Laufen, Schauen, Denken Sonntags Tagebuch |
Wenn sich mir bei einem Marathon Hände entgegenrecken, um mir einen Becher zu reichen, wenn ich sehe, wie sich vielleicht gar nicht mehr so junge Helferinnen und Helfer bücken, um die von uns weggeworfenen Becher aufzusammeln, dann regt sich in mir das Gewissen. Bin ich jemals an einer Verpflegungsstation gestanden, außer um zu trinken? Habe ich jemals bei der Streckenvermessung geholfen, bei der Anmeldung, am Wertsachenschalter, beim Aufräumen? Gewiß, ich habe einen Lauftreff gegründet und ihn fünf Jahre lang betreut. Richtig, ich saß im Organisationskomitee, als wir den Schönbuch-Marathon in Leinfelden-Echterdingen gründeten. Meine Aufgabe war es, die Werbetrommel zu schlagen. Die Wirkungen sind nicht sehr nachhaltig gewesen. Obwohl es ein landschaftlich schöner Lauf ist und Stuttgart keinen Marathon hat, ist die Zahl der Marathonteilnehmer abgebröckelt, und die Veranstaltung lebt vor allem vom Halbmarathon. Wer sich nach weggeworfenen Pappbechern bückt, weiß am Abend wenigstens, was er gemacht hat, und sei es, dass er es am Rücken spürt. Meine Mitwirkung am Schönbuch-Marathon in den ersten Jahren – nachher habe ich mich anderem gewidmet , hat keine Spuren hinterlassen. Mir fehlt das Gefühl, Praktisches geleistet zu haben. Und dabei vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht am Schreibtisch mit dem Laufen beschäftigte. Eine CD mit dem Manuskript eines Buches erhalten, ausprobiert, ob ich sie am Laptop lesen kann, denn noch immer bin ich gegenüber dem Teufelszeug misstrauisch, obwohl ich sicherlich darin mehr gelernt habe als die meisten meiner Altersgenossen. Im Urlaub zum Swiss Alpine werde ich die CD lesen, mir meine Gedanken machen und einem Verleger mein Urteil mitteilen. Der Verleger möchte auch, daß ich ihm einen Titelvorschlag für ein anderes Buch mache. Auch wenn ich mir das während des Laufens durch den Kopf gehen lasse, das kostet Stunden, und am Ende sieht man nichts. Eine Einladung zu einem Benefizlauf erhalten. Ich unterbreche ungern meine Gewohnheiten, außer wenn es zu einem Marathon geht. Doch den Trainingslauf woanders zu machen? Vielleicht ist diese Beharrung eine Alterserscheinung. Die Entscheidung schiebe ich auf; aber gegenwärtig neige ich dazu, diesen Benefizlauf als Trainingslauf zu nehmen, weil ich den guten Zweck bejahe. Ein Manuskript zur Durchsicht erhalten und es gleich redigiert. Auch diese Arbeit wird man nicht sehen. Einige e-mails von Laufsportfreunden erhalten und jeweils beantwortet. Täglich befasse ich mich, außer selbst zu laufen, mit dem Laufen. Im Einzelfall mag das, was ich am Schreibtisch mache, nützlich sein; doch insgesamt zerflattert diese Arbeit. Wer eine Veranstaltung organisiert, schafft eine Art Gesamtkunstwerk, wie immer die Veranstaltung aussieht. Er kann auf etwas blicken.
Beim Laufen heute ein scharrendes Geräusch wahrgenommen. Ich wandte mich um, ob da etwa ein landwirtschaftliches Fahrzeug komme. Die Leute fahren ja auch ihre Rasenmäher auf dem Weg zu ihren Baumgrundstücken. Endlich merkte ich, das Scharren kam mir entgegen. Zwei Nordic-Walker, Mann und Frau, unterhielten sich angeregt und zogen ihre Stöcke über den Asphalt hinter sich her. Sie müssen da etwas gründlich mißverstanden haben. Es war grotesk. Wenn ich mir vorstelle, daß die Leute auch andere Anleitungen mißverstehen, kann ich mir vorstellen, wie viele wahrscheinlich glauben, die Ausrüstung mache den Sport. Nordic Walking eine gute Sache, trainiert die Schulterpartie wie der Skilanglauf. Also müssen Stöcke her. Und dabei bleibt es, Hauptsache, die Stöcke sind da. Sind zwar lästig beim Gehen, aber man kann sie ja über den Asphalt schleifen.
Die 100 Kilometer von Biel haben mich daran gehindert, am Europamarathon in meiner Geburtsstadt Görlitz teilzunehmen. Welche Kindheits-Erinnerungen wären wach geworden! Ich muß diesen Lauf noch machen. Die Idee, so habe ich auf der Netzseite gelesen, stammt von dem Görlitzer Arzt und Stadtrat Dr. Rolf Weidle. Er hat sie nicht allein gehabt. Vor Jahren schon das müßte noch vor der Wende gewesen sein, von einem EU-Beitritt Polens konnte nicht die Rede sein habe ich im Briefwechsel mit Lothar R. (die Abkürzung deshalb, weil ich seinen komplizierten Namen aus dem Gedächtnis mit Sicherheit nicht richtig schreiben kann) vorgeschlagen, einen grenzüberschreitenden Lauf diesseits und jenseits der Neiße zu veranstalten. Lothar R. war damals Vorsitzender eines Laufsportvereins; wenn ich nicht irre, hat er den Lauf rund um die Landeskrone, den Hausberg von Görlitz, organisiert. Polens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft war nun der passende Anlaß zu der Initiative Dr. Weidles.
Offenbar waren jedoch keine Lauf-Insider am Werk. Auf der Seite des Europa-Marathons wurden große Töne geschwungen: „Am 12. Juni 2004 werden Tausende Sportler aus ganz Europa in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec erwartet. Sichern Sie sich frühzeitig Ihren Startplatz für den sportlichen Höhepunkt im europäischen Laufkalender...“ Wo sollten die Tausende von Sportlern herkommen, wenn sie nichts davon erfahren? Die Nennung im Volkslaufkalender des DLV genügt heute wirklich nicht mehr. Auf den fünf Laufveranstaltungen, die ich in diesem Jahr besucht habe, fand ich keinen einzigen Prospekt des Görlitzer Europa-Marathons, nicht einmal beim Rennsteiglauf. Aus ganz Europa strömten sie herbei, nämlich zwei Dutzend Polen, 1 Niederländer und 1 Franzose. Insgesamt verzeichnet der Zieleinlauf des Marathons 162 Teilnehmer, der Halbmarathon 246. Immerhin nahmen am Marathon 7 Mitglieder des 100 Marathon Clubs teil. Unter einem sportlichen Höhepunkt im europäischen Laufkalender stellt man sich jedoch etwas anderes vor.
Der Lauf durch Zgorzelec, die frühere Oststadt von Görlitz, scheint miserabel vorbereitet gewesen zu sein. Es gab, so entnehme ich dem Forum, keine Verkehrssperrung. Das Glück war den Görlitzern hold; es kam niemand zu Schaden. Die alten Vorurteile gegen polnische Wirtschaftsweise bestätigten sich; auf diese Weise gewinnt man keine Freunde Europas. Ich hätte mich im Vorfeld für eine andere Streckenführung stark gemacht, nämlich den Lauf sofort über die Neißebrücke auf die polnische Seite geführt, eventuell sogar mit Start an der Stadthalle unmittelbar an der Neißebrücke. Da nämlich wäre das kleine Feld noch dicht beisammen gewesen, hätte sich im Verkehr behaupten können und zwangsläufig mehr Aufmerksamkeit in Polen geweckt. Stattdessen ist der polnische Teil erst bei Kilometer 29 erreicht worden, und wenn man weiß, daß auf den letzten 10 Kilometern Laufzeit-Unterschiede von zwei Stunden entstehen können, kann man ermessen, wie groß die Vereinzelung auf diesem Abschnitt sein mußte. Wollen wir hoffen, daß Auswärtige die Streckenmarkierung rechtzeitig erkannt haben. Statt der großen Schleife durch Wohngebiete in Zgorzelec, das seinen Vorstadtcharakter zwangsläufig nicht verloren hat, wäre es besser gewesen, den Lauf durchs Grüne zu verlängern. Die Thielitzer Mühle war vor der Teilung von Görlitz ein beliebtes Ausflugsziel. Wenn ich schon am Spinnen bin, warum nicht bis Friedland laufen, nämlich die Tschechische Republik einbeziehen und einen anderen Neißeübergang zurück wählen? Da käme ein ganz anderer Marathon heraus, aber wirklich ein Europa-Marathon.
Im nächsten Jahr wird der Europa-Marathon nicht mit Biel konkurrieren, er ist auf den 29. Mai vorgezogen, acht Tage nach dem Rennsteiglauf. Auch nicht sehr glücklich; aber ich werde es versuchen. Die Zeit wird reichen, und im Gegensatz zu allen anderen, jüngeren Läufern werde ich in Zgorzelec die Orientierung nicht verlieren.
Jeder Bieler Lauf ist anders. Es gibt das Typische, gewiß, das uns immer wieder nach Biel zieht. Doch auf einer 100-km-Strecke ändert sich soviel, wirken so viele Einflüsse ein, daß jeder Lauf ein anderer ist. In diesem Jahr ist er beträchtlich anders gewesen. Abgesehen vom Wetter, dem Regeneinbruch, betraf das die Streckenführung. Die neue Route über Lyss, die die Einsamkeit eines nächtlichen Hunderters hinauszögert, und nach km 80 die etwa 8 km entlang der Aare über Büren hat mir gut gefallen. Darin weiß ich mich einig mit allen, die sich bisher dazu geäußert haben.
Anders war der Lauf für mich vor allem insofern, als ich eine persönliche Zäsur erlebt habe. Es war nicht das Jubiläum der dreißigsten Teilnahme, numerische Abschnitte reichen nicht zu einer Zäsur. Eine ganze Anzahl von Freunden des Bieler Hunderters hat mich zwar beglückwünscht, aber ich habe Anlaß zur Reflexion, und ich werde, was mir an Gedanken durch den Kopf gegangen ist, sicher noch darzustellen versuchen. Es könnte eine Lebenshilfe für so manchen anderen, manche andere sein.
Als ich in die M 75 eintrat, lief ich in Biel 13:16:06 Stunden; im Jahr darauf waren es 14:27:59, mehr als eine Stunde länger. Das wurmte mich zwar, aber ich konnte es leicht akzeptieren. Im Jahr 2003 jedoch, also wieder nur ein Jahr später, waren es 16:37:14 Stunden. Das betrachtete ich jedoch nicht als normalen Lauf; von Kirchberg an war ich überwiegend gegangen. In Anbetracht der hohen Temperaturen schien mir das vernünftig zu sein; die Gefahr eines Hitzschlags schien mir zu groß. Doch nun, in diesem Jahr, war es nicht heiß, und ich war auf die Sekunde genau dieselbe Zeit unterwegs. | |
Biel Utensilien
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Nun ja, ich mußte eine Zwangspause einlegen und erstmals eine Sanitätsstation bemühen. Nach den Regengüssen in der Nacht hatte ich mir die Ferse aufgeschürft. Eine Läuferin hatte mich auf die blutige Socke aufmerksam gemacht. Auch die Socke war durchgescheuert. Ich habe nie unter Blasen zu leiden gehabt, aber in der Nässe mag sich eine Falte gebildet haben. Ich merkte zwar den Schmerz, aber er war noch erträglich. Doch ich beschloß, den nächsten Sanitätsposten anzulaufen, es waren schließlich noch über 40 Kilometer zurückzulegen. Beim Posten 5 in Gerlafingen bat ich um ein Pflaster. Doch so rasch ging das nicht, es herrschte Betrieb; anderen war es ähnlich ergangen. Und mir ein Pflaster in die Hand zu drücken, vermied man. Das war richtig, denn möglicherweise, wenn ich es selbst aufgelegt hätte, wäre es zur Ursache neuer Beschwerden geworden. Ich wartete auf der Liege, der Aufenthalt kostete mich über 20 Minuten. Doch ich war nicht nervös, denn ich war müde geworden, quälend müde, und hier zu ruhen, tat mir einfach gut. Ins Unterbewußtsein drängte sich wahrscheinlich die Einstellung, wenn schon 20 Minuten auf der Strecke geblieben sind, weshalb noch anstrengen, bloß um an einen 8-Minuten-Schnitt heranzukommen? Nein, ich kann die 16:37 Stunden nicht auf das Pflaster schieben; allenfalls wären ohne den Aufenthalt 16 Stunden herausgekommen. Ich muß dem Alterungsprozeß Tribut zollen. Verzweiflung packt mich nicht, auch die Melancholie hält sich in Grenzen. War es nicht auch schön, immer wieder kilometerweit zu gehen? Und hinterher keineswegs zerschlagen zu sein.
Beim Reflektieren habe ich schon daran gedacht: Ist dies nun das Ende einer Ära Biel? Nein, Biel bleibt eine Herausforderung. Solange die Chance besteht, sie in der vorgegebenen Zeit zu bewältigen, wäre Wegbleiben das Eingeständnis eines puren Narzißmus, nämlich nicht ertragen zu können, daß die Leistung signifikant gesunken ist. Es hätte nicht eines Freistarts im nächsten Jahr bedurft, des Jubiläumgeschenks der Organisation, mich zu weiterem Kommen zu bewegen. Welche Zeit auch immer, Biel bleibt für mich ein Erlebnis, und es ist ein großartiger Leistungstest gerade im Alter. Von den persönlichen Beziehungen ganz abgesehen.
Im Festzelt ein tragikomisches Vorkommnis. Wir saßen am für die Jubiläumsteilnehmer reservierten Tisch, und ein freundlicher Mitjubilar, der am Tisch stand, wollte mich beglückwünschen. Da er stand und ich saß, erhob ich mich, drückte das lose aufgelegte Sitzbrett beiseite und kippte wie es physikalisch geschah, weiß ich nicht über das Brett nach hinten über. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, ich wäre halt zu Boden gesunken; doch ich schlug mit dem Hinterkopf auf die Bank hinter mir. Immerhin, es ging mit einer Beule ab. So gefährlich kann ein 100-km-Lauf sein! Mißgünstige können nun behaupten, seit der Sonntag umgekippt sei, könne man ihn nicht mehr lesen. So kam es, daß ich bei diesem Bieler Hunderter nicht nur zum erstenmal, sondern auch gleich zweimal eine Sanitätsstation besucht habe man gab mir in der Eishalle ein Kühlgel. Möge der Etat der Organisation solche Mehrbelastungen aushalten!
Einen Buchbeitrag über „Laufen im Alter“ abgeschlossen. Es lief ganz locker, ich habe mich nicht anzustrengen brauchen. Ein Vortragsmanuskript war die Grundlage, und die Mappe „Laufen im Alter“ hat sich in fünfzehn Jahren immer mehr gefüllt. Das Schreiben, es war wie ein lockerer Lauf. Und dann blickte ich vom Bildschirm weg durchs Fenster, zwischen zwei Häusern hindurch kann ich auf den Neckar blicken. Im Abendlicht eines Sonnentages hat er eine silberne Farbe angenommen. Aus der 10-Quadratmeter-Höhle meines Arbeitszimmers blicke ich in die Welt, fühle mich ihr zugehörig, gehe aber nicht in ihr auf. Die Höhlung schützt mich. Wahrscheinlich ein pränataler Urinstinkt. Ein Gefühl der Wärme kommt auf, das ist mehr als Zufriedenheit. Ich behaupte: Es ist Glück. Es besteht gar kein Grund, glücklich zu sein, weil ich eine bestellte Arbeit fertig habe. Aber ich bin glücklich. Es ist wie beim Laufen. Am Anfang sollte es dir leichtfallen, aber es fällt nicht leicht; erst später bewegst du dich im Lauf, als gäbe es nichts anderes. Dabei kommt ein Wohlgefühl auf, kann sein, eine Sekunde des Glücks stellt sich ein. Das hat nichts mit den albernen Endorphinen zu tun, die uns immer eingeredet werden. Muß man Leben in biochemische Prozesse aufdröseln? Ich bin gar nicht gelaufen, sondern habe gearbeitet, sitze in meinem neuen Schreibtischsessel, den ich mir für mein Kreuz geleistet habe, und bin glücklich. Wo sollen dabei die Endorphin-Ausschüttungen herkommen? Ich glaube nicht, daß es glückliche Menschen gibt. Glück ist immer nur die Sache von Augenblicken. Sicher gibt es Menschen, die viele solcher Augenblicke kennen; vielleicht sich auch nur besser an sie erinnern und sich daher glücklich fühlen. Wenn man das Glück des Laufens lernen kann, warum nicht auch das Glück des Lebens?
Wenn ich meinen Lauf auf meiner Hausstrecke um eine halbe Stunde in den frühen Feierabend verschiebe, kommen sie mir entgegen, überwiegend Frauen mit den Stöcken. Nordic Walking hat uns voll erreicht. Diesmal wenigstens wird nicht behauptet, die Welle sei von Amerika herübergeschwappt. Außerhalb von Skandinavien waren es die Schweizer, die das sportliche Gehen mit Stöcken systematisch verbreitet haben. Nun sehe ich auf meiner Laufstrecke mehr Nordic Walker als Läufer. Die Stöcke aktivieren wirklich den Schultergürtel. Viele Walker, denen ich begegnet bin, winkeln bloß die Arme an, weil man ihnen das gesagt hat, benützen sie aber nicht, sie schlendern dahin mit angewinkelten Armen und glauben, dies sei Walking. Immerhin, auch sie bewegen sich ja wenigstens eine halbe Stunde. Hundehalter gehen spazieren. Sie sind an der frischen Luft, sonst nichts. Der Arzt in meiner Nähe hat einem korpulenten Patienten geraten, sich nach dem Tod seines Hundes einen neuen anzuschaffen, damit er sich täglich bewege. Arme Menschen, die so kurzsichtig sind, daß sie einen Hund brauchen.
Einen entwickelten Film zurückerhalten. Da ist noch ein Foto vom Rennsteiglauf oben. Hinter mir kam einer, der zum 30. Mal den Supermarathon zurückgelegt hat und seine Startnummern ausbreitet. Wenn ich richtig kombiniert habe, dann ist es Klaus Krüger aus Berlin. Und er kam nur deshalb hinter mir, weil er sich einige Wochen vorher verletzt hatte. Auf diese Weise konnte ich am Erinnerungsfoto teilhaben. Ein Stück Laufkultur verkörpert er. |
Die Grill-Party kam etwas zu früh, in Norddeutschland im Garten gefroren. Erkältet. Erklärung: Eine knappe Woche vorher der Rennsteiglauf. Wahrscheinlich war das Immunsystem noch nicht intakt. Immerhin, in vier Tagen waren Husten und Schnupfen vorbei. Zwei Tage nicht gelaufen.
Und dann kommt ein fettärschiger Idiot und labert mich auf meiner Trainingsrunde an: „Zu langsam!“ Kurze Aufwallung, ich hielt es nicht der Mühe für wert, dem ebenfalls älteren Mann, der mit seiner Frau dahinschlich und dem ich keine 5 Kilometer im Stück zutraute, eine Entgegnung nachzurufen. Vielleicht hätte ich es tun sollen, etwa „Mit diesem Hintern geht’s auch nicht schneller!“ Vielleicht hätte ich die Begegnung dann vergessen. Weshalb befasse ich mich mit dem dummdreisten Ignoranten? Solche Leute, völlig ahnungslos und nicht fähig, sich über die eigene Gesunderhaltung zu informieren, nehmen unsere Sozialeinrichtungen in Anspruch; möglicherweise finanziere ich mit meinem Krankenkassenbeitrag seine Altersbeschwerden.
Bei meiner Krankenkasse, der AOK Esslingen, habe ich mich für das Bonusmodell der AOK Baden-Württemberg eingeschrieben. Für den Gesundheitsbonus II, einen geradezu lächerlichen Bonus, muß ich „den AOK-Fitnesstest oder ein Sportleistungsabzeichen erbracht haben“. Darauf fragte ich zurück: „Ich nehme an, daß die Teilnahme an einem Marathon ebenfalls als Nachweis einer gewissen Fitness betrachtet wird, finde jedoch keinen Hinweis darauf, in welcher Form der Nachweis zu führen sei. Mein jüngster Marathon war gestern. Ich kann natürlich auch an einem AOK-Fitness-Test Ausdauer teilnehmen, z. B. zum Aufwärmen für meine Trainingsrunde. Doch wo bitte hätte ich Gelegenheit dazu? Ich gehöre keinem lokalen Sportverein an.“ Die Antwort des Sachbearbeiters: Er wolle sich erkundigen. Das ist jetzt vier Wochen her. Er erkundigt sich noch immer. Ist ja auch nicht so einfach, die Frage zu beantworten, ob man fit sein muß, um einen Marathon zu laufen.
Mein 13. Rennsteiglauf, wenn man die beiden illegalen zu DDR-Zeiten mitrechnet. Subjektiv habe ich ihn als vielleicht den schönsten erlebt. Die beste Voraussetzung dafür war das Wetter. Größtenteils sonnig, aber kühl. Wo eine Woche zuvor noch Schnee gelegen hatte, jetzt zum Teil matschige Wege. Wiederum nicht so matschig, daß ein ordentlicher Schuh damit nicht fertig geworden wäre. Zu DDR-Zeiten gab es Stellen, in denen man mit dem Schuh steckenbleiben konnte. Fernblicke über die grünen Höhen, der Thüringer Wald im Festgewand. Am Samstag durften wir es erfahren.
Die Organisation ist im Laufe der Zeit immer professioneller geworden, jedoch ohne daß die Atmosphäre verloren gegangen wäre. Selbst auf den 19-Uhr-Bus zurück nach Eisenach mußte ich nicht warten, nur daß er halt schon um 18.40 Uhr abfuhr. Am besten also man verweilt, wenn man spät einläuft, im Zielgelände nicht lange und begibt sich alsbald zur Bushaltestelle. Das Duschen in Schmiedefeld habe ich mir trotz dem neuen Holzhaus, das die Feuerwehrschläuche von einst ersetzt hat, erspart. Im Hotel in Eisenach hat man mir ein Zimmer mit Badewanne gegeben. Nichts Angenehmeres nach einem solchen Lauf als ein entspannendes heißes Bad.
Auf die Frage, welche Zeit ich mir vorgenommen hätte, erwiderte ich: 12 Stunden. Keine andere Vorgabe mehr. Vielleicht hat auch dies zu dem subjektiv so positiven Erlebnis beigetragen. Ich habe mich nicht mehr bemüht, irgendwelche Polster herauszulaufen. Mit Gehen und Traben mußte ein Schnitt von 9 Minuten für den Kilometer herauskommen. Klingt nicht nach viel. Aber bei den Steigungen und den wenn auch nun kurzen Cross-Abschnitten erfordert auch dies von einem alten Mann Anstrengung. Von Anfang an ökonomisch zu laufen und immer wieder zu gehen, minimiert das Risiko eines Einbruchs. Hauptsache, es reicht bis zum Grenzadler. Zehn Minuten vor Zielschluß anzukommen, werte ich als Erfolg. Auf diese Weise war es auch subjektiv ein schöner Lauf oder eine schöne Wanderung mit Laufeinlagen. Ob das wiederholbar ist? Zweifel kommen auf. Doch bis zum Grenzadler zu kommen, wäre ja auch etwas. Und im Jahr darauf könnte ich es dann mit dem Marathon probieren, den ich nur vom Besichtigen eines Streckenteils kenne.
Am Abend in Eisenach im Thüringer Hof gewesen, wo eine Läufer-Party versprochen worden war. Doch der Zuspruch war gering. Offenbar waren die wenigsten Besucher Teilnehmer eines der Rennsteigläufe. Sieben Herren, die „Hotmakers“, spielten auf. Zumindest in den ersten beiden Stunden richtig schöne Negermusik aus den dreißiger Jahren. Damals war ich zu dumm, den musikalischen Aufbruch zu kapieren. Zwei aus meiner Klasse waren da weiter, die liebten Jazz wir sprachen das Wort so, wie man es schreibt und trugen lange Haare. Sie lebten unbequem, weil sie bei jeder Gelegenheit Anstoß erregten. Wir Angepaßten mußten den Entwicklungsschritt verzögert nachholen.
Zwar fehlte mir im Thüringer Hof der laufspezifische Bezug, aber mir haben das gepflegte Ambiente und die anspruchsvolle Unterhaltungsmusik erheblich besser gefallen als der übliche Krach im Festzelt, mit dem die meisten Veranstalter uns zu erfreuen trachten. Gewundert habe ich mich, daß erst spät Paare den Weg auf die Tanzfläche fanden. Sage keiner, daß man das von Läufern nach dem Wettbewerb nicht erwarten könne. Da hat sich nach dem Spartathlon erheblich mehr abgespielt, wobei hier wahrscheinlich das Hochgefühl nach Ausdruck suchte. Wenn man nach dem Spartathlon nicht in Tiefschlaf verfallen möchte, gibt es eben nur die Alternative, mitmachen beim Syrtaki. Meines Wissens war es das erstemal, daß in Eisenach abends noch etwas für Läufer stattfand. Wahrscheinlich muß sich das noch herumsprechen.
Die Völkerschlacht bei Leipzig ist heute ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Ich habe nichts anderes erwartet. Unfaßbar, daß Menschen in Tränen ausgebrochen sind, weil Leipzig nicht in die Kandidatenliste für Olympische Spiele in acht Jahren aufgenommen worden ist. Was steht Menschen an Ausdrucksmitteln für Erschütterung zu Gebote, wenn zu Trauer wirklich Anlaß ist? Brot und Spiele, damit sind die Römer eine Weile ruhiggestellt worden. Nichts kann den ohnmächtigen Machthabern heute gelegener kommen, als wenn das Volk sich mit Spielen zufrieden gibt. Ob der Marathon als Massenereignis auch ein gesellschaftlicher Fluchtweg ist?
Seit Jahrzehnten habe ich dieselbe Laufstrecke, weil sie vom Haus weg und zurück führt und Verkehrswege nur kreuzt und nicht über sie verläuft. Ich laufe in einem Verdichtungsgebiet, in dem es zwar viel Grün gibt, aber fast immer Häuser in Sichtweite sind. Um so bemerkenswerter mein Erlebnis dieser Tage: Kaum 100 Meter vom letzten Haus unseres Ortsteils entfernt, überquerte ein Reh die schmale Asphaltstraße, die nur von Anliegern mit Fahrzeugen benützt werden darf. Der Asphaltweg ist rege frequentiert. Das Reh sprang aus einem wirklich kleinen Landschaftsschutzgebiet in einen wirklich kleinen Wald, den Mutzenreis. Abends kann man durch ihn hindurch die Lichter des im Tale liegenden Eßlingen am Neckar erkennen, so klein ist das Wäldchen. Hier also hält sich ein Reh auf. Oder gibt es wandernde Rehe? Auf jeden Fall gibt es hier keine Jäger, nur Läufer und Walker. Es muß sich herumgesprochen haben, daß von uns nichts zu befürchten ist. Und die Hunde sind sehr zivilisiert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß etwa Napoleon, eine Seele von Hund, die im größten der Hunde unseres Ortsteils wohnt, einem Reh nachspränge. Napoleon nimmt nicht einmal mich wahr, so uninteressant bin ich, selbst dann, wenn ich dicht an ihm vorbeilaufe.
Den Panoramaweg, den ich so nenne, weil man von ihm das Panorama der Schwäbischen Alb betrachten kann, haben auch Eichhörnchen gekreuzt und sind in die Gärten an den Häusern eingedrungen, trotz der Katzen, die hier wohnen. Die Amseln machen sich nicht die Mühe wegzufliegen, wenn am Boden Nahrhaftes winkt. Sie trippeln nur ein wenig zur Seite, wenn ich komme. Lange ist es her, daß mich der Bussard bedroht hat. Nach meiner Erinnerung war es nur in einem einzigen Jahr, daß ein Bussard mich auf meiner Hausstrecke erspähte und mich anflog. Meine anderen Bussard-Begegnungen fanden anderwärts statt, übrigens auch einmal beim 100-km-Lauf von Marburg.
So ist denn mein Lauf durch ein dichtes Siedlungsgebiet immer auch ein Landschaftslauf. Doch den wirklich großen Landschaftsläufen muß ich entsagen. Die Ansprüche sind gestiegen und meine Möglichkeiten degressiv gesunken. Doch gerade diesen Läufen gehört meine Sympathie. In den siebziger Jahren, als die Leichtathletik-Abteilungen der örtlichen Vereine noch fixiert waren auf möglichst gute Marathonzeiten Ultraläufer galten als Außenseiter , habe ich schon aus Trotz einen zweitägigen Lauf organisiert, den „1. Touristik-Lauf“, wie ich ihn nannte, einen Lauf von Leipheim bei Ulm auf dem damals neugeschaffenen Radwanderweg nach Kreßbronn am Bodensee. Etwa 140 Kilometer in zwei Tagen, Übernachtung in Bad Waldsee, im Hotel, das jeder selbst zahlte. Startgeld wurde nicht erhoben, dafür wurde auch nichts geboten. Die Frau eines Teilnehmers beförderte das Gepäck in ihrem Auto zum Zielort.
Heute geht das professionell zu, relativ professionell. An Turnhallen-Übernachtungen habe ich mich nie so recht gewöhnt, wiewohl ich diverse Berghütten-Nächtigungen überstanden habe. Hinzu kommen meine Ansprüche an die Ernährung unter dem Aspekt der Vollwertkost. Im Grunde genommen wäre ich völlig auf Eigenverpflegung angewiesen, vom täglichen Frischkornbrei bis zum Salat und dem Vollkornbrot unterwegs. Und dafür, daß ich von den Leistungen der Veranstalter nur wenig nützen kann, sind mir die Startgelder, die ja die Verpflegung nach Gutdünken der Veranstalter einschließen, zu hoch.
Am 17. Mai wird der Isarlauf gestartet. Flüsse sind beliebte Routen-Vorgaben. Das ist ganz natürlich. Verkehrswege, ob Botenpfade oder Eisenbahn, sind immer Flüssen gefolgt. Der Niddalauf gehört zu meinen schönen Erinnerungen. Ein Jahrzehnt eher, und ich wäre dabei gewesen, beim Isarlauf, von der Isarquelle in Scharnitz über Vorderriß, Wolfratshausen, Freising und Dingolfing bis zur Isarmündung in Plattling. 328 Kilometer in fünf Tagen. Die Route kenne ich so ungefähr. Es ist ein Wettbewerb. Wer mehr als zehn Minuten für einen Kilometer braucht, wird aus der Wertung genommen. Ulrich Welzel organisiert den Lauf.
Walter Eberhard hat Mitte März zum neunten Mal seinen Erlebnislauf von der Kinzig an die Neckarquelle, von Wolfach nach Villingen-Schwenningen, veranstaltet. 65 Kilometer mit 1400 Höhenmetern. Auch dieser Schwarzwaldlauf wäre nach meinem Geschmack gewesen.
Marco Heinz aus meinem Wohnort macht’s individuell. Er ist in einem Heim der Samariterstifung beschäftigt und will Anfang Juni laufend alle 18 Heime der Stiftung besuchen. Im Sinne des Wortes ein Laufurlaub. Er ist sicher nicht der einzige, der eine solche private Lauftour unternimmt. Laufen als Bewegungsform, es muß kein Wettbewerb sein. Freilich nimmt von solchen Unternehmungen niemand Notiz außer einem Tagebuchschreiber.
Die dritte und letzte Folge der Dokumentationsserie „Von Null auf 42“ gesehen. Ich habe über meine Kritik nach der zweiten Folge reflektiert, jetzt fällt sie noch schärfer aus, das Ergebnis gibt mir recht. Es ist ein Unfug, einer Fernseh-Serie zuliebe 7 Menschen, die nicht nach ihren physischen Voraussetzungen ausgewählt worden sind, in elf Monaten von Null zur Teilnahme am New York-Marathon bringen zu wollen. Das geht bei Jüngeren, die eine sportliche Vergangenheit haben. Im allgemeinen, bei normalgewichtigen gesunden Menschen sind üblicherweise zwei Jahre erforderlich. Was hier vom SWR (Südwestdeutscher Rundfunk) gemacht worden ist, grenzt an fahrlässige Körperverletzung. Ich wundere mich, daß Dr. Thomas Wessinghage dieses Spiel mitgemacht hat. Damit zu rechnen, daß von den sieben ohnehin drei ausfallen würden, grenzt an Zynismus. Denn jedes Scheitern in dieser Phase kann die Motivation gänzlich rauben. Ein Erfolg ist das nicht, daß alle sieben im Central Park angekommen sind, sondern einfach nur Glück.
Von den Sieben scheint die Teilnahme bei vier unproblematisch verlaufen zu sein, zumal da die Zeiten von nach meiner Erinnerung viereinhalb Stunden an aufwärts in einem hier angemessenen Bereich liegen. Informationen wird man wahrscheinlich in einem Begleitbuch finden, an das ich jedoch meine Zeit nicht verschwenden will. Bei Anna war klar, sie würde den New York-Marathon nicht laufen können, sondern gehen. Der vernünftigste Rat, der ihr erteilt worden ist, kam von ihrem Friseur. Ihm hat sie zu verdanken, daß sie zu selbstbestimmtem Handeln zurückgefunden hat, nämlich sich nicht zu einer nur in winzigen Schritten lösbaren Aufgabe knüppeln zu lassen. Sie hat die 42 Kilometer in sieben Stunden und zehn Minuten zurückgelegt, das kann man beim New York-Marathon machen. Das Risiko war auf diese Weise minimiert, wiewohl der seltene Fall eines warmen Tages im November oder hohe Luftfeuchtigkeit beim New York-Marathon durchaus hätten Kreislaufprobleme auch beim Walking bereiten können. Anna hat eine außerordentliche psychische Stärke bewiesen; sie ist ihren eigenen Weg gegangen und hat den Mut aufgebracht, sich im Feld der letzten 1 Prozent der Teilnehmer zu bewegen. Unter einem Marathonlauf stellt man sich freilich anderes vor.
Iris hat in der Vorbereitungszeit immer wieder Probleme gehabt. Shin splint, jener Schmerz an der oberen Schienbeinkante, der gräßlich sein kann, ist ein eindeutiges Zeichen der Überlastung. Wenn das in der Trainingszeit auftritt, bedeutet es, daß die Trainingsschritte zu groß waren; die Konsequenz hätte doch nur heißen können: Der New York-Marathon kommt zu früh. Von Dr. Wessinghage die sieben Probanden sind mehrmals zu ihm nach Damp gefahren erwartete sie, daß er ihr Schmerzmittel gebe. Das hat er zwar nicht getan, aber die Entscheidung über die Einnahme ihr selbst überlassen. Von einem Arzt erwarte ich, daß er eindeutig Stellung bezieht und vom Gebrauch von Schmerzmitteln allein zu dem Zweck, das Training durchzuziehen, ausdrücklich abrät und nicht seine Verantwortung dem Patienten auflädt. Psychische Probleme hat es auch gegeben. Der Sportpsychologe Oliver Stoll, Mitautor von „Psychologie in Ausdauersportarten“, wurde konsultiert. Iris und wohl ein oder zwei andere Teilnehmer sind, zum Teil zweimal, nach Freiburg in die Universitätsklinik gefahren. Das nenne ich schlicht, unser Gesundheitswesen überzustrapazieren.
Der dritte Problemfall, Frank, ist den Test-Halbmarathon in Mainz nach zwei durch einen Sturz verursachten Bänderrissen gelaufen und natürlich in New York gestartet. Vom Charakter her ist er, was ja nicht unsympathisch ist, einer jener Draufgänger-Typen. Solche Menschen müssen sacht dazu geführt werden, auf ihren Körper zu hören. Das ist hier nicht geschehen. Hauptsache, die Laktatwerte stimmen. Frank stolperte in New York nach der ersten Hälfte in unaufhörliche Krämpfe hinein. Die Ursache läßt sich zwar auch hier nicht bestimmen zu heiß war es offenbar nicht , aber die Krämpfe sind ja ein Signal. Möglicherweise stimmt die Ernährung nicht, darüber wurde kein Wort verloren. Jedenfalls sind Krämpfe über 20 Kilometer hinweg ein Zeichen, daß auch hier der Schritt zum Marathon zu bald geschehen ist. Bei genügend Lauf-Erfahrung ist ein Krampf die Ausnahme. Zu der Sendung sind weitere Berater, außer Dr. Wessinghage, hinzugezogen worden. Für mich erhebt sich die Frage, wann diese ihren letzten Marathon gelaufen sind. Ich fürchte, daß auch Sportmediziner die Empirie unterschätzen.
Ich habe die Webseite des SWR „Von Null auf 42“ aufgerufen und bin über diese Hauruck-Mentalität des verantwortlichen Redakteurs Rolf Schlenker erschrocken. Ich habe immer die Meinung vertreten, daß jeder Gesunde einen Marathon laufen könne; wie Manfred Steffny war ich um Entmythologisierung des Marathons bemüht. Aber diese Marathonwerbung des SWR scheint mir fahrlässig zu sein: „Was diese Sieben geschafft haben, das können Sie auch unter diesem Motto haben das Südwest-Fernsehen und SWR 1 deshalb einen virtuellen Lauftreff gegründet. Wir liefern Trainingspläne und etwas Unterstützung, Sie entwickeln die Motivation und laufen los. Jetzt sind wir gespannt auf unsere Laufbewegung. Werden wir vielleicht der größte Lauftreff im Südwesten?“ Aha, jetzt weiß ich, woher der Wind weht. Laufen wird zu instrumentalisieren versucht. Wenn’s nicht der Wohncontainer sein kann, dann halt mal das Laufen. „Wieviele Menschen wollen mit uns gegen den inneren Schweinehund antreten?“ Den „inneren Schweinehund“ finde ich zum Kotzen, er stammt von einem General des ersten Weltkrieges und war ein Lieblingswort des „Führers“. Ob man nicht endlich einmal den Journalismus entnazifizieren kann? Über den Unfug, Körpersignale als inneren Schweinehund zu denunzieren, habe ich mich in „Runner’s World“ geäußert.
Es ist lobenswert, Menschen zum Bewegungstraining, insbesondere zum Laufen, zu motivieren. Mit dem Marathon, der auch für uns hinten ein Leistungssport ist, sollte man sorgfältig umgehen. Man kann nicht jemandem, den man nicht kennt, versprechen, daß er nach Beginn des Lauftrainings in elf Monaten Marathon laufen werde. „Machen Sie mit und kommen Sie mit von Null auf 42. Wir schaffen das!“ Sollte nur der Halbmarathon in Mainz gemeint sein, sollte man das deutlich sagen. Und selbst mit einer solchen Versprechung, nach einem knappen Jahr an einem Halbmarathon teilzunehmen, wäre ich vorsichtig. Ich weiß, wovon ich rede. In etwa zehn Jahren Aktivität in zwei Lauftreffs habe ich die untrainierte Basis kennengelernt.
Das war zu der Zeit, als der damalige SDR im 3. Programm unseren frühen Lauftreff im Sauhag auf den Fildern bei Stuttgart lächerlich gemacht hat. Die Redakteurin hatte Friedemann Haule, den späteren Bundeslauftreffwart, überredet, mit der Gruppe ein Lied anzustimmen. Eine Laufgruppe ist kein Chor, und in keiner Laufgruppe wird Singen geübt. Entsprechend kläglich und mißtönend fiel der Gesang aus. Das wurde dann keineswegs ausgeblendet, sondern genüßlich falschen Ton für falschen Ton ausgebreitet. Offenbar fand das die Redakteurin witzig. Und die Zuschauer hatten den tendenziös gewünschten Eindruck: Alles Spinner, die sich da im Wald treffen.
Erfreulich, daß der SWR den Anschluß gefunden hat. Ich habe heute im SWR-Fernsehen die Übertragung vom 5. Gutenberg-Marathon gesehen, 4:15 Minuten lang, gute solide Arbeit, die tatsächlich das ganze Geschehen und nicht nur das an der Spitze widerspiegelte. Co-Kommentatoren: Waldemar Cierpinski und Herbert Steffny. Wenn nur nicht der Verdacht auftauchte, auch diese Übertragung sei nur ein Mittel zum Zweck, nämlich die neue Zuschaueraktion des SWR anzukurbeln. Um die von Professor Volker Pudel erfundene „Pfundskur“, die SWR1 unterstützt hat, ist es ja so merkwürdig still geworden. Ersatz muß her.
Eben habe ich mich aufgeregt, ich habe bei der ARD die zweite Folge „Von Null auf 42“ gesehen, die erste Folge nur zum Teil eine Gruppe von sieben Menschen (wenn ich mich in der Zahl nicht irre) wird zum Laufen geführt, mit dem Ziel, den New York-Marathon zu laufen. Darunter ist auch Anna, eine Dame mit beträchtlichem Übergewicht. Alle Ehren wert, daß sie etwas für ihre Fitneß tun will. Solche Menschen sind vor 28 Jahren auch in meinen Lauftreff, den ersten in Stuttgart, gekommen. Ich bin mit ihnen gegangen. Heute verkauft man das als Walking. Damals wurde ich als Lauftreffleiter eher spöttisch angesehen, in meiner Gruppe werde ja einfach marschiert! Meine Meinung war, erst sollten sich Anfänger mit Übergewicht an eine Ausdauerbewegung gewöhnen: 5 Kilometer im Degerlocher Wald gehen. Für mich war’s jedesmal ein Opfer, ich durfte nicht mit den anderen laufen, ich mußte mit einer Anfängerin oder einem Anfänger gehen. Einer Anna hätte ich gesagt, wenn sie den Ehrgeiz gehabt hätte, einen Marathon zu laufen, das werde so etwa fünf Jahre dauern. Wer bloß hat der Anna in dieser Fernseh-Folge den Floh ins Ohr gesetzt, sie könne mit den anderen in New York starten? Schon der Test, beim Halbmarathon in Mainz mitzumachen, war im Hinblick auf ihre Konstitution und ihre Kondition ein vorsichtig gesagt äußerst fragwürdiges Unterfangen. Anna kann heilfroh sein, daß sie in Mainz zwei Sanitätern begegnete und der Notarzt nicht weit war. Wenn ich das richtig sehe, hatte Dr. Thomas Wessinghage die medizinische Supervision bei diesem Fernseh-Training. Ich fürchte, er hat sich durch das Fernsehen korrumpieren lassen. Das muß man doch sehen, daß eine Anna, die ja durchaus motiviert war, auf absehbare Zeit keinen Marathon laufen kann. Ihr Friseur hatte den Daumen drauf: Sie solle für sich laufen, wenn sie das wolle. Merke: Auch Trainer haben ihre Ziele, nämlich erst einmal sich selbst zu profilieren.
Und dann jener Frank so heißt er, glaube ich , der sich beim Training den Knöchel umknickte und einen Bänderriß erlitt. Ohne sich nach diesem Trauma sanft an seine frühere Möglichkeit heranzutasten, ohne nach der Ruhigstellung irgend ein Ausdauertraining gehabt zu haben, startete er in Mainz. Wie kann ein Mediziner dies ohne eindringliche Warnung zulassen? Jener Frank, von Beruf Vollzugsbeamter, hat offenbar die beste Halbmarathonzeit der Gruppe erreicht. Das mindert leider den Unfug dieser Unternehmung nicht im geringsten. Ein nicht publizitätsgeiler Berater hätte ihm geraten, seinen Halbmarathontest vor dem New York-Marathon zu verschieben, zum Beispiel auf den Stuttgart-Lauf im Juni. Das wäre im Hinblick auf den New York-Marathon überhaupt nicht von Nachteil gewesen, hätte aber jedes Risiko minimiert. Offenbar ging es bei diesem Experiment allein um die Fernseh-Präsenz.
Vor dreißig Jahren haben wir uns immer gewünscht, publizistisch wahrgenommen zu werden; es war nicht so sehr Eitelkeit, denn mit welchen Marathonzeiten hätten wir imponieren können? Es war das Bedürfnis, anderen unsere Erlebniswelt, unser „runner’s high“, zu vermitteln. Was für uns gut war, mußte doch auch für andere gut sein. Es war unsere natürliche soziale Ambition, die uns veranlasste, um Medien-Aufmerksamkeit zu buhlen. Wir wurden weiterhin nicht wahrgenommen, denn wir waren wenige. Jetzt sind wir soweit. Aber ich habe einen schalen Geschmack im Mund.
Es ging besser, als ich dachte es ging nicht so gut, wie es gegangen wäre, wenn mich vorher nicht die Allergie geplagt hätte. Immerhin, die Bronchien waren ziemlich frei, jedenfalls nicht das mindeste Röcheln. Nun habe ich wieder an Sicherheit gewonnen.
Ein interessanter Marathon war’s obendrein, der Ruhr-Marathon. Ich überlege noch, was ihn so interessant gemacht hat. Punkt-zu-Punkt-Strecken gefallen mir ohnehin. Wir laufen zurück zu den Wurzeln. Boten liefen schließlich nicht im Kreise, sondern von A nach B. Jeder Schritt bringt dich weiter, dem Ziel näher und nicht zurück zum Start. Dortmund Essen, das hat mir gefallen. So häufig bin ich unterwegs lange nicht angesprochen worden; dabei kannten mich die wenigsten, doch auf der Startnummer stand mein Vorname. Mir fällt auf, daß ich seit einigen Jahren vom Publikum nicht mehr als Opa tituliert werde. Wahrscheinlich sind wir inzwischen so viele Opas, daß jegliche Ironie, die sich mit dem „Opa“ in kurzen Hosen verbindet, ins Leere geht. Beim Ruhr-Marathon waren wir acht in M 75. |
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Die Berichterstattung in der WAZ vom Montag war umfangreich, aber mir war sie zu glatt gebügelt. Amüsant finde ich den Bericht von Hans Drexler auf der Seite des 100marathon-clubs. „Die Tatütatas ratterten rauf und runter. Es gab einen äußerst hohen Anteil an Erstläufern, Einmal-im-Leben-einen-Marathon-laufen-machste-mit-Kumpel-Täter die kippten um wie die Fliegen.“ Der Passus bezieht sich zwar auf den 1. Karstadt-Ruhr-Marathon, bei dem es wohl ziemlich chaotisch zugegangen sein muß, ist aber von literarischer Qualität durchtränkt. Powerschnecke und Affenzahn ich werde mir die beiden merken.
Der 100 Marathon Club natürlich haben mich von Anfang an die fehlenden Bindestriche irritiert, aber wer wird jetzt so kleinlich sein? , sie haben mir die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Die Laudatio von Christian Hottas beschämt mich ich bin ja immer ich geblieben, mit allen menschlichen Schwächen. Und andere, die das organisieren, was wir laufen, fallen nur nicht so auf, wie wenn einer im vierten Jahrzehnt sich darüber ausläßt, was sich laufend ereignet.
Am Freitag vor dem Ruhr-Marathon, der auch ohne Bindestrich geschrieben wird, nur eben zusammen: RuhrMarathon, was nichts als ein modischer Effekt ist, aber nicht Deutsch, habe ich in Wiesbaden meinen Vortrag gehalten: „Vollwertig Sport treiben!“ Versuch, frei zu sprechen. Ich war nicht zufrieden. Aber einem alten Mann wird sicher manches nachgesehen. Ich fürchte, daß man mir zwar zuhört, aber meine kritischen Aussagen über Sporternährung nur duldet. Aber wahrscheinlich haben manche, die heute Marathon laufen, uns einst im Wald verhöhnt: „Eins, zwei, eins, zwei“. Mag sein, daß sich in einigen Jahren einige Läufer fragen werden, weshalb sie sich im Wettbewerb übergeben müssen. Ich bin auch den Ruhr-Marathon mit Wasser gelaufen und sonst nichts. Am Ziel dann Apfelsaftschorle und Banane.
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