliert. Ich selbst habe mich jedoch nur darüber gewundert, daß im Gästebuch keine Klage über den Abstieg vom Sertig laut geworden ist. Der steile Abstieg vom Sertig galt ja als ein Grund der Streckenänderung über Kesch-Hütte und Scalettapaß. Offenbar ist der obere Teil der jetzigen Bergab-Strecke ein anderer als in den Jahren, in denen wir über den Sertigpaß gelaufen sind, und es scheint so zu sein, daß der jetzige Kurs, der nach einem Bergsturz zustande gekommen sein soll, nicht besser, sondern übler als der vorherige ist. Die Orientierung im Geröll sei schwierig gewesen, berichteten mir zwei Teilnehmer.

Ganz klar, daß es im Gästebuch des Swiss Alpine eindeutige Voten für die Scalettastrecke gibt. Und auch den abfallenden Weg durchs offene Dischmatal finden einige deutlich besser als den Waldweg im Sertigtal. Aber das Erstaunliche ist, es ist mehrfach auch die gegenteilige Ansicht zu lesen. Die Route über den Sertigpaß möge beibehalten werden, und der Waldweg im Sertigtal sei ja abwechslungsreicher als die Route durchs Dischmatal. Was nun?

Ich selbst bin hin- und hergerissen. Der Blick auf die Seen und der Blick von der freien Kuppe des Sertigpasses sind sicher attraktiver als der Pfad durch die Felsen des Scalettapasses. Doch der risikoreiche Abstieg vom Sertigpaß? Ihm steht der Vorzug gegenüber, daß man nach Überquerung des Passes sehr rasch wieder im Tal ist, von 2739 m auf 1859 m im Sertigtal. Der Einlauf in Davos scheint mir auch angenehmer zu sein als der Übergang vom Dischmatal zur Stadtlandschaft. Aber der Panoramaweg von der Kesch-Hütte zum Scalettapaß und der relativ angenehme Abstieg zum Dürrboden sind auch nicht geringzuschätzen.

Fein heraus sind diejenigen, die gar nicht beabsichtigen, jemals den K 78 oder K 42 zu laufen; sie muß das Problem nicht im mindesten interessieren. Das ist sicher die Mehrzahl der Leser. Ich selbst kann zwar den K 42 weder laufen noch gehen, aber wenn man wie ich an jeder Veranstaltung bisher teilgenommen hat, dem Swiss Alpine also seit 1986 verbunden ist, beunruhigt einen schon, daß man keine Antwort auf die Frage weiß: Scaletta oder Sertig?

Eintragung vom 2. August 11

Ältere unter den Lesern dieses Tagebuchs versichern gern, sie läsen die Eintragungen, weil sie sich von dem noch älteren Verfasser Orientierung darüber erhofften, was in welchem Alter noch möglich sei. Nun denn.

Es hatte damit begonnen, daß mir die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen nicht mehr möglich erschien. Doch was sagt das schon! Den wenigsten schwebt ein Spartathlon in ihrem Leben vor. Dann folgt das Stadium, in dem man dem Feld hinterher läuft. Manche tun das ein Leben lang. Erst ist man unter den Letzten, und schließlich ist man der Letzte. Die meisten haben sich vorher schon verabschiedet. Ich erkenne, daß ich ein neues Stadium erreicht habe, das des Aufgebens. DNF – "dit not finish" – kommt zwar auch schon in den besten Jahren vor, aber wer hartnäckig genug ist, im Wettbewerb zu bleiben, erlebt es wohl schließlich als Regel.

Den Supermarathon des Rennsteiglaufs hatte ich schließlich am Grenzadler beendet, die 100 Kilometer von Biel im vorigen Jahr bei Kilometer 76, den Karwendelmarsch weit vor der vorgesehenen Ausstiegsmarke, den Rennsteig-Marathon in diesem Jahr bei Kilometer 18. Seit dem 30. Juli, dem Swiss Alpine, weiß ich, auch der Walking-Halbmarathon ist keine Zuflucht mehr. Ich bin im Stadium des Aufgebens.

Von Anfang an: Die Verkürzung des Zielschlusses beim C 42 vereitelte von vornherein die Teilnahme. Am Halbmarathon reizt der Start auf der Sunnibergbrücke in Klosters, die Fußstrecke auf der allein für den Fahrverkehr vorgesehenen Umfahrungsstrecke. Knapp fünf Stunden Zeit, macht eine Leistung von fast 4 Kilometern in der Stunde. Da werden doch wohl die 755 Höhenmeter zu schaffen sein. Sie sind es nicht, wenn man schon Mühe hat, die Hügel auf der Hausrunde zu erklimmen.

Der Start ist exklusiv. Ein Sonderzug der Rhätischen Bahn rollt an die Strecke, erst zweimal der für die beiden Läufer-Startfelder, dann der für die Walker. Hatte ich gemeint, als Läufer in eine fremde Welt abzutauchen, die der Walker, sah ich mich noch im Zug korrigiert: Conny, die wie ich einst über den Sertigpaß gelaufen war, hatte ebenfalls den Weg zu den Walkern gefunden.

 

Die elegante Sunnibergbrücke schwingt sich in einem Halbrund über das Tal. Doch die Brücke beginnt bereits, ansteigend die 500 Höhenmeter bis Davos zu überwinden. Am Ende der Brücke sah ich nur auf den Serpentinen des Laufweges über mir noch einige Walker. Die letzten waren ein Ehepaar, das stehen blieb, um zu photographieren. Dann war ich allein. Nun ja, darauf war ich gefaßt. Doch dann, die Steigung hatte tatsächlich nach 200 Höhenmetern ein Ende, kam ich am Bahnhof von Klosters heraus.

Erstmals, so hatte ich gelesen, führte die Halbmarathonstrecke durch Klosters Platz und "bietet für Läufer und Zuschauer ein ganz besonderes Spektakel". Hinter mir eine kraftraubende langgezogene Steigungsstrecke und jetzt erst am Bahnhof? Ein Spektakel vermochte ich nicht wahrzunehmen, Zuschauer, die mich hätten wahrnehmen können, gab es auch nicht.

Die Strecke stieg, und sie stieg stärker und viel länger. Ich blieb einen Augenblick stehen, um Luft zu schöpfen, nach der nächsten Windung waren es zwei Augenblicke. Und so ging das fort. Die Zeit lastete schwer über der Strecke. Hinter mir das Besen-Quad, als es an mir vorbei fuhr, sah ich, es waren wirklich Besen daran befestigt. Die Situation war mir bekannt: der Kampf mit dem Besen.

Die Strecke verlief auch einmal flach oder senkte sich sogar, doch der nächste Anstieg folgte. Ich blieb einen Augenblick stehen, um Luft zu schöpfen – wie bekannt. Drei Stunden war ich schon unterwegs. Die 10-Kilometer-Anzeige ließ auf sich warten. Unversehens war ein zweites Quad aufgetaucht, ein Sanitätsposten. Er sprach mich freundlich an. Ich war vorbereitet, er mußte nicht insistieren. Um 18 Uhr spätestens hätte ich die Bahnstation Laret passieren müssen, jetzt war es 18.15 Uhr. Ich nahm die Startnummer ab und kletterte auf das Quad. Es muß noch ein Stück vor dem Bahnübergang gewesen sein, da hätte ich gerade einmal 9,5 Kilometer zurückgelegt.

Am Bahnhof kurze Verhandlung mit dem Streckenposten. Eine Frau erklärte sich bereit, mich nach Davos zu bringen. Da mußte ich nicht auf den Zug warten. Und wenn schon Davos, warum dann nicht gleich ins Hotel statt ins Stadion?

Auf diese Weise habe ich, obwohl an einer Veranstaltung mit über 5000 Läufern beteiligt, keinen einzigen Menschen laufen gesehen und nur wenige Minuten lang eine Schar von Walkern. Hätte ich Stöcke mitnehmen sollen? Ich fürchte, sie hätten mir ebensowenig Luft verschafft.

Im Internet erfuhr ich das Ergebnis. Vor Laret war ich der Meinung gewesen, ich sei der einzige, der dieses Halbmarathon-Walking vorzeitig beendet habe. Ach nein, nicht weniger als 28 "did not finish". Dem Gästebuch entnehme ich, daß durch GPS gut und gern 100 Höhenmeter mehr gemessen worden seien, und die Strecke sei auch länger. Doch darauf kam es auch nicht mehr an.


Eintragung vom 25. Juli 11

Schneggi – oder war es Hasehumpel? – hat ein Bild von mir gemacht. Nach meiner Erinnerung zum drittenmal, und jedesmal, ohne daß ich es gemerkt hätte. Diesmal ist es bei den Bieler Lauftagen gewesen, und das Bild reißt mir schonungslos die Maske vom Gesicht. Es zeigt einen miesepetrigen Alten, der gerade sein miesepetrigstes Gesicht aufgesetzt hat. Irgend etwas paßt mir nicht. Schneggi meint, ich studierte die Speisekarte und sei unzufrieden damit. Doch es ist nicht die Speisekarte, sondern ein Laufprospekt, vermutlich vom Wörthersee. Was mich daran verdrossen hat, weiß ich wahrhaftig nicht, denn ich bejahe die Veranstaltung durchaus.

Aber Schneggi hat im Grunde recht: Wenn es die Speisekarte gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich ebenfalls dieses Gesicht gemacht. In dem Aufenthaltszelt ist die übliche Festzelt-Gastronomie betrieben worden. Die ist in der Tat für einen wie mich zum Gesicht-Verziehen – dies nicht nur in Biel, das immerhin in der touristisch gepflegten Schweiz liegt, sondern auch in jedem anderen Ort. Der amerikanische Läufer-Aberglaube, die Pasta-Party, lauert in den Kesseln. Teigwaren am Vorabend oder, wie in Biel, vor dem Start, haben sich inzwischen bis in Vier-Sterne-Hotels ausgebreitet. Eine Seuche hat keinen Respekt vor Sternen.

Um noch eins draufzusetzen, im Läuferbeutel befanden sich zwei Warenproben der Firma bio-familia AG. Vor mir liegt die Verpackung der einen: "Champion original Vollwert-Müesli. Natürlich mehr leisten". Ins Französische übersetzt mit "Müesli Complet. Le plein d'énergie naturelle". "Vollwert-Ernährung" ist ein Begriff, den Professor Dr. Werner Kollath ("Die Ordnung unserer Nahrung", 1942) für eine natürliche Ernährung geprägt hat. Vollwert-Ernährung ist von Dr. med. Max Otto Bruker (1909 - 2001) verbreitet worden und wird von seiner Gesellschaft für Gesundheitsberatung (GGB) und, in einer Variante, dem Verband Unabhängige Gesundheitsberatung (UGB) vertreten. Professor Dr. rer. nat. Carl Leitzmann hat mit zwei Mitarbeitern das wissenschaftliche Standardwerk darüber geschrieben. Seine eigene Variante stellt Andreas Butz in seinem Buch "Vitale Läuferküche" dar. Wie immer man Vollwertkost definiert, – aus der industriellen Tüte ist sie nicht zu haben.

Das Produkt von familia ist ein Fertigprodukt, die vorliegende Packung ist haltbar bis zum 10. Januar 2012, nach der "Ordnung unserer Nahrung" ein Präparat, wie alle Präparate der niedrigsten Wertstufe zugehörig und von Vollwertköstlern zu meiden. Es besteht laut Packungsangabe aus "Vollkorn-Haferflocken, Cornflakes (Mais, Zucker, Speisesalz, Gerstenmalz, Emulgator, Sonnenblumenlecithin), Apfelflocken (Vollkornmehl, (Weizen, Roggen, Gerste, Zucker, Äpfel), Dextrose, Sultaninen 7 % (pflanzliches Öl), Sojaschrot, Haselnüsse geröstet 6 %, Apfelstücke 5 % (Konservierungsmittel Schwefeldioxid), Weizen-Soja-Flakes (Weizen, Soja, Rohzucker, Fruchtzucker, Speisesalz, Gerstenmalz), Rohzucker, Aprikosen getrocknet 2 % (Konservierungsmittel Schwefeldioxid), Weizenkeimgranulat (Weizenkeime, Weizenstärken, Weizenmehl), Gluten, Honig, Birnensaftkonzentrat, Gerstenmalz, Speisesalz, Zimt), Malzflocken (Gerstenmalz, Emulgator Sojalecithin), Orangenpulver (Zucker, Säuerungsmittel Zitronensäure, Orange, Aromen), Hagebuttenpulver, Magnesium-Citrat, Vitamine (C, Maltodextrin, E, Niacin, Panthotensäure, D, B6, B2, B1, Folsäure, Biotin, B12), Guarana Extrakt 0,1 % (Maltodextrin, Guarana Extrakt), Zink-Gluconat. Getreideanteil: 49 %, davon Vollkorn: 69 %. Fructose: 5 %, Glucose 11 %, Koffeingehalt: 4,5 mg/100g". Anmerkung: Die Klammern in der Klammer bei "Apfelflocken" sind korrekt wiedergegeben.
Das Produkt mag ein ausgetüfteltes Erzeugnis der Nahrungsmittelchemie sein; aber eines ist es nicht: vollwertig. Aus gutem Grund hat Dr. Bruker seinerzeit das von Dr. Bircher-Benner übernommene Müesli nicht so genannt, sondern Frischkornbrei, weil dieser aus frisch geschrotetem keimfähigen Getreide und frischen Zutaten besteht. Das Müesli aus der Warenprobe bezieht sich ebenfalls auf Dr. Bircher-Benner; wenn er dies wüßte, müßte er sich im Grabe umdrehen. Von den 64 Gramm Kohlenhydraten der 100-Gramm-Packung sind 26 Gramm Zucker. Es enthält die Allergene Gluten und Sulfite. "Natürlich mehr leisten" ist eine pure Werbeaussage.

Vor wenigen Tagen, am 20. Juli, hat die Verbraucherministerin, Ilse Aigner, die Internetseite des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände eröffnet, "Lebensmittelklarheit.de". Mit dieser Aktion hat sie offensichtlich ins Schwarze getroffen. Die Nahrungsmittelindustrie jaulte auf. Die Seite wurde so oft angeklickt, bis zu 20.000 Zugriffe in einer Sekunde, daß die Server nicht mehr mitkamen. Inzwischen ist das technische Problem offenbar behoben. Die Seite enthält Informationen über irreführende Werbeaussagen und in allgemeinverständlicher Sprache über gesetzliche Grundlagen, und sie fordert die Verbraucher zur Aktion auf. Man kann Produkte melden, die mit zweifelhaften oder falschen Aussagen beworben werden.

Ob ich das "Vollwert-Müesli" melden könnte? Ich fürchte, daß die Bezeichnung zulässig ist. Die Firma bezieht sich darauf, daß der Haupt-Grundstoff, die Haferflocken, aus biologischem Anbau stammt. Doch die weiteren Bestandteile, die Herstellung der Flocken in einem Prozeß der hohen Erhitzung und die industrielle Herstellung machen diesen Vorzug zunichte. "Vollwert" wird real zur Täuschung benützt.

Die Abbildung eines laufenden und eines radfahrenden Sportlers auf der Verpackung illustrieren die Zielgruppe: Sporttreibende. Der Slogan "Natürlich mehr leisten" gibt eine Versprechung, die nicht haltbar ist. "Auffällig ist aber gerade bei spezieller Sportlernahrung die große Diskrepanz zwischen der Einschätzung von Ernährungsexperten und den Aussagen der Anbieter dieser Lebensmittel. Häufig sind Werbeaussagen so formuliert, daß sie den Eindruck vermitteln, Sportler würden von den Produkten profitieren – dies aber nicht ausdrücklich behauptet wird", heißt es in dem Informationstext der Website. Es lohnt sich, die Seite anzuklicken, allein um die Informationen zu lesen.

Muß ein solches Produkt in einem Läuferbeutel, bei den "Goodies", wie die Amerikaner sagen, liegen? Ich fürchte, das wird sich nicht vermeiden lassen. Der Veranstalter freut sich, wenn er der Startnummer ein Produkt beilegen kann, der Empfänger freut sich, daß er für das als hoch empfundene Startgeld wenigstens etwas geschenkt bekommt. Hilft nur die Aufklärung. Was hiermit geschieht.

Eintragung vom 18. Juli 11

Begegnungen. Er kam mit einem Zettel auf mich zu. "Wohnen Sie hier?" fragte er. "Ja", sagte ich, was ein wenig großzügig war, denn wir standen mehr als 3 Kilometer von unserem Reihenhaus entfernt. "Wir sind im H...weg", sagte ich unaufgefordert, weil ich annahm, er suche eine Adresse. "Ja, ich weiß", und er blickte hinauf, als gerade ein Jet mit ausgefahrenen Rädern über uns hinweg brauste. "Kommen die immer so tief?" fragte er. "Ja", sagte ich, "die Landebahn ist ja nur wenige Kilometer entfernt." Wir standen auf meiner Trainingsstrecke direkt in der Einflugschneise. Es stellte sich heraus, mein Gesprächspartner wollte hier ein Haus kaufen. Ob er es getan hat, weiß ich nicht. Die Einflugschneise, die täglich zweimal in ziemlich dichter Folge beflogen wird, schien ihm doch zu denken gegeben haben.

Ich benütze fast immer meine Hausrunde – seit Jahrzehnten schon. Ich weiß, man sollte es nicht tun, sondern mehr wechseln. Doch es ist so praktisch und auch vernünftig, aus dem Haus herauszugehen und, ohne einen Gedanken zu verschwenden, zu laufen oder nun zu gehen. Daher kenne ich die Strecke auswendig. Ich weiß sogar, wo genau Unebenheiten auf dem Weg sind. Auf diese Weise mache ich offenbar den Eindruck, ich kennte mich in der Gegend aus.

Neulich bin ich, 2 Kilometer von meinem Start entfernt, wieder angesprochen worden. Was denn das für Gebäude seien? fragte mich ein jüngerer Mensch. Die Gebäude fallen in der Tat auf, drei riesige, gegliederte Bauten mit viel Glas und halbrunden Dächern über den Mittelbauten, bei Sonne vor den großen Glasfenstern eine über die ganze Hausfläche gezogene kombinierte Plane als Sonnenschutz. Ich habe das Werk wachsen sehen, erst diese auffallenden Gebäude, dann ein Parkplatz, dann ein Parkhaus, schließlich ein weiterer Parkplatz. "Das ist die Firma Festo", erwiderte ich. "Was machen die?" Bei dieser Frage durchzuckte es mich: Wer in der einstigen DDR so gefragt hätte, hätte sich sofort verdächtig gemacht – Wirtschaftsspionage. Hier und jetzt jedoch, – man braucht ja nur die Website anzuklicken: Hydraulik und Elektronik, gegründet 1925, weltweit vertreten, über 14000 Beschäftigte. Was wir an meiner Strecke sehen, sind die Frontgebäude des Technologie-Zentrums mit den Abteilungen Forschung, Entwicklung, Vertrieb. In diesem Jahr ist Festos "Smart bird" durch die Medien gegangen, ein künstlicher funktionsgetreuer Vogel, dessen Flugbewegungen der Silbermöve abgeschaut sind, ein Projekt des "Bionic Learning Network". Doch die Wißbegier meines Gesprächspartners war längst gestillt.

Immer wieder treffe ich auf Gruppen von Rennradfahrern, die ein Trikot mit dem Firmennamen tragen. Kein Zufall. Dem Festo-Kundenmagazin 1/11 habe ich entnommen, daß es sich um die "Betriebssportgruppe Festo Rad" handelt. Wie ihr Leiter, Herr Halbhuber, mitteilt, unternimmt sie im Sommerhalbjahr jeden Donnerstag um 16.30 Uhr eine Ausfahrt über 40 bis 120 Kilometer. Kein Wunder also, daß ich den Festo-Radfahrern so häufig begegne.

Das erinnert mich daran, daß ich 1976 bei der "Stuttgarter Zeitung" auch einmal einer Betriebssportgruppe angehört habe. Doch eine Laufgruppe existierte damals nicht. Immerhin habe ich im vorigen Jahr erfahren, daß einige damalige Kollegen nach Beendigung ihres Arbeitslebens zum Laufen gefunden haben, erstaunlicherweise Feuilletonredakteure.

Mit Kollegen Sport zu treiben, ist so abwegig nicht. Man kennt einander, und es bedarf keines gruppendynamischen Prozesses mehr. In der damaligen DDR freilich war das ganze Breitensportsystem auf Betriebssport angelegt. Damit sollte die Verbindung zum Betrieb gestärkt und die Bedeutung der Produktion hervorgehoben werden. Vor allem wurde damit eine gesellschaftliche Transparenz erreicht. Das Schlupfloch des Rückzugs auf außerbetriebliche Aktivität sollte verstopft oder zumindest verengt werden. Unter diesem Aspekt wurde der Rennsteiglauf mißtrauisch beäugt und nur notgedrungen zugelassen. In der früheren Bundesrepublik gab es zwar ebenfalls Betriebssportgruppen, aber sie spielten keine dominante Rolle. In den letzten Jahren hat sich jedoch ein Wandel abgezeichnet. Das haben die "Firmenläufe" bewirkt. Dabei handelt es sich nicht, wie man annehmen könnte, um eine Übernahme des DDR-Betriebssports, sondern ein Anknüpfen an Veranstaltungen in den USA.

Im Stuttgarter Wirtschaftsgebiet wird am 20. Juli erst der vierte Firmenlauf veranstaltet. Im Grunde handelt es sich um einen "Spaßlauf", bei dem das Zusammengehörigkeitsgefühl im Vordergrund steht. Die Trikots bieten den Firmen Gelegenheit, optisch präsent zu sein. Start und Ziel sind in der Nähe des Fernsehturms; die 6 Kilometer lange Laufstrecke ist nicht amtlich vermessen. Obwohl keine öffentliche Werbung betrieben wird und nach dem Anmeldeschluß am 15. Juli keine Meldungen mehr entgegengenommen werden, werden voraussichtlich wieder etwa 5 000 Läuferinnen und Läufer starten. Wie im vorigen Jahr werden auch Festo-Läufer dabei sein.

Eintragung vom 11. Juli 11

 

Ich bitte um Nachsicht, es geht schon wieder um Görlitz, meine Geburtsstadt. Ehe ich verdächtigt werde, Marketing oder Nabelschau betreiben zu wollen, versichere ich, über dieses Thema würde ich auf jeden Fall reflektieren, ob der Schauplatz nun Görlitz heißt oder irgend einen anderen Namen trägt. Doch der Anlaß ist die Via regia, der Handelsweg von Krakau nach Frankfurt am Main, das Thema der 3. Sächsischen Landesausstellung in Görlitz.

Dazu ist ein Essay-Band erschienen: „Menschen unterwegs – die Via regia und ihre Akteure“. Er enthält unter vielem anderen Lesenswerten einen Beitrag über das Botenwesen. Jede historische Darstellung der Laufentwicklung weist auf die laufenden Boten hin – zu Recht. Aber was wissen wir konkret über sie? Man wird auf eine Wissenslücke stoßen. Markus Bitterlich M. A., ein Stipendiat an der Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG) an der Technischen Universität Dresden, hat sich mit den Boten und Gesandten im Dienste der Stadt Görlitz beschäftigt und dazu die reichen historischen Quellen im Görlitzer Ratsarchiv genützt. Sein Beitrag „Unterwegs mit wichtigem Auftrag und in bedeutender Funktion“ schildert Organisation und Alltag des Botenwesens und gibt damit einem Aspekt der Laufgeschichte Farbe (alle Fakten, zum großen Teil auch Formulierungen, sind dieser Arbeit entnommen).

Die Tuchmacherstadt Görlitz schloß sich im Jahr 1346 mit den oberlausitzischen Städten Bautzen, Zittau, Löbau, Kamenz und Lauban (Luban) zum Sechsstädtebund zusammen, einem Bündnis zum Schutze der Handelsstraßen, voran der Via regia. Bitterlich legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf das 15. Jahrhundert, in dem die Konflikte zwischen den böhmischen Hussiten und der Kirche unruhige Verhältnisse schafften. Die Mitgliedsstädte des Sechsstädtebundes sind vom Status her annähernd mit den Freien Reichsstädten oder den Hansestädten zu vergleichen. Das Bündnis setzte eine kontinuierliche Kommunikation voraus.

Eine der Quellen der Botentätigkeit sind die Rechnungen. Wir lesen zum Beispiel aus dem Jahr 1422: „Hassen vor ein paar stevlin, als her von Norenberge quam, 12 gr.“ (Hasse für ein Paar Stiefel, als er von Nürnberg kam, 12 Groschen). Hasse ist der Name eines Mannes, der in den Rechnungen öfter auftaucht. „Auch wenn wir sonst kaum etwas über ihn in Erfahrung bringen können, so schien er doch damals für die Stadt, die ihn oft in ihre Dienste nahm, sehr wichtig gewesen zu sein. Seinen Lohn erhielt Hasse für Botengänge, die er für die Stadt Görlitz verrichtete.“

Die Boten gingen überwiegend zu Fuß. „Die Görlitzer Ratsrechnungen erwähnen oft ,Läufer’ oder ,laufende Boten’.“ „Laufend“ beziehe sich dabei, hat Bitterlich recherchiert, auf eine schnelle Gangart. Die Kommunikation war sehr unterschiedlich; nach Lauban wurden sehr oft Boten geschickt, nach Kamenz dagegen nur selten. Die Boten, so hat Bitterlich ermittelt, konnten über eine schlechte Entlohnung nicht klagen. Ein Görlitzer Bote bekam für etwa 25 Kilometer Laufweg einen Groschen; für dieses Geld konnte man etwa ein Kilogramm Rindfleisch oder fast zehn Brote kaufen. Der Botenlohn galt auch für Strecken außerhalb des Sechsstädtebundes; für die 130 Kilometer lange Strecke nach Schweidnitz (Swidnica) über Lauban und Hirschberg (Jelena Gora) gab es 11 Groschen. Als Reisegeschwindigkeit eines laufenden Boten kann man 60 Kilometer am Tag ansetzen. Der 25 Kilometer lange Rückweg von Lauban konnte also noch am selben Tag angetreten werden.

Wir lesen weiter: „In vielen Fällen verzeichnen die Ratsrechnungen den Namen des Boten. Durch wiederholte Namensnennungen kann erschlossen werden, wie viele Boten sich zeitweise im Dienst der Stadt befanden. Ihre Anzahl variiert sehr stark. In Konfliktsituationen, wie in bestimmten Phasen der Hussitenkriege oder im Verlauf von Fehden, erhöhte sich die Anzahl der Boten. Der Bedarf sank hingegen in ruhigeren Zeiten, als die Intensität des Nachrichtenaustausches wieder zurückging.“ Außer den Namen der Boten finden sich auch Hinweise auf deren Beruf. Zum Beispiel wurde ums Jahr 1420 ein „Bierschröter“, ein Transporteur von Bier- und Weinfässern, genannt, der Nachrichten im Auftrag des Görlitzer Rates überbrachte. Auch Stadtbüttel wurden in den Nachrichtendienst einbezogen.

Insbesondere in Konfliktsituationen scheint der Botendienst nicht ungefährlich gewesen zu sein. Die Nachrichtenüberbringer waren offenbar bewaffnet und im Kriegshandwerk nicht unerfahren. Ein Bote namens Luckehannus zum Beispiel bekam Ende August 1427 von der Stadt eine Armbrust bezahlt. Im Jahr darauf wurde einem Boten ein neues Schwert genehmigt, als er das seinige zerschlagen hatte, um sich gegen drei Gegner zu wehren.

Zeitgenössische Abbildungen zeigen die Boten oft in den Farben oder mit dem Wappen ihres Auftraggebers und mit einem Beutel oder einer sogenannten Botenbüchse, in denen die Schriftstücke aufbewahrt wurden. Gelegentlich wurden Nachrichten auch nur mündlich übermittelt.

 

Boten zu Pferde wurden nur in besonders dringenden Fällen verwendet, weil das Pferd einen erhöhten Kostenfaktor darstellte. Die Aufgabe des Boten setzte eine möglichst gute Ortskenntnis voraus. Weiter entfernte Ziele waren nur Spezialisten bekannt. Es kann vermutet werden, daß einige Görlitzer Boten solche Spezialisten waren. Grundsätzlich wurden bewährte Straßen wie die Via regia benützt. Insbesondere längere Reisen wurden, wenn möglich, auf bestimmte Zeiten des Jahres gelegt. Größere Reisen zur Winterszeit konnten zu langwierigeren und kostspieligen Unternehmungen werden.

Längere Reisewege, so hat der Autor herausgefunden, stellten für Boten eher eine Ausnahme dar. „Für den Sechsstädtebund zeichnet sich vielmehr eine Art regionales Stafettennetz ab, in dem Nachrichten von Ort zu Ort weitergeleitet wurden, bis sie schließlich den Empfänger erreichten. ... Mit der logistischen Organisation des kaiserlichen Kurierwesens durch die Familie Thurn und Taxis setzte schließlich ab 1490 eine deutliche Zäsur in der Entwicklung des Nachrichtenwesens ein.“

Besondere Aufgaben, so hat Bitterlich im Hinblick auf den Sechsstädtebund herausgefunden, wurden von Gesandten wahrgenommen. Boten nämlich fungierten lediglich als Nachrichtenüberbringer; verhandeln durften sie nicht. Das wurde von Angehörigen einer höheren sozialen Schicht besorgt. „Im Fall von Görlitz traten insbesondere Bürgermeister, Mitglieder des Rates, Stadtschreiber, aber auch adlige Vertreter beziehungsweise Vermittler in dieser Funktion auf.“ Der Görlitzer Ratsherr Peter Rothe legte allein im September des Jahres 1377 auf fünf Gesandtschaftsreisen etwa 1000 Kilometer zurück. Gesandte reisten zu Pferde, mit Begleitung, mit umfangreicher Ausrüstung und repräsentativ ausgestattet. Daher waren die Aufwendungen für eine Gesandtschaft auch sehr hoch. Markus Bitterlich erwähnt den Stadtschreiber Laurentius Erenberg, der Ende 1425 mit dem Bürgermeister Hermann Schultes eine sechswöchige Reise zu König Sigismund nach Ungarn unternahm. Seine letzte große und längste Reise führte zu einem Konflikt mit dem Stadtrat, der sich weigerte, die hohen Ausgaben der Reise zu tragen.

Bitterlich kommt zu dem Schluß: „Es steht jedoch fest, daß sowohl Boten als auch Gesandte wichtige Instrumente der Außenpolitik für Görlitz sowie anderer Städte und Institutionen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren. Hinzu kommt eine weitere Gemeinsamkeit: Mit ihren Aufgaben war ein hohes Maß an Mobilität verbunden. Einen wesentlichen Teil ihrer ,Arbeitszeit’ waren sie daher mit wichtigem Auftrag und in bedeutender Funktion auf den Straßen unterwegs.“

Abbildungen aus „Menschen unterwegs – die Via regia und ihre Akteure“

Eintragung vom 4. Juli 11

Das Robert-Epple-Stadion zu Blaustein ist ein Sportplatz wie in tausend anderen Orten. Das muß nicht weiter stören. Wer hier auf der Tartanbahn einläuft, sollte jedoch wissen, daß er sein großes Erlebnis bereits hinter sich hat, die 100 Kilometer, einen Teil davon oder die 50 Kilometer oder auch, erstmals in diesem Jahr, 15 Kilometer Walking. Der Einlauf vollzieht sich nicht spektakulär. Vielleicht stehen ein paar Sportfreunde herum. Unter dem Transparent „Ulmer Laufnacht 100 km“ wird halt die Zeit genommen und einem die durchaus hübsche Medaille in die Hand gedrückt. Fertig.

Insofern hätte ich mir den Besuch sparen können. Mehr Atmosphäre hätte wahrscheinlich der Start gehabt – um 23 Uhr. Wer befürchten mußte, nicht innerhalb von 17 Stunden ans Ziel zu kommen, konnte um 19 Uhr starten, hat dann also, genau wie in Biel, 21 Stunden Zeit gehabt. Diese Ausweitung ist ja wohl nicht zufällig gewählt. Die Ulmer Laufnacht, die vor drei Jahren erstmals veranstaltet worden ist, orientiert sich wie andere Ultras stark an den Vorgaben von Biel.

Ich habe den Besuch am Tage gewählt, weil ich wenigstens punktuell die Strecke um Ulm herum prüfen wollte. Sie gilt, obwohl es keinen Ho-Chi-Minh-Pfad gibt, als anspruchsvoller denn die Bieler. Es sind etwa 900 Höhenmeter zurückzulegen, 300 mehr als in Biel, und die stärkeren Steigungen liegen auf der zweiten Streckenhälfte. Obwohl sie in einer Landschaft liegt, die man wohl als Verdichtungsgebiet bezeichnen kann – zweimal kreuzt die Strecke die Autobahn A 8 –, nimmt sie es im Hinblick auf Höhepunkte durchaus mit der Bieler Strecke auf. Da sind Schloß Erbach, Schloß Oberkirchberg, Kloster Wiblingen, die Ulmer Stadtmauerpromenade, das Ulmer Münster, Kloster Oberelchingen und die Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Befestigungsanlage Wilhelmsburg, dazu Donau, Iller, Blau und Lauter sowie die Kalkfelsen der Ulmer Alb. Freilich, die nächtlichen Läufer nehmen wohl von den Naturschönheiten nicht viel wahr. Auch das Feuerwerk beim Start ist zwar ein schöner Knalleffekt, aber, wie mir ein Läufer erzählte, die Läufer selbst hätten es nach dem Start nur knallen gehört. Die dringend empfohlene Lampe wird zur Orientierung benötigt. Die Markierung wird als ausreichend bis vorbildlich bezeichnet. In mancher Hinsicht ist die Routenführung um die 120.000 Einwohner zählende Stadt Ulm mit den 100 Kilometern von Marburg zu vergleichen. Doch wer sich erinnert: Die Markierung ist um Klassen besser.

Unter Regen und Hagel hatten die 21 Frühstarter zu leiden; danach blieb es trocken. Insgesamt starteten 148 Einzelstarter; dazu 8 Läufer von Zweierstaffeln, 85 von Vierer- und 39 von Achter-Staffeln. Das bedeutete, daß viele Teilnehmer die 100 Kilometer allein zurücklegen mußten, sofern sie nicht einen Betreuungsradfahrer gemietet hatten. Das Publikum auf dem Sportplatz konnte nur erleben, daß immer wieder einmal ein Einzelstarter oder ein Staffelteilnehmer ins Stadion tröpfelte. Auch die Laufzeiten – 20 Einzelstarter unter zehn Stunden – lassen kein anderes Urteil zu als: Dies ist ein provinzieller Ultralauf. Daran ändert auch die Kennzeichnung des Erholungs-Areals als „Regenerationpoint“ nichts (nun ja, wenn halt so viele Englischsprachige kommen!). Dennoch, die Veranstaltung von Sun Sportmanagement GmbH ist seriös organisiert. Die Startgebühr hatte bis zum 31. Januar 50 Euro betragen. Auf der Website fehlte zunächst der Hinweis, daß man die Ergebnisse bei Abavent abrufen muß.

Der lokale Hintergrund: Blaustein ist ein synthetischer Name, den es erst seit 1968 gibt. Damals hatten sich zwei Gemeinden dank der Initiative des Bürgermeisters Robert Epple, nach dem das Stadion benannt ist, zusammengeschlossen. Heute besteht die Gemeinde aus neun ehemals selbständigen Ortsteilen mit zusammen etwa 15.000 Einwohnern. Blaustein ist damit zum Modell der Gemeindezusammenlegungen Anfang der siebziger Jahre in Baden-Württemberg geworden. In einem der heutigen Ortsteile, in Herrlingen, stand das Wohnhaus des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel; hier verübte er am 14. Oktober 1944 im Auto den Suizid, zu dem ihn die Nazis gedrängt hatten. In Herrlingen ist er bestattet.

Das nahe Söflingen hingegen ist nach Ulm eingemeindet. Hier hatte ich 1968 an einem 10,5 Kilometer langen Volkslauf teilgenommen und dann 1972 an dem ersten Söflinger Marathon (3:38:57).

Ergebnisse:

1. Jürgen Kübler Team Dethleffs Isny M 35 8:18:52
2. Petri Muntenasi Team Salomon M 40 8:41:43
3. Achim Heise Delligser SC M 35 8:45:21

19 Frauen:

1. Silke Konold LT Herbrechtingen W 40 9:29:33
2. Edith Lechner LC Olympia Wiesbaden W 45 10:23:42
3. Andrea Schachwell Team Icehouse W 35 10:32:52

Photos: Sonntag

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