Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 24. Juni 07

Zum Bestehen der 100 km von Biel habe ich Glückwünsche erhalten – herzlichen Dank! Nun ja, selbstverständlich ist es in diesem Alter nicht, an einem 100-km-Lauf und -marsch teilzunehmen. Immer wieder gibt es Jahre, in denen in Biel keine M 80 am Start ist, nämlich in sechs der letzten zehn Jahre. In diesem Jahr waren wir zu zweit. Gewiß, im Jahr nach einer Bypass-Operation 100 km zu bewältigen, ist ungewöhnlich, so ungewöhnlich, daß es als Stoff für eine Fallstudie angesehen wird. Doch darüber sollte wahrhaftig nicht die Leistung des Ersten in M 80, des Schweizers Paul Brassel, in den Hintergrund treten: Er nämlich ist die 100 km in 15:35.05,6 Stunden gelaufen (gelaufen – das ist hier wörtlich zu nehmen, denn ohne Laufen schafft man es in dieser Zeit nicht). das ist ungefähr eine Stunde schneller, als ich in den Jahren 2003 bis 2005 in M 75 gelaufen bin. Ich wäre Paul Brassel gern begegnet; doch es hat mir zeitlich bis zur Siegerehrung nicht gereicht; ich war zu dieser Zeit bei Dr. Knechtle, der schließlich mit seinem Team auf mich, den Letzten seiner Probanden, warten mußte. Ich habe in alten Unterlagen geblättert und möchte die Zeiten dem Vergessen entreißen: Die Weltbestleistung in M 80 wird für die Jahre bis 1998 mit 20:40 Stunden Dr. Adolf Weidmann zugeschrieben (Steppenhahn). Doch ich entdecke: Josef Galia lief im Jahr 1979 – da war er 81 Jahre alt – 15:02 Stunden, Helmut Gnosa 1998 im Alter von 82 Jahren 15:32:36 Stunden. Gottfried Naef war 85 Jahre alt, als er 1979 die 100 km von Biel in 23:46 Stunden zurücklegte – damals ging das noch. 1972 blieben etwa 280 Teilnehmer über dem jetzigen Zeitlimit von 21 Stunden. Ob allen klar ist, daß man dieses Potential, das nicht als geringfügig anzusehen ist, abgeschnitten hat? Der Deutsche Rekord in M 90 durch Dr. Adolf Weidmann wäre in Biel nicht mehr möglich: 1991 war Dr. Weidmann 22:35:13 Stunden unterwegs.

Für die Bieler Lauftage ist ein Fan-Club ins Leben gerufen worden. Genau diesen Gedanken habe ich auch gehabt, und ich war überrascht, diese Idee in die Tat umgesetzt zu finden. Das Konzept hat sich für den GutsMuths-Rennsteiglauf als tragfähig erwiesen. Allerdings genießt man in Thüringen für die Mitgliedschaft eine fünfzigprozentige Startgeldermäßigung, wenn man rechtzeitig meldet. Für die Mitgliedschaft im Bieler Fanclub erhält man vor allem ein „Lämpli“, auf das ich mich jedoch in der Nacht nicht verlassen würde. Ich wollte dennoch dem Club beitreten – nach dem Lauf. Doch um 19 Uhr war alles schon abgebaut, und auch die Flasche Wein mit dem Bieler-Lauftage-Etikett blieb ungekauft. Doch wenn ich mir das recht überlege: Allein um den Verlust eines Potentials von 280 Startern, die wie im Jahr 1972 mehr als 21 Stunden für die 100 km brauchen, auszugleichen, müßte der Club 900 Mitglieder haben. Von Unterstützung kann da noch keine Rede sein. Ein Verein ohne Internet-Präsenz ist zudem als noch nicht existent zu betrachten.

Heute war Halbmarathon in Stuttgart. In den letzten Tagen ist öffentlich geworden: Es war wahrscheinlich der letzte Halbmarathon auf der Strecke entlang des Neckars. Man will in die Innenstadt. Ich habe mir vor über zwanzig Jahren schon meine Meinung gebildet. Erst durften Halbmarathonläufer beim Stadtlauf rotieren, dann wurde die Wendepunktstrecke – die gekürzte Meisterschaftsmarathonstrecke – durch nur mühsam zu belebende Vororte genommen. Immer warf man sich in die Brust, mit 12000 Teilnehmern der bedeutendste Halbmarathon nach Berlin.... Das Teilnehmerlimit ist in diesem Jahr nicht erreicht worden; man hätte sich am Samstag noch anmelden können. Nun meint man, eine neue Strecke als Anreiz bieten zu müssen. Das muß man nicht, wenn die Strecke stimmt. Der Berlin-Marathon wäre auch ohne Streckenänderung der beliebteste deutsche Marathon geblieben, und Hamburg kommt auch ohne Streckenänderung an zweiter Stelle. Nun schickt sich der Württembergische Leichtathletik-Verband an, das dritte Konzept zu realisieren. Ich hoffe ehrlich, daß es gelingt. Lange genug hätte es gedauert, daß in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, beinahe der einzigen, die sich dem Marathon verweigert, ermöglicht wird, was in jeder Stadt zunächst unmöglich erscheint: Ein Lauf durch die Innenstadt. 32 Jahre nach Freds Initiative in New York ist man nun auch in Stuttgart soweit.

Der Einlauf ins Daimler-Stadion, früher Neckarstadion, freilich ist gefährdet. Kaum daß der VfB (Verein für Bewegungsspiele) Deutscher Fußballmeister geworden ist, betreibt der Verein die Entfernung der Leichtathletik aus dem Stadion. Ich verstehe nicht, weshalb der Oberbürgermeister Dr. Schuster, dem der Schwäbische-Alb-Marathon zu danken ist, nicht von Anfang an aufs Pult gehauen hat: Kommt nicht in Frage! Dieses Stadion ist mit öffentlichen Mitteln errichtet und immer wieder modernisiert worden. Es gehört dem Sport, nicht dem Fußball. Mit welchem Recht beansprucht ein Fußballverein es für sich? Wenn er ein Stadion haben will, muß er es kaufen. Das Geld hat er offenbar nicht. Die „Göttinger Gruppe“ als Sponsor, die Herr Mayer-Vorfelder verteidigt hat, als bereits Kritik laut wurde, ist nun auch in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen insolvent und Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen. Man muß offenbar die Funktionäre des VfB an diese Peinlichkeit erinnern. Der 14. Stuttgarter-Zeitung-Lauf hat der Unterschriftenaktion gegen die Entfernung der Laufbahn Tausende weiterer Protest-Unterschriften gebracht.

Eintragung vom 17. Juni 07

Ein Lauf der besonderen Art – das war Biel schon immer. Nun ist es das mit der 32. Teilnahme auch für mich geworden. Im Gegensatz zu allen anderen Ausdauerleistungen war dies ein Experiment, 16 Monate nach einer Bypaß-Operation wagt sich einer im Alter von knapp 81 an einen 100-km-Lauf und -Marsch. Ich war mit der Erwartung vorsichtig: Kirchberg wollte ich auf jeden Fall erreichen – mit der Option, dann, wenn ich in der Zeit läge, die Teilnahme fortzusetzen. Der Weg dahin war durch eine ziemliche psychische Belastung verstellt. Ich habe es dennoch geschafft. Meine erste Reaktion war zwiespältig.

Geschichten erzählt man am besten von Anfang an. Nach zwei Jahren die Rückkehr zum Ultralauf, wenngleich ich ihn mir nur als Ultramarsch vorstellen konnte. War es ein Fehler, dieser Strategie zunächst nicht gefolgt zu sein? Aber es war doch ein beglückendes Erlebnis.... Ich begann, als sich das Startfeld soweit gelichtet hatte, alsbald zu traben, als ob nichts gewesen wäre, so wie in all den Jahren zuvor. Ich trabte durch Biel und mochte mich darin nicht unterbrechen. Ich trabte 6 Kilometer lang, wie seit Mitte Januar vorigen Jahres nicht mehr. In dem Jahr des Neubeginns nach der Operation habe ich zwar die Gehpausen verkürzt, bin aber keine 6 Kilometer im Stück getrabt. Klug war mein Verhalten nicht, denn man macht nichts beim Hunderter, was man nicht vorher ausprobiert hat. Doch die Atmosphäre und das laufende Feld vor mir motivierten mich. Eine Zeitlang wechselte ich mit Gehen und Traben ab, Orientierung bot mir ein Altersläufer mit rotem Rucksäcklein, meines ist blau.

Ein Problem tauchte bei den Feldwegpassagen vor Aarberg auf; in den Vertiefungen stand noch das Wasser vom regenreichen Freitag. Trotz Lämpchen latschte ich in eine Riesenpfütze hinein, ich muß eine Bugwelle vor mir hergeschoben haben. Doch selbst wenn ich mich in acht genommen hätte, – die schnellen Läufer des Nachtmarathons kannten keine Rücksicht. Es spritzte auch von oben in die Schuhe. An dem Dreckfleck der Socken kann man noch die späteren Beschwerden an der Sohle ablesen. Erfreulich war, daß das rechte Fußgelenk mir nichts übel nahm. Nach dem Rennsteig-Marathon war es geschwollen. Der Schnitt, mit dem die Venen entnommen waren, war ziemlich weit zum Gelenk geführt, und immer habe ich seit der Operation am rechten Gelenk ein Spannungsgefühl gehabt. Bisweilen schmerzte es. Doch nichts von dem.

Leichtfüßig kam ich in Aarberg an. Nun tat ich, was man auch nicht sollte: Ich begann hochzurechnen. 20 km genau in einem Kilometerdurchschnitt von 9 Minuten, das müßte, das müßte... Und dann erwischte es mich, was andere und ich selbst nicht für möglich gehalten hätten: Ich verlief mich. Die Situation war mißverständlich. Es muß etwa bei Kilometer 29 gewesen sein: Zwei Posten saßen auf dem Absperrgitter, mit dem eine Straße halb gesperrt war, einer winkte mit dem Leuchtstab nach links. Ich ging nach links einen Feldweg empor, der führte genau auf die gesperrte Straße, an der ich ein Hinweisschild für die Fahrzeuge der Begleiter erblickt hatte. Der Teufel muß mich geritten haben, daß ich nicht mißtrauisch geworden bin. Ich setzte den Weg am Straßenrand fort, zumal da ich mich dann durch ein Blinklicht an einer Warnschildpyramide bekräftigt sah. Ich registrierte zwar, daß ich der einzige Mensch zu Fuß war, aber im hinterhinteren Feld gewöhnt man sich daran, zumal da die Sichtweite ohnehin nicht sehr groß war. Die Straße senkte sich – ich nutzte das Gefälle zum Traben. Ich entdeckte einen verkehrsgesperrten Weg nach Scheunenberg; das war mir von der Strecke bekannt. In der Tat, auf der Karte habe ich gesehen, so hätte ich die Strecke am kürzesten wieder erreicht. Es gab zwei Gründe, es nicht zu tun. Zum einen den vor Ort, nämlich die eine Unsicherheit gegen eine andere zu tauschen, beim Blick auf die Karte: es hätte eine Abkürzung bedeutet, und niemandem wäre es aufgefallen. Doch es gibt Menschen, die es vermeiden, auf Bürgersteigen abzukürzen, wenn der Kurs auf der Straße entlang führt. Ich zähle dazu.

An mir fuhren Autos vorbei. Am liebsten hätte ich eines angehalten und den Fahrer gefragt, ob ich noch auf der Laufstrecke sei. Doch das wurde mir dann abgenommen. Auch im nächsten Ort – es müßte Wengi gewesen sein – entdeckte ich keinerlei Markierung der Laufstrecke. Endlich begriff ich die Tragweite meines Irrtums. Ich machte mich auf den Rückweg zu dem Posten. Wahrscheinlich hatte ich zwei Drittel zurückgelegt, als ein Fahrzeug hielt. Ein Sanitäter – soweit ich das ausmachen konnte – bat mich einzusteigen, ein Autofahrer habe gemeldet, daß ein Läufer auf der Straße unterwegs sei. Beim Spartathlon hätte ich nicht ins Auto steigen dürfen. Doch da dies eine offizielle Aufforderung war, unterdrückte ich die anfänglichen Bedenken. In wenigen Minuten brachte mich der Fahrer zu der verhängnisvollen Abzweigung zurück und wies mir den richtigen Weg. Und da war auch gleich zu Beginn eine Markierung. Gerade in Biel kann man sich – im Gegensatz etwa zum seinerzeitigen Hunderter von Marburg – darauf verlassen, daß auf neuen Wegabschnitten alsbald eine Markierung folgt, die Unsicherheiten beseitigt.

Nun begann der wahre Wettkampf, viel härter als der gegen Konkurrenten, der gegen die Zeit. Ich beschloß zwar vorsichtshalber zu gehen und es mit dem Traben nicht zu übertreiben, aber ich legte einen Eilschritt vor. Der Boden unter den Füßen, der geschwankt hatte, weil ich nach meiner Berechnung knapp eine Stunde verloren hatte, begann sich zu festigen, als ich andere Geher überholte. An der grämlichen Erwiderung auf mein „Guten Morgen!“ erkannte ich, daß einige schon jetzt Probleme hatten. Oberramsern erreichte ich kurz vor fünf Uhr, der Teil bis Kirchberg war gerettet. Mein Verlaufen hatte mich nicht um mein Ziel gebracht. Partner fand ich und verlor sie wieder. Die Strecke stellte sich mir im Sinne des Wortes in anderem Licht dar. Dem dünnen Regen in der Nacht hatte ich mit einer Regenjacke und einer Mütze aus dem Rucksack begegnen können; die Überhose brauchte ich nicht. Jetzt strahlte der Tag, genau wie prognostiziert. Die Zweifel, ob ich den Lauf oder Marsch würde fortsetzen können, waren beiseite gewischt. Ich hatte das Gefühl, in Kirchberg schon in schlechterer Verfassung angekommen zu sein. Kleiner Aufenthalt auf der Klobrille, etwas Luxus muß sein. Der Weg an der Emme über Wurzeln und Steine ist für Geher noch länger. Vielleicht ist damit zu erklären, daß einer der Geher ausgerechnet hier begann zu traben. Noch vor der Verpflegungsstation an der Emmebrücke, wo mich bei meinem ersten Hunderter 1972 ein Wiener getröstet hatte, wurde mir klar, daß ich vielleicht doch lieber ökonomischer hätte beginnen sollen. Die Sohlen begannen zu brennen; doch da es kein quälender Schmerz wie bei Blasen war, ließ ich’s auf sich beruhen. Der Aufenthalt in der nahen Sanitätsstation hatte mich vor drei Jahren zwanzig Minuten gekostet.

In Gerlafingen wurde mir endgültig klar, dies würde die zweithärteste Teilnahme werden; die subjektiv härteste war der erste Lauf, weil ich unwissend war. Läuferische Naivität kann unter glücklichen Umständen den Sieg bringen, Routine die drohende Niederlage vermeiden. Würde ich unter diesen Umständen Bibern rechtzeitig erreichen? Ich war vorsichtig geworden. Als ich die Matte überquerte hatte, kehrte zwar Sicherheit ein, aber die Unsicherheit, wie ich das letzte Viertel bewältigen würde, wuchs. Meinem derzeitigen Partner hatte ich angekündigt, daß ich das Gefälle nach Arch traben wolle. Ich ließ es nach dem ersten Versuch bleiben. Wir trennten uns an der Aare, als ich begehrte, mich auf eine Bank zu setzen. Ich weiß, wie blöd das ist. Obwohl ich selbst bei 24-Stunden-Läufen davon abgeraten habe, tat ich es, blickte auf die Aare, genoß die im Nu auf Minuten wachsende Zahl von Sekunden, in denen ich keine Spannung im Körper hatte. Es tat mir einfach gut. Von Traben war ohnehin keine Rede, und eine Rast – so meine neue Erkenntnis – macht beim Gehen wohl nichts aus. Auf wunderbare Weise gelangte ich wandernd zu Kilometer 85, es wurde überschaubar. Wahrscheinlich legte ich jetzt nur 4 Kilometer in der Stunde zurück. Gleichviel, die Zeit nach Biel würde reichen, zwar nicht zur Siegerehrung der M 80, aber zur Fettstoffwechsel-Untersuchung bei Dr. Beat Knechtle.

Nach einer Herzoperation wird man, wenn man sich Strapazen unterzieht, gefragt: Und das Herz? Ich kann nicht sagen, daß ich es nicht nach Kirchberg gespürt hätte. Doch es war kein Druckschmerz, der als Angina-pectoris-Symptom gilt; es war, wie wenn ein vordem zu wenig geübter Muskel schmerzt. Beim Muskelkater denkt man auch nicht gleich an Muskelschwund. Ich glaubte, den Unterschied beurteilen zu können. Das Wohlgefühl nach der Strapaze bestätigt mich darin. Die schwindende Zahl von Kilometern bis zum Ziel löste keinen Adrenalinschub aus. Ich trottete dahin und beschloß, es auch im Ziel zu tun. Nach neunzehn dreiviertel Stunden keine Läuferpose bitte!

Die zwiespältigen Gefühle, die ich im Gespräch äußerte, rühren daher: Ich habe einerseits das Ziel erreicht, wieder die 100 Kilometer zu bewältigen; andererseits bin ich mit meinen Ansprüchen, die sich erst auf der Strecke definierten, gescheitert. Halten wir uns an objektive Befunde: Wer hier mitmacht, hat gewonnen. Ich halte meine Rehabilitation für erfolgreich beendet. Das neue Erlebnis von Biel wird mich noch lange beschäftigen – Tagebuchleser seien daher gewarnt.

Immer diese philosophischen Einschübe... Im Sport kann man es doch einfach sagen. Ich versuche es: Mit meinem Kilometerdurchschnitt von 11,50 Minuten habe ich die Marschgruppe Oberbayern, die vielleicht ebenso alt ist wie ich, nur eben als Team – glatt abgehängt. Der Oberfeldwebel J. und der Stabsunteroffizier H. marschierten in der Kategorie Militärpatrouillen nach 20:04.31 Stunden ein.

 
Für 100-km-Teilnehmer eine neue Medaille

Eintragung vom 10. Juni 07

Über die durchhängende Drahtabsperrung eines Baumgrundstücks, einer für die Gegend typischen Streuobstwiese, hüpften zwei Mädchen. Als ich näherkam, sah ich, weshalb. Die Kinder zeigten einem Hund, wie es geht. Der Hund, nicht faul, tat, was die Kinder verlangten. Ein ums andere Mal sprang er über den Draht. Nur als ich mich näherte, wandte er mir den Kopf zu, und prompt blieb er mit den Hinterbeinen hängen, befreite sich jedoch sofort und landete einwandfrei. Die ganze Szene war zirkusreif. Mir kam in den Sinn: Gerade domestizierte Tiere, die sich nicht mehr um ihre Nahrung oder ihr Überleben sorgen müssen, kompensieren bei jeder Gelegenheit die fehlende Bewegungsnotwendigkeit. Sie machen genau das, was wir im Sport machen. Vielleicht sollten wir Belästigungen durch Hunde, nämlich wenn wir Läufer unversehens zum Objekt des Spieltriebs werden, auch einmal unter diesem Aspekt betrachten. Wir haben dieselben Bedürfnisse. Mißverständnisse resultieren daraus, daß wir Aggression vermuten, wo keine ist. Empörung bei denjenigen, die Opfer des Gegenteils geworden sind, nämlich einer Aggression, die sie verkannt oder unfreiwillig sogar provoziert haben. Wie tut mir jener Golden Retriever leid, der genau wie sein Herr nur mühsam seinen Bauch bewegen kann! Die Begegnung mit ihm ist für uns sehr bequem, wir haben nichts zu befürchten. Aber um welchen Preis – für den Hund! Bei Wikipedia lese ich:

Als ich die Mädchen bei ihrem Zirkusspiel sah, drängte sich mir der Gedanke auf, daß gesunde Hunde, psychisch gesunde Hunde, Kinder mögen. Kinder sind den Tieren näher. Ihren Bewegungsdrang, sofern es gesunde Kinder sind, teilen sie mit den Tieren. Kinder sind keine strengen Oberhunde, keine Alpha-Tiere, sondern eher Spielgefährten, wenn auch einer in Hundeaugen höherstehenden und daher zu respektierenden Gattung. Rat an Hundehalter: Werdet wie die Kinder! Ich habe noch keinen aggressiven Läuferhund getroffen. Kinder im Umgang mit Tieren – ich habe begriffen, weshalb Mädchen so gern mit Pferden umgehen. Immer müssen sie gehorchen, die Mädchen entsprechend ihrer Rollenerziehung besonders, endlich einmal finden sie jemanden, der ihnen gehorcht, und noch dazu ein so großes Lebewesen, das ein so kleines Lebewesen akzeptiert.

Ich sehe über den Laptop hinaus (Ich sage lieber immer: Läptopf) in unserem kleinen Biotop die Goldfische spielen. Was kann man eigentlich Goldfischen beibringen, außer an derselben Stelle das Futter zu erwarten?

Es gibt Daten im Kalender, die zu Entschlüssen herausfordern. Schnapszahlen veranlassen diejenigen, die heiraten möchten, ihre Trauung auf solche Termine zu legen. Vom 1.1.1111 wissen wir nichts, aber vom 7.7.07 wissen wir, daß so und so viele da heiraten werden. Sie hätten es auch an einem anderen Tage getan, aber vielleicht ist da die Lust am kabbalistischen Spiel – oder der Aberglaube? – maßgebend. Vielleicht ist es auch die Sorge, jemals den Hochzeitstag zu vergessen. Der 7. 7. ist besonders geschickt, weil er auf einen Samstag fällt, den beliebtesten Trauungstag. Im Religionsunterricht hatte ich freilich erfahren, daß die Kirchen dies gar nicht gern sähen, weil die jungen Paare nach der Hochzeitsfeier – von Hochzeitsnacht war mit Rücksicht auf den Jugendschutz nicht die Rede – auszuschlafen pflegten. Na und? Sie versäumten darüber den sonntäglichen Kirchgang und begännen so ihr Leben zu zweit mit einer Todsünde. Das Katechismusgebot bekümmert heute nur wenige. So wandeln sich die Anschauungen. Vielleicht gilt in Generationen einmal die Sonntagspflicht durch die meditative Phase bei einem Landschaftslauf, einschließlich der Buße nach km 35, oder die ökumenische Feier am Vorabend des Marathons als erfüllt.

Welcher Zufall – am Samstag, dem 7.7.07, wird Marathon gelaufen! Wann eigentlich nicht? Na ja, um die Silvesterläufe herum breitet sich ein Vakuum aus. Aber am 7. 7. gibt es gleich mehrere Marathonläufe, darunter den von Zermatt. Wenn schon das Matterhorn als stärkster Eindruck nicht genügt, – da muß noch ein Gag her. Während des Marathons zu heiraten oder zumindest den Beginn des gemeinsamen Lebenswegs zu erlaufen, ist so ungewöhnlich nicht mehr. Beim Heilbronner Trollinger-Marathon bin ich auf diese Weise, glücklicherweise nicht weit entfernt vom Ziel, zu einem Glas Sekt aufs Wohl des Brautpaars gekommen. Beim Médoc-Marathon freilich fällt es schwer, Frisch Getraute von nur so kostümierten Brautpaaren zu unterscheiden. Ungewöhnliche Zeremonien hat es auch früher schon gegeben, frisch getraute Akademiker, die unter den Säbeln einer schlagenden Verbindung die Kirche verließen, Hockeyschläger eignen sich dafür auch, die Trauung von Sporttauchern unter Wasser. Ein engagierter Eisenbahnfreund hat einmal für seine Hochzeitsfeier einen Sonderzug geordert. Die Art von Hochzeitsfeiern ist fast immer vom gesellschaftlichen Umfeld bestimmt. In Staaten mit Agrarstruktur nimmt das ganze Dorf oder zumindest das halbe an der Hochzeitsfeier teil. Bei unserer Eheschließung 1955, drei Jahre nach unserer Republikflucht aus der DDR und 500 Mark Schulden, schien es uns angemessen, die Hochzeit nur mit Schwiegervater und Eltern zu feiern. Warum soll nicht in einer so wichtigen Bewegungskultur wie dem Laufen die Eheschließung mit einem Marathon gefeiert werden? Der Zermatt-Marathon hat ein Angebot gemacht: Ein Paar, das gemeinsam oder als Staffel den Zermatt-Marathon laufe, könne sich am Ziel in der Kapelle auf dem Riffelberg trauen lassen und die Hochzeitsnacht gratis im Hotel Riffelberg verbringen. Das Paar ist gefunden, Harald Dirr und Susanne Maier aus Ulm werden sich während des 6. Zermatt-Marathons trauen lassen. Für die Kapelle ist offenbar kein Bedarf. Die Veranstalterin läßt uns wissen: Harald laufe den ersten Teil der Strecke, also von St. Niklaus nach Zermatt, vom Bahnhofsplatz bis zum Standesamt würden beide gemeinsam die Bahnhofstraße entlang laufen, und nach der Trauung werde Susanne den zweiten Teil, den Aufstieg zum Riffelberg, bewältigen. Sie also übernimmt den weitaus schwierigeren Part – wenn da nicht Marathongeschichte geschrieben wird!

Laufen als Alltags- (Rümmele) und als Festkultur (Lutz) hat eine Anzahl Benefizläufe hervorgebracht. Ein ungewöhnlicher findet am Freitagabend, 15. Juni, in Neustadt an der Weinstraße statt. Dabei soll nicht nur Geld für eine humanitäre Aufgabe gesammelt, sondern auch erreicht werden, daß sich Menschen gedanklich mit der Hospizarbeit beschäftigen. Das Ambulante Hospiz in Neustadt hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schwerstkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen hilfreich zur Seite zu stehen. „Hospiz bewegt“ heißt das Motto des 5- und 10-km-Laufes oder -Walkings (HospizNW@t-online.de).

Eintragung vom 3. Juni 07

Durch einen Zufall habe ich erfahren, daß demnächst ein neuer Ultralauf, der ThüringenULTRA, stattfindet. Ich klickte auf die Website mit Rennsteiglauf-Bildern, des Foto-Teams Müller, und entdeckte die Bannerleiste des 1. ThüringenULTRA. Die Bezifferung setzt Optimismus voraus. Ob er angebracht ist? Einerseits müßte ich in Jubel ausbrechen – endlich wieder ein 100-km-Lauf in einer einzigen Runde als Landschaftslauf! Und dann auch noch durch den Thüringer Wald, der beim Rennsteig-Marathon und auf der Fahrt zwischen Hotel und Start wieder mein Herz erwärmt hat! Andererseits hat mich schon verwundert, daß der neue Ultralauf trotz Sponsoren offenbar unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden soll. Zwar habe ich ihn auch in der Veranstaltungsliste der DUV und von Steppenhahn gefunden, aber wer liest solche Listen, wenn er nicht gerade einen bestimmten Lauf sucht? Selbst bei der Startnummern-Abholung in Neuhaus am Rennweg, wo ich durchaus die ausliegenden Prospekte gemustert habe, ist mir keine Ankündigung aufgefallen.

Ich kann ja verstehen, daß sich ein kleiner Veranstalter mit Werbeausgaben zurückhält. Doch so ganz ohne Werbung geht es nicht, und es gibt auch Werbemöglichkeiten, die nichts kosten; die mündliche Verbreitung jedenfalls genügt nicht, gerade in der Ultraszene nicht, weil sich viele nur ein einziges Mal im Jahr zu einem Ultralauf treffen. Meine Befürchtungen bestätigen sich beim Blick auf die Starterliste; gegenwärtig finden sich nur 65 Anmeldungen, und dies etwa einen Monat vor dem Veranstaltungsdatum am 7. Juli. Vielleicht kann ich mit meinen Zeilen den einen oder die andere zur Teilnahme motivieren, wiewohl das Datum auch nicht sehr glücklich gewählt ist, nämlich sieben Wochen nach dem GutsMuths-Rennsteiglauf und drei Wochen nach Biel. Überschneidungen lassen sich in dieser Jahreszeit ohnehin nicht vermeiden, in diesem Falle auch noch mit dem Zermatt-Marathon, dem Alpin-Marathon in Oberstaufen und dem Montafon-Arlberg-Marathon, die alle dieselbe Zielgruppe ansprechen.
Warm ums Herz: Laufen am
Rennsteig (Foto-Team Müller)

Start und Ziel sind in Fröttstädt, ein Name, der sich bisher auch nicht gerade eingeprägt hat. Gotha, das zwar nicht dem Ultra-Adel, wohl aber dem gesamten Adel bekannt ist, liegt 12 Kilometer entfernt. Das Konzept: Einen 100-km-Lauf an einem einzigen Tage in 18 Stunden über die Bühne zu bringen, daher Start um 4 Uhr morgens, Zielschluß um 22 Uhr. Nicht genug, nach dem Lauf findet noch eine Läuferparty statt. Mit anderen Worten: Zwei Nächte müssen wohl geopfert werden statt nur einer einzigen in Biel. Die meisten 100-km-Läufer kommen zwar unter 18 Stunden an; doch es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man 10 Runden in Rodenbach läuft oder eine Runde mit nicht weniger als 2150 Höhenmetern. Ähnlich wie bei 24-Stunden-Läufen, die auch nicht gerade Massenveranstaltungen sein können, werden auch Staffeln losgeschickt, nämlich auf 2 x 50 km oder 4 x 25 km. Ganz einsam wird es also den wenigen Ultras nicht werden. Der Charakter der Veranstaltung wird, denke ich, einzig ehrliche Läufer anziehen; denn Radbegleitung ist erlaubt, und da soziale Kontrolle auf den Thüringer Waldwegen kaum möglich ist, wäre dem Betrug Tür und Tor geöffnet. Wem von den Staffelläufern fiele schon auf, ob auf dem Betreuerrad der Betreuer oder der Läufer sitzt...

Trotz Bedenken im Detail – ich möchte dem veranstaltenden „Lauffeuer der FFW Fröttstädt“ wünschen, daß der 1. ThüringenULTRA nicht auf gar so kleiner Flamme gekocht wird und das Feuer bis zum 2. Ultra durch den Thüringer Wald nicht ausgeht.

Ähnlich zwiespältig ist meine Haltung zum G8-Gipfel in Heiligendamm. Nebenbei, die „weiße Stadt“, von der in den Medien gefaselt wird, ist ein verändertes Zitat aus einem Gedicht Theodor Storms; er nannte Husum die „graue Stadt“ am Meer. Nun ja, wenn man die weißen Gebäude, die nicht auf Heiligendamm beschränkt sind, sondern sich in den Bädern der Ostseeküste bis Swinemünde hinziehen, als Stadt bezeichnen will.... Ein noch so teurer Gipfel ist auf jeden Fall besser als ein noch so billiger Krieg. Und wenn es um Menschheitsthemen wie die Klimaerwärmung, die Globalisierung und die Zukunft Afrikas geht, ist vielleicht sogar ein 12 Millionen Euro teurer Zaun, mit dem sich die Mächtigen schützen müssen, zu tolerieren. Vor meinem geistigen Auge zeichnet sich bereits der Heiligendammer Zaunlauf ab. Frau Merkel sei es gegönnt, sich mit dieser Veranstaltung in ihrer EU-Ratspräsidentenschaft in die Annalen der Geschichte einzuschreiben. Auch dies ist schließlich besser, als sich wie ihr Ziehvater Kohl von der Wiedervereinigung durch die Basis überraschen zu lassen und ihr statt eines Konzeptes mit Verwaltungsakten zu begegnen. Nur hätte sie sich von vornherein darüber klar sein müssen, daß Adolf H. Bush – so nenne ich ihn, seitdem er Präventivkriege für legitim hält – kein Mitspieler, erst recht kein Umweltschützer, sondern der Hüter amerikanischer Hegemonialbestrebungen ist. Der Kanzlerin Innenminister hat das Risiko der Veranstaltung erkannt, im Gegensatz zu den Medien und zu den Blauäugigen, die demokratische Standards offenbar auch dann noch verteidigen wollen, wenn es die Demokratie schon nicht mehr gibt. 1000 Verletzte – das bedeutet doch: Der Bürgerkrieg hat begonnen. Im Gegensatz zur Weimarer Republik, als die Medien mit Scheuklappen nach links geblickt haben, schauen sie heute wie fixiert nach rechts, wenn sie Bedrohung vermuten. Auch gemäßigte Rechte wie die Leser der „Jungen Freiheit“ werden in der veröffentlichten Meinung ohne Hinterfragen mit dem Attribut rechtsextremistisch belegt. Bei den Autonomen hat sich noch kein Redakteur dazu durchringen können, sie als nur sogenannte Autonome zu bezeichnen. Wenn es den sogenannten Autonomen tatsächlich um Werte ginge, beispielsweise, den amerikanischen Agrarkonzernen den Weg zu verstellen, müßten sie die Veranstaltung von Heiligendamm im Grunde bejahen. Wie umkehrbar Ideologien oder vielmehr Ideologen sind, hat ja doch wohl die Frankfurter Gang um Josef genannt Joschka Fischer gezeigt. Keiner von denen steht weder vor dem Zaun von Heiligendamm noch sonst vor einem Zaun; sie fühlen sich längst im umzäunten Territorium wohl. Doch dies kann sogenannten Autonomen nicht zu denken geben, da sie autonom sind.

Eintragung vom 28. Mai 07

Das Thermometer war stärker als die Wetterprognose. Die hatte heftige Schauer angekündigt, das Thermometer auf der Terrasse zeigte 33 Grad Celsius. Das luftige Spartathlon-Hemd kam gerade recht. Dazu eine Regenjacke umbinden? Lästig bei dieser Temperatur. Die dunkle Wolke schien in weiter Ferne. Meine Laufintervalle fielen etwas kürzer aus. Auf dem Weg ins Körschtal die ersten dicken Tropfen. Noch war die Abkühlung angenehm. Das änderte sich innerhalb von Minuten. Die lange Steigung, die ich seit Jahren schon im Schritt gehe, gestattete keine Flucht in den Lauf. Ich war dem prasselnden Guß schonungslos ausgesetzt. In dem Bikeport – um den Carport zu übersetzen –, wo ich schon einmal Unterschlupf gefunden hatte, stellte ich mich unter. Wie lange sollte ich hier stehen? Ich beschloß, die Strecke abzukürzen, die nächste Etappe zurückzulegen und im Parkhaus Schutz zu suchen. Hagelkörner, glücklicherweise nicht sehr groß. Im Nu war es kühl geworden. Die Textilien klebten naß am Körper. Nach 10 Minuten überlegte ich, ob ich die nahe Stadtbahn nehmen sollte, zwei Stationen. Als Schwarzfahrer und dann noch immer 8 Minuten Fußweg? Das Problem nur vertagen? Bei Rot der Fußgängerampel überquerte ich die Straße, hoffend, daß Autofahrer Verständnis hätten – ich hätte es gehabt. Im Parkhaus suchte ich das untere Parkdeck, dort war es am wärmsten. Autos fuhren ein. Die Insassen zögerten, das Gebäude zu verlassen. Dabei hatten sie vom Trockenen nur 20 Meter zum Vereinsheim, das neuerdings von Italienern bewirtschaftet wird. Auch daran dachte ich, zum Italiener zu gehen, um mich aufzuwärmen. Vielleicht hätte mir Mitleid einen Kredit eingebracht. Ein Sanitätswagen fuhr ein, auch die Rettungssanitäter zögerten, das Parkhaus zu verlassen. Den hilfsbedürftigen Opa mimen, ob sie mich nach Hause fahren könnten? Ein hilfsbedürftiger Opa ist nicht im leichten Laufdreß unterwegs, außerdem war ich zu geizig; ich weiß ja, was Krankentransportfahrten kosten. Ich ging die Rampe auf und ab, um nicht noch mehr auszukühlen. Doch Symptome einer Unterkühlung wie damals am Scaletta waren nicht zu spüren. Mittlerweile hatte sich der Gewitterguß harmonisiert, kein Hagel, keine Windstöße mehr, die das Wasser vor sich her trieben. Etwa 20 Minuten im Gehschritt müßte ich noch durchstehen. Ich wagte es. Zum Laufen fühlte ich mich zu steif, aber auch der rasche Walkingschritt wärmte mich von innen. Als ich auf dem Panoramaweg angekommen war, hatte es aufgehört zu regnen, die Luft hatte sich so rasch erwärmt, wie sie sich vor den Schauern abgekühlt hatte. Die letzten Minuten waren, obwohl ich keinen trockenen Faden mehr am Leibe hatte, richtig angenehm. Die kleinen Dramen des Laufens...

Dramen – wenn der Sport immer auch Selbstdarstellung ist, dann haben wir im großen Sport Große Oper erlebt. Erschütternde Bekenntnisse, Tränen, Katharsis. So hätte man es wohl gern. Dabei weiß man seit Jahrzehnten, daß im Radsport gedopt wird. Am 13. Juli 1967 kollabierte am Mont Ventoux, der berüchtigten Bergetappe der Tour de France, der britische Radrennfahrer Tom Simpson. Im Rettungshubschrauber auf dem Weg nach Avignon starb er. Ernst van Aaken, der das Janusgesicht des Berufssports sicherlich verkannte, meinte damals, man hätte Simpson sofort Salzlösung zuführen müssen. Doch die Behauptung, Simpson sei einem Hitzschlag erlegen, war nicht lange zu halten. – An dieser Stelle habe ich meine Eintragung unterbrochen und erst einmal das Bändchen „Der völlig unnötige Tod des Tom Simpson“ von Klaus Ullrich wiedergelesen. Ihm entnehme ich die Fakten des Todes von Simpson. So sehr auch Ullrichs Beispiele für „die Misere des Profisports“ fesseln, – die Anwürfe kommen aus dem Glashaus, der Band ist 1983 im DDR-Sportverlag erschienen, ausgerechnet dort, wo Doping Mittel des Staatssports gewesen ist. Im Trikot des kollabierten Simpson fand man Tablettenröhrchen, ebenso später bei anderen Angehörigen der britischen und der belgischen Mannschaft. Ich zitiere Klaus Ullrich: „Fünf Jahre vorher hatte Simpson in einem Interview bekannt: ;Nur ein Superathlet kann die Strapazen des Radsports ohne chemische Mittel ertragen. Ich kann das nicht.’“ 1977 wurden mehrere Fahrer des Dopings überführt; Bernard Thevenet, der Sieger der Tour de France, war im selben Jahr wegen Dopings bei der Tour Paris – Nizza bestraft worden.

Mein Zeitungskollege Hans Blickensdörfer, der sich in reifem Alter vom Sportreporter zum Schriftsteller entwickelt hatte, konnte 1980 seinen Radsportroman „Salz im Kaffee“ mit dem Thema Doping bestreiten. Damals war es noch ein Roman-Thema. Später hätte man einem Schriftsteller vorwerfen können, ob ihm nichts Besseres für einen Sportroman eingefallen sei als Doping im Radsport und als Figuren der ehrgeizige junge Profi, der verführende Trainer, der Arzt Dr. Mephisto. Alles, was ein Schriftsteller erfinden konnte, wenn auch scheinbar überzogen, hat sich wirklich ereignet, selbst Blickensdörfers Sportmediziner sind nun gleich mehrfach vorgekommen. Doch von dem Eid des Hippokrates, den sie gebrochen haben, ist wohl auch sonst längst nicht mehr die Rede. Bei meiner Recherche im Internet entdecke ich, daß der Sportarzt Dr. med. Georg Huber, den die Universität Freiburg nun entlassen hat, bis zum 26. Mai der NADA, der Nationalen Anti-Doping-Agentur Deutschland, als Mitglied der Kommission Medizin und Analytik, angehört hat. Wenn der Bock zum Gärtner gemacht wird, wundert man sich über nichts mehr. Um die Zukunft solcher Sportärzte muß einem nicht bange sein; die Pharmazeutische Industrie wird sie als erstklassige Fachleute aufnehmen.

Nach der Woche der Doping-Geständnisse würde ich ja den Akteuren die reuige Einkehr abgenommen haben, wenn ich einen glaubhaften Wandel sähe. Doch die seit Jahr und Tag regelmäßig aufgedeckten Dopingskandale im Berufssport, insbesondere im Radsport, haben die jetzt in Rede stehenden Akteure unbeeindruckt gelassen. In anderen Dopingfällen der Vergangenheit sind manche wie der 100-Meter-Läufer Ben Johnson nach der Aufdeckung und Aufhebung der Sperre zu Wiederholungstätern geworden. Wer in aller Naivität gesteht, er habe gedopt, weil es nicht herauskommen konnte, hat ja wohl keinen inneren Kampf geführt. Auch der Sohn, der in die Pedale des Vaters stieg, war lange Zeit nicht der Grund, mit Lügen aufzuhören. Die Geständnisse sind auf äußeren Druck zustande gekommen. Insofern hat der Dopingbekämpfer Professor Werner Franke recht, wenn er von Krokodilstränen spricht. Das ist ja das Perfide: Die Betrüger haben nicht nur geschwiegen, sondern sie haben auch gelogen – Definition: wissentlich die Unwahrheit sagen. Der Doping-Experte sollte auf dem Klagewege ins Unrecht gesetzt werden.

Wir haben keinen Anlaß, uns in die Brust zu werfen. Was diese und andere Berufssportler getan haben, ist nichts anderes, als daß sie sich, wenn auch des eigenen Vorteils wegen, dem System überantwortet haben, einem System, das Effizienz und Cleverneß die höchste Priorität einräumt und all unsere Lebensbereiche beherrscht. Niemand kann behaupten, gegen die Versuchungen des Systems gefeit zu sein. Erst wenn Ethik einen höheren Stellenwert erlangt – einen höheren als Effizienz und Cleverneß –, können wir eine Balance erwarten. Gegenwärtig sieht es nicht danach aus. Wirtschaftskriminalität ist anscheinend zum Wirtschaftsprinzip geworden; man versucht, andere solange aufs Kreuz zu legen, bis der Staatsanwalt droht. Ist die Mogelpackung nun schon Betrug oder nicht? Wo verläuft in der Reklame die Grenze zwischen Anpreisung und falscher Versprechung, lies: Betrug? Leistungssport unterliegt längst wirtschaftlichen Prinzipien und damit auch den Praktiken der Wirtschaft. Der Erfolgreiche wird bejubelt; wie der Erfolg zustande kam, wird nicht mehr hinterfragt. Wir alle spielen mit. Wir bejubeln sportliche Leistungen, ohne zu fragen, wie sie zustande kommen. Nicht einmal das Instrument der gesellschaftlichen Sanktionen greift. Das Unternehmen Telekom, das uns Kunden im Vergleich zu anderen Gesellschaften jahrelang zu hohe Gebühren abgeknöpft hat – mein neuer Telefon- und Internet-Tarif von Telekom hat bei gleichen Voraussetzungen von einem Monat zum anderen meine Telefonkosten um etwa 40 Prozent reduziert –, dieses Unternehmen also trennt sich keineswegs von einer Mannschaft, in der Betrug gang und gäbe war. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die den Volkslauf erst dann als Thema entdeckten, als er ein Wirtschaftsfaktor geworden war, werden weiter über radsportliche Ereignisse berichten und Randsportarten, die kein Publikum haben, weiterhin ignorieren. Radsport bringt wie die Formel-1-Rennen Zuschauerquoten. Darüber tritt der öffentlich-rechtliche Auftrag, den wir mit unseren Gebühren finanzieren, mehr und mehr in den Hintergrund. Wenn Berufsradfahrer auf die öffentliche Anklagebank geschickt werden, gehören die Intendanten der öffentlichen Sender – von den anderen erwartet man nichts anderes – als Verantwortliche auch für die Sportpräsentation gleich dazu; sie haben uns dreckigen Sport verkauft.

Wie sauber ist der Laufsport? Sind wir Läufer die besseren Menschen? All die Präparate, die viele von uns schlucken, werden geschluckt, weil sie Leistungssteigerung versprechen. Sie würden auch geschluckt, wenn sie verboten wären. Zwischen dem sogenannten Aufbaupräparat und dem Mittel auf der Dopingliste sehe ich nur einen graduellen, keinen prinzipiellen Unterschied. Gipfel der Perversität ist es, wenn beim New York Marathon im Läuferbeutel bereits die Schmerztablette zum Einnehmen nach dem Marathon liegt.

Eintragung vom 20. Mai 07

Während die Anhänger des VfB, Verein für Bewegungsspiele, in und um Stuttgart jubelten, jubelte ich woanders über mein eigenes Bewegungsspiel. Es war mehr ein stiller Jubel, aber es war ein Jubel, ohne Zweifel. Wenn ich meine Marathonläufe Revue passieren lasse, welches war der wichtigste? Der erste, versteht sich, weil er das Tor zu einer einzigartigen Erlebniswelt geöffnet, ja, indirekt zur Persönlichkeitsentwicklung beigetragen hat. Doch dann – nicht der Marathon mit der persönlichen Bestzeit, nicht der überwältigendste City-Marathon, der von New York, nicht der schönste Landschaftsmarathon, nämlich der Jungfrau-Marathon, nicht ein exotischer wie der von Hawaii, nicht einer der anspruchsvollsten, der Marathon des Swiss Alpine (Graubünden- und Zermatt-Marathon scheiden aus, weil sie mich eindeutig überforderten); – der wichtigste Marathon in meinem Leben ist nach dem ersten Marathon der am 19. Mai am Rennsteig gewesen.

Dazu hätte genügt, ihn bestanden zu haben. Ich habe ihn nicht nur bestanden, sondern auch eine Zeit erreicht, die ich nicht mehr für möglich gehalten hatte. Was ist der von hochbezahlten Berufsathleten ausgeborgte Triumph von Zuguckern gegen den selbst erarbeiteten Triumph! Neun Stunden hätte ich Zeit gehabt. Das klingt nach ungeheuer viel für 43,5 Kilometer; doch eine Wanderung mit einem Durchschnitt von knapp 5 Kilometern in der Stunde ist auf dem Rennsteig von Neuhaus nach Schmiedefeld schon als anspruchsvoll zu bezeichnen. Zwar antwortete ich auf die übliche Frage am Start, welche Zeit ich mir vorgenommen hätte, vorsichtshalber: 9 Stunden; aber ich wollte mich am Letzten im vorigen Jahr orientieren: 7:50:57 sollten es also mindestens sein. Nach meinem Trainingsstand müßte das gelingen, wie mir die Hochrechnung aus Trainingsdurchschnitten bestätigte. Hoch zufrieden aber würde ich sein, wenn ich die Leistung eines Altersgenossen im Jahr 2005 erreichte, nämlich 7:21:10 Stunden. Dieser aber hatte mit Sicherheit im Jahr zuvor keine Bypaß-Operation gehabt. Mag man uns Alte belächeln, wenn wir uns noch immer wie die Jungen mit anderen vergleichen; doch das ist nicht nur dem Wettkampfsport immanent, das macht ja auch Sinn. Wie weit hinke ich nach einem Trainingsjahr, das nach Krankenhausaufenthalten mit 5-Meter-Laufstrecken begann, den Altersgenossen hinterher, habe ich den Standard der M 80 erreichen können? Leider ist die M 80 kaum präsent, so daß das Vergleichen schwerfällt. Immer war es mein Ziel gewesen, auch in der M 80 noch starten zu können. Ich empfand es als persönliche Tragik, daß dieses Ziel in Frage gestellt war. Deshalb also war mir dieser Marathon, der erste in M 80, so überaus wichtig. Vielleicht sogar würde er auch für andere wichtig sein; ich habe mehr als einen Sportkameraden aus einer darunterliegenden Altersklasse gesprochen, der mir versicherte, er orientiere sich an mir. Meine Bypaß-Operation und die Folgen, ein unvorhergesehener Krankenhausaufenthalt von vier Wochen wegen unerträglicher Magenschmerzen unbekannter Ursache, schienen meine angestrebte Altersläuferkarriere vernichtet zu haben. Zwar war ich in die Operation mit dem festen Vorsatz gegangen, danach wieder Marathon zu laufen, aber die Realität nach viermonatiger Trainingspause, davon siebenwöchiger Bettlägerigkeit, war niederschmetternd. Insofern war die Teilnahme am Halbmarathon des Swiss Alpine, so lächerlich auch die Zeit war, psychologisch wichtig. Sowohl der Halbmarathon nach Davos als auch der Rennsteig-Marathon sind meiner jetzigen Laufweise entgegengekommen. Solche Strecken kann außer der Elite keiner durchgehend laufen. Da falle ich mit meinen Intervallen – die Franzosen sprechen, allerdings im Hinblick auf den Ultramarathon, von freiem Stil – am wenigsten auf.

Die Marathonstrecke des Rennsteiglaufs hat sich für den Test hervorragend geeignet. Eine große Zahl von Teilnehmern gewährleistet, daß man nicht der einzige ist, der ganz hinten ist. Nach dem Start steigt die Strecke sofort an. Da kann keiner davon preschen. Meine Ahnungslosigkeit beim ersten Start in Neuhaus hatte mich in die Nähe des Marathontors geführt, und so konnte ich mit den Läufern ziemlich bald durchschlüpfen, obwohl mir das als Geher nicht zugekommen wäre. Ich mag es nicht, wenn Geher Läufer behindern; mit schlechtem Gewissen benützte ich den äußersten Rand. Sportkameraden mögen die Startaufstellung des Altersläufers mit Läuferrucksack verzeihen. Ich will’s nicht wieder tun. Aber ich muß gestehen, psychologisch ist es ein Vorteil, wenn man nicht schon, wie ich das seit Jahren geübt habe, am Start der Letzte ist. Die Steigung gleich am Anfang macht es auch weniger auffällig, wenn man bereits nach dem Überqueren der Matten im Schritt geht. Die ersten 5,8 Kilometer führen  auf der Landstraße entlang. Das ist hier nicht nur gut zur Entfaltung des Feldes von etwa 3142 Teilnehmern, es erwies sich auch für mich gut zum Einlaufen. Ich orientierte mich an einem Altersläufer, der, wie ich erfuhr, der M 70 angehörte. Er lief ganz kontinuierlich, wenngleich langsam. Er pflegte genau den Laufstil, den ich jahrzehntelang praktiziert habe. Jetzt hingegen gehöre ich zu denjenigen, die solche Läufer nervös machen können. Ich trabte etwa 500 Meter dahin, fiel wie auf meiner Trainingsstrecke, jedoch durchaus beabsichtigt, in den Gehschritt. Der Dauerläufer entfernte sich. Ich begann wieder zu traben, holte ihn ein, und das Spiel begann von neuem. Bei ihm, kann auch jemand anderes gewesen sein, entschuldigte ich mich für diesen Stil. Irgendwann, vielleicht auch hatte ich mein Laufintervall verlängert, sicher wahrscheinlich, war ich so kühn, ihn zu überholen. Mit den Lauf-Gehintervallen kam ich gut zurecht. Früher einmal hatte ich gehört, die Strecke sei längst nicht so attraktiv wie die des Supermarathons. Der Supermarathon ist – im Guten wie im Bösen, wenn man an die  Folgen von Witterungsunbill denkt – naturnäher; doch auf der Marathonstrecke empfand ich die Unterbrechungen durch Asphaltabschnitte, zumal nach einem regelrechten Cross-Abschnitt, als wohltuend. Jemand meinte, wir hätten eine Sieben-Stunden-Zeit, ich warnte davor, jetzt schon hochrechnen zu wollen. Dennoch war ich hochzufrieden, daß ich eine Halbmarathonzeit von 3:15 Stunden hatte. Das gab mir, auch wenn ich mißtrauisch war, die Zuversicht, es auf jeden Fall selbst bei eklatantem Einbruch zu schaffen. Doch der Einbruch kam nicht. Die Steigung zum höchsten Punkt, der Turmbaude von Masserberg, hatte sich als harmlos erwiesen. Keine Rede mehr davon, die rote Laterne zu tragen. Ich hatte das Gefühl, die Nachhut des Läuferfeldes erreicht zu haben. Nun lief ich in unbekanntes Terrain hinein, nach dem Halbmarathon im Juli vorigen Jahres hatte ich nur zwei längere Einheiten absolviert, über 24 und über 27 Kilometer. Würde das gutgehen?

Versteht sich, daß ich kämpfte. Aber ich fühlte mich dadurch, daß ich guten Gewissens immer wieder marschierte, nicht unter Druck. Ich lief erstmals bei einem Wettbewerb mit einem Pulsmesser, einem  Testgerät, das mir Urs von „Runner’s World“ überlassen hatte. Schon hatte ich ihm geschrieben, ach nein, das sei nichts für mich. Doch dann, in der Herzsportgruppe, sollten wir unsere Pulszahl vor und nach den Übungen angeben. Ich war schlicht zu bequem, jedesmal mühsam meinen Puls zu ertasten; seither trage ich daher zum Herzsport den Pulsmesser. Seit einigen Wochen benütze ich ihn auch wieder beim Training, auch wenn mich gewisse Eigenwilligkeiten irritieren. Vor dem Rennsteiglauf sagte ich mir, vielleicht sei es gut, seinen Puls zu kontrollieren. Beim Traben bin ich auf eine Pulszahl von 105 gekommen, maximal 110. Soviel hatte ich noch nie gemessen. Auch hier wieder unbekanntes Terrain. Die Hollmann-Formel 180 minus Lebensalter ist zwar angefochten worden, aber irgendwie beruhigte mich die Pulsanzeige 105. Ich machte doch offenbar nichts falsch. Natürlich hätte mir das auch mein Körpergefühl sagen können – keinerlei Auffälligkeiten, mein Herz, das immerhin einmal für etwa zwei Stunden stillgelegt worden war, spürte ich nicht. Die Kilometerangaben an Baumscheiben halfen mir, meinen Kilometerschnitt von größtenteils 9 Minuten zu halten. Nach 30 Kilometern, die ich ja immerhin seit Januar vorigen Jahres nicht mehr gelaufen war, hatte ich ganz deutlich – ich weiß, es ist unwissenschaftlich – das Gefühl, der Körper erinnere sich an seine früheren Ausdauerleistungen. Die Gefällestrecken, die ja hier länger sind als die Anstiege, erleichterten mir, die Laufintervalle ohne Belastung zu verlängern.

Nun begann ich hochzurechnen. Es müßte ja wirklich eine Zeit von 7 Stunden herausspringen. Ehrgeiz nistete sich ein. Wäre es nicht Gipfel des Triumphes über den Beinsteller Schicksal, eine Sechs vor dem Doppelpunkt zu haben? Man weiß ja, wie wichtig den Gewerkschaften die Zahl vor dem Komma ist. Beim Anstieg zum Sportplatz in Schmiedefeld verwarf ich den Gedanken wieder. Der Begegnungsverkehr – von unten wir versprengten Marathonteilnehmer, von oben die Schwärme derjenigen, die mit Medaille um den Hals und Gepäck an der Hand dem Quartier oder dem Autobus zustrebten – weckte zwiespältige Gefühle. Einerseits war es etwas peinlich, so spät dran zu sein – im Sport zählt das Alter im Grunde nicht, achtzig hin oder her, die Medien mögen mit ihrer Leistungsorientierung einseitig sein, aber sie sind da ehrlich –, andererseits offenbar aufrichtig gemeinte Beifallsbezeigungen. Es ist schwierig, mit dem Alter fertig zu werden, vor allem, wenn man als Alter wahrgenommen wird.

Einsamer Einlaufkanal entlang der Betriebsamkeit auf dem Sportplatz, die zur Atmosphäre des Rennsteiglaufs gehört. Der Uhrzeit auf dem Pulsmesser mißtraute ich, hatte ich die Uhrfunktion denn richtig eingestellt – unter den, was weiß ich, 95 Funktionen dieses Elektronikklumpens? Für mich war nur klar, ich bin den Rennsteigmarathon in etwa 7 Stunden gelaufen, wenn man’s wohlklingend formuliert, im Durchschnitt also etwas über 6 Kilometer in der Stunde, was auf dieser Strecke – ich betone es – auch vom DLV als sportliche Leistung wahrgenommen werden könnte. Erst zu Hause, dank dem Internet, habe ich es schwarz auf weiß ausgedruckt bekommen: 6: 56:11 Stunden. Den Altersklassenrang kann man vergessen, es kommen ja keine anderen in M 80. Ich habe das Gefühl, meine Rehabilitation sei so weit beendet. Ich weiß, daß ich noch nicht am Ziel bin. Der nächste Schritt muß sein, die Laufintervalle weiter zu verlängern, soweit, daß ich einen Marathon durchgehend im Trab zurücklegen kann. Das würde bedeuten, einen Stadtmarathon wie den von Berlin in 6 Stunden zu beenden.

Doch wir kennen das, wann sind Läufer am Ziel? Wann sind wir im Leben am Ziel?

Eintragung vom 13. Mai 07

Plötzlich ist das Thema da: Bienen. Es geht ihnen schlecht. Und endlich merken wir es, mich eingeschlossen, denn ich bin fast täglich an Bienenkästen vorbeigetrabt, ohne mir Gedanken zu machen. In den Vereinigten Staaten und in Kanada sind viele Bienenvölker spurlos verschwunden. Die Angaben schwanken zwischen einem Viertel und stellenweise bis zu 80 Prozent. Auch die Imker in Europa sind in den letzten Jahren immer wieder vom Sterben ihrer Völker heimgesucht worden. Die Experten runzeln die Stirn. Ein Insekt, das als äußerst anpassungsfähig gilt, hat die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit erreicht. Es geht nicht nur um die Honigernte. Ein existentielles Problem wird sichtbar. Mehr als zwei Drittel unserer Nutzflächen, so habe ich gelesen, sind auf Bestäubung durch Bienen oder andere Insekten angewiesen. „Der wirtschaftliche Wert der Bestäubungsleistung in Deutschland beträgt ein Zehnfaches des Erlöses, den die Imker aus dem Verkauf des Honigs und sonstiger Produkte erzielen. Das sind bei 25000 Tonnen Honig jährlich schätzungsweise 2 Milliarden Euro (Pressemitteilung von Bündnis90/Die Grünen vom 21. Februar 2007). Ein Drittel der menschlichen Ernährung hängt laut Angabe des Entomologischen Instituts in Illinois direkt oder indirekt von den Bienen ab (Thomas Radetzki, Vorsitzender von Mellifera). „Bestäubung ist eine existentielle Grundfunktion im Ökosystem. Ausbleibende Bestäubung bedroht unsere Lebensgrundlagen und unsere Kulturlandschaft als Ganzes“ (Radetzki in „Gesundheitsberater“ 5/2007). Die Ursachen des Bienensterbens („Colony Collapse Disorder“) liegen noch im Dunkeln. Hypothetisch sind im Gespräch der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen und der Elektrosmog. Mir gibt zu denken, daß das Bienensterben besonders kraß in Nordamerika auftritt, eben genau dort, wo am meisten genveränderter Mais angebaut und am lässigsten damit umgegangen wird. In Deutschland haben bereits einige Imker und Anbauer von Speisemais gegen den Anbau der gentechnisch veränderten Maissorte Mon 810 Klage eingereicht. Mit diesem Mais der amerikanischen Firma Monsanto sind in diesem Jahr mindestens 3700 Hektar Anbaufläche (Stand vom Februar) bestellt worden. Rechtsgrundlage der Klage ist: Der gentechnisch veränderte Mais hat nur eine Zulassung als Futtermittel erhalten, nicht jedoch als Lebensmittel für Menschen. Unweigerlich gelangen Blütenpollen des genveränderten Maises in den Honig und durch die Windbestäubung auch in Felder mit Speisemais. Den umstrittenen Gen-Mais hat der Verbraucherschutz-Minister Seehofer Ende 2005 zugelassen. Am 27. April freilich, zu einem Zeitpunkt, da die Saat schon ausgebracht worden ist, hat er dem Agrarkonzern Monsanto untersagt, weiterhin Mon 810 in Deutschland zu verkaufen. Worauf Monsanto seine Lobbyisten mobilisierte. Das ist in „Spiegel online“ nachzulesen.

Man kann einen ganzen Abend bis tief in die Nacht damit verbringen, zu einem solchen zunächst unverfänglich scheinenden Thema im Internet zu recherchieren. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste, und auf eine Schweinerei folgt die nächste; mit Sicherheit – zu dieser Überzeugung bin ich inzwischen gelangt – stößt man dabei auf amerikanische Konzerne. Den Unterschied zwischen Strategien von Rechtsabteilungen und krimineller Energie vermag ich nicht mehr auszumachen. Über die Hegemonie amerikanischer Saatgutkonzerne bin ich schon während meiner Ausbildung als Gesundheitsberater vor über 20 Jahren aufgeklärt worden. Was sich jetzt abspielt, ist für mich nur eine Bestätigung.

Den kommenden Samstag habe ich mit dem Taschenrechner geplant. Läuferisch ist’s eine glatte Hochstapelei, ich habe mich zum Marathon des GutsMuths-Rennsteiglaufs angemeldet. Ich habe mit diesem Entschluß solange geschwankt, bis auch der letzte Termin, als GMRL-Mitglied zum halben Preis zu starten, verstrichen war, so unsicher war ich. Nun stehe ich unter Druck: Mit jedem Kilometer, zu dem ich vorzeitig die Teilnahme beenden würde, würfe ich jeweils einen Euro weg. Den Ausschlag für die Teilnahme gab, daß man laut Ausschreibung 9 Stunden Zeit bis zum Zielschluß hat.  

Wenn andere auf Ergebnislisten nach den ersten drei schauen oder vielleicht nach den ersten in der Altersklasse, so schaue ich mir die Listen danach an, wie lange die letzten gebraucht haben. Auch ein Marathonziel: Nicht länger zu brauchen als die bisher letzten, von denen zudem am Rennsteig (Marathon, nicht Supermarathon) offenbar keiner der M 80 angehört hat. Noch immer kann ich keine Strecke kontinuierlich laufen. Auch meine beiden „langen Einheiten“ habe ich in Lauf-/Geh-Intervallen zurückgelegt. Mit dem Taschenrechner habe ich meine „Qualifikation“ zu errechnen versucht. Zwei Unsicherheitsmomente: Mehr als 27 Kilometer habe ich noch nicht zurückgelegt, die restlichen 16 Kilometer des Rennsteig-Marathons liegen im Nebel des Thüringer Waldes. Doch jeder Marathonläufer betritt im Wettkampf Niemandsland. Meine Trainingsstrecke weist zwar Steigungen auf, aber eben doch nicht solche wie im Thüringer Wald. Wenn ich scheitere, – ich denke, auch im Jahr nach einer Bypaß-Operation werden wohl die meisten Schicksalsgenossen andere Sorgen haben als ich.

Eintragung vom 6. Mai 07

Heute im SWR größtenteils die Übertragung vom Gutenberg-Marathon in Mainz gesehen. Hoffentlich schauen sich die Dampfplauderer von Marathonveranstaltungen bei dem Kommentator Herbert Steffny etwas ab.

Die Verbreitung mancher Nachricht wird ihrer Bedeutung nicht gerecht, man erfährt nur durch Zufall davon. Neulich fiel mir die Zeitschrift des Württembergischen Versehrtensportverbandes in die Hände, die Nummer 1 für das erste Vierteljahr 2007. Darin las ich, Dr. med. Karl Otto Hartmann, der Pionier des deutschen Herzsports, sei am 30. Dezember 2006 gestorben. Obwohl die Stätte seines Wirkens, Schorndorf, keine 30 Kilometer von uns entfernt liegt, war diese Nachricht in meiner Heimatzeitung nicht zu finden. Hartmann gehört offensichtlich zu denjenigen, die zu ihren Lebzeiten – ähnlich wie Dr. Ernst van Aaken – in den öffentlichen Medien nahezu unbeachtet geblieben sind, obwohl sie für die Volksgesundheit Pionierleistungen vollbracht haben.

Der Allgemeinmediziner Hartmann hat 1965 in Schorndorf die erste deutsche Herzsportgruppe gegründet und damit zusammen mit seinem Kollegen Manfred Scriba Medizingeschichte geschrieben. Er trug durch seine Praxis der aktiven Rehabilitation zum Umdenken in der Medizin bei. Die Idee der Coronargruppen, wie sie bis in die jüngste Zeit hießen, geht auf die Erfahrungen Professor Victor Gottheiners in Israel zurück, wobei man sich vor Augen führen muß, daß Bewegung vereinzelt schon als Therapie betrieben wurde, zum Beispiel durch Professor Wolfgang Kohlrausch in Freudentadt. Gottheiner, ein Emigrant aus dem Berlin der Nazizeit, rehabilitierte zunächst israelische Soldaten, die Herzprobleme hatten, durch Märsche rund um den Berg Tabor. Über die Volksläufe und -märsche um den Berg Tabor hat David Rimon in einer Privatschrift berichtet; über die IGÄL, der er angehörte, war ich in Kontakt zu ihm gekommen und hatte ihn 1984 beim Marathon in Tel Aviv kennengelernt. Sein 1983 erschienenes Buch, in dem er seine eigene Gesundheitsvita schildert, habe ich jetzt wieder gelesen, weil es eine der wenigen Darstellungen aus Patientensicht ist.

Der Journalist David Rimon hatte 1968 im Alter von 54 Jahren unerwartet einen Herzinfarkt erlitten. Die Schulmedizin behandelte ihn als Invaliden. „Ich fühlte mich wie ein Sterbender, dessen Tage gezählt waren“, schrieb er - Verbote ohne Ende, ein Vorratslager an Medikamenten.

„Als ich von Professor Victor Gottheiners Methode zur Heilung Herzkranker hörte, entschied ich mich, zu ihm zu gehen.“ Nach seinen Anweisungen begann er mit Leibesübungen und mit langsamem Gehen. Das Gehtraining steigerte er von 20 auf 40 Minuten und die Geschwindigkeit auf 5,4 Kilometer in der Stunde. Dann begann er zu laufen. Die Krönung war die Teilnahme am Lauf um den Berg Tabor. Im Jahr 1972 reiste er nach Deutschland und nahm hier an sogenannten olympischen Volksläufen teil. Er war zum Paradepatienten geworden und bestätigte abermals Gottheiners Rehabilitationskonzept, das genau das Gegenteil des sogenannten Schondenkens in der Medizin bildete. Gegen dieses Schondenken hatte sich auch Ernst van Aaken gewandt; sein Buchtitel „Schonungslose Therapie“ war eine Provokation. Schüler Gottheiners war Dr. Klaus Jung, seit Jahren Lehrstuhlinhaber in Mainz.

Gottheiners Versuch war im Grunde nur im Lebenskampf der Israeli möglich gewesen. Wäre in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland oder gar in den USA ein Soldat bei der Ausdauerbelastung zu Tode gekommen, hätte sich Gottheiner vor Gericht gesehen, zumindest aber wären die Medien über ihn hergefallen. Dr. Peter Beckmann, Sohn des Malers Max Beckmann, der die "Ohlstädter Kur" ins Leben rief, hatte das Unglück, daß einer seiner Kurpatienten während seiner Kur, die moderate Belastung durch sportliche Wanderungen und Bürstenmassagen am Wasserfall vorsah, gestorben war. Der "Spiegel", der einige Jahrzehnte später mit einer Laufkolumne im Internet prunkt, diskriminierte darob den Arzt Dr. Beckmann, der damals seine Patienten weit weniger belastete, als das heute in Herzsportgruppen geschieht. Dr. Beckmann, mit dem ich Mitte der sechziger Jahre darüber sprach, hat diese Verurteilung in der Öffentlichkeit schwer getroffen.

Dr. Karl Otto Hartmann ging es nicht besser, obgleich alle seine Herzpatienten die sportliche Rehabilitation überlebt haben. Der Schorndorfer Arzt hatte 1964 bei einem Sportmedizinerkongreß in München Victor Gottheiner gehört, und er beschloß, die israelischen Erfahrungen umzusetzen. Er selbst hatte am eigenen Leibe Erfahrungen mit Bewegungstherapie gemacht. Er war 1946 aus tschechischer Gefangenschaft mit einer offenen Lungentuberkulose heimgekehrt; drei Monate hatte er zusammen mit vier Kameraden in einem dunklen Keller zugebracht. Ich zitiere aus „Sport im WVS“ (Württembergischen Versehrtenverband), dem ich auch die biographischen Daten verdanke: „Er vertraute mehr auf sich als auf andere Ärzte, lief trotzdem Ski, alpin und in der Loipe, stieg trotzdem auf die Berge. Die gewonnene Lebensfreude verhalf letztlich zu tiefgreifender Erholung und Heilung. Im Jahre 1960 ließ Dr. Hartmann sich nieder in Schorndorf als Arzt für Allgemeinmedizin. Wenig später übernahm er die Versehrtensportgruppe im VfL, wo er seine Erfahrungen auch mit Schicksalsgefährten teilen konnte.“ Nach Gottheiners Konzept begann er im Herbst 1965, nachdem er Mitstreiter gefunden hatte, bei Herzpatienten mit dosierter Bewegung, zunächst im Hallenbad, dann auch auf dem Sportplatz. „Dr. Hartmann kaufte einen der ersten Fahrrad-Ergometer in der Bundesrepublik. Das blaue, längst museumsreife Gerät steht heute noch in seinem Keller. Mit ihm testete Dr. Hartmann bis zum Jahre 1987 seine Patienten mit Widerständen von 25, 50 und 75 Watt jeweils sechs Minuten, kontrollierte EKG und Blutdruck. Wem es danach gutging, durfte Herzsport machen. Die Reaktion mancher Ärztekollegen an Universitäten fiel zunächst skeptisch bis feindselig aus. Einmal ist er sogar ;Verbrecher’ genannt worden.“ Wer erinnert sich da nicht an andere ärztliche Gesundheitspioniere, an Maximilian Bircher-Benner, an Ernst van Aaken, an Werner Kollath und Max-Otto Bruker? „Aber der Arzt, der noch 1965 in Dr. Manfred Scriba einen Mitstreiter fand, ließ sich trotz der Widerstände nicht beirren.“ Der erste Herzsportpatient, Erwin Leske, damals ein gestreßter, stark rauchender Taxifahrer, lebt heute noch, wie „Sport im WVS“ berichtet. Dr. Hartmann zog damals schon gegen das Rauchen zu Felde. Und auch seine Ansichten über das „Reparatur-Denken und Ansprüche fördernde“ Krankenversicherungswesen – Ansichten, die auch Dr. Bruker vertrat – wirken heute überaus zeitgemäß.

Coronargruppen wurden dann auch an anderen Orten gegründet. In den siebziger Jahren machte sich das Ehepaar Halhuber am Starnberger See darum verdient, Professor Dr. Max Halhuber auf der wissenschaftlichen und Dr. Carola Halhuber auf der organisatorischen Seite. Ein Kongreß – nach meiner Erinnerung 1974 – gab weitere Impulse.

Heute gibt es in der Bundesrepublik über 6000 Herzsportgruppen, von speziell dafür ausgebildeten Übungsleitern betreut und jeweils von einem Arzt überwacht. Die Herzsportgruppen an meinem Wohnort bewegen sich in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses, wenngleich man, um zum Treffpunkt zu kommen, durch die Raucherecke muß. Bedenkt man, daß in den Herzsportgruppen naturgemäß eine rege Fluktuation herrscht, sind Hunderttausende von Patienten durch die Herzsportgruppen gegangen.

Hat die Wissenschaft dies dem deutschen Herzsportpionier wenigstens später, als die Rehabilitation durch Sport Allgemeingut war, honoriert? Aber nein, die Schulmedizin verzeiht es Abtrünnigen nie, wenn sie sich geirrt hat. Dr. Hartmann ist im Alter von 85 Jahren gestorben – Zeit genug, sich eine akademische Ehrung zu überlegen. Weder Ernst van Aaken noch Karl Otto Hartmann, von Bircher-Benner und Bruker nicht zu reden, waren für die Ehrendoktorwürde im Gespräch. Ich kenne in meinem Beruf vier Kollegen, denen der Dr. h. c. verliehen worden ist, darunter zwei von der medizinischen Fakultät, einer in Zoologie. Ich gönne es ihnen, aber bei drei von ihnen bestand das Verdienst allein darin, daß sie über das bekannte Medium, in dem sie tätig waren, wissenschaftliche Entwicklungen und Erkenntnisse popularisiert haben. Die wirklich Kreativen, die Mutigen, die sich auf Neuland wagten und das Risiko nicht scheuten, die Pioniere eben, gehen im Wissenschaftsbetrieb leer aus.

Über Politiker muß man nicht sprechen. Da ist der Dr. h. c. eine sublime Form der Bestechung und ziemlich wohlfeil – vom Nazi-Mitläufer Filbinger bis zum Bildungs- und Ausbildungsabbrecher Fischer. Wen die Zeitläufte in die gesellschaftliche Hochrangigkeit gespült haben, dem ist in der Politik der Dr. h. c. sicher. Bircher-Benner, Kollath, Bruker, van Aaken, Hartmann haben sich ihre akademischen Grade und ihre Reputation erarbeitet, sie brauchen keinen akademischen Schmuck. Es ist die etablierte Wissenschaft, die sich blamiert, wenn sie innovative Leistungen nicht wahrnimmt.

Eintragung vom 26. April 07

Die nächste Aktion in Baden-Württemberg „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ kann man sich sparen. Ganz ohne Werbebudget von mehreren Millionen Euro kreist das Wort „Wir können alles – außer Oettinger“. Der kann es nicht. In den Zeitungen des Südwestens fällt täglich der Name des baden-württembergischen Ministerpräsidenten im Zusammenhang mit seiner mißglückten Trauerrede beim Requiem für den verstorbenen ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Da kann auch im Tagebuch nochmals die Rede davon sein.

Erst nach meiner letzten Eintragung habe ich lesen können, daß Hans Filbinger, der nachmalige NS-Militärrichter, 1937 in die NSDAP eingetreten ist.  Damit zeichnet sich das Militärrichter-Profil des späteren baden-württembergischen  Ministerpräsidenten noch schärfer ab. Nazi-Parteigenosse ist man geworden, weil man entweder die Überzeugungen der Nazis teilte oder weil man sich vom Parteieintritt einen Nutzen versprach. Wahrscheinlich geschahen die meisten Parteieintritte aus Opportunismus, wobei die Nazis erpresserisch nachschoben. Die Deutschen waren  kein Volk von Nazis, aber von Mitläufern. Wie auch immer,  ob Filbinger aus Überzeugung oder aus Opportunismus in die NSDAP eingetreten ist, beides steht im Widerspruch zu der Behauptung, er  sei schon wegen seiner  politischen Vita in der Jugend in Distanz zum Nationalsozialismus gestanden. Sicher gab es auch bei denjenigen, die das „Bonbon“, das Parteiabzeichen der NSDAP, trugen, Widerstandshandlungen; es waren seltene Ausnahmen. Der Juden-Retter Schindler war eine. Auch die Geschwister Scholl waren zunächst begeisterte Nationalsozialisten. Der Kreis der Offiziere, die für den 20. Juli 1944 den Umsturz planten, hatte zunächst dem nationalsozialistischen Deutschen Reich gedient. Durch ihre Tat haben die Putschisten des 20. Juli ihre Wandlung eindeutig bekundet – um den Preis ihres Lebens. Eine Distanz zum NS-Regime hat der Pg. Filbinger nicht erkennen lassen, auch als Marine-Stabsrichter nicht, wo sicher Gelegenheit gewesen wäre.

Es nimmt schon wunder, daß der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger, der in Filbinger einen Gegner des Nationalsozialismus sah, solche Überlegungen nicht angestellt hat. Niemand in der CDU Baden-Württembergs hat sie angestellt. Und diejenigen, die ihm die Ehrendoktorwürde verliehen, ihn zum Professor machten und ihn mit der höchsten deutschen Auszeichnung bedachten, haben  ebenfalls ungeprüft das Bild übernommen, das Filbinger von sich selbst gezeichnet hat oder auf seiner Internet-Seite von sich hat zeichnen lassen.  Die  öffentliche Diskussion, die 1978 zum Rücktritt Filbingers geführt hatte, hat daran nichts zu ändern vermocht. Doch das gilt nicht nur im Hinblick auf Dr. Filbinger. Nazi-Deutschland ist, nachdem der Schock der Besetzung abgeflaut war, ziemlich nahtlos in die damalige Bundesrepublik Deutschland integriert worden. Nach so langer Zeit ist es leichter, die Faschisten bei Neo-Konservativen und erklärt Rechten zu suchen als in der Vergangenheit der eigenen Reihen.

Einen Toten muß man nicht am Sarg beschimpfen, aber man muß am Sarg auch nicht lügen. Einen Juristen der Kriegsgerichtsbarkeit, deren drakonische Urteilsfällung auf jeden Fall vom Hörensagen jedem Landser bekannt war, als Gegner des Nationalsozialismus hinzustellen, das ist nur mit einem getrübten Geschichtsbild oder mit Naivität oder mit beidem zu erklären. Oettinger brauchte fünf Tage und eine Rüge der Kanzlerin, um nachdenklich zu werden und sich schließlich von seiner Behauptung zu distanzieren. Seine Relativierungen auf Raten bis zur  Entschuldigung am Ende können nichts daran ändern, daß der Ministerpräsident in der Öffentlichkeit als beschädigt gilt. Offenbar nicht jedoch in der baden-württembergischen CDU. Der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, Stefan Mappus, hält, wie er sagte, die ganze Diskussion um Oettinger für in der Hauptsache ideologisch motiviert. Ein Oettinger kommt selten allein. Ich vermute, daß die CDU des Südweststaats ihrem Ministerpräsidenten schon deshalb die Stange hält, weil die Rüge aus Berlin kam, der ungeliebten Bundeshauptstadt. Bonn liegt Stuttgart nicht nur geographisch näher.

Die Kritik der SPD und der Bündnisgrünen in der Landtagssitzung am 25. April entspringt auch nicht gerade der lautersten Gesinnung. Endlich, nach zwei Jahren, kann man dem CDU-Ministerpräsidenten am Zeuge flicken.

Was hat die Affäre im Lauftagebuch zu suchen? Weil sie mich beim Laufen beschäftigt hat, sicher. Doch muß der Verfasser nicht an seine Leser denken? Tut er. In einem „Blog“ kann man vieles sagen, was die herkömmlichen Medien nicht so deutlich sagen oder was undifferenziert formuliert ist. Was immer man vom Internet hält, – es wird möglicherweise mehr noch als die herkömmlichen Medien die Meinungsbildung beeinflussen.

Heute, am 26. April, einem Hochsommertag, habe ich auf hundert Meter ein Marathon-Gefühl gehabt (wer nicht weiß, was das ist: Es ist die   Übersetzung von Marathon-Feeling, und Feeling kennt ja jeder). Auf den Gemüsefeldern sind kreisende Wassersprenger installiert. Sie verhalfen mir zu einer unfreiwilligen Teil-Dusche, wie auf einem Hitze-Marathon.

Eintragung vom 16. April 07

Während des Überholens wandte sich der Radfahrer mir zu: „Ist die Jungfrau in der Wäsche?“ Einen Wimpernschlag stutzte ich, dann fiel mir ein: Am Vortag hatte ich das Trikot vom Jungfrau-Marathon getragen; diesmal war es eines vom Rennsteiglauf, das Funktionshemd von meiner letzten Teilnahme im Jahr 2005. Ein bißchen schmerzlich sind sie schon, diese textilen Erinnerungen. Doch wenn ich keine Erinnerung an all die interessanten Läufe hätte, das wäre noch viel schlimmer.

Wenn mir unterwegs nichts zum Nachdenken einfiele, – die Politik sorgt dafür, daß mir der Stoff nicht ausgeht. Die Trauerrede des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger für den ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger hat mich nicht sonderlich überrascht. Sie gibt getreulich die ambivalente Haltung des Establishments der baden-württembergischen CDU zur deutschen Vergangenheit wieder. Da war die CDU heilfroh, 1978 mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Dr. Filbinger der peinlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entronnen zu sein, und nun, nach dem Tode des Dreiundneunzigjährigen, wird sie von ihrer eigenen ambivalenten Vergangenheit eingeholt. Sie hat ja nie wirklich Distanz gehalten zu denjenigen, die der Nazidiktatur gedient haben. Niemand hat sich daran gestört, daß ein Mann in Partei- und Staatsämter kam, in dessen Personalakte die Tätigkeit als Kriegsjurist im NS-Staat verzeichnet war. Wobei ich die Anwürfe des Schriftstellers Rolf Hochhuth, der Filbinger in diesen Tagen wegen seiner Teilnahme an einer Erschießung als „sadistischen Nazi“ bezeichnet hat, für ausgesprochen platt und bei einem Schriftsteller erstaunlich unqualifiziert halte. Ganz sicher hat Hochhuth – auch ein Skandal – die Geschäfte der Stasi besorgt, ob er wollte oder nicht, ob es der Wahrheit diente oder nicht. Doch eben die Unentschlossenheit der politischen Kräfte, die den Antifaschismus lieber denjenigen überließen, die den Faschismus nur vom Hörensagen kennen, führte zu Anklägern, die nicht der Wahrheit verpflichtet sind.

Ich habe sehr wohl gelesen, was sich im Hinblick auf die Todesurteile zu Gunsten des Marinerichters Filbinger sagen läßt. Für mich beginnt das Kriterium damit, daß die CDU einem, der in einem Unrechtsstaat für Kriegsgerichtsurteile verantwortlich war, zu politischem Profil und politischer Macht verholfen hat (die CSU hat als Leiche im Keller die Pension für die Witwe des obersten Nazi-Schergen Freisler, und auch mein persönlicher Feind, der Durchhalte-General Schörner, genoß in Bayern seine Zeit bis zum friedlichen Ableben). Jüngeren muß man sagen: Kriegsgerichte waren für Wehrmachtsangehörige die schlimmste Instanz. Schon die Feldgendarmerie war übel beleumundet; wir nannten sie „Kettenhunde“ – nach dem Schild, das sie an einer Kette über der Brust trugen. Doch die Kettenhunde konnten angebliche Delikte nur weitermelden. Die Bluthunde saßen in den Kriegsgerichten. Mein Feldwebel hatte keine schlimmere Drohung gegen mich, nachdem ich im März 1945 seinen Befehl, ein Geschütz zu sprengen, nicht befolgt hatte, als mich anzubrüllen: „Ich bring’ Sie vors Kriegsgericht!“ Da ich danach in die Hand von polnischen Partisanen fiel, wurde die Drohung gegenstandslos; anderenfalls hätte meine Naivität, die eines Achtzehnjährigen, übel ausschlagen können. Immer sind Angehörige der Waffen-SS von den Medien als die größten Nazis in Soldatenuniform hingestellt worden – außer sie hätten sich später in der Bundesrepublik verdient gemacht –; doch die Waffen-SS war kämpfende Truppe, und die wenigsten Waffen-SS-Angehörigen haben mit eigener Hand Kriegsverbrechen begangen. Von unheilvollerer Wirkung habe ich die Propagandakompanien angesehen, denn mit ihrer Arbeit verschleierten sie Realität und verführten junge Menschen. Zahlreiche Angehörige der Propagandakompanien fanden nach dem Krieg Unterschlupf in den Medien der Bundesrepublik. An der Spitze der Gefährlichkeit im Inneren jedoch standen die Kriegsgerichte. Filbinger sei damals, behauptete er, bei seiner Einberufung zur Marinegerichtsbarkeit abkommandiert worden, gegen seinen Willen. Daran habe ich meine Zweifel. Ich habe als Soldat den Eindruck gehabt, daß man bei existentiellen Fragen durchaus gefragt wurde. Ich konnte zweimal die Teilnahme an einem Unteroffizierslehrgang und später einem Volksoffiziers-Lehrgang folgenlos verweigern, geschweige denn, daß ich „abkommandiert“ worden wäre. Ein älterer Vetter von mir hatte gerade seine juristische Ausbildung abgeschlossen, als ihn der Einberufungsbefehl ereilte. Er kam als Reserveoffizier zur Flak, nicht an ein Kriegsgericht. Diese Frage, wieso landete der Oberfähnrich Dr. Filbinger als Stabsrichter in der Militärgerichtsbarkeit, hätte meines Erachtens in der Auseinandersetzung vertieft gehört.

Wenn aber nun ein Jurist der Verstrickung in die Machtinstrumente der Nazis ohne den Preis seines Lebens nicht entkommen konnte, – hätte es dann nicht der Anstand geboten, in einem neuen Leben auf eine Karriere im öffentlichen Leben einer sauberen Demokratie zu verzichten? In einem Anwaltsbüro oder in der Wirtschaft läßt sich ja auch gut leben. Dieser Appell ans Schamgefühl hätte für andere Politiker genauso gegolten, für Kiesinger, Schiller und Carstens zum Beispiel, von Globke und Oberländer gar nicht zu reden. Die politischen Parteien haben nichts dabei gefunden, ihr Personal aus dem Naziapparat zu rekrutieren und ihre Leute ihren nachmaligen Verdiensten entsprechend zu ehren. Einen Carl-Diem-Weg sollte es nicht geben dürfen, ein Kurt-Georg-Kiesinger-Platz wird akzeptiert. Diejenigen, die heute auf Distanz zu Filbinger gehen, haben schließlich den Ehrungen Filbingers nach seinem Rücktritt, mit der Ehrendoktorwürde, der Ernennung zum Professor, dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, nicht widersprochen. Daher halte ich die Fokussierung auf den einer anderen Generation angehörenden Trauerredner Oettinger, der schlichten Sinns aus Filbinger einen Nazigegner machen wollte, für heuchlerisch. Er hat doch nur ganz naiv, und zwar allzu naiv, was zu den schlimmsten Befürchtungen berechtigt, die offizielle Haltung zu Filbinger wiedergegeben. Filbinger mußte ja nicht gehen, weil er der Kriegsgerichtsbarkeit angehört hatte, nicht, weil er verdächtigt war, an Todesurteilen mitgewirkt zu haben, sondern weil er im Hinblick auf seine Rolle in der Nazi-Justiz uneinsichtig war und sich ungeschickt verteidigt hatte. Er war für die CDU zum politischen Risiko geworden.

Ähnliches droht jetzt im Hinblick auf Oettinger; zu einem Rücktritt wird es jedoch nicht kommen, das war mir von Anfang an klar; seine Parteifreunde werden weiter solange an Relativierungen basteln, bis alle die professionellen Moralkontrolleure in der weiten Welt zufriedengestellt sein können. Kann mir eigentlich jemand sagen, weshalb der hausbacken wirkende, aber grundsolide Erwin Teufel, zur Zeit Student und nicht Ehrendoktor, gehen mußte? Ist etwa auch Oettinger eingeholt worden, nämlich von seiner Vergangenheit als Königsmörder? Ich finde den Satz aus der „Süddeutschen Zeitung“ treffend und daher erhellend: „Er (Oettinger) hat halt gezeigt, wes Geistes Kind er ist. Das ist Strafe genug.“

Leitartikel schreibe ich mir am liebsten selbst. Wer hat schon noch Nazi-Geschichte von unten erlebt?

Eintragung vom 10. April 07

Kaum hatte mich Markus verlassen, flossen die Tränen. Nicht der Besuch des Lauffreundes hat mich so mitgenommen, sondern die Allergie, die eine veritable Bindehautentzündung nach sich gezogen hat. Am Samstagvormittag schon bekam ich beim Anstieg zum Parkplatz auf dem Rotenberg nicht genügend Luft. Aus der Laufstrecke am Nachmittag wurde nichts, sie wurde zur Gehstrecke. In der Nacht zum Ostersonntag suchte ich vorsorglich nach der Notarztnummer im Mitteilungsblatt. Wenn jeder Atemzug gegen erheblichen Widerstand geschieht, muß man schon kühlen Kopf bewahren. Nachdem ich das Kopfteil des Lattenrostes auf hohe Schräglage gestellt hatte, schlief ich jedoch wieder ein. Mit Augentropfen, Nasenspray und einem pflanzlichen Bronchialmittel richtete ich mich provisorisch auf die Pollen-Allergie ein.

Dabei war es vom Wetter her ein so schönes Osterfest. Als ich das Osternest auf der Terrasse nicht rechtzeitig aus der Sonne genommen hatte, war der Schokoladenhase deformiert; vielleicht hätte man ihn ja in diesem Zustand zum Weihnachtsmann umformen können.

Nachdem ich in Pschyrembels Klinischem Wörterbuch das Stichwort Bronchialasthma gelesen hatte, beschloß ich, mir am Dienstag einen Arzt-Termin geben zu lassen. Eine Harnweg-Infektion wurde gleich mit diagnostiziert. Der Arzt erzählte mir, er habe in den letzten Tagen ein Dutzend Allergie-Patienten in der Sprechstunde gehabt. Als ob ich mich nicht schon schwer genug mit dem Laufen täte – jetzt wirft mich noch die Allergie zurück. Dennoch, es hat mich am Ostermontag auf die Laufrunde gedrängt; doch zum Traben reichte die Luft nicht. Am Dienstagabend in der Herzsportgruppe mußte ich das Federballspiel abbrechen. Mit Mitteln aus der pharmazeutischen Giftproduktion hat die Therapie begonnen. Alt zu sein wäre ja schön – und ist es ja für viele auch lange Jahre –, wären da nicht die Gebrechen, die sich im Alter einstellen. Mein Nachbar mir gegenüber, den ich vom Arbeitszimmer aus gelegentlich auf dem Balkon sehe, scheint ziemlich gesund geblieben zu sein. Er hat zu Ostern seinen 103. Geburtstag gefeiert, – oder doch wohl mehr die anderen? Auch bei ihm läßt es nach, er schläft immer ein, und so verschläft er sein Leben als über Hundertjähriger.

Beim Gehen auf der Hausstrecke dachte ich an Kurt Vögeli. Er ist tot, hatte mir der Sportkamerad André aus der französischen Schweiz geschrieben. Auf der Internetseite des "Bieler Tagblattes" fand ich sein Porträt, die Schilderung eines etwas schrulligen Naturheilers. Drei Jahre waren wir in Biel zusammen in der M 75 gelaufen; beim letztenmal, im Jahr 2005, reichte ihm die Zeit nicht mehr, er stieg nach 15 Stunden aus. Über dreißigmal hat er am Bieler Hunderter teilgenommen. Kennengelernt haben wir uns nie. Berühmt geworden war seine Mutter, Rosa Vögeli, vielleicht die bekannteste Läuferin der oberen Frauenklassen in Biel. Sie legte die 100 Kilometer in kurzen Intervallen zurück, gehend und trabend. Das wird auch mir, bestenfalls, bevorstehen. Ihr Sohn Kurt Vögeli galt, dem Bieler Tageblatt nach, als Original der Stadt. Er selbst bezeichnete sich als Schamane und Naturheiler. Was daran seriös war – Heilpraktiker? –, kann ich nicht beurteilen. Als ich die "Condition" redigierte, hatte er mir mehrfach geschrieben. Das Laufen als Therapeutikum kam zwar gut weg, aber zum Abdruck eines Leserbriefes von ihm konnte ich mich nicht entschließen. Die Unmenge von rohem Knoblauch, die er verzehrte, konnte ihn nicht davor bewahren, nur die statistisch durchschnittliche Lebenszeit mitteleuropäischer Männer zu erreichen, 79 Jahre. Ob Gurus natürlicher Lebensweise so fixiert darauf sind, weil sie selbst durch Krankheit oder ihre konstitutionellen Anlagen stark gefährdet sind? Die starken Persönlichkeiten, die den Mut haben, ganz sie selbst zu sein, "Originale" eben, sterben sie aus? Gibt es noch einen Walter Stille, der Marathon-Veranstalter mit seinen "Frühstarts" nerven konnte, einen "Tarzan" im Tigerhöschen, eine Eva-Maria Westphal, die wohl erste und damit berühmteste laufende Großmutter? Wird die Laufszene unpersönlicher?

Szenenwechsel: Zeit der Hauptversammlungen. Die Daimler-Benz-Aktionäre, die wider Willen DaimlerChrysler-Aktionäre geworden sind, wollen wieder Daimler- oder Daimler-Benz-Aktionäre sein. Jeder Kleinaktionär, hätte man ihn befragt, hätte vor neun Jahren gesagt: Hände weg vom Weltkonzern! Hände weg von der Fusion mit dem amerikanischen Unternehmen Chrysler! Als ob der Reinfall von BMW mit Rover nicht anschaulich genug gewesen wäre! Und bei VW war jedem, außer dem Spitzenmanagement, klar, daß die Firma mit dem Phaeton, genau wie dieser, abstürzen würde. Es ist, als ob neue Generalmanager darauf aus seien, jeweils ihre Vorgänger zu konterkarieren. Selbst das relativ neue Verwaltungsgebäude der Sternmarke, in Stuttgart-Möhringen, fern der Werkhallen in Stuttgart-Untertürkheim, soll aufgegeben werden. Warum eigentlich wird nicht der Wiedereintritt von Mercedes in die Formel-1-Rennen korrigiert? VW, Siemens – der Übergang von Management und Kriminalität scheint fließend zu werden. Mit jedem Management-Fehler scheinen die Manager-Entlohnungen zu steigen. Wofür eigentlich werden Aufsichtsräte bezahlt? Wieso kann jemand, selbst wenn er ein Genie wäre, Aufsicht führen, wenn er in einem Dutzend Aufsichtsräten sitzt? "Formaldemokratie" lautete in der DDR der Begriff für eine Demokratie, die sich in Formalien erschöpft. Ob der Begriff nicht zu Recht bestand? Was eine "Volksdemokratie" der DDR-Prägung wahrhaftig nicht besser macht.

Eintragung vom 2. April 07

Er gehörte zu dem Typ, bei dem die Spazier-Klugscheißer „Schneller!“ brüllen. Schlaksig, nicht gerade mit bestechendem Laufstil.... Er trug einen Rucksack. So überholte er mich. Mit Rucksack auf unserer Strecke, auf der die weiteste Entfernung zum nächsten Getränkeverkauf oder zur nächsten Autobushaltestelle vielleicht 2 Kilometer beträgt? Mit Sicherheit ein Läufer der Ultralangstrecke, bei dem der Rucksack zum Trainingsprogramm gehörte. Ich mochte ihn nicht fragen; das kommt dann so provozierend heraus, als ob man sich lustig machte, und zu einer langen Erklärung – man möchte es ja bloß fürs Tagebuch wissen, und man sei ja selber einer gewesen, ein Ultraläufer mit Rucksack –, dazu war die Begegnung zu kurz. Er lief so, wie man einen Marathon nicht gewinnt, sehr wohl aber die 100 Kilometer oder mehr durchläuft oder sogar in respektabler Zeit zurücklegt.

Gegen Ende meiner Runde lief vor mir eine junge Frau; sie konnte man wirklich als Joggerin bezeichnen – es war ein Zuckeltrab. Ich zuckelte hinterher, näherte mich ihr, fiel wieder in den Gehschritt, der Abstand wurde ein wenig größer; ich begann wieder zu traben, näherte mich ihr, fiel in den Gehschritt, begann wieder zu traben – halb drehte sie sich um. Was mochte sie denken? Vermutete sie einen alten kindischen Kerl? Ich mochte auch sie nicht ansprechen, sonst hätte ich ihr gesagt, dies sei gegenwärtig leider mein Laufstil, ich wolle sie nicht belästigen. Zum Glück konnte ich dann abbiegen. Mich hat die junge Frau Hoffnung schöpfen lassen: Wenn eine solche Joggerin auf diese Weise einen Halbmarathon zurücklegen würde und man mit ihr trotz Gehpausen fast Schritt halten könnte, ob dann nicht ein Halbmarathon in den Bereich der Möglichkeiten rückte?

Manchmal werde ich unterwegs gegrüßt, selbst dann, wenn ich gehe. Laufschuhe – nicht vom Wühltisch –, Tights, Jacke als dritte Schicht, das sieht schon professionell aus, da kann man sogar gehen. Man wird dennoch als Laufsportler akzeptiert. Als ich gerade ging, überholte mich ein Läufer und munterte mich auf: „Nur weiter!“ So wie man das beim Marathon macht, wenn einer seine Krise hat. Er wußte ja nicht, daß ich zum Intervall-Läufer geworden bin.

Der Zeitung habe ich entnommen, daß Verhandlungen über das Gottlieb-Daimler-Stadion (früher Neckarstadion) im Gange seien. Der VfB möchte, daß die Aschenbahn entfernt wird. Die Stadt hat das Stadion zum Kauf angeboten – 84 Millionen Euro. Dann könnte der VfB damit machen, was er will. Doch soviel Geld hat der Fußball-Verein nicht. Ich finde es reichlich unverschämt, dann mit Wünschen zu kommen und die Leichtathletik hinauszudrängen. Schließlich ist das Stadion für alle Stadionsportarten gebaut und unterhalten worden. Wenn jedoch die Stadt – in einem faulen Kompromiß – nachgäbe, wie würde der Württembergische Leichtathletik-Verband den Teilnehmern des Stuttgarter-Zeitung-Laufes verklickern, daß sie künftig nicht mehr ins Stadion einlaufen dürften?

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