Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintrag vom 30. 12. 02

Je älter wir werden, desto schwerer tun wir uns mit Weihnachtsgeschenken. Wir haben so ziemlich alles, was wir brauchen, und was wir noch haben möchten, können wir uns nicht leisten. Dabei sind wir Läufer noch fein heraus. Andere finden auf dem Gabentisch das Oberhemd, dessen Kragen wahrscheinlich zu eng ist, und die Krawatte, die sie nie tragen werden. Ich finde regelmäßig ein Paar Laufsocken vor. Ich glaube, ich wäre enttäuscht, wenn meine Frau mir keine schenkte. So prosaisch das Geschenk ist, – ich freue mich daran, und anders als eine Krawatte werden sie fleißig getragen. Nichtläufer meinen, ich würde wohl ein Paar Laufschuhe zu Weihnachten bekommen. Doch die kauft man sich tunlichst selbst. Wem ein Paar Socken zu gering erscheinen, – es können ja auch zwei Paar sein. Unser Verschleiß ist ziemlich groß.

Gespräche über das Laufen geben dem Partner Anregungen. Oder Warnungen. Auf diese Weise hat meine Frau erfahren, daß ich keinen Pulsmesser möchte, den sie mir, wie sie später sagte, hatte schenken wollen. Der Heidenheimer Laufpionier Hirrlinger, der den Brenztalmarathon, einen der frühen Marathons in Deutschland, begründet hat, sagte mir einst, ich solle doch bitte jedes Jahr ein Buch schreiben, dann komme er Weihnachten nicht in Verlegenheit mit Geschenken an Läufer. Heute hat man zu solcher Gelegenheit die Auswahl unter mehreren Neuerscheinungen von Laufbüchern.

Den Bezug zum Laufen kann man möglicherweise auch über den Autor oder die Autorin, und gar nicht über das Thema, herstellen.

Eva-Maria von Schablowsky ist durch ihre Bücher aus der Zuschauerperspektive bekannt; in denen sie ihre Beobachtungen, vor allem an ihrem Mann, einem der besten deutschen Altersläufer, humorvoll geschildert hat. Nun hat sie mir ein Buch geschickt, das mit dem Laufen nichts zu tun hat, sondern an Persönlichem einen Generationenvergleich anstellt. Anlaß war die Geburt ihres ersten Enkelkindes. Ein Buch voller Lebensklugheit, das sicher manchen Großeltern Spaß machen wird:
„Die Generationsuhr“.

Laufen kommt freilich auch vor. Zu berichtigen ist allerdings: Carl Diem hat keinen Lauf für Stafetten über die Marathonlänge ins Leben gerufen, sondern den Staffellauf Potsdam – Berlin über 25 km. Er war nicht im Alter von 20 Jahren an der „Gründung von Sporthochschulen“ beteiligt, sondern die Deutsche Hochschule für Leibesübungen ist 1920 gegründet worden. Carl Diems Rolle will ich nicht kleinreden, aber daß jener Staffellauf Potsdam – Berlin der „Laufbewegung, wie die eskalierenden Marathonläufe beweisen, den bis heute wirksamen Impuls gegeben“ habe, halte ich für bei weitem überzogen. Der Staffellauf am 14. Juni 1908 und seine jährlichen Wiederholungen bis 1932 gehören zur wichtigen deutschen Lauftradition; die Impulse für die heutigen Marathonläufe haben andere gegeben, Ernst van Aaken insbesondere, Otto Hosse mit seinen Freunden durch den ersten deutschen Volkslauf und Fred Lebow in New York mit dem ersten City-Marathon.

Auf meiner Portalseite zum Internet gibt es auch einen Hinweis aufs Jahreshoroskop. Astrologie ist zum Gesellschaftsspiel geworden, dem Spiel einer Gesellschaft, die sonst nur noch wenig Orientierung hat. Mal sehen, was die Sterne für mich bereithalten. Ich lese: „2003 wird kein Marathonjahr –“ Mir stockt der Atem. Ach so, es geht weiter: „...in dem Sie sich pausenlos Höchstleistungen abverlangen müssen. Ab Juni schon gar nicht. Denn von da an mahnt eine Saturn-Konjunktion zum Maß- und Haushalten mit körperlichen Kräften. Doch keine Sorge. Ab Ende August trägt ein positiver Einfluß von Mars und Jupiter zum Wohlbefinden bei. Auch wenn Sie zuweilen schwer an den täglichen Pflichten zu tragen haben; es wird dafür gesorgt, daß Spaß und Seelenbalsam nicht zu kurz kommen.“ Hoffentlich kennt der Saturn meine jeweilige Tagesform, und mit dem Haushalten ist sicherlich erst die Zeit nach den Bieler Lauftagen gemeint.

Eintrag vom 19. 12. 02

Um diese Zeit wird Faden geschlagen zu den persönlichen Laufereignissen im Jahr 2003 – wohl nicht nur von mir. Wird ja auch Zeit. Thermen-Marathon am 2. Februar in Bad Füssing bereits gebucht. Wer den Marathon als längere Trainingseinheit betrachtet, für den kann das neue Laufjahr nicht früh genug beginnen. Der Thermen-Marathon kommt da gerade recht. Hier habe ich auch, je nach Straßenverhältnissen, die Reise-Alternative Auto oder Zug. Was mich empfindlich stört, sind die zwei Runden. Früher, als auch östlich von Bad Füssing eine Schlaufe gelaufen wurde, war es ein Lauf, den ich ohne Einschränkung bejaht habe. Jetzt laufe ich halt trotzdem hier. Wenn es außer Apeldoorn eine Alternative gäbe... Ja, den Elbtunnellauf in Hamburg eine Woche zuvor. Doch die Kacheln mit den Fischen an der Tunnelwand kenne ich nun hinlänglich. Und von Stuttgart nach Hamburg zu reisen, um dort unter die Elbe zu gehen? Deshalb also diesmal wieder Bad Füssing. Mich verdrießt schon, daß eine Tendenz zu bestehen scheint, Marathon auf einer Halbmarathonstrecke zu laufen. Regensburg und Mainz sind von vornherein so angelegt worden. Daher für mich abgehakt, einmal genügt, denn einmal bedeutet hier zweimal. Bad Füssing hat vor einigen Jahren auf zwei Runden umgestellt und in diesem Jahr sogar der Schwarzwald-Marathon. Neunmal bin ich ihn gelaufen, in meinem läuferischen Reifungsstadium. Auf zwei Runden muß ich nicht zurückkehren, zumal dann nicht, wenn es Alternativen gibt. Organisatoren, die zwei Runden für den Marathon anbieten, versprechen sich ja etwas davon. Also müssen sie akzeptieren, daß sie Leute wie mich, die eine Rundstrecke bevorzugen, verlieren.

Als Marathonreise vielleicht Rom am 23. März. Schmerzliche Erinnerung – der einzige Marathon, zu dem ich zwar gereist, aber bei dem ich nicht gestartet bin. Ein besonderes Kapitel, tragikomisch. Müßte ich erzählen, erzähle es aber nicht gern.

Zürich am 13. April würde ich machen, doch ich habe wahrscheinlich anderes vor. Traurig bin ich nicht darüber, Zürich hat sich allzu lange Zeit gelassen. Nun sollen sie sehen, daß sie Terrain gewinnen. Der frühere Zürich-Marathon war kein Stadtmarathon. Hamburg? Ich bin sehr gern nach Hamburg gekommen. Von der Publikumskommunikation her ein großartiges Trio: Berlin, Hamburg, Köln. Ich sehe ein, daß man in Hamburg die Starterzahl limitieren muß. Aber einesteils Qualifikation, was ein Verstoß gegen die Idee des Stadtmarathons ist, andernteils 7 Euro Gebühr dafür, daß man an einer Lotterie teilnehmen darf? Abgeguckt in New York. Doch der Vergleich ist zu hoch angesetzt. Wer langsame Läufer nicht mehr mag, dem müssen sich langsame Läufer nicht aufdrängen. 7 Euro, die je nach Nachfrage verloren sind, das muß in der Rentnerklasse nicht sein. Und 40000 Mark für Dieter Baumanns ersten Marathonstart – Experimente sollen künftig andere finanzieren.

Des Kuriosums wegen würde ich schon gern einen Hügellauf auf Helgoland machen. Aber erst müssen Fixpunkte festgelegt werden. Ein solcher ist der Rennsteiglauf am 17. Mai. Den Tunnellauf auf der neuen Autobahn unter dem Rennsteig am 30. März lasse ich mal. Ich muß mit meinen Möglichkeiten – Kriegsvorbereiter sprechen von Befähigungen – haushalten und mag nicht unter Marathonniveau gehen. Der Supermarathon von Eisenach nach Schmiedefeld ist für unsereinen nicht schlecht. Bei den Steigungen gehen so viele im Schritt, da falle ich gar nicht auf. In Schmiedefeld in der Zeit anzukommen, gibt Sicherheit für Biel am 13. Juni. Wenn das kein Fixpunkt im Jahreskalender ist! Ob ich erklären kann, was mich nach Biel zieht? Es wäre Heuchelei, wollte ich nicht zugeben, daß inzwischen auch Rekordstreben eine Rolle spielt, Bieler Hunderter sammeln, Teil eines läuferischen Kontinuums werden. Doch nicht nur. Ein eigenes Thema. Jeder hat sein eigenes Thema.

Ende Juli wieder der Swiss Alpine Marathon, noch reicht es für die Marathonstrecke. Es ist schließlich besser, gleich den Marathon zu buchen, als den Supermarathon bereits in Bergün – läuferischer interruptus – aufgeben zu müssen. Jungfrau-Marathon nicht mehr, ein Startplatz wird frei. Dafür wieder einmal den Médoc-Marathon, wenn alles klappt. Ende September Berlin, es sei denn, ein anderer Termin hält mich ab. Ende Januar werde ich es wissen. Ich hänge da journalistisch von Leuten ab, die keine Ahnung von unserer Materie haben. Nach Möglichkeit der Schwäbische-Alb-Marathon am 17. Oktober. Und für den Rest sieht man weiter.

Frau Dr. med. Tanja Engels schüttelte den Kopf, als ich vor Publikum auf die Frage, wie oft man im Jahr Marathon laufen könne, zur Auskunft gab, alle vier Wochen. Ich hätte es differenzierter darstellen müssen. Doch dann hätte ich auch sagen müssen: Einige laufen jede Woche einen Marathon, manche laufen an einem Wochenende zwei Marathons. Und alles geht gut. Wahrscheinlich wäre ich mit dieser Mitteilung nicht mehr ernst genommen worden. Ein Marathon im Monat, da ist genügend Zeit zur Regeneration und zum Ersatz von Mineralstoffen. Die Glykogenspeicher sind ohnehin nach ein paar Tagen aufgefüllt. Und vor allem hat sich in vier Wochen die Psyche vom Wettkampfstreß erholt.

Naoko Takahashi, die zweimalige Berlin-Siegerin, lief in diesem Jahr sieben Wochen nach Berlin den Marathon in Tokio. Sie wäre aber auch nicht, wie zu lesen war, davor zurückgeschreckt, eine Woche nach Berlin in Chicago zu laufen. Wenn sich eine Weltklasseläuferin das zutraut, besteht kein Zweifel, daß erst recht Läufer der Allerweltsklasse das tun können, sofern sie sich nicht bis zum Anschlag verausgaben. Das Limit setzen allemal die Gelenke. Hätte ich die Frage nach der Marathon-Häufigkeit damit beantwortet: Zweimal im Jahr, sofern Sie sowohl den Paris-Marathon als auch den Berlin-Marathon gewinnen wollen, wären vermutlich alle zufrieden gewesen. Denn offenbar gilt: Was für die Weltklasse richtig ist, muß auch für Volksläufer richtig sein. Die pragmatische Wahrheit der Basis, die ja auch einmal etwas den Hochleistungssportlern voraus haben kann, wollen die Experten nicht hören. Sie wollen von der Klasse lernen, nicht von der Masse. Wiewohl nach Hegel und dem dialektischen Materialismus die Quantität in Qualität umschlägt

Eintrag vom 10. 12. 02

Im Dezember einen Marathon laufen? Vor dem zweiten Advent – alles ist grau gewesen. Zum täglichen Training anderthalb Stunden hinaus, das mag angehen. Aber nun wegfahren? Und kälter sollte es auch noch werden. Doch zum Siebengebirgsmarathon habe ich mich angemeldet, ich wollte ihn doch kennenlernen. Und außerdem liegt der nächste Marathon noch so fern. Da kommt ein Dezember-Termin ganz geschickt. Also, überwinden – das zweite Lichtlein mag erst am Sonntagabend für mich brennen. Start in Aegidienberg. Bisher nicht gewußt, wo das liegt – Stadtteil von Bad Honnef. Vernünftigerweise halten wir uns so lange wie möglich im warmen Bürgerhaus auf. Allein auf dem Weg vom Auto zum Bürgerhaus am Aegidienplatz sind die Finger klamm geworden. Vom Saal zum Start im Reitgelände trotten wir, traben wir. Mich friert, aber mehr darf ich nun wirklich nicht anziehen. Da sehe ich tatsächlich welche mit nackten Knien. Mir wird noch kälter beim Zusehen.

Beim Start sind alle unangenehmen Empfindungen wie weggeblasen, die bedrückend grauen Dezembertage, das Bedürfnis nach Wärme, das In-sich-Verkriechen – wir laufen in einen strahlenden Adventssonntag.  Der Bodenfrost hat den Weg auch dort, wo er unbefestigt ist, hart wie ein  Brett gemacht, jedenfalls bis in die Mittagszeit. Im Grunde ein komfortabler Naturmarathon. Die Wege größtenteils breit, die Steigungen mäßig. Es liegt an mir, daß ich sie nicht mehr hinauftrabe, sondern im Schritt gehe. Nicht umsonst hat man hier sechs Stunden Zeit. Was bleibt an Eindrücken? Ein Spaziergeh-Gebirge, Panorama aus bewaldeten Kuppen, langen Wegschleifen, kaum ein Ort, kaum eine Straße. Und sonst allein mit sich. Läuft man darum einen Marathon? Warum nicht, beim Stadtmarathon laufe ich ja auch nicht gegen die um mich herum. Ein – na ja, doch – strapaziöser Spazierlauf.

Als ich dem Hundesportverein begegne, werde ich doch etwas unsicher. Doch die Hunde, eine gutmütige Rasse, nehmen nicht die mindeste Notiz von mir. Was mich irritiert hat, ist nur ein Hundehalter, der mich nicht bemerkt hat. Menschengruppen sind nicht nur für einen Läufer unberechenbar.

Ein Marathon, der nicht durch diese entsetzlich unaufgeräumten Vorstädte und öden Industriegelände führt. Gleich aus dem Wald in freundliche Straßen und die Ortsmitte. Einlauf im Bürgerhaus, direkt vor der Bühne. Eine schöne Idee. Wer schon durch ist, bekommt die Einlaufenden zu sehen. Wer spät einläuft, hat es nicht mit einem einsamen Zeitmesser zu tun, sondern mit einem zwangsläufig versammelten Publikum. Das steigert die familiäre Atmosphäre. Nachahmenswert. Die Siegerehrung beginnt vom Alter her absteigend. Also werde ich, glücklicherweise nicht ganz als Alleindarsteller, sehr bald nach dem Einlauf auf die Bühne gerufen. Ehe ich mich’s versehe, küßt mich die Bürgermeisterin auf die Wangen, die verschwitzten. Offenbar darf man in dieser Position vor nichts zurückschrecken.

Eintragung vom 6. 12. 02

Ein Saal mit 230 Plätzen bei Reihenbestuhlung – man informiert sich vorher über die Beckentiefe, bevor man ins kalte Wasser springt – und Thema Laufen auf einer Buchausstellung, ohne daß man Dieter Baumann heißt, Eintritt zwar frei, aber ich war dennoch skeptisch. Schwerpunktthema der 52. Stuttgarter Buchwochen, einer der größten Regionalausstellungen von Büchern in Deutschland, war diesmal der Sport. Wer würde kommen? Der Saal war zu zwei Dritteln besetzt. Da war ich überrascht. Offenbar lesen Läufer, und Leser laufen. Vielleicht sollte der Verband der Verlage und Buchhandlungen in Baden-Württemberg so etwas im Auge behalten. Sicher, ohne Routine bin ich nicht, aber unsicher bin ich noch immer. Wer da aufsteht und geht, will er nur die Stadtbahn erreichen oder haben wir ihn gelangweilt? Frau Renner vom Verband war zufrieden. Natürlich haben wir Fehler gemacht. Mein Äh hat mir schon meine Frau vergeblich abzugewöhnen versucht. Reden wir nicht davon. Aber Jutta Baltes haben wir vernachlässigt. Dabei war es mein Vorschlag, daß meine Mitkolumnistin von „Runner’s World“ an dieser Forumsdiskussion „Laufen – Wahn oder Wonne?“ teilnehmen sollte, eine Läuferin auf Normalniveau, Mutter, ohne Marathon-Ambition. Aber dann haben mich die Fakten überwältigt. Rainer Wochele mußte mich am Ärmel zupfen, der ist wahrscheinlich schon ganz ausgefranst. Es ist halt so: Wenn man alt ist, hat man eine Menge gelesen. Eine Frage? Man hat sie sich selber gestellt. Und man macht den Fehler, sein Wissen unbedingt weitergeben zu wollen. Darf ja doch nicht alles verloren sein. Hingegen, wie stellt sich eine Mutter dar, die läuft, weil es ihr gut tut? Niemand hat sie gefragt, wie sie es zuwege bringt, Kinder zu versorgen, als freie Journalistin zu arbeiten und zu laufen.

Wieder www.transeuropalauf.de angeklickt, die Seite über das gewaltige Unternehmen im nächsten Jahr, das auf unserer Veranstaltung in Stuttgart völlig zu kurz kam. Die laufhistorische Darstellung dieser Website finde ich allerdings oberflächlich. Und so etwas ärgert mich: Ende der achtziger Jahre habe der erste 24-Stunden-Lauf in Mörlenbach stattgefunden. Nein, so geht das nicht. Es war ein Staffellauf, der bereits 1969 entstand. Zehn Jahre später war unter den Mannschaften eine Mannschaft, die aus einem Mann bestand, Friedrich Marquardt. Er war der erste 24-Stunden-Läufer. 24-Stunden-Läufe für Einzelläufer gibt es also seit 1979. Mein früherer Chef, Professor Josef Eberle aus Rottenburg am Neckar – nicht gar so weit weg von Ingo Schulzes Horb –, pflegte uns Redakteuren, wenn wir aus dem Gedächtnis und dann falsch zitierten, in der Redaktionskonferenz zu sagen: „Herrgott Sack, schloaget doch nach!

Eintrag vom 27. 11. 02

Ingo Schulzes Reisebericht über seinen Aufenthalt in Lissabon gelesen. Er hat dort mehrere Tage über den Start des Transeuropalaufs verhandelt. Protokolle sind gewöhnlich langweilig. Aber dieser Bericht – ein Reisebericht ist er nun wahrhaftig nicht in touristischem Sinne – hat mir deutlich gemacht, welche Arbeit in dieses Unternehmen, den Lauf von Lissabon nach Moskau, investiert werden muß. Manfred Leismann ist der Visionär, er will den Transamerikalauf, an dem er teilgenommen hat, auf Europa übertragen. Er ist nicht nur Visionär, er hat auch die Strecke vermessen. Ganz festlegen kann man sich wohl noch nicht. Denn die Verlegung des ursprünglich geplanten Starts vom Vasco da Gama zum Torre de Belém wird wohl knapp 20 km mehr ausmachen. Ingo Schulze ist der Realisator. Sicherlich wird er beschimpft werden. Das weiß er schon jetzt, das weiß jeder, der ein solches Unternehmen plant. Ich habe großen Respekt vor einem Organisator wie ihm. Ich freue mich, daß wir uns am 2. Dezember  bei der Forumsdiskussion der Stuttgarter Buchwochen begegnen. Das letztemal war’s nach dem Spartathlon.

Ich werde nun immer  wieder einmal www.transeuropalauf.de aufrufen. Eine traurige Nachricht jedoch: Guus Smit, ein Niederländer, der mit der Startnummer 28 an dem Lauf von Portugal nach Rußland teilnehmen wollte, ist am 23. Oktober bei der 10. Austragung des  extremen Berglaufs „Le Grand Raid de la Réunion“, 125 km mit 8000 Höhenmetern, tödlich verunglückt; er stürzte 50 Meter tief ab. Ein anderer Teilnehmer, der Franzose Gérard Bordage, erlitt einen tödlichen Herzinfarkt. Ein Schock für die Veranstalter. Fürs nächste Jahr sollen Konsequenzen gezogen werden. Immer erst hinterher. Vor Jahren schon habe ich gerügt, daß beim Spartathlon der Lauf durch das Verkehrsgewühl von Athen auf nicht gesperrtem Kurs zu gefährlich sei. Bisher sind die Veranstalter mit einem blauen Auge davongekommen. Edgar Pattermann ist seinerzeit beim Spartathlon zwar angefahren worden, aber mit Verletzungen davongekommen. 

Die passende Nachrichtenlage zum Totensonntag... Auf dem Umweg über die Ultra-Website www.ultraned.org erfahre ich, daß der Marathonsieger von 1936, Kee Chung Son, am 15. November im Alter von 90 Jahren in Seoul  gestorben ist. Er war Koreaner, mußte jedoch, weil Korea von 1910 bis zum Kriegsende 1945 von Japan annektiert war, für Japan starten. So steht’s auch in meinem Reemtsma-Zigaretten-Album von 1936, wo er auf einem der Sammelbilder zu sehen ist. In den offiziellen Darstellungen jener Zeit hieß er Kitei Son. Auch heute noch wird er in offiziellen Annalen als Japaner geführt. Seine Marathonzeit betrug 2:29:19,2.  In Korea ist Kee Chung Son als erster koreanischer Gewinner einer Goldmedaille geehrt worden. 1988 entzündete er in Seoul das olympische Feuer. Auch im Alter von 76 Jahren war er noch  beim Lauftraining zu sehen. Kee Chung Son war wegen chronischer Nierenbeschwerden ins Krankenhaus gebracht worden. An den Folgen einer Lungenentzündung ist er gestorben. Der IOC-Präsident, Jacques Rogge, und sein Vorgänger, Samaranch, drückten im Namen der olympischen Familie ihre Trauer aus. In meiner Lokalzeitung habe ich kein Wort darüber gelesen.  Korea ist weit weg, die Olympischen Spiele 1936 noch weiter.

Eintrag vom 19.11.02

Ich bin einem Skandal auf die Spur gekommen. In einem Buch, erschienen bei Krug & Schadenberg, habe ich gelesen: Beim 27. Berlin-Marathon ist die Läuferin Elena, Sportdozentin an der Humboldt-Universität, auf den letzten Kilometern von einem Hasen ins Ziel gezogen worden. Dabei handelte es sich um Joy, die bei km 37 eingestiegen war. Beide Frauen, die eine ohne Startnummer, überquerten die Matten am Ziel bei einer Bruttozeit von 3:29. Was sagt eigentlich Horst Milde dazu? Den 27. Berlin-Marathon im Jahr 2000 gewannen Kazumi Matsuo und Simon Biwott, der nur als Hase laufen sollte. Allein diese letzte Information stimmt. Bei Elena und Joy dagegen handelt es sich um Romanfiguren.

Der Roman trägt den Titel „Die Boxerin“. Das Substantiv allein wird offenbar als ausreichend genug betrachtet, ein Reizwort zu sein. Ich denke, in den zwanziger Jahren wäre der Titel „Die Läuferin“ ein solches Reizwort gewesen. Ein Roman mit demselben Titel „Die Boxerin“ ist übrigens schon 1995 in einem Schweizer Verlag erschienen. Bei der „Boxerin“ des Jahres 2002 handelt es sich um zwei Frauen, die einander lieben. Die eine läuft Marathon, die andere boxt. Offenbar sind der Autorin diese beiden Sportarten als charakteristisch für selbstbewußte, unabhängige Frauen erschienen. Recht hat sie, auch wenn ich Boxen nicht mag (auch Männerboxen nicht, aber es gehört sich, dass Frauen – im Gegensatz zu der Ansicht des Erfinders der olympischen Idee, de Coubertin – das Recht zugestanden wird, selbst darüber zu entscheiden, welchen Sport sie treiben). In die Materie beider Sportarten hat sich die Autorin offenbar eingelesen. Doch die Geschichte mit dem Hasen, der es nur auf den letzten 5 Kilometern ist, – da hätte ihr jemand sagen müssen, dass das nicht geht. Und eine Differenz von nur 3 Minuten zwischen Brutto- und Netto-Laufzeit ist bei einer Laufzeit von 3:30 in Berlin nicht möglich, es sei denn, die Dame habe sich in den falschen Startblock gemogelt.

Einesteils freut es mich, daß Marathon in einem Roman als Hintergrund oder sogar als Handlungselement vorkommt, andererseits wurmt mich ein solcher handwerklicher Fehler und auch, dass hier nicht gegengelesen wurde. Verlagslektoren entscheiden, ob das Werk eines Autors das Licht der Welt erblickt. Und dann lassen sie, wenn sie den Daumen nach oben gestreckt haben, so etwas durchgehen. Das spricht nicht für die Kompetenz, die sie sich anmaßen. Dies mag abgelehnte Autoren, von denen es in der Laufszene genügend gibt, trösten. Ein Dr. Strunz ist nahezu eine verlegerische Kunstfigur. Ein Roman nimmt zwar in Anspruch, dass die Handlung erfunden ist, aber der Fakten-Hintergrund muß stimmen. Ich würde es dem Verfasser eines Goethe-Romans auch übelnehmen, wenn er Goethe (frei nach Prof. Fritz Raddatz) mit der Eisenbahn in seine Vaterstadt reisen ließe. Vielleicht spricht die Autorin der „Boxerin“ ihr weibliches Lesepublikum an. Ich selbst bin, obwohl ich keinerlei Vorbehalte gegen unbürgerliche Sexualität habe, sofern sie andere nicht schädigt, versucht, den Roman von Manuela Kuck literarisch als von Kuck’s-Mahler einzuordnen. Immerhin interessant, wie Hedwig Courths-Mahler, die ich übrigens in der Jugend statt Karl May verschlungen habe, heute schreiben müßte. Marathon müßte vorkommen.

Ich weiß, wen interessiert das. Es genügt, daß es mich interessiert. Es ist mein Tagebuch. Tagebücher brauchen Jahrzehnte, bis sie interessant sind.

Heute hat mich ein Läufer angesprochen, was ich von den Schuhen der Marke Soundso halte (wenn die mich ausrüsten würden, hätte ich auch den Namen geschrieben, doch die Bestechlichkeit prominenter Läufer habe ich nicht erreicht). Am liebsten würde ich das Design meiner Laufschuhe abdecken. Wie kommen wir dazu, für Firmen, die Schuhe in ausgebeuteten Ländern produzieren, Reklame zu laufen? Doch markenlose Schuhe vom Wühltisch sind keine Alternative. Also habe ich geantwortet: Es komme nicht auf die Marke an, sondern darauf, daß der Schuh passe und nach dem Stand der Technik keine Schäden hinterlasse.  Bei den bekannten Markenschuhen könne man von einem einigermaßen, jedoch nicht immer gesicherten orthopädischen Konzept ausgehen. Also, Schuhe einer renommierten Marke, aber welche, das müsse man individuell ausprobieren. Am besten auf der Straße und dann ganz, ganz schnell weglaufen. Sofern man die Straßenschuhe im Laufshop zurücklassen möchte.

Eintrag vom 11. 11. 2002

Magazine lese ich, wie so viele, beim Friseur, neulich auch im Krankenhaus, als ich wegen meiner Frau in der chirurgischen Ambulanz warten mußte. Da entdeckte ich auf der Titelseite des „Stern“ von Ende Oktober – denn selbstverständlich sind die Hefte in Wartezimmern immer veraltet – einen Hinweis auf das Thema Marathon. Präziser kann ich’s nicht beschreiben, denn genau diese Seiten waren herausgerissen. Ein Chirurgie- oder Orthopädie-Patient also hat sich für den Marathonlauf interessiert. Ein Kuriosum. Vielleicht war’s auch ein Läufer, der wegen eines orthopädischen Problems das Krankenhaus aufsuchen mußte. Festzuhalten bleibt: Marathon ist ein positiv besetztes Thema, nicht mehr zu gering für den „Stern“, der im Internet sogar Laufanleitung gibt. Vor  20 Jahren noch waren wir publizistisch verhöhnt worden, von Redaktionen mit der langen Leitung, wie im AOK-Blatt „Bleib gesund“,  noch  vor zehn Jahren („Möchtegern-Helden“). Mit dem Thema Laufen wird heute auf dem Büchermarkt Auflage gemacht, kommt halt darauf an, wie der Autor vom Verlagsmarketing aufgebaut wird. Als Manfred Steffny und ich vor 25 Jahren die beiden ersten Laufanleitungen der modernen Volkslaufbewegung in Deutschland schrieben, dazu Kolja Kater mit der Übertragung des amerikanischen Jogging-Phänomens auf deutsche Verhältnisse,  bedienten wir einige wenige Zehntausend, die sich fürs Laufen ernsthaft zu interessieren begannen. Was vordem vorlag, war für Leichtathleten mit dem Schwerpunkt Laufen bestimmt, nicht für Volksläufer. Heute schöpfen andere den Rahm ab. Nicht wer zu spät, sondern wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Doch die innere Befriedigung, recht gehabt zu haben, ist größer.

Die herausgerissenen Seiten des „Stern“ erinnern mich an einen Hereinfall bei einem  Sportantiquar, denn ich suche immer etwas. Ich war gerade auf der Suche nach „Runners & Walkers“, einer Chronik des Laufsports im 19. Jahrhundert. Das Buch von John Cumming, Chicago 1981, war längst vergriffen. In Paris entdeckte ich es in einem Sportantiquariat, kurz vor der Heimfahrt vom Paris-Marathon. Glückstrahlend zog ich es aus dem Regal und kaufte es für umgerechnet 140 Mark. Zu Hause, als ich zu lesen begann, stieß ich darauf, daß ein ganzes Kapitel über einen indianischen Läufer herausgerissen war. Nur ein Barbar kann so etwas tun. Als ob er die Seiten nicht hätte kopieren können! Später habe ich den Titel über das Internet ausfindig machen können und ein sogar noch eingeschweißtes Exemplar aus den USA für weit weniger Geld bekommen. Nun habe ich zwei „Runners & Walkers“. Wer das beschädigte Exemplar haben will, dem kann ich  wenigstens das herausgerissene Kapitel als Kopie aus dem frischen Exemplar beifügen. 

Ein Gedicht geschrieben, in freiem Rhythmus, natürlich. Das  habe ich schon 1947 getan, möglicherweise aus Unvermögen, Reimworte zu finden, die nicht an Friederike Kemptner erinnern (Kennt sie jemand? Eine rührende Quelle der Komik, jedoch – ich wage es zu sagen – für sogenannte Lauflyrik aktuell). Damals Einfluß von Brecht. „Die Reime sind zerbrochen“, schrieb ich, „und du, du liebst den Schmuck. So gehst du denn.“ Herrlich nachpubertär. Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, offen für alles, nur nicht mehr für die  Gewalt des Tötens. Das hat sich geändert. Jahrzehntelang kein Gedicht geschrieben, plattgemacht vom Journalismus, der großen Korruption für Schreiber. Erst nach Lauf-Erfahrungen wieder das Bedürfnis, Empfindungen gefesselt durch das Wort umzusetzen. Auch anderen geht es so. Literatur-Marathon in Berlin, Literatur-Wettbewerb am Edersee. Das neue Gedicht ist gespeichert, ich will noch daran feilen. Je kürzer ein Text, desto mehr Nacharbeit.  Desto größer das Mißtrauen gegen das Wort. 

Eintrag vom 4. 11.02

Am Sonntag zweieinhalb Stunden in Eurosport den New York Marathon gesehen. Schade um die Zeit. Die Ergebnisse – Rodgers Rop in 2:08:07 und Joyce Chepchumba in 2:25:56 Stunden – und ein paar Informationen hätte ich Tags drauf in Minutenschnelle den Printmedien entnehmen können. Stattdessen endloses Geschwafel zu stereotypen Bildern. Den Ton durfte ich deshalb nicht abstellen, weil ich, wenn ich das Wohnzimmer wegen der Werbeeinblendungen verließ, mitkriegen mußte, wann der Sender wieder auf Sendung war. Sicher, keinem von uns fallen zweieinhalb Stunden lang Pulitzerpreis verdächtige Formulierungen ein, aber muß man denn, nur weil ein Mikrophon da ist, unaufhörlich etwas absondern? Dann lieber Schweigen. Zuschauer sollten lernen zuzuschauen und sich ihre Eindrücke nicht vorkauen lassen. Der New York Marathon sei „eine der schwierigsten Strecken, die es gibt“. Gewiß, es gibt schnellere Kurse, aber die Brückenrampen und die First Avenue sind nun mal kein Mittelgebirge. Ist Stephane Franke, der wenigstens fachkundige Co-Moderator, mal den Monschau-Marathon gelaufen? Von Jungfrau- und Zermatt-Marathon gar nicht zu reden. Ich halte das Kleinklima von New York für das Tückischste. Aber das kam bei den Moderatoren nicht vor, und ich bin den New York City-Marathon ja auch erst dreimal gelaufen.

Von dem sonstigen Bla-bla ist mir in Erinnerung geblieben: Der Moderator wußte, weshalb man vor dem Start aufs Klo gehen muß: Die viele Pasta muß irgendwie raus. Erstens essen wir, wenn überhaupt, nicht so viele Nudeln bei der Pasta-Party, die nicht den mindesten ernährungsphysiologischen Sinn macht (den haben nur die Amerikaner hineingelegt), und zweitens war das ungefähr 15 Stunden vor dem Start. Solange bleiben nicht mal Pilze im Körper. Der Vorjahressieger, der Äthiopier Jifar, hatte Probleme. Dehydriert oder kollabiert? fragte sich einer der beiden Sprecher. Also, das ist ja nun wirklich ein Unterschied. Wenn einer kollabiert, dann schrillen sämtliche Sirenen, und in Berlin ist Dr. Heepe oder eine oder einer seiner radfahrenden Kolleginnen oder Kollegen zur Stelle. Der Marathon wurde wieder einmal als heroisches Stück aufgebaut. Nur ganze Kerle oder entsprechende Frauen... Wie beurteilen die Herren im Studio eigentlich den 100-km-Lauf? Ach so, der kommt ja bei ihnen nicht vor.

Dagegen wurde „Herr Wagner“ bemüht, der afrikanische Läufer managt. Genau darüber, wie so ein Sportmanagement abläuft, hätte ich gern etwas erfahren. Nicht was die afrikanischen Spitzenläufer, sondern was Sportmanager verdienen, hätte mich interessiert.

Eurosport war bei den Filmaufnahmen offenbar auf den amerikanischen Lieferanten angewiesen. Der hatte – ach so, ist ja Antiamerikanismus, pfui Teufel – den lokalen Tunnelblick: Die Frauen- und die Männerspitzengruppe wurden präzise verfolgt, buchstäblich bis zum Kotzen (Jifar), aber da sollen noch ein paar mehr mitgelaufen sein. Ungefähr 30000. Der New York Marathon soll ja etwas Besonderes bleiben, meinte einer der Kommentatoren, als von der Kontingentierung die Rede war. Als ob deswegen die Teilnehmerzahl begrenzt würde! Das OK versucht die Teilnehmerzahl eher herunterzuspielen, weil die Statik der Verrazano-Narrows-Bridge dem hier noch geschlossenen Teilnehmerfeld Grenzen setzt. Jedenfalls, die 30000 kamen nur ganz am Rande vor. Die New Yorker kamen auch nur am Rande vor. Die beiden Spitzengruppen liefen durch eine Stadt, aber nicht durch deren Bevölkerung. 2,5 Millionen am Straßenrand? Nicht nur in New York wird übertrieben. Auch wenn’s weniger gewesen wären, wo blieben die chassidischen Juden, die dicken Mammies aus Haarlem, wo blieben die Bürgerkriegsrudimente der Bronx? Der New York-Marathon am 3. November 2002 wurde nach Eurosport unter zwei Dutzend irgendwie mal bekanntgewordenen Läuferinnen und Läufer ausgetragen.

Vielleicht gönne ich mir zum nächsten runden Geburtstag doch noch einmal den New York Marathon, um ihn neu zu entdecken – ganz hinten, aber die Position des Letzten werde ich in New York ohnehin nicht schaffen. Bis dahin werde ich hoffentlich diese TV-Reportage vergessen haben.

Die Massenbewegung Laufen hat wohl nicht genügt, erst die Olympiabewerbung Stuttgarts und seiner Region hat den Verband der Verlage und Buchhandlungen in Baden-Württemberg veranlaßt, während der 52. Stuttgarter Buchwochen eine Podiumsdiskussion zum Thema Laufen zu veranstalten. Sie findet am Montag, 2. Dezember, um 20 Uhr im Bertha-Benz-Saal im Haus der Wirtschaft, Willi-Bleicher-Str. 19, statt. Moderiert wird die Diskussion von dem Stuttgarter Schriftsteller Rainer Wochele, der den Sport in seiner Arbeit vielfältig thematisiert. Auf dem Podium sitzen weiterhin: Ingo Schulze, der im nächsten Jahr den Trans-Europa-Lauf organisiert, Dr. Tanja Engels, Leistungssportlerin und Sportärztin, meine „Runner’s World“-Kollegin Jutta Baltes und ich. „Laufen – Wahn oder Wonne?“ lautet das Thema. Über die nicht von uns stammende Ankündigung „Was tun wir unserem Körper damit an?“ sind wir nicht sehr glücklich. Wochele artikuliert es so: Eine Podiumsdiskussion über Faszination und Fanatismus, Glücksgefühle und Gesundheitsgefahren, persönliche Motive und gesellschaftliche Hintergründe im Bereich des sportlichen Massenphänomens Langstreckenlaufen. Hoffentlich müssen wir nicht ein paar Buchhändlern die Frage beantworten, wie lang die Marathonstrecke sei, hoffentlich kommen auch ein paar Läufer (die es übrigens auch unter Buchhändlern gibt).

Eintrag vom 28.10.02

Am 24. Oktober an der Trauerfeier für Friedemann Haule teilgenommen. Sie fand auf dem Waldfriedhof in Leinfelden statt, dem Ort, an dem er den Schönbuch-Marathon mitbegründet hat. In der Todesanzeige stand „Das Laufen war sein Leben“ (frei nach dem Buchtitel eines der ersten weiblichen Flugkapitäne, Hanna Reitsch). In dieser Ausschließlichkeit stimmt das Wort hoffentlich für keinen von uns, aber der Sinn ist klar: Seine Aktivitäten kreisten um das Laufen. 1967 hatte er mich angesprochen, wir wohnten in derselben Straße, und er hatte mich trainieren sehen. Friedemann Haule förderte den Zweiten Weg zum Sport, den der Deutsche Sport-Bund damals propagiert hatte. Er sammelte an unserem Wohnort Nellingen, heute einem Ortsteil von Ostfildern bei Stuttgart, Menschen um sich, die das Deutsche Sportabzeichen ablegen wollten. Zusammen mit einem ehemaligen Turner, Tobias Ronnefeldt, der ebenfalls in unserer Straße wohnte, bildeten wir die erste informelle Laufgruppe an unserem Wohnort. Später initiierte Friedemann Haule erfolgreich ein gemeinsames, jedem zugängliches Training im Sauhag, einem Waldgebiet der östlichen Filder.  Eine Anzahl von uns nahm gemeinsam an Marathonläufen teil, insbesondere dem Schwarzwald-Marathon. Diese Gruppe bildete dann einen der frühen Lauftreffs des DSB. Der traditionsreiche Nellinger Lauftreff existiert noch heute. Friedemann Haule rief  in der Region eine ganze Anzahl von Lauftreffs ins Leben. Ende der siebziger Jahre trennten sich unsere Wege. Mir mißfiel, daß die Laufbewegung – man konnte wahrhaftig schon damals von einer Bewegung sprechen – sowohl auf lokaler Ebene, in den Vereinen, als auch auf Bundesebene als ein Anhängsel der Leichtathletik  angesehen wurde. Ich neigte zu einem eigenen Laufverband und glaubte, daß der nach dem Zerfall der DDR dort gegründete Läuferbund die Keimzelle eines gesamtdeutschen Laufverbandes werden könne. Friedemann Haule hing hingegen in absoluter Loyalität dem DLV und seinen Strukturen an. Für ihn gehörten die Läufer zur Abteilung Leichtathletik. Nach Funktionen auf örtlicher und regionaler Ebene war Haule nach Carl-Jürgen Diem Bundeslauftreffwart des DLV, der ihn mit dem Carl-Diem-Schild ehrte. Tragisch ist, daß er selbst das Laufen aufgeben mußte. Aus eigener Erfahrung erkannte er schon früh, daß das von den Amerikanern übernommene Walking das sportliche Gehen in Deutschland wieder populär machen könne.  Vor sechs Jahren mußte er sich einer schweren Herzoperation unterziehen. Im 77. Lebensjahr ist er gestorben.

Das für einen Läufer vergleichsweise frühe Todesjahr sollte uns vor dem Irrglauben bewahren, Laufen sei ein Allheilmittel.  

Ein anderer verdienter Pionier ist von uns gegangen, Hans Jürgensohn. Er hat 1981 den ersten deutschen City-Marathon, den Hoechst-Marathon in Frankfurt am Main, ins Leben gerufen. Thomas Steffens hat Jürgensohn im Oktober-Heft von „Runner’s World“ sein Editorial gewidmet. Was nicht erwähnt ist: Jürgensohn, ein Werbefachmann, hat aus den Rundbriefen der Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer, die Ernst van Aaken gegründet hat, eine Fachzeitschrift gemacht, die „Condition“ (auch der Titel ist von ihm). „Condition“ ist auf diese Weise die älteste Laufzeitschrift der Welt. Schade, daß sie, obwohl noch existent, so gänzlich aus dem Blickfeld verschwunden ist. 

Der Orkan am Wochenende sollte uns mit seinen Folgen daran erinnern, daß es gefährlich sein kann, bei Sturm im Wald zu laufen. Klingt ziemlich altväterisch so eine Mahnung. Nennen wir sie daher mal zeitgenössisch einen heißen Tip, er kann lebensrettend sein. Ödön von Horvath, einer der bedeutendsten zeitkritischen und noch heute gern gespielten Dramatiker,  ist 1938 in Paris, seinem Exil, auf den Champs Elysees von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden.

Eintrag vom 20.10.02

Vor dem Start zum 12. Schwäbische-Alb-Marathon Regen. Der Tag scheint verloren, ein Lauf gegen die Widrigkeit des Regens. Doch rechtzeitig hört es auf. Wer hätte gedacht, daß wir heute noch von den Dreikaiserbergen einen klaren Blick auf sonnenbeglänzte Hänge und Ortschaften haben würden! Die Einsicht: Selten ist das Wetter so schlecht, daß es uns den Lauf völlig verdirbt. Obwohl es das gibt – bei einem 24-Stunden-Lauf in Mörlenbach Niederschläge über 23 Stunden lang. Selten hält eine Situation, die wir als glücklich empfinden, einen ganzen Tag lang an. Aber selten bleibt eine Situation so schlecht, als die wir sie empfunden haben. Gedanke beim Aufstieg auf den Hohenstaufen. Petrarca (1304 - 1374) ist wahrscheinlich der erste gewesen, von dem wir wissen, daß er bei der Bergbesteigung philosophierte und einen solchen Aufstieg, hier beim Mont Ventoux, mit Lebenssituationen verglich. „Was du heute so oft bei Besteigung dieses Berges hast erfahren müssen, wisse, genau das tritt an dich und an viele heran.“

Ich habe keinen Anlaß mehr zu philosophieren. Bei km 12 hat sich etwas bemerkbar gemacht, eine kleine vordem unbemerkte Zerrung wahrscheinlich, das wird sich geben. Es gibt sich nicht. Die Zerrung ist Ischias. Jeder Schritt ist schmerzvoll. Beim Gehen ist der Schmerz nicht so stark. Wie gut, daß ich immer schon die Dreikaiserberge größtenteils gehend bewältigen mußte. Die Besen-Bikerin fragt mich, den Letzten, „Wäre das schlimm, bei km 25 aufzuhören?“ Meine klare Antwort: „Ja.“

Ich quäle mich vom Hohenrechberg, wo sie das 25-km-Ziel abbauen, weiter, trabe tapfer an den Autobussen „Sonderfahrt“, die mich nach Schwäbisch Gmünd bringen würden, vorbei. Wer hat denn den Quatsch mit den Endorphinen verbreitet, die angeblich den Schmerz betäuben, so daß wir dadurch in Gefahr geraten!?

Am Stuifen, dem letzten und bei Regen schwierigsten der Dreikaiserberge, Aufstiegsgeschwindigkeit etwa 2 km/h. Ich werde den Anschluß an die beiden Vorletzten nie mehr erreichen. Ich würde den Betrieb um eine noch nicht abzuschätzende Zeit aufhalten. Auf den Gipfel noch und dann aufhören. Eine rationale Entscheidung. Es tut nicht weh. Außer weiterhin am Hintern. Dennoch, ich weiß: Es ist eine Zäsur. Der erste Marathon, hier mit etwas drüber, bei dem ich aufgebe. Irgendwann ist immer das erste und das letzte Mal.

Ischias läßt sich doch betäuben, wenn auch nicht durch Laufen. Die angebrochene Packung mit dem Acetylsalicylsäure-Präparat ist ziemlich alt, meine Frau beäugt sie mißtrauisch. Aber da ist doch schon die neue Postleitzahl des Herstellers (das war 1992) angegeben, meine ich.  Ischiassyndrom laut Pschyrembels Klinischem Wörterbuch: Reizung bzw. Kompression des Nerven oder seiner Wurzel. Therapie unter anderem Wärme. Wir hatten heute morgen 3 Grad.

Erzwungene Laufpause. Mehr über Laufen lesen. Das Buch heißt „Laufen“. Dies ist das dritte Buch mit diesem Titel. Buchhändler müßte es verwirren, gäbe es nicht die ISBN, die internationale Buchhandelsnummer. Hier handelt es sich um einen Band der Quellendokumentation zur  Gymnastik und Agonistik im Altertum, herausgegeben von Ingomar Weiler, einem Professor, dessen Buch „Sport im Altertum“ ich schätze. Die Fleißarbeit seiner drei Autoren ist bemerkenswert. Erstaunlich, wie aktuell manche antiken Schriftsteller noch sind. Es ist kein Buch, das man einfach so von Anfang bis zu Ende liest. Man schlägt nach, liest sich fest. Laufenden Altphilologen muß das Herz höher schlagen. Alle Zitate auch im griechischen oder lateinischen Original. Schade, daß der Band so teuer ist, 85 Euro. Doch man wird ihn später in der Bibliothek bekommen. Es wäre nicht schlecht, wenn er nicht nur in wissenschaftliche Bibliotheken eingestellt würde, er wäre auch für die Benützer von Stadtbibliotheken interessant.  Vielleicht könnten Schüler dadurch einen besseren Zugang zur Antike erhalten.

Eintrag vom 13.10.2002

Am 13. Oktober Münchner Medien-Marathon gelaufen. München besteht aus dem Olympiapark, dem Marienplatz, dem Ostbahnhof, dem Englischen Garten, Großbürgerhäusern Schwabings sowie unzähligen Villen und der HypoVereinsbank. Diesen Eindruck hat mir die Strecke vermittelt. Sie mag zwar 42,195 Kilometer lang sein, aber der Rundkurs macht höchstens 35 Kilometer, das andere läuft man doppelt. Ein City-Marathon ist es nicht, aber das ist auch Paris nicht. Und der Münchner Kurs läßt sich gut laufen. Veranstaltung professionell organisiert, besser als die Vorgänger. Offenbar ist es tatsächlich gelungen, Medien in den Medien-Marathon einzubinden. Die jetzt im Boot befindliche „Süddeutsche Zeitung“ war einmal so arrogant, den Marathon an ihrem Verlagssitz mit einem Bild und einer nicht sehr reichlichen Bildunterschrift abzuhandeln.

Es ist nun sogar gelungen, einige tausend Münchner auf die Straße zu locken. Noch immer kein Vergleich mit anderen Städten, aber so geht’s schon. Als wir durch die Elisabethstraße (zweimal) liefen, hat da vielleicht auch Günter Herburger aus dem Fenster geschaut? Ach nein, konnte er nicht, da hat er ja nicht mehr seine Dichterwerkstatt, für Dichter  zu teuer. Einlauf im Olympiastadion, Behnischs Anlage von 1972 noch immer beeindruckend und Maßstäbe setzend; woanders reißen sie dreißig Jahre alte Bauten wegen Nichtgenügens schon wieder ab. Mein Einlauf im Stadion, nach dem Disco-Gag im Tunnel mit grellem Licht und Gasschwaden, hat in mir keine Schauer erregt, eher ein Gefühl wie im Colosseum: Wo sind die Löwen? Außerdem muß man aus der Riesenschüssel bergauf zur Kleiderabgabe klimmen. Am Auto – 3 Euro Parkgebühr zum Abholen der Startnummer, 3 Euro zum Marathon – klebt ein Zettel: Möchten Sie für immer jugendlich bleiben? Aber ja doch. Die Telefonnummer fürs Anti-Aging-Programm steht dabei.  

In einem Porträt in „Ultramarathon“ habe ich gelesen: „’Heute’, so sagt sie (die interviewte Sportfreundin), ,ist das mit den 100-Kilometer-Läufen gar nicht mehr so einfach, da muß man ja ins Ausland gehen, weil es die guten alten Läufe von früher (Unna, Hamm) einfach nicht mehr gibt.’“ Was ist mit Marburg? Wollten nur ungefähr 100 Leute haben. Was war mit Kusel, Quickborn, Pfalzgrafenweiler, Neuwittenbek? Und wer die zehn Runden von Hamm vermißt, kann vielleicht mit Endingen oder Rodenbach vorliebnehmen. Da windet’s nicht einmal so wie in Hamm.

„Ihren letzten Hunderter ist sie in Biel 1980 gelaufen. Da gab es Verpflegungsstände, bei denen mußte man für ein Glas Wasser bezahlen!’ entrüstet sie sich heute noch. ;Ich habe nie wieder Schweizer Boden betreten!’“ Diese Äußerung wiederum entrüstet mich.  Meine Entgegnung an „Ultramarathon“ war fällig: „Zu keiner Zeit ist in Biel für die Verpflegung der Läufer Geld verlangt worden... Ich erkläre mir die ärgerliche Behauptung damit, daß sie (die Läuferin) eines der Restaurants angesteuert hat, die in der Bieler Nacht geöffnet und Tische und Stühle im Freien stehen haben. Einen persönlichen Irrtum kann man wahrhaftig nicht dem Veranstalter oder der ganzen Schweiz anlasten.“

Mein Laufmentor, Dr. med. Dieter Maisch, in Kirchheim unter der Teck, ist  85 Jahre alt geworden. Und läuft noch immer. Mögen wir Älteren auch lästig sein, wenn wir bei Veranstaltungen den Zielschluß sprengen; eine Funktion haben wir: anderen Orientierung zu bieten. Unser Anti-Aging-Programm: Laufen.

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