Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 29. September 09

Nun bekommen wir eine neue Regierung. Ich gestehe, ich habe mich über den Ausgang der Wahl getäuscht, der Zuwachs der FDP stand nicht auf meiner Rechnung. Ich hatte auf die Fortsetzung der großen Koalition getippt. Nebenbei: Im Wahlkampf hat mich – im Gegensatz zu den auf Krawall erpichten Medien – der höfliche Umgang der beiden Hauptkonkurrenten miteinander angenehm berührt. Ob die FDP wohl deshalb so viele Stimmen bekommen hat, weil es die Partei mit der größten Wirtschaftsnähe ist und die Wähler von der Politik wenig, um so mehr aber von der Wirtschaft erwarten? Der abermalige Rückgang der Wahlbeteiligung stand zu erwarten.

Der Berlin-Marathon zeichnet sich dadurch aus, daß es zwar vielleicht für die Letzten nichts mehr zu trinken gibt, aber eine Infusion könnten sie allemal noch bekommen. Die Sanitätszelte bleiben, bis der Letzte von der Strecke, will sagen: vom Gehweg ist. Nicht nur, daß die Erste-Hilfe-Kette intakt bleibt; auch präventiv ist – dies bereits unter Dr. Willi Heepe – Vorbildliches geleistet worden. Mit der Anmeldung zu jedem der vom Sport-Club Charlottenburg veranstalteten Läufe unterziehen sich die Teilnehmer dem PAPS-Test, dem Physical Activity Prevention Screening. Mittels 12 Algorithmen wird danach eine Empfehlung mitgeteilt. Über Risikofaktoren und Ergebnisse der Empfehlungen berichtete der medizinische Direktor des Berlin-Marathons, Dr. Lars Brechtel, auf dem Sportmedizin-Symposium am Tage vor dem Berlin-Marathon.

Nach einer Umfrage der Humboldt-Universität, Abteilung Sportmedizin, trainieren durchschnittliche Marathonläufer etwa fünf Stunden in der Woche. Aus sportmedizinischer Sicht, so fügte Dr. Brechtel an, könnte der Trainingsumfang durchaus etwas mehr betragen. Ein herzfrequenzgesteuertes Training betreiben 57,8 Prozent der Befragten; dieses schütze jedoch nicht vor einem Übertraining. „Hier stellt sich die Frage, ob nicht häufiger eine Leistungsdiagnostik mit Trainingsberatung sinnvoll wäre, da noch nicht einmal jeder zehnte Läufer eine entsprechende Laktat-Leistungsdiagnostik oder Spiroergometrie durchgeführt hatte.“ Nur ein knappes Viertel unterziehe sich regelmäßig einer Sporttauglichkeitsuntersuchung mit Belastungs-EKG. Die befragten Marathon-Teilnehmer bleiben krankheitshalber weniger der Arbeit fern (2,7 Tage im Jahr) als die Normalbevölkerung. Sportverletzungen seien mit weniger als zwei Mal im Jahr seltener als angenommen, meinte Dr. Brechtel.

Manches bei diesem Symposium gibt Läufern zu denken. Professor Dr. Hans-Georg Predel (Sporthochschule Köln) provozierte mit der Frage: Marathon – Jungbrunnen oder Gefahr? „Der Marathon“, heißt es in seinem Statement, „bleibt eine sportliche Höchstleistung, die an den Grenzbereich der menschlichen Belastbarkeit heran reicht. Um sie gefahrlos zu bewältigen, ist eine intensive medizinische und trainingsplanerische Vorarbeit zu leisten.“ Eine Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen zeige die potentiellen Risiken insbesondere für das Herz-Kreislauf-System auf. Zum Beispiel fanden sich bei denjenigen von 60 Teilnehmern des Boston-Marathons, die in den letzten 12 Wochen vor dem Marathon weniger als 55 Kilometer in der Woche trainiert hatten, nach dem Zieleinlauf Hinweise auf mögliche strukturelle und funktionelle Schäden des Herzmuskels. Wer regelmäßig über 55 Kilometer trainierte, wies dagegen keine derartigen Veränderungen auf. Weitere Untersuchungen dokumentierten bei vielen Teilnehmern einen erheblichen oxidativen Streß nach dem Marathon. Was so furchterregend klingt, ist nichts weiter als die bekannte Tatsache, daß die Infektneigung deutlich erhöht ist, insbesondere dann, wenn mehr als zwei Marathone im Jahr gelaufen werden. Daraus nun als Empfehlung zu folgern, an nicht mehr als zwei Marathonen im Jahr teilzunehmen, scheint mir übertrieben zu sein. Gerade Vielläufer laufen nicht jedesmal auf Höchstleistung. Professor Predel scheute sich auch nicht, Ultramarathone als gesundheitlich fragwürdig zu bezeichnen. Dagegen könnte man eine Anzahl Argumente anführen, vor allem das anthropologische, daß der Mensch von Haus aus ein Dauerleister ist und nur bei höchster Gefahr sprintet.

Prof. Dr. Burkhard Weißer (Kiel) bezeichnete das Alter als einen Risikofaktor. Ob man das so ausdrücken darf? Alter ist keine Krankheit. Nur eben, im Alter werden Grunderkrankungen manifest.

Dr. Fabian Knebel (Charité Berlin) referierte über eine Untersuchung beim Berlin-Marathon 2006 und 2007. Dabei wurden über 180 Läuferinnen und Läufer, darunter eine große Anzahl über Sechzigjähriger, dahingehend untersucht, wie sich die Herzfunktion bei einem Marathonlauf ändert und ob eine Schädigung des Herzmuskels zu messen sei. „Es konnte dabei nicht beobachtet werden, daß die Herzen der älteren Läufer in irgend einer Form anders reagierten als die Herzen der jüngeren Läufer. Die Studie zeigt, daß die myokardiale Funktion bei älteren Marathonläufern erhalten bleibt und es lediglich zu einer altersunabhängigen Anpassung der diastolischen Funktion (Entspannungsfunktion) an die Dehydration (Flüssigkeitsverlust durch Schwitzen) und Tachykardie (schneller Herzschlag) kommt.“

Und hier noch einige Zahlen, die bei der Berichterstattung leicht untergehen: Von der Möglichkeit der ärztlichen Konsultation auf der Vital-Messe vor dem Berlin-Marathon wurde 386 Mal Gebrauch gemacht. Dabei wurde 244 Angemeldeten empfohlen, auf die Teilnahme zu verzichten. Der Schwerpunkt lag auf orthopädischen Problemen. Beim Marathon am 20. September mit Temperaturen bis zu 28,7 Grad Celsius wurde etwa 300 Mal medizinische Hilfe an der Strecke und 317 Mal am Ziel geleistet. Zeitlich ballte sich die Inanspruchnahme zwischen 12 und 13 Uhr, also nach drei bis vier Stunden Laufzeit. 37 Teilnehmer wurden in Krankenhäuser eingewiesen.

Da in den Medien unentwegt von über 40.000 Marathon-Teilnehmern geschrieben worden ist: Gestartet sind 36 352. Nur das zählt. Nicht weniger als 4 561 Angemeldete sind nicht gestartet. Den Lauf haben 3,62 Prozent vorzeitig beendet. 18 254 Gestartete, also mehr als die Hälfte, kamen aus 123 anderen Staaten, an der Spitze noch vor Briten und Italienern die Dänen. Nicht weniger als 304 Japaner waren dabei.

All das, das spektakulärste Ereignis des deutschen Breitensports und gleichzeitig Spitzenleistungen auf Weltniveau, war den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ARD und ZDF – mit dem Zweiten schielt man besser (auf die Quote) – keine Berichterstattung wert. „Unser gutes öffentliches Recht“ – es kommt nur in der Werbung für die Gebührenzahlung vor.

Eintragung vom 23. September 09

Was Haile Gebrselassie bei seinem vierten Sieg in Berlin nicht gelang, seinen Weltrekord zu erreichen oder gar zu unterbieten, sollte man füglich nicht in meinem Alter erwarten, nämlich die Zeit vom Jahr zuvor zu wiederholen. Dennoch, ich habe auf das Wunder von Berlin gehofft. Ein bißchen Wunderglaube ist ja vielleicht immer vor einem Wettbewerb im Spiel. Es mag eine Art Autosuggestion sein. Wäre es nicht so, würden wir uns um eine wichtige mentale Komponente bringen. Auch Haile Gebrselassie ist schließlich mit der Motivation an den Start gegangen, seinen Weltrekord zu verbessern. Nach Kilometer 30 mußte er einsehen, daß es nicht langt.

Ich habe bei Kilometer 12 erkannt, daß es nicht mehr reicht, genau genommen am Strausberger Platz, als ich mit Pietro und seiner Frau nicht mehr Schritt halten konnte. Pietro sagte mir, er sei sechsundachtzig, seine Frau achtzig. Damit bin ich völlig zu Unrecht in einigen Medien als der älteste Teilnehmer des Berlin-Marathons hervorgehoben worden. Warum eigentlich hat man nicht eine M 85 ausgewiesen, auch wenn sie nur mit einem einzigen besetzt gewesen wäre? Auf jeden Fall wäre dann ersichtlich geworden, wer wirklich der älteste Teilnehmer ist. Und der Berlin-Marathon hätte sich den Ruf erworben, eine M 85 am Start zu haben. In M 80 waren wir zu fünft am Start, Dr. Eric Lindstedt aus Schweden mit 5:37:34 Stunden als erster, ich mit 6:50:54 als letzter.

Da im Forum des Berlin-Marathons gerade eine Diskussion über uns walkende Läufer geführt wird – Ausgangspunkt war, daß die „Berliner Morgenpost“ entgegen ihrer großmäuligen Ankündigung „Alle Läufer, alle Zeiten“ in der Montagausgabe eben nicht alle Finisher genannt hat –, möchte ich die alterstypische Entwicklung meiner Berlin-Laufzeiten festhalten: Meine Berliner Bestzeit betrug 3:22:43, das war im Jahr 1982. Im Alter von 71 Jahren lief ich 4:13:14 Stunden, im Jahr 2004 waren es 5:12:09, da war ich achtundsiebzig. Das war mein letzter auf volle Leistung gelaufener Berlin-Marathon. Hätte ich da – nach Meinung von Forumsdiskutanten, die bei Zeiten über 6 Stunden die Mundwinkel herabziehen – aufhören sollen? 2005 lief ich am Tag des Berlin-Marathons in Ulm, 2006 konnte ich wegen einer Bypaß-Operation nicht teilnehmen. Im Jahr darauf kam ich auf 5:31:07 Stunden. Mit Rücksicht auf die Herzoperation im Jahr zuvor lief ich sehr bedachtsam; entgegen der Ansicht mancher Mediziner, die mir auch beim medizinischen Symposium vor dem Berlin-Marathon anzuklingen schien, wollen wir uns ja durchaus nicht laufend umbringen. Ich war nicht ganz glücklich, daß ich auf diese Weise eine Zeit unter 5:30 Stunden verpaßt habe. Heute weiß ich, daß die 5:31 Stunden nach einer Herzoperation wahrscheinlich meine grandioseste Leistung gewesen sind. Damals hoffte ich, im Jahr darauf vielleicht doch noch unter 5:30 kommen zu können. Im Jahr 2008 war an der Halbmarathonmarke die Luft heraus, das Walking auf der zweiten Hälfte brachte mir 6:17:17 ein. Und wieder die Hoffnung: Ob ich nicht im Jahr darauf unter die Zielschlußzeit von 6:15 Stunden kommen könne? Schon im Frühjahr, nach einem mehrwöchigen Trainingsausfall, war mir klar, es würde zweifelhaft sein, ob ich die nun auf sechseinhalb Stunden bemessene Zeit bis zum offiziellen Zielschluß einhalten könne.

Ich strebte einen Kilometerschnitt von 9 Minuten an. Wie froh war ich, daß ich ihn bis Kilometer 11 halten konnte. Dann jedoch, als Pietro mit seinem Geschwindschritt meinen Augen entschwand, sah ich ein, es kam nur noch darauf an, sich irgendwie durchzuschlagen. Wenn ich immer wieder einmal eine Passage trabte, merkte ich, daß ich am Anschlag lief – das Herz meldete sich. Das war auch schon voriges Jahr beim 100-Kilometer-Lauf in Biel der Fall gewesen. Nun werden wieder Mediziner die Hände überm Kopf zusammenschlagen: Er läuft mit Angina pectoris! Unsinn, Ernst van Aaken, obwohl kein kardiologischer Spezialist, hatte sehr wohl unter den Herzsymptomen differenziert. Der Kardiologe, den ich im vorigen Jahr ein halbes Jahr nach dem Bieler Hunderter konsultierte, meinte, er wäre froh, wenn er in meinem Alter so fit sein würde. Manch einer von uns läuft gegen Gelenkschmerzen an – und dies auch noch erfolgreich –, gegen Herzschmerzen sollte man jedoch nicht anlaufen, finde ich. Also bin ich beim Walking geblieben. Erst war es eine Minute, die ich beim nächsten 5-km-Abschnitt über meiner Anfangszeit blieb, dann zwei Minuten. Diesen Schritt konnte ich jedoch nun gut halten. So hätte ich auch einen Ultra zurücklegen können. Im Grunde genommen war der Berlin-Marathon ein Ultra. Etwa 3 Kilometer mußte ich zum Start gehen, 3 Kilometer ging ich vom Ziel zurück ins Hotel. Die S-Bahn-Linie (darüber ein andermal) verkehrte nicht. Der als Ersatz angeblich alle 10 Minuten zum Hauptbahnhof verkehrende Bus kam nach zwanzigminütigem Warten noch immer nicht.

Das Berliner City-Lauf-Erlebnis endete bereits vor der Halbmarathonmarke. Da wurde ich von einem Ordner des Besen-Busses auf den Gehweg gewiesen. Die Polizei wolle den Verkehr freigeben. Es war wie ein kleiner Schock. Auch wenn man am Ende des Feldes allein ist, – man ist eingebunden in den Verlauf eines Rennens. Auf dem Gehweg ist man ein Passant mit einer komischen Nummer auf dem Bauch. Ich weiß nun, wie man the back of the pack zutreffend übersetzt: Man ist am Arsch der Läuferwelt. Der City-Marathon wird zum Orientierungslauf. Die Party, von der Fred Lebow bei seinem New York-Marathon sprach, ist zuende, ein bißchen Katerstimmung, das Aufräumen beginnt. Statt des Staubsaugers im Party-Raum Müll- und Kehrfahrzeuge auf der Straße, krachend werden die Tische und Bänke der Verpflegungsstationen verladen, in der Potsdamer Straße endlich hatten sie wenigstens noch einige Dutzend gefüllte Wasserbecher stehengelassen.

Doch noch immer einige rührende Akzente des City-Marathons, am Wilden Eber noch immer Menschen, und sei es, daß sie nun nicht mehr die Läufer, sondern sich selbst feierten. Der eine oder andere Posten klatschte Beifall. Am Kurfürstendamm waren es die mit Medaille heimkehrenden Finisher, die Solidarität bekundeten.

Die Säule mit der 30-Kilometer-Markierung wurde vor meinen Augen verladen. Fortan galt es, zwischen Wahlplakaten und Streckenschildern zu unterscheiden. Die blaue Linie, ziemlich verblaßt, darf man dennoch nicht aus den Augen lassen. Deshalb benützten wir häufig den Radweg oder den Straßenrand. Es könnte am Fehrbelliner Platz gewesen sein, als Keith, ein stämmiger Engländer, weit vor mir geradeaus walkte. Die blaue Linie führte nach links. Es durchzuckte mich: Wollte ich Keith einholen, hätte es mehrere hundert Meter gedauert. Meine Stimme konnte ihn erst recht nicht erreichen. Da ergab es sich, daß eine Radfahrerin neben mir absteigen mußte. Ich bat sie, den Läufer vor uns zur Umkehr zu bewegen. Es hat geklappt, Keith holte mich wieder ein und dankte mit schweißigem Händedruck. Wenn man mich disqualifizieren sollte, weil ich keine 30- und keine 40-Kilometer-Zeit aufweisen kann, weil die Matten schon abgeschaltet waren, Keith wird mir als Zeuge helfen. Ich tauge nun einmal nicht zum mexikanischen Präsidentschaftskandidaten, der im vorigen Jahr ob seiner Streckenverkürzung von sich reden gemacht hat.

Auch wenn die Strecke abgebaut wurde, die Bands ihre Kabel einrollten, die Feuerwehren ihre Schläuche, die Kehrmaschinen die Teppiche aus Kunststoffbechern zusammenschoben, so blieben doch wenigstens noch Ordner und Verkehrspolizisten am Ort, die großzügig darüber hinwegsahen, daß ich rote Fußgänger-Ampeln mißachtete. Möge das Berliner Herz lange in ihnen schlagen!

An der Französischen Straße und Unter den Linden tatsächlich noch Publikum, das über dem Sonntagskaffee von uns letzten Walkern Notiz nahm. Selbst am Zielkanal noch Menschen. Das Schönste am diesmal so stillen Zieleinlauf jedoch: daß Roland Winkler mich empfing, mochte es auch Zufall sein, und seine Frau mir die Medaille umhängte. Roland war gewissermaßen als Schlußläufer gestartet und hatte dann das Feld bis 3:41:03 aufgerollt. Sekunden nach mir – das Video zeigt einen Laufstil, den man nur als Watscheln bezeichnen kann – trafen eine Läuferin und Keith ein – große Finisher-Geste mit der britischen Flagge auf den Schultern. Was Sport ist, ist eben subjektiv.

Eintragung vom 12. September 09

Als ich einen Karton mit Lauf-Memorabilien für das Sportmuseum Berlin füllte, stieß ich auf die Aufnäher, jene bestickten oder gewebten Erinnerungen an Laufveranstaltungen. Sie waren dazu gedacht, auf Trainingsanzüge oder Laufhemden genäht zu werden. Jetzt ist mir aufgefallen: Sie sind ganz aus der Mode gekommen. Nicht einmal in dem doch sehr breiten Sortiment zum Berlin-Marathon finden sie sich noch. Wenn ich mich recht erinnere, werden Aufnäher noch in Biel angeboten.

Früher, sehr viel früher, erhielt man sie bei Ultraläufen mit den Startunterlagen. Offenbar herrschte die Meinung vor, Ultraläufe erforderten derart außergewöhnliche Leistungen, daß man die Erbringer kenntlich machen sollte. Doch wohl die wenigsten hefteten sich die textilen Memorabilia an die Brust, einen einzigen Aufnäher vielleicht, den ersten, aber nicht alle, die sich da im Laufe der Zeit ansammelten.

Ausnahmen gab es, ihre Träger erregten Aufsehen. Das war vielleicht beabsichtigt. In Biel waren es möglicherweise Geher, die das Bedürfnis hatten, durch Quantität zu imponieren, wenn sie schon keine Lauf-Zeit vorweisen konnten. Fleißige Ultraläufer wüßten ohnehin nicht, wohin damit. Kein Trainingsanzug bietet soviel Oberfläche, daß 100 Aufnäher Platz hätten. Es sei denn man würde sich den Trainingsanzug ersparen und einfach Aufnäher an Aufnäher nähen. Manche Traditionsläufer am Rennsteig machen das mit ihren Startnummern und laufen damit sogar.

Die Veranstalter, die sich vielleicht durch solche Aufnäher Werbung versprochen hatten, merkten wohl nach einigen Jahren, daß die Memorabilien daheim in Trophäensammlungen der Öffentlichkeit entzogen waren. Die Aufnäher verursachten ja auch Arbeit. Welcher Läufer hat das Etikett schon selbst aufgenäht? Meistens mußte das eine willige Läuferfrau tun. Da mußte die Liebe schon sehr groß sein, wenn Läuferfrauen nicht nur ihre Männer für ein Wochenende entbehren, sondern dann auch noch die Teilnahmebestätigung aufnähen sollten.

Innovationen der Textiltechnik besorgten den Rest. Mitte der achtziger Jahre begannen Synthetikfasern, den Markt der Laufbekleidung in Deutschland zu erobern. Mit wenigen Stichen hätte man einen Goretex-Anzug ruinieren können. Dies ließ Veranstalter wohl auch davon abkommen, Anstecknadeln in die Läuferbeutel zu legen oder zum Verkauf anzubieten. Beim Rennsteiglauf hielten sich die Anstecknadeln etwas länger – was Wunder, ihn erreichte ja auch die Funktionskleidung später.

Die Aufnäher und Anstecknadeln konnten schon deshalb keine Zukunft haben, weil viele Veranstalter Ehrgeiz darein legten, die Finisher mit einem Trikot auszuzeichnen; nicht selten erhält man es heute schon vor dem Start. Was den Vorzug hat, daß für die Letzten nicht bloß die Größe XL übrig bleibt. Doch der Sinn des Finisherhemdes wird damit konterkariert. Die Werbeaufdrucke für Veranstalter und Sponsoren sind für die Reklame weit effizienter als die Aufnäher, weil die Hemden ganzjährig beim Training getragen werden.

Die Aufnäher verschwanden in der Laufbewegung so rasch, daß sich im Verlauf der Denglisch-Sprachentwicklung nicht einmal die englische Bezeichnung tuck für Aufnäher verbreiten konnte. Unter einem Tucker versteht man im Deutschen etwas ganz anderes, nämlich das Gerät, mit dem man Heftklammern irgendwo befestigt. Auch wenn sie ganz und gar überflüssig sind, – es ist schade um sie. Irgendwie waren es kleine Kunstwerke. Das Logo der Veranstaltung gewann Plastizität. Liebe Erinnerungen an frühe Laufveranstaltungen, die es größtenteils nicht mehr gibt. Nun wandern sie ins Museum.

Eintragung vom 2. September 09

Das Thema ist durch die Leichtathletik-Weltmeisterschaft verdrängt worden, aber ich halte es für zu wichtig, als daß es unter den Tisch fallen sollte: Sexualität und Sport. Der Anlaß ist traurig – sexueller Mißbrauch von Kindern durch Trainer.

Es fällt auf, daß der Sport in seiner Vergangenheit ein ziemlich verdrucktes Verhältnis zur Sexualität gehabt hat. Dabei speisen sich die körperliche Aktivität im Sport und die Sexualität aus derselben Quelle, dem „élan vital“; mit diesem Begriff umschrieb der Philosoph Henri Bergson die schöpferische Lebenskraft, auf die sich auch Ernst van Aaken bei der Lobpreisung des Laufens berufen hat. Vielleicht gerade deshalb, weil Erotik und Sport Schwestern sind, ist die Erotik im Sport – unter dem Einfluß der Kirchen und der gesellschaftlichen Normen des viktorianischen Zeitalters – unterdrückt, zumindest ignoriert worden.

Wenn es denn in der Sportgeschichte Aussagen zur Sexualität gibt, so waren sie von zwei Absichten bestimmt: Zum einen die Leibesübung zur Unterdrückung der Sexualität zu benützen, zum anderen Sportler zu veranlassen, temporär auf sexuelle Handlungen zugunsten der sportlichen Leistungssteigerung zu verzichten. Bereits in der Frühgeschichte der Leibesübungen sind diese Tendenzen zu finden. GutsMuths wünscht von der Körperbildung, „daß sie von weichlicher Sinnlichkeit abziehe“ („Gymnastik für die Jugend“, 1793).

In einer der wenigen einschlägigen Veröffentlichungen stöhnt Ulrich Dix in den siebziger Jahren: „Nach verzweifeltem Quellenstudium zu sexualbejahenden Texten in der Sportliteratur ist resignierend festzustellen, daß es keine sexualitätsfreudigen Theorien in der Sportliteratur gibt“ („Sport und Sexualität“, 1972). Schon Sigmund Freud hat postuliert: „Die moderne Kulturerziehung bedient sich bekanntlich des Sports in großem Umfang, um die Jugend von der Sexualbetätigung abzulenken; richtiger wäre es zu sagen, sie ersetzt ihr den Sexualgenuß durch die Bewegungslust und drängt die Sexualbetätigung auf eine ihrer autoerotischen Komponenten zurück“ („Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, 1905). Der Sport einschließlich der Sportwissenschaft hat um die Thematik einen Bogen geschlagen. Alfred Richartz beklagt in der einzigen neueren Veröffentlichung, die ich zu diesem Thema gefunden habe, „daß das Verhältnis von Sport und Sexualität, wissenschaftlich gesehen, immer noch ein ziemlich finstres, unübersichtliches Kellergeschoß ist. Innerhalb der Sportwissenschaft wurde das mißliche Thema weitgehend den Medizinern zugeschoben“ („Perspektiven einer zukünftigen Anthropologie des Sports“, 1990).

Statt das finstere Kellergeschoß zu durchleuchten, ließ sich der Sport instrumentalisieren. Etwa 200 Jahre lang, seit dem Erscheinen von Tissots Schrift „Versuch von denen Krankheiten, welche aus der Selbstbeflekung entstehen“ (1760), haben Erzieher Pubertierenden sowohl mit den Tissotschen Drohungen Angst gemacht und Schuldgefühle erweckt, als auch zur Unterdrückung sexueller Regungen Leibesübungen empfohlen. „Als bestes Mittel zur ,Sublimation der Triebe’ galt – und gilt noch – der Sport. Für besonders wichtig hielt z. B. Sophie Dapper 1925 körperliche Bewegung während der ,Reifezeit’ der Mädchen, denn ,durch nichts wird die erwachende Sinnlichkeit mehr bekämpft als durch das ruhelose Tummeln im Freien, ... durch das bis zur gesunden Ermüdung fortgesetzte Erproben des Körpers...’ Sport als ,Gegenkraft gegen die Onanie und den frühen Geschlechtsverkehr’ empfiehlt noch Enz 1970“ (zitiert nach Gertrud Pfister, „Sport und Geschlecht“, 1983). Wie die bürgerlichen Turn- und Sportvereine sah auch der Arbeitersport in der körperlichen Aktivität ein Mittel, das Sexualleben zu mäßigen, wenn nicht zu unterdrücken. „Die gesunde Ermüdung durch den Sport lenkt von sexuellen Gedanken ab“, war 1922 in der „Arbeiter-Turn- und Sportzeitung“ zu lesen.

Jahrzehnte lang hielten Trainer sexuelle Aktivität vor Wettbewerbsteilnahmen für schädlich. Bereits in der Einleitung zu dem Trainingsbuch von Dipl.-Ing. Ottomar Krupski „Der Langstreckenlauf“ (1927) ist zu lesen: Ein „nach Höchstleistung Strebender... muß sich immer wieder selbst meistern und seine Lebensgenüsse einschränken. Der Gemütlichkeitssport Betreibende tut das nur in den seltensten Fällen. Wie leicht ist es, sich geistiger Getränke und des Geschlechtsverkehrs zu enthalten, wenn man sportlich Großes vollbringen will!“ Weiter: „Dem eifrigen Wettkämpfer darf von Wein, Weib und Gesang nur der letztere erlaubt sein.“ Ein Glas Bier hin und wieder gestattet Krupski; aber dann muß er wieder auf das Thema Nummer 1 zu sprechen kommen: „Der Geschlechtsverkehr muß vor dem Wettkampf mehrere Tage – über die Anzahl der Tage entscheidet die Veranlagung – ausgesetzt werden.“ Auch Heinz Otto vertritt in „Langstreckenlauf“ (1936), erschienen in der Schriftenreihe des Fachamtes Leichtathletik im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen, die Meinung: „Wer enthaltsam leben kann, ist zu loben.“

Jeder Hauch von Sinnlichkeit ist von Funktionären erstickt oder in Nischen verwiesen worden. „So geschah es bei einem großen internationalen Sportfest in London, daß der berühmte deutsche Läufer Dr. Peltzer (Anm.: Fünffacher Weltkrekordinhaber in den Mittelstrecken und dreizehnmal Deutscher Meister) zu den Entscheidungskämpfen nicht zugelassen werden sollte, falls er in seinem Trikot mit zu kurzer Hose und ohne Ärmelansatz erscheinen würde“ (zitiert nach Magnus Hirschfeld).

Sport und Erotik – diese Verbindung ist einem ungeheueren Verdrängungsprozeß unterworfen. Der offizielle Sport will nicht wahrhaben, daß Sport sinnlich ist, obwohl manche Sportarten wie Eislauf und Beach-Volleyball darauf spekulieren. Außer Freud und vor ihm Karl Groos („Die Spiele der Menschen“, 1899) hat der Tübinger Philosoph Eduard Spranger, dessen „Psychologie des Jugendalters“ ein Klassiker der Pädagogik ist, das „moderne Sportleben ... von sexuellen Erregungsmomenten“ durchzogen gesehen. Nicht umsonst haben staatliche und namentlich kirchliche Sittenwächter an dem Auftreten von Sportlern und vor allem Sportlerinnen Anstoß genommen. Im Jahre 1909 war (nach Gertrud Pfister in „Sport und Geschlecht“) in einer Polizeiverordnung zu lesen: „Bezüglich des Damenschwimmens wird dem Vorstand (des Werdohler Schwimmvereins) die Pflicht auferlegt, alle männliche Zuschauer mindestens 300 Meter entfernt zu halten.“ Die Fuldaer Bischofskonferenz verlautbarte 1913: „Niemals sind gemeinsame Veranstaltungen oder turnerische Aufzüge von Knaben und Mädchen zu billigen... Auch jedes vor breiter Öffentlichkeit hervortretende Schauturnen von Mädchen oder Damen, und noch weit mehr öffentliche Schwimmvorstellungen derselben und selbstverständlich auch alles gemeinsame Schwimmen von Mädchen und Knaben müssen aufs schärfste verurteilt werden.“ Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus wies 1926 die höheren Lehranstalten an: „Das Zuschauen von Schülern bei Mädchenturn- und Spielunterricht ist zu verhindern“ (zitiert nach Liselott Diem). Noch Anfang der zwanziger Jahre führten Skiläuferinnen zum Beispiel in Garmisch-Partenkirchen im Rucksack einen Rock mit sich, den sie über die Hosen streiften, sobald sie sich dem Ort näherten.

Die Leugnung der Erotik im Sport einerseits, ihre heutige Instrumentalisierung andererseits ist nicht im mindesten aufgearbeitet, das Thema Sexualität und Sport ist verdrängt worden. Durch die Hintertür schleicht es sich ein, und zwar in der devianten Form („Deviation“ hat den umgangssprachlich noch immer verwendeten Begriff Perversion ersetzt). Es muß doch auffallen, daß immer wieder Trainer auf der Anklagebank sitzen, weil sie sexueller Übergriffe an Minderjährigen beschuldigt werden. In Passau sitzt derzeit ein Judotrainer, Vorstandsmitglied und zeitweise Vereinsvorsitzender in Untersuchungshaft; die Staatsanwaltschaft klagt ihn an, 15 Jahre lang in 224 Fällen Kinder, vorwiegend Jungen zwischen neun und 15 Jahren, mißbraucht zu haben. Der 39jährige Mann ist bereits mit 10 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung vorbestraft. Dennoch durfte er weiterhin als Trainer tätig sein. Noch mehr, eine Mutter sprach den Trainer auf seine Handlungen an und erstattete schließlich im Jahr 2004 Anzeige. Die Frau wurde im Verein, dem 1. Judo-Club Passau, als „Unruhestifterin“ bezeichnet und von anderen Vereinsmitgliedern angefeindet. Erst jetzt nach der Anklage bekannte die 2. Vorsitzende: „Wir müssen uns vielleicht vorwerfen lassen, daß wir zu gutgläubig waren und bis zuletzt immer an seine Unschuld geglaubt haben.“

Kurz zuvor, ehe dieser Fall ans Licht kam, ist am 19. August 2009 in München ein hauptberuflicher Trainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes aus Penzberg wegen etwa 300fachen sexuellen Mißbrauchs an acht Minderjährigen zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden; das Gericht hat eine sich anschließende Sicherungsverwahrung in einer psychiatrischen Anstalt angeordnet. Die Delikte erstreckten sich auf einen Zeitraum von achtzehn Jahren. Im vorigen Jahr hat ein Hockeytrainer aus Wedel, der bereits Ende der achtziger Jahre wegen sexuellen Mißbrauchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, wegen anderer Fälle eine Freiheitsstrafe von drei Jahren erhalten. Er legte Revision ein, blieb auf freiem Fuß und verging sich abermals an zwei Jungen. Dafür wurde er zu dreieinhalb Jahren verurteilt. In einem neu aufgerollten Verfahren vor dem Landgericht Hamburg sind jetzt die vorangegangenen Strafen zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren und zehn Monaten zusammengezogen worden.

Im vorigen Jahr hatte sich ein bekannter Boxtrainer vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin wegen sexuellen Mißbrauchs zu verantworten. Auch hier erstreckten sich die Taten über einen langen Zeitraum, so daß einige als verjährt galten. Der Trainer mußte für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ebenfalls im vorigen Jahr mußte sich ein Schwimmlehrer in Wilhelmshaven, der sich an Schülerinnen vergangen hat, verantworten. Er kam mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe davon. Bezeichnend ist auch hier wieder, daß auch gegen ihn schon früher, 1996, wegen ähnlicher Delikte ermittelt worden war, das Verfahren jedoch eingestellt wurde. Dennoch hielt der VfL Wilhelmshaven an ihm fest. Der dritte Fall im vorigen Jahr: Ein Cottbuser Kanu-Trainer stand wegen sexueller Nötigung und sexuellen Mißbrauchs vor dem Landgericht; es verurteilte ihn zu zwei Jahren Haft auf Bewährung.

Woanders sieht es nicht besser aus. Die „Berner Zeitung“ hat im Mai über das Verfahren gegen einen Trainer des Unihockey Clubs Trimbach berichtet, der zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden ist. Die Präventionsfachstelle MIRA schätzt, daß in der Schweiz im Sport- und Freizeitbereich jährlich bis zu 5000 Übergriffe auf Kinder und Jugendliche begangen werden, und bezeichnet Fälle des vorigen Jahres, durch einen Trainer des FC Juventus Binningen, einen Trainer des Velo-Moto-Clubs Erstfeld und einen Trainer der LV Horw, nur als die Spitze des Eisbergs. Der Berner Lehrer Rolf Haussener, der sich dieser Problematik angenommen hat, konstatiert: „Das Problem des sexuellen Mißbrauchs wird in den Vereinen unter den Teppich gekehrt, weil man es scheut, sich damit auseinander zu setzen.“

Wie die einzelnen Fälle belegen, wird nicht selten an Trainern festgehalten, die einschlägiger Delikte verdächtigt oder für diese sogar schon verurteilt worden sind. Manchmal werden Vorkommnisse verharmlost. Jugendschutzorganisationen haben jedoch Kriterien sexueller Übergriffe definiert. Danach sind nicht nur unerwünschte Berührungen und Annäherungsversuche, sondern auch anzügliche Bemerkungen und sexistische Sprüche eine sexuelle Belästigung.

Wohl jeder Beruf scheint anfällig für bestimmte Deliktarten zu sein. Seit einer Studie des Kriminologen Hans von Hentig weiß man zum Beispiel, daß die Feuerwehr magisch Pyromanen anlockt. Ich habe das durch das Sammeln von Zeitungsmeldungen, in denen über Feuerwehrmänner als Brandstifter berichtet worden ist, bestätigt gefunden. Die Katholische Kirche hat zahlreiche Fälle sexuellen Mißbrauchs durch Priester eingestehen müssen. Im Sport kommt es zwangsläufig zum Körperkontakt. Dies und das große Nachwuchspotential mag Pädophile anziehen, gerade in der Jugendarbeit tätig zu sein. Menschen mit latenten pädophilen Neigungen können als Jugendtrainer in Versuchung geraten. Man spricht zwar von pädagogischem Eros, aber damit ist immer eine platonische Beziehung gemeint und keine, die auf sexuelle Handlungen abzielt. Pädagogischer Eros, der wohl immer großen Pädagogen zu eigen gewesen ist, zum Beispiel Pestalozzi, ist für die Erziehung fruchtbar, hält jedoch Distanz, selbst wenn zum Beispiel an der Schule die Initiative zu mehr von Schülerinnen ausgehen sollte.

Der Beziehung zwischen Trainern und den ihnen Anvertrauten liegt ein besonderes Machtverhältnis zugrunde. Da es ein freigewähltes ist, wird die Autorität des Trainers anerkannt und Vertrauen aufgebaut. Nicht selten haben Kinder und Jugendliche zu ihrem Trainer in manchen Fragen mehr Vertrauen als zu ihren Eltern. Dieses besondere Verhältnis zeigt sich bei Erwachsenen darin, daß es immer wieder zu Liebesbeziehungen zwischen Trainern und Sportlerinnen, in seltenen Fällen wohl auch zwischen Trainerinnen und Sportlern, kommt. Solange über die Gefahren dieses Autoritätsverhältnisses nicht reflektiert wird, ist dem Mißbrauch der Trainer-Autorität Tür und Tor geöffnet. Das gilt nicht nur für unerlaubte sexuelle Beziehungen und Mißhandlungen, sondern auch im Hinblick auf das Doping. Viele jugendliche Leistungssportler in der ehemaligen DDR haben verbotene und schädliche Mittel geschluckt, weil sie ihnen der Trainer gegeben hat.

In der Katholischen Kirche sind Jahrzehnte lang die Fälle von sexuellem Mißbrauch durch Priester vertuscht worden: manchmal wurden die Schuldigen der Gerichtsbarkeit entzogen und in ein Kloster geschickt. Erst in den letzten Jahren ist hier, zum Teil auch durch materiellen Ausgleich für die Therapie psychischer Schädigung, reiner Tisch gemacht worden. Dem Sport steht diese Aufarbeitung noch bevor; er kann sie nicht weiter hinausschieben. Das Material ist eindeutig genug.

Mit der Entlassung von rechtskräftig verurteilten Trainern ist es nicht getan. Es muß eine Auseinandersetzung mit diesem Thema stattfinden. In der Praxis sieht es doch so aus: Da ist der Eiskunstlauftrainer des TuS Waldau in Stuttgart, Karel Fajfr, der jahrelang ob seiner rüden Trainingsmethoden berüchtigt war, im Jahr 1995 wegen Mißhandlung und sexueller Übergriffe zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung, 25000 Mark Geldstrafe und dreijährigem Berufsverbot verurteilt worden. Wenige Jahre später kehrte er als Trainer in die Szene zurück, ins Eissportzentrum Oberstdorf. Gegenwärtig findet eine Protestaktion gegen den Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union und Vorsitzenden der Trainer-Kommission statt. Er soll in mindestens zwei Fällen von ihm abhängige Sportler sexuell belästigt haben. Etwa 200 Eiskunstläufer fordern seine sofortige Suspendierung. Zu dieser Initiative ist es gekommen, nachdem eines der Opfer einen Suizidversuch unternommen hat. Die Eislauf-Union hat bereits nach dem Fall Fajfr einen Ehrenkodex verabschiedet – wie man sieht, folgenlos.

Zu fordern ist eine größere Sensibilität für die Gefährdung durch menschlich ungeeignete Trainer. Gegenwärtig wird, wie sich bei der Deutschen Eislauf-Union zeigt, die Effizienz der Trainingsarbeit höher bewertet als die ethische Untadeligkeit. Manchmal sind es auch die Eltern, die ihre Kinder einem Trainer anvertrauen, obwohl sein Vorleben Anlaß zu Bedenken gibt; ihr Ehrgeiz, daß der Trainer aus ihren Kindern Vorzeige-Athleten machen könne, ist stärker. Die Aufarbeitung der Problematik muß öffentlich stattfinden, damit das Thema Sport und Sexualität gesellschaftlich transparent wird. Der Sport behauptet, asexuell zu sein, ja, das Triebleben durch Leibesübungen sublimieren zu können; andererseits bedient er sich der Erotik der Körpersprache. An dieser Ambivalenz sind wir alle nicht unschuldig; es sind ja nicht nur die Leistungen der Athleten, die uns faszinieren, sondern auch ihr Erscheinungsbild. Die Medien wissen das. Weshalb wohl wird dem Boxen ein so guter Sendeplatz eingeräumt? Weil es sich um einen Sport handelt, dessen Erotik latente sadomasochistische Neigungen des Publikums anspricht.

Das wichtigste Mittel, die Gefährdung zu bekämpfen, scheint mir die Aufklärung der Gefährdeten zu sein. Kinder und Jugendliche müssen wissen, daß jeder Mensch, auch der Trainer, Grenzen zu respektieren hat. Wenn ein Trainer nackte Jungen unter der Dusche photographiert, ist das keine Marotte, sondern ein Delikt. Ich selbst war Leidtragender der Unwissenheit. Als ich Mitte der dreißiger Jahre durch die Caritas für die Sommerferien aufs Land, in ein niederschlesisches Dorf, geschickt wurde, geriet ich an einen Bauern, der mir mehrfach unter dem Vorwand, mich für dieses oder jenes Fehlverhalten bestrafen zu müssen, abgezählte und sehr schmerzhafte Schläge auf den nackten Hintern versetzte. Erst seitdem ich Ernst Schertel gelesen habe, ist mir klar, daß es sich um einen Flagellanten handelte, einen, dessen deviante Triebneigung darin bestand, sadistische Neigungen mit der Fetischisierung des Gesäßes zu verbinden (Schertels Buch über Flagellantismus ist mit einer Fülle einschlägigen Bildmaterials aus den zwanziger Jahren illustriert). Meine Eltern hatten mich nur vor bösen Onkels gewarnt, mir aber nicht gesagt, was böse Onkels alles tun.

Kinder und Jugendliche sind heute zwar weniger naiv als wir damals, aber die Erfahrung lehrt, daß auch sie die sexuellen Absichten von Erwachsenen nicht immer durchschauen. Eltern sollten ein solches Vertrauensverhältnis zu ihren Kindern herstellen, daß diese sich ihnen bei sonderbaren Vorkommnissen anvertrauen. Reagiert der Verein nicht auf entsprechende Mitteilungen, sollte Öffentlichkeit hergestellt werden. Nur die soziale Kontrolle kann Schutz bieten.

Eintragung vom 24. August 09

Die Übertragungen vom Marathonlauf der Männer und der Frauen in Berlin gesehen. Dem ZDF-Moderator Norbert König, der am Samstag den Lauf der Männer kommentierte, war kein fachkundiger Zuarbeiter beigesellt, er hat selbst Marathon-Erfahrung. Die Entwicklung der Kompetenz durch Selbsterfahrung begann Ende der siebziger Jahre. Beim vierten New York City-Marathon waren wir nicht weniger als 186 Schreiber, die da gestartet waren.

Haben die Weltmeisterschaften der Leichtathleten wirklich einen Pausenclown gebraucht? Die Verzückung des Publikums über Berlino, den Berliner Bären, kann ich nicht teilen. Leistung spricht für sich, da muß keine Disney-Figur sie verniedlichen. Doch vielleicht ist das Bedürfnis da, Spannung durch Spaß und seien es Späßchen abzubauen. In der Antike folgte auf die Tragödie das Satyrspiel, und erst Friederike Caroline Neuber aus Leipzig hat um 1730 den Hanswurst von der Bühne verbannt. Wenn die Leichtathletik einen Spaßmacher braucht, ein lebendes Mascottchen, warum kann sich nicht der Fußball einer solchen Figur bedienen? Sie könnte zum Beispiel die theatralischen Gesten der Spieler nachäffen. Vielleicht könnte ein Fußballclown das Aggressionspotential entschärfen.

Die Filmclips von Bauwerken an der Marathonstrecke sorgten im Verlauf der Life-Übertragung für Abwechslung; doch Kunstfiguren wie der Detektiv und die Punkerin lenkten nur ab. Ob nicht André Pollmächer, der sich eindrucksvoll auf den 18. Platz vorkämpfte, Martin Beckmann, Falk Cierpinski oder Tobias Sauter auch einmal ins Museum oder in die Staatsoper gegangen wären, wo man sie hätte filmen können? Die Episode im Hotel Adlon hat gezeigt, daß man auch ohne Schauspielerei eine Geschichte erzählen kann.

Ich denke darüber nach, ob es nicht besser wäre, das Starterfeld zu vergrößern, die Qualifikationszeiten also sehr großzügig zu handhaben. Dann bliebe es Läufern wie Cierpinski, der Probleme hatte, erspart, sich allein durchschlagen zu müssen. Hochachtung, daß er nicht ausgestiegen ist! Bei einem vergrößerten Starterfeld wäre Irena Mikitenko vielleicht doch angetreten, der Druck, dem sie sich nach dem Tode des Vaters nicht gewachsen fühlte, wäre vielleicht verringert worden. Das Publikum hätte eine halbe Stunde länger Unterhaltung. Vom Berlin-Marathon her durfte man ein engagiertes Publikum erwarten, es enttäuschte nicht.

Als dramatisch empfand ich, im Frauenmarathon die Selektion der Führungsgruppe und schließlich den Wechsel in der Dreiergruppe zu beobachten. Eine starke Identifikation löste aus, als Sabrina Mockenhaupt ihre Aufholjagd begann. Und dann – in der Übertragung durch das Erste – wurden die ersten acht Einläufe gezeigt, nicht jedoch der Einlauf von Sabrina Mockenhaupt auf Rang 17 – Mittagspause, kündigte der Moderator an. Wo sind wir denn? Jede Nachrichtensendung verzögert sich, wenn ein Fußballspiel ein paar Minuten später begonnen wird und länger andauert, von publikumswirksamen Unterhaltungsshows gar nicht zu reden. Wir Gebührenzahler müssen es uns gefallen lassen, daß die in dieser Weltmeisterschaft beste deutsche Marathonläuferin nicht mehr in ihrem Kampf um die letzten Meter und ihrem Triumph gezeigt wird.

Bei Kilometer 20 stieg Luminita Zaicut aus. Begründet wurde das damit, daß sie das falsche Getränk zu sich genommen habe. Die Sequenz, als ihre Mitläuferin Susanne Hahn ihr statt der namentlich gekennzeichneten Flasche die andere überreichte, wurde in aller Deutlichkeit gezeigt. Aber bitte, ich frage mich, das andere Getränk kann doch auch nicht vergiftet gewesen sein. Mag ja sein, daß die ungewohnte Flüssigkeit Beschwerden verursachte – Seitenstiche, die hatte Cierpinski auch. Atemnot durch ein Getränk? Daß ein ungewohntes Getränk zum Aufgeben führen muß, leuchtet mir nicht recht ein. Beschwerden treten erfahrungsgemäß auf, wenn man zuviel von diesen synthetischen sogenannten Sportgetränken schluckt. Beim Ruhr-Marathon im Mai dieses Jahres war es angeblich Auskühlung vor dem um eine Stunde verzögerten Start, die Luminita Zaituc nach 22 Kilometern – taugten die nicht zum Warmlaufen? – hatte aufgeben lassen. Über das Ausscheiden von Ulrike Maisch hat man in der Übertragung vom Weltmeisterschaftslauf der Marathon-Frauen nichts erfahren.

Marianne fragte mich, ob in dem Auto, das während der Übertragung nach der Spitzengruppe zu sehen war, ein Arzt sitze. Aber nein, die Automobilindustrie in dem Autoland Deutschland hatte sich durch den Sponsor Toyota vertreten lassen, und das Führungsfahrzeug sollte zeigen, daß Toyota nette Autos baut. Einer der deutschen Premium-Hersteller wirbt durch Teilnahme an der Formel 1; sitzen oder lagern dort die Käufer dieser Marke, oder laufen manche Manager, denen die S-Klasse zusteht, nicht doch lieber Marathon?

Eintragung vom 17. August 09

Weil ich seit über vierzig Jahren über das Laufen schreibe, halten mich viele für einen Sportjournalisten. Das bin ich jedoch nicht, und ich habe mich auch nie darum bemüht, es zu sein. Dies nicht, weil ich die soziale Hierarchie in Redaktionen, in denen die Sportredakteure am wenigsten angesehen sind, teile. Im Gegenteil, ich habe Hochachtung vor ihnen. Ein Fehler bei der zweiten Ziffer hinter dem Komma, und schon taugt der ganze Bericht nichts. Weil man an Meßergebnissen nicht deuteln kann, unterliegen Sportjournalisten der unbarmherzigsten sozialen Kontrolle. Wer erinnert sich noch an Wirtschaftsjournalisten, die zu falschen Aktien oder Fonds geraten haben, wer an Leitartikler, die den Vietnamkrieg gebilligt und den Bundeswehrauftrag in Afghanistan gutgeheißen haben? Wenn ich an der Sportberichterstattung Kritik übe, so richtet sie sich gegen Redaktionsleitungen, die über dem Schausport die gesellschaftliche Rolle des Sports vernachlässigen.

Weil ich kein Sportjournalist bin und nicht einmal meine eigenen Zeiten im Kopf habe, fehlt mir die Kompetenz, Ergebnisse der 12. IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 zu interpretieren. Doch niemand wird an dieser Stelle eine Informationsquelle darüber suchen. Ein Klick weiter, und LaufReport bedient auch dieses Informationsbedürfnis. Da das Ereignis in Berlin stattfindet, wird die Berichterstattung in den deutschen Medien sicher lückenlos sein. Hier nur einige Anmerkungen.

Mich freut, daß die beiden Marathonläufe und die Geherwettbewerbe am Brandenburger Tor beginnen und enden. Damit haben der Berlin-Marathon und der Marathon der Leichtathletik-Meisterschaften Start und Ziel gemeinsam. Ich sehe auch sportpolitisch einen Symbolcharakter darin: In einer Zeit, in der die Leichtathletik in einer Kommune nach der anderen aus den mit Steuergeldern finanzierten Stadien geworfen wird, präsentiert sich der Marathon mit seinem spannendsten Höhepunkt, dem Zieleinlauf, in der größtmöglichen Öffentlichkeit. Zum erstenmal in der Geschichte großer Leichtathletik-Veranstaltungen ist nicht das Stadion Start und Ziel. Von Symbolcharakter scheint mir auch zu sein, daß SCC-Running, die Organisation des Berlin-Marathons, des größten Breitensportmarathons in Deutschland, an der Austragung des Meisterschaftsmarathons, eines Vierrundenkurses, mitwirkt.

Bedauerlich, daß das Aufgebot an deutschen Läufern durch den Ausfall von Irina Mikitenko weiter reduziert ist. Wieder zeigt sich die Gefahr der Personalisierung. Wer in den Medien einzelne Sportler als Favoriten herausstellt, riskiert, daß ihm die Ereignisse einen Strich durch die publizistische Rechnung machen.

Wie bei solchen bedeutenden Veranstaltungen in Anlehnung an die Antike üblich, begleitet sie ein Kulturprogramm. Zu den Weltmeisterschaften sind drei Ausstellungen eröffnet worden. Die Open-Air-Ausstellung „In Bewegung/in Motion“ zeigt auf über 60 Stelen Dokumente und Photokunst bedeutender Sportphotographen. Im Centrum Judaicum – Stiftung Neue Synagoge Berlin erinnert die Ausstellung „Vergessene Rekorde“ an das Schicksal jüdischer Leichtathletinnen vor und nach 1933; ihre deutschen Rekorde, in einem Fall sogar ein Weltrekord, bewahrten sie nicht davor, aus ihren Vereinen gejagt zu werden. Im Berliner Rathaus präsentiert sich unter dem Titel „Run, Jump and Throw“ die Leichtathletik in Werken der internationalen zeitgenössischen Kunst. Die beiden ersten Ausstellungen laufen seit dem 21. Juni, alle drei Ausstellungen dauern bis zum Ende der Weltmeisterschaften. Da frage ich mich, wäre es technisch und organisatorisch nicht möglich gewesen, sie noch vier Wochen länger, nämlich zum Berlin-Marathon zu zeigen? Auch der Berlin-Marathon hat seit eh und je ein Kulturprogramm. Hätte man da die Ausstellungen nicht integrieren können? Die Zahl der Besucher beim Berlin-Marathon dürfte der Zuschauerzahl im Olympiastadion während der Weltmeisterschaften entsprechen. Ich finde bedauerlich, daß in dieser Beziehung offenbar niemand in Berlin über den eigenen Tellerrand geblickt hat.

Angesichts dessen fällt mir die Überleitung nicht schwer: Ich habe als Amateurläufer immer ein kritisches Verhältnis zum Deutschen Leichtathletik-Verband gehabt. Es ist mir nun ein Bedürfnis gewesen, darüber zu reflektieren, vor allem über meine Vorstellung einer eigenständigen Läuferorganisation. Der Höhepunkt des Spitzensports scheint mir der geeignete Zeitpunkt dafür zu sein, weil er die verschiedenen Welten besonders deutlich macht. Diese Betrachtung steht jedoch aus gutem Grund auf meiner eigenen Website. Damit soll klargemacht werden, daß es sich um meine höchstpersönliche Meinung handelt, die keineswegs redaktionell von www.laufreport.de gedeckt ist. Auch wenn es sich um eine Utopie der Vergangenheit handelt und damit einen Beitrag zur Laufgeschichte, – vielleicht interessiert es manche ja dennoch. Hier ist der Link: www.laufen-und-leben.de unter Essays.

Eintragung vom 8. August 09

Im Sport zählt die Gegenwart; allein die aktuellen Marathon-Rekorde sind in unserem Bewußtsein präsent, nicht die aus den Jahren zuvor. In den Sportmedien gar ist es die Zukunft: Wie wird Gebrselassie in Berlin laufen? Die Vergangenheit wird den Sporthistorikern überlassen. Auf anderen Gebieten hat die Geschichte größeres Gewicht: in der Literatur zum Beispiel, und dies nicht nur, weil das Beste, was je geschrieben worden ist, in der Vergangenheit geschrieben worden ist, in der Musik, wo es sich ähnlich verhält, in der Politik, wo Geschichtsbewußtsein zum Handwerk gehört. Umstürzende Erkenntnisse der Wissenschaftsgeschichte sind prägende Voraussetzung der aktuellen Forschung. Wir berufen uns auf Galilei, auf Darwin, Marx, Freud, um daran anzuknüpfen oder sie zu widerlegen. Sport dagegen präsentiert sich merkwürdig geschichtslos. Beim Laufen ein bißchen name-dropping, Spiridon Louis, Paavo Nurmi, Jesse Owens, Emil Zatopek – das wär's dann an Geschichte. Wir bringen uns mit der Fixierung auf Tagesereignisse um Quellen von Erkenntnis und Einsicht. Erst wenn man sich Entwicklungslinien vergegenwärtigt, kann man erkennen, wo und in welche Richtung wir uns von den Ursprüngen entfernt haben. Vielleicht erkennen wir dann sogar, daß jeder Volksläufer den Absichten der Gründerväter näher ist als der für einen Start eingekaufte Rekordbewerber. Wobei es sicherlich ebensowenig verwerflich ist, aus dem Laufen einen Beruf zu machen, wie seit Heinrich Heine aus dem Schreiben einen Brotberuf. Es ist eine Frage der Wahrnehmung. Sehen wir im Sport nur noch die Arena der Leistungsträger? Vielleicht täte es uns gut, daß wir uns in einer Zeit, in der die Leichtathletik ungerügt als Randsportart bezeichnet wird (Wallraff) – bei der Europameisterschaft 1986 in Stuttgart wäre diese Behauptung noch ein Sakrileg gewesen –, auf die Wurzeln besinnen.

Was wir heute als Sport bezeichnen, ist ein Konglomerat von Leibesübung, individueller Herausforderung und Wettkampf. Der "Wett"-Kampf kommt aus England, die Leibesübung ist in den meisten Gesellschaften Bestandteil der Alltags- und der Festkultur. Individuell ist sie ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Für die Entwicklung der Leibesübungen stehen in Deutschland zwei Namen: GutsMuths und Jahn. Der Geburtstag des älteren, Johann Christoph Friedrich GutsMuths, jährt sich am 9. August zum 250. Mal. Doch der "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn ist ungleich bekannter. Wohl jede deutsche Stadt hat ihre Jahnstraße oder ihren Jahn-Sportplatz; das Gedenken an GutsMuths hingegen ist bis zum heutigen Tag mehr oder weniger regional begrenzt, nämlich auf seine Wirkungsstätten in Thüringen und Sachsen-Anhalt. Nicht wenige Teilnehmer des GutsMuths-Rennsteiglaufs halten den Namensgeber für einen Sponsor. Ich selbst habe einmal zwei österreichischen Sportfreunden in Eisenach erklären müssen, wer GutsMuths war.

Seine "Gymnastik für die Jugend, Enthaltend eine praktische Anweisung zu Leibesübungen", erschienen 1793, ist nicht nur das älteste Lehrbuch der Sportpädagogik, mehr noch, es ist der erste praktische Ansatz einer allgemeinen Körperbildung, die dann im 19. Jahrhundert Eingang in das schulische Curriculum fand.

 

Der Begriff "Gymnastik" ist hier durchaus in antikem Sinne gebraucht, ja, gar im Sinne einer Gesundheitslehre, für die dann im 20. Jahrhundert der Begriff "Hygiene" aufkam (Lingners Hygienemuseum in Dresden ist ein Gesundheitsmuseum). Den Akkord zu seinem "Beytrag zur nöthigsten Verbesserung der körperlichen Erziehung" schlägt Gutsmuths, der erst später zu seiner eigenwilligen Namensschreibweise fand und den dritten Vornamen hinzufügte, mit einem Reim, der die damalige Erziehung der Jugend charakterisiert: „Ihr lehrt Religion, ihr lehrt sie Bürgerpflicht,/ Auf ihres Körpers Wohl und Bildung seht ihr nicht.“ Der Vers ist wahrscheinlich entnommen dem dreibändigen Werk des „Hochfürstlich Speyerischen Geheimenraths und Leibarztes“ Johann Peter Frank, dem „System einer vollständigen medicinischen Polizey“, worunter eine Gesundheitslehre zu verstehen ist.

Verschiedentlich beruft sich GutsMuths auf die medizinischen Koryphäen Johann Peter Frank, Simon-Auguste André David Tissot (nicht jedoch auf dessen berüchtigte Schrift „L’Onanisme“, deren Wirkungen noch Generationen von Schülern geängstigt haben) und Christoph Wilhelm Hufeland, dessen „Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ drei Jahre später erschien. Vor allem aber folgt er in pädagogischer Hinsicht den Gedanken der Körperbildung in Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ (1762), was zu seiner Zeit durchaus nahelag, und in philosophischer Hinsicht John Locke, dem britischen Aufklärer, der die Erfahrung hochschätzte – man spricht vom philosophischen Empirismus.

GutsMuths war ganz und gar ein Kind des Zeitalters der Aufklärung. Sie bildet das Fundament des Philantropismus, der Philosophie der Menschenfreundschaft. Philantropische Grundsätze versuchte Johann Bernhard Basedow an dem von ihm 1774 gegründeten Philantropinum in Dessau zu verwirklichen. An dieser Reformschule ist erstmals in der Geschichte der Erziehung die physische Bildung in den Unterricht aufgenommen worden. In Dessau wirkte Ernst Christian Trapp, der dann an der Universität Halle an der Saale den ersten Lehrstuhl für Pädagogik inne hatte. GutsMuths, am 9. August 1759 in Quedlinburg (im heutigen Sachsen-Anhalt) als Sohn eines Rotgerbers geboren, studierte dort dank einem Stipendium des Magistrats Theologie, damals das Hauptfach für angehende Pädagogen, dazu Pädagogik, Geschichte, neuere Sprachen und Mathematik. Noch während seines Gymnasialbesuchs war er als Hauslehrer in der von dem fürstlichen Leibmedicus Dr. Friedrich Wilhelm Ritter in Quedlinburg gegründeten Kleinkinderschule tätig gewesen.

 

Im Jahr 1784 gründete der Pfarrer Christian Gotthilf Salzmann, einer der bedeutenden Erzieher in der Geschichte der Pädagogik, in Schnepfenthal, heute einem Ortsteil von Waltershausen (Thüringen), mit Unterstützung durch Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha nach dem Vorbild des Dessauer Philantropinums, wo er drei Jahre gewirkt hatte, eine eigene philantropische Lehranstalt. Als GutsMuths nach dem Tode Dr. Ritters dessen beide Söhne nach Schnepfenthal brachte, erkannte Salzmann das pädagogische Talent des jungen Lehrers und stellte ihn 1785 als Lehrer für die Fächer Geographie, Französisch und Gymnastik ein.

Hier heiratete er 1797 die Pfarrerstochter Johanna Sophie Eckhardt, eine Verwandte Salzmanns. Aus der Ehe gingen acht Söhne und drei Töchter hervor. Die Familie lebte im nahen Ibenhain, heute ebenfalls einem Ortsteil von Waltershausen, auf einem kleinen Landgut, das Gelegenheit zu vielfältiger hauswirtschaftlicher Aktivität bot. Bis fast zu seinem Tode im Jahr 1839 wirkte GutsMuths in Schnepfenthal.

Im Lesesaal für Handschriften und alte Drucke der Württembergischen Landesbibliothek liegt vor mir, in einer Wiege aus Hartschaum, ein 216 Jahre altes Exemplar der „Gymnastik für die Jugend“. Ich lese in der Vorrede: „Die Hauptabsicht der Erziehung ist schon seit Jahrhunderten, daß eine gesunde Seele im starken, gesunden Körper sey. Wie kömmts denn aber, daß wir die Ausbildung des Letzteren gemeinhin vergessen, ungeachtet wir mit unwidersprechlicher Gewißheit wissen, daß den Schwachen, Kränklichen und Siechen, daß den Weichling und Verzärtelten nichts, gar nichts, weder Geld noch Ordenstand, weder Gelehrsamkeit noch Tugend, vor den bejammernswürdigen Folgen schütze, die aus seinem Zustande für ihn entstehen?“

„Fortdauernde Ruhe schwächt die Cirkulation, sie verwandelt sich in ein nachlässiges Schleichen, denn das Herz allein ist nicht im Stande, sie zu unterhalten. Es bedarf dazu noch der Bewegung der Muskeln. Aber körperliche Ruhe erschlafft diese, vermindert die Wärme, hemmt die Ausdünstung, verdirbt die Verdauung, erkrankt den ganzen Körper u. s. w. so entsteht ein ganzes Heer von Krankheiten. Es giebt keinen einzigen Theil des Leibes, den eine sitzende Lebensart nicht schwächen sollte und ganz besonders werden auch die Nerven davon angegriffen.“

„Wir bringen den kindischen Lerngeist durch Härte und endlose Ermahnungen zum Schweigen; verbannen so allmählig alle Lust zur Aeuserung körperlicher Kraft und Anstrengung, die wir absichtlich befördern sollten; schränken bloß auf Geistesarbeit ein und schwächen durch alles dieß so wie durch Nahrung und kränkliche Behandlung die Thätigkeit des jungen Menschen.“ Die Grundgedanken des Buches, die in der ersten Hälfte des Bandes ausgeführt sind, haben mit der Zunahme der sitzenden Tätigkeit für die meisten Menschen unserer Gesellschaft an Aktualität noch gewonnen.

Im zweiten Teil stellt GutsMuths die Übungen und die Spiele seiner Zeit zusammen, wobei auch Übungen der Sinne einbezogen sind. Sein Motto: „Gymnastik ist Arbeit im Gewande jugendlicher Freude. Arbeit, weil ihr Zweck keineswegs in unedlem Zeitvertreibe zu suchen, sondern in Veredlung des Körpers zu setzen ist. Sie soll erscheinen im Gewande jugendlicher Freude, weil diese so recht das heitere Clima ist, in welchem die Jugend am besten gedeihet.“

Über das Laufen lesen wir im achten Abschnitt: „Unter den Mitteln, sagt Mercurialis, welche die Natur dem gesammten Thiergeschlechte zur Erhaltung des Lebens gab, ist das Laufen das wichtigste. Es muß daher wohl eine der natürlichsten und unschuldigsten Uebungen seyn, wenn die Natur selbst uns dazu angewiesen hat. Mithin wird es sehr auffallend, wenn wir, scheinbar, alles Mögliche thun, um unsere Jugend das Laufen verlernen zu lassen. .... Es kann möglich seyn, daß wir vom Laufen die Schwindsucht bekommen, aber schwerlich liegt die Schuld am Laufen, sondern an uns selbst, wenn wir laufen müssen, ohne es je geübt zu haben. Neger und andere Naturmenschen laufen mit einer Fertigkeit, die uns in Erstaunen setzt, täglich, um ihre Bedürfnisse zu gewinnen. Ich glaube, daß sie die Schwindsucht davon eben so wenig bekommen, als die Thiere, welche wegen ihrer Schnelligkeit berühmt sind. Aber kein thierischer Körper scheint mir mehr zum Laufen gebildet zu seyn, als der menschliche.“ GutsMuths geht dann auf das Laufen in der griechischen Antike ein und unterscheidet bereits das schnelle Laufen und „die lange Laufbahn“: „Eine der strengsten Uebungen für den Körper ist das lange anhaltende Laufen... Es kommt aber alles nur darauf an, daß man allmählig zu Werke gehe, um den jungen Leuten Kraft in die Beine und Schenkel zu bringen, die nie durch Stillsitzen erlangt wird. Um dieß, auf die wohlthätigste Art für ihren Körper zu bewerkstelligen, sind starke, stundenlange Winterpromenaden, überaus bequem; die Luft ist rein, stärkend, die Kälte macht rasch und die Muskeln zur Bewegung aufgelegt. ... Durch diese Promenade bringen wir selbst junge achtjährige Knaben schon dahin, daß sie ein Paar Meilen ununterbrochen fortmarschiren lernen. Wir gewöhnen sie allmählig zu starken Schritten und es dauert nicht lange: so sehn wir sie Viertelstunden ganz bequem neben uns her traben, ohne zu ermüden, oder Beschwerden zu empfinden; denn das Laufen ist eine so natürliche Bewegung als das Gehen, aber wir lernen beydes nicht, wenn wirs nicht üben.“

Über den Grundlagen der Leibeserziehung, die GutsMuths gelegt hat, ist nicht zu übersehen, daß er auch als Geograph und in der geographischen Didaktik Hervorragendes geleistet hat. Über 20 Jahre lang war er überdies Herausgeber der ersten deutschen pädagogischen Fachzeitschrift „Die Bibliothek der pädagogischen Literatur“.

Wie jedoch kommt es, daß dieser erste Sportpädagoge im öffentlichen Bewußtsein so lange im Schatten des „Turnvaters Jahn“ gestanden ist? Friedrich Ludwig Jahn (1778 - 1852), der 1807 die Einrichtungen in Schnepfenthal besichtigte und sich mit GutsMuths austauschte, hatte den Zeitgeist hinter sich. Er popularisierte das Turnen (vom ritterlichen Turnier abgeleitet) und stellte es in den Dienst nationaler Bestrebungen. Es war die Zeit der Freiheitskriege. Die Betonung des Jahnschen Turnens im Kaiserreich tat ein übriges, GutsMuths in den Hintergrund treten zu lassen. GutsMuths dagegen hing den Idealen der Französischen Revolution an und ließ in seiner Pädagogik ursprünglich jegliche pädagogikferne Ideologie vermissen. Sein Hauptwerk „Gymnastik für die Jugend“ ist „Sr. Königlichen Hoheit Friedrich Kronprinzen von Dänemark, dem Vertheidiger der Menschenrechte am Belt und Senega gewidmet“.  

Vor dem Hintergrund, daß sich GutsMuths und Jahn gegenseitig beeinflußten, kam es jedoch später zu einer Annäherung an den Zeitgeist. In die 2. Auflage der „Gymnastik“ (1804) nahm GutsMuths Kriegsübungen auf. Der Titel „Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes“ (1817, ein Jahr nach der „Deutschen Turnkunst“ von Jahn/Eiselen) drückt diese nationale Anpassung aus; sogar Jahn selbst tadelte: „Mir ist das Buch zu sehr ins Drillwesen hinein, und ich werde nie zugeben, daß die Turnkunst etwas anderes als ein Hauptteil der notwendigen Gesamtbildung sei.“

Auch im Hinblick auf die Körperbildung von Mädchen ist GutsMuths seiner Zeit verhaftet geblieben: „Keine förmliche Gymnastik für die Mädchen; aber tägliche Bewegungen im Freyen, muntere und bewegende häusliche Verrichtungen; kleinere Fußreisen und mit guter Auswahl, für das Mädchen von 6 - 12 und 14 Jahren selbst manche von den obengenannten Uebungen, die gefahrlos, vortheilhaft und weit anständiger wären als das Reiten.“ Doch von ihm stammt auch der Ausspruch: „Nicht wurzeln, wo wir stehn, nein weiterschreiten.“

In der Rezeptionsgeschichte der Ideen des Schnepfenthaler Erziehers kommt den Organisatoren des Rennsteiglaufs das Verdienst zu, das Andenken an GutsMuths öffentlichkeitswirksam zu bewahren. Als das Projekt der vier Jenaer Studenten, die 100 Kilometer auf dem Rennsteig bewältigt hatten, im folgenden Jahr 1974 als öffentliche Veranstaltung ausgeschrieben werden sollte, schlug der Sporthistoriker Prof. Dr. Willi Schröder eine Anbindung an die GutsMuths-Gedenkspiele in Schnepfenthal vor, einen Mehrkampf-Wettbewerb der Oberschulen des Bezirks Erfurt. Die Bezeichnung „GutsMuths-Gedenklauf“, der dann später in „GutsMuths-Rennsteiglauf“ umbenannt wurde, ist sicherlich auch in der heimlichen Absicht gewählt worden, die Führung des Deutschen Turn- und Sportbundes, die das Projekt äußerst mißtrauisch beobachtete, geneigter zu stimmen, stand doch dem Arbeitersport GutsMuths stets näher als die Jahn-Tradition in den bürgerlichen Sportvereinen. Dadurch, daß der GutsMuths-Rennsteiglauf ungeachtet seiner DDR-Tradition, die von Vielfach-Teilnehmern zu Recht gepflegt wird, nun der prominenteste deutsche Ultralauf ist, wird das Gedenken an GutsMuths, den ersten deutschen Leibeserzieher, auch über das Jubiläum des 250. Geburtstages hinaus Bestand haben.

Eintragung vom 27. Juli 09

Die Eintragung ist pünktlich nach dem Swiss Alpine geschehen. Doch diesmal funktionierte die Übermittlung vom Hotelcomputer nicht, der Drucker auch nicht. Meinen Laptop benütze ich aus gutem Grund nur als Schreibmaschine. Daher kann dieser Text erst nach meiner Rückkehr aus Davos ins Netz gestellt werden. Doch Aktuelles habe ich ohnehin nicht zu berichten. Die Nachricht von dem schwedischen Doppelsieg auf dem K 78, der Königsstrecke, ist hier bereits seit dem 26. Juli zu lesen. Anita Fuchs, die Pressereferentin des Swiss Alpine, hat uns auf dem laufenden gehalten. Ich kann über den C 42 berichten und wie es mir dabei ergangen ist, dazu über Aspekte, die in der Berichterstattung zu kurz kommen.

 

Wäre der Swiss Alpine eine Woche früher terminiert gewesen, hätten seine beiden wichtigsten Wettbewerbe erstmals nicht stattfinden können, ebensowenig wie der Alpinathlon am 19. Juli, der ausfallen mußte. An diesem Tage traf ich in Davos ein. Noch nie hatte ich die Berge um diese Jahreszeit dermaßen verschneit gesehen. Tags zuvor hatte es bis hinunter nach Davos (1538 m) geschneit. Auch eine Woche danach, am Tage der Wettbewerbe, schneite es an der Kesch-Hütte (2632 m). Doch viele Läufer, die erst später dort eintrafen, merkten davon nichts mehr.

Auch die Schneefelder vom Samstag davor waren dank der intensiven Sonneneinstrahlung schon geschmolzen. Auf den niederen Streckenteilen gingen die Niederschläge am Vormittag als Regen nieder. Im Grunde konnten wir mit dem Wetter zufrieden sein, zumal da die Temperaturen nicht auf Dauer sanken.

Andrea Tuffli hat den C 42 speziell als Lauf für Ältere ausgewiesen. "Der Swiss Alpine", so wurde verlautbart, "verschließt sich nicht vor der demographischen Entwicklung, die eine immer größer werdende und eine immer gesündere Alterskohorte sichtbar werden läßt." Ein Wort, das ich so klar in noch keiner Ausschreibung gefunden habe. Meine Argumentation vor einem Jahr in diesem Tagebuch, daß die rigiden Durchgangs- und Zielschlußzeiten des Swiss Alpine das Potential der gealterten Läufer ausschließe, hat wohl überzeugt. Der Zielschluß beim C 42 erst nach neun Stunden setzt in der Tat ein Zeichen, und ich hoffe sehr, daß es auch anderwärts beachtet wird. Dies ist, selbst wenn man die angekündigte Wiederbelebung des "Opa-Laufs" in Bad Brückenau berücksichtigt, der erste Lauf, der speziell für Senioren und für Einsteiger des Landschaftsmarathons ausgewiesen ist. Die Seniorenwettkämpfe der offiziellen Leichtathletik sind ja mit diesem Angebot für Volksläufer nicht zu vergleichen, und auch nicht die Läufe der historischen IGÄL, waren diese doch bereits für vierzigjährige Männer und 32jährige Frauen offen. Wie bereits mit dem Konzept eines Ultraberglaufs erstmals vor bald 25 Jahren hat Andrea Tuffli auch mit dem Angebot für Senioren Neuland beschritten.

Die Resonanz kann jedoch nicht befriedigen. Etliche Siebzigjährige dabei – die findet man bei jedem Lauf, der in diesem Alter machbar erscheint. Schließlich habe ich mir im Alter von 79 Jahren auch noch den K 42 zugetraut. Gut, die M 80 war für einen Wettbewerb mit 273 Teilnehmern wenigstens ausreichend besetzt. Auf einer Wanderung im Parsenn-Gebiet am Tage nach dem Lauf erfuhr ich, daß ich den dritten Platz gemacht hätte. Kunststück, bei drei Läufern einer Altersklasse am Start fällt einem dieser Platz zu. Doch wenn man bedenkt, daß der Erste ein bekannter und sehr erfolgreicher Schweizer Altersläufer ist, der zweite in diesem Jahr erst in die M 80 eingetreten ist und ich vor allem deshalb gemeldet habe, weil ich das Angebot einer M 80 beim C 42 honorieren und zu dem stehen wollte, was ich mittelbar angeregt habe, so sind die Erwartungen enttäuscht worden. Keine Rede von einer M 85, die vordem ausdrücklich erwähnt worden war.

 

Doch halt, da ist doch Ute. Als ich nach dem Lauf in meinem Finisher-Shirt, diesmal in den Farben des neuen Erscheinungsbildes, auf einer Bank am Bahnhof zu Tiefencastel wartete, fragte mich Ute, ob ich Werner Sonntags einschlägige Tagebucheintragung gelesen hätte. Allein deshalb, weil dieses Angebot für Einsteiger, ein Landschaftsmarathon mit Zielschluß nach 9 Stunden, zustandegekommen sei, habe sie für den C 42 gemeldet. Ute und Lisa, eine 25jährige Amerikanerin, waren die beiden letzten Läuferinnen vor mir. Wenigstens brauchte man dann auf mich nur noch eine reichliche Viertelstunde zu warten. Utes Frage beantwortete ich mit: "Gelesen nicht, aber geschrieben." Da war das Hallo groß. Was kann sich ein Autor mehr wünschen, als wenn er etwas bewirkt hat!

Der C 42 wirkt neben seinen großen Brüdern, dem K 78 und dem Alpin-Marathon K 42, als der kleine, der nicht so recht voll zu nehmen ist. Das habe ich wohl auch gedacht, als ich mir vor Augen hielt, daß das Gefälle mehr als doppelt so lang ist denn die Steigung von 450 Höhenmetern. In Monstein bereits ist der Kulminationspunkt erreicht. Doch die Steigung nach der Station Wiesen hat es in sich. Und was dann nach Filisur, nach dem bequemen Weg entlang des Landwassers, bei km 38,6 kommt, kann ich nur als Schikane bezeichnen. Die harmlose Pyramide im Höhenprofil erweist sich als harter Cross-Trail mit etlichen Brückenstegen. Die Einmündung in eine Paßstraße ist auch nicht gerade angetan, jetzt schon die Hände ob des nahen Ziels empor zu reißen. Wenigstens hat man jedoch die Höhe des Schulhauses, des neuen Zieleinlaufs in Tiefencastel, erreicht. Schade um den Einlauf an der karolingischen Kirche Mistail, die dem Kulturmarathon C 42 so gut zu Gesicht gestanden hat. Zwar haben sich die Veranstalter nun den Shuttle-Bus zum Schulhaus mit der Dusche erspart; doch ich wäre von Mistail lieber ungeduscht die 800 m auf ebener Strecke zum Bahnhof gegangen, als vom Schulhaus steil bergab durch den Ort und dann wieder bergauf zum Bahnhof. Die Viertelstunde Bahnfahrt nach Filisur und die 25 Minuten weiter nach Davos sind auch nicht viel länger als beim New York-Marathon der Weg vom Central Park zur Hoteldusche. Der "leichte" C 42 ist in Deutschland allenfalls mit dem Voralpenmarathon in Kempten zu vergleichen (der Alpin-Marathon in Oberstaufen ist wegen der Steigungen und des Gefälles nur wenig schwerer).

Die ausreichend bemessenen 9 Stunden bis zum Zielschluß stehen jedoch, wie ich erst dem Prospekt entnehmen mußte, nur auf dem Papier. Die Durchgangszeit in Filisur ist nämlich um 14 Uhr, bereits nach 6 Stunden, wie der Zielschluß für die K31-Läufer. Für die 11 km von Filisur nach Tiefencastel habe jedoch selbst ich nur 2:06 Stunden gebraucht. Wenn man also den C 42 selbst für die M 85 und die W 75 öffnen möchte, muß man die Durchgangszeit in Filisur erhöhen, am besten um eine Stunde auf 15 Uhr. Dann kann man wirklich streßfrei gehen und traben. Vorher sitzt einem die Durchgangszeit in Filisur im Nacken. Und wer wie ich mehr als 2 Stunden nach Tiefencastel braucht, dem sollte man auf dem Wege des Gnadenaktes auch dieses Finish erlauben. Dann erst, ohne das enge Limit in Filisur, stehen echte 9 Stunden bis Tiefencastel zur Verfügung.

Zudem war ich nur deshalb etwa 10 Minuten später dran, weil es einen Zwischenfall gab. Auf dem Wiesener Viadukt bin ich gestürzt. Im allgemeinen werden Sportler in den Bergen sehr rücksichtsvoll behandelt. Schon beim ersten Lauf über den Sertigpaß war mir das aufgefallen. Mountain Biker, die man hier allerorten trifft, haben wohl keine Probleme, und wenn einer in heiterer Selbstironie signalisiert: "Es kommen noch drei so Verrückte!", ist ihm unsere verständnisvolle Sympathie gewiß. Auf dem Wanderweg über den Wiesener Viadukt hingegen sind wohl eher weniger sportliche Menschen unterwegs. In den schmalen Metallsteg, einen Appendix des Eisenbahnviadukts, ragen zwei Steinquader hinein; der Metallsteg ist an diesen beiden Stellen ausgekragt. Diese beiden Kanzeln laden geradezu zum Stehenbleiben ein. In der Tat verharrte an der zweiten Auskragung eine Wandergruppe, alle beugten sich über das Geländer, um in die Schlucht zu blicken. Ich wäre unbeschadet vorbeigekommen, doch ein entgegenkommender forscher Wanderer beanspruchte den Platz. Ich versuchte, mich dünn zu machen. Dabei bin ich offenbar mit dem rechten Knie gegen den Steinsockel geprallt; jäh drehte es mich nach rechts weg; ich stürzte prallte mit der rechten Brustseite auf eine Stange des Geländers und schlug mir an dem Steinsockel des Gleiskörpers einen Ellenbogen auf. Die beiden Wunden erwiesen sich jedoch trotz Blutung als unproblematisch.

 

Dagegen schmerzen mich seither bei vertiefter Atmung, zum Beispiel beim Berggehen, die Rippen. Ich hatte mir eine Prellung zugezogen. Eine Wunde an der Brust hatte ich erst beim Duschen entdeckt. Die Besenradfahrerin, die mir gefolgt war und ihr Rad über den Metallsteg schob, versorgte am Ende der Brücke, dort wo ich sonst gern photographiert hatte, Knie und Ellenbogen. Sie war gut ausgerüstet und konnte die Wunden auch desinfizieren. Sie erzählte, auf der Brücke sei es mehrfach schon zu Stürzen gekommen. Dabei ist der neue Metallsteg viel sicherer als früher die hölzernen Bretter mit ihren Zwischenräumen, an denen man mit der Schuhspitze hängen bleiben konnte.

Beim Abendessen berichtete Markus (K 42) von seinem Sturz. Auch der ist lehrreich. Über die sumpfigen Stellen im Dürrboden sind Bretter gelegt. Über eines bewegte sich eine Läuferin. Markus trat auf das Brett, in diesem Moment verließ die Läuferin das Brett, und es fungierte als Wippe. Nach dem Prinzip der Schleuderbrettakrobatik landete Markus mit ausgebreiteten Armen im Morast. Außer einem Aussehen wie wohl dem des Tintenbuben in Hoffmanns "Struwwelpeter" ist ihm nichts passiert.

Ohne meinen Sturz wäre ich unter 8 Stunden geblieben, eine Zeit, die pure Kosmetik ist. Was also soll's! Einer muß der Letzte sein, und es ist ganz natürlich, daß dies der älteste Teilnehmer ist.

Die gute Absicht, erstmals gezielt Seniorinnen und Senioren anzusprechen, ist auch mit "Senior's highseven", dem touristischen Angebot einer "Polysportiven Sportwoche 60plus", bei der auch ich sprechen sollte, nicht geglückt. Sie mußte mangels Beteiligung abgesagt werden. Wenn man mich vorher gefragt hätte, hätte ich von einem solchen kommerziellen Angebot abgeraten. Wer sich ein Viersterne-Hotel leistet, mag sich ungern durch ein Programm binden lassen. Da die alten Läuferinnen und Läufer wahrscheinlich nicht zum erstenmal nach Davos kommen, kennen sie die Rhätische Bahn, sind möglicherweise den Eisenbahnlehrpfad von Bergün nach Preda gewandert und sind vielleicht nicht sonderlich an einer Bierdegustation am Wanderziel Monstein interessiert. Selbst wer sich beruflich mit dem Altern befaßt, ist als Läufer in einer relativ teuren Destination wohl nicht bereit, für ein Seminarprogramm zu zahlen.

Auf jeden Fall jedoch gebührt Andrea Tuffli Dank für alle seine Initiativen. Wir freuen uns auf das 25-Jahr-Jubiläum.

Eintragung vom 20. Juli 09

Mir fällt auf, daß ich auf meiner Runde, immer derselben, mehr Walkern als Läufern begegne. Die Nordic-Walker überwiegen.

Läufer machen sich über Nordic-Walker lustig. Auch ich habe das getan, als ich seinerzeit beim Start des Ruhrmarathons in Oberhausen unter die bewaffneten Heerscharen geriet. Meistens ist es ein gutmütiger Spott, vielleicht auch ein bißchen mitleidig, so mit dem Seitenblick: Diese armen Menschen haben es nicht geschafft, zu Läufern zu werden, und nun suchen sie Gehhilfe am Stock. Empört haben wir uns auch schon, wenn uns die bewaffneten Geher den Weg versperrten und die Furcht auslösten, der nächste Stockeinsatz könne auf unserem Fuß stattfinden.

 

Es ist nicht Altersmilde, wenn ich mich um sachliche Betrachtung bemühe, eher schon eine Altersperspektive. Weshalb haben wir zum Laufen gefunden? Fast immer doch der Gesundheit zuliebe. Wandern war zu wenig und häufig auf den Urlaub oder einen gelegentlichen Sonntagsausflug beschränkt. Sportgehen mit Hüftwackeln stieß uns ab. Walking, das sportliche Gehen, gab es noch nicht. Da haben wir wirklich etwas von den Amerikanern übernommen. Gehen mit Stöcken war im Grunde nicht neu. In früheren Generationen gehörte der Spazierstock bei Männern zum Erscheinungsbild außerhalb des Hauses. In den Bergen lernten wir den Stock schätzen und noch mehr beim Bergabgehen zwei Stöcke. Die Teleskopstöcke, die wir im Rucksack mit uns führen können, entlasten an steilem Gefälle die Kniegelenke erheblich.

Leistungssportliche Skilangläufer trainierten im Sommer auch ohne Ski den Stockeinsatz. Bei ihnen ist ja wohl auch der Ursprung des Nordic Walking zu suchen. Gewiß, ein Skistock-Hersteller hat kräftig mitgeholfen, und insgeheim beschleicht uns noch immer der Verdacht, die Industrie habe sich hier auf einen Trend gestürzt. Doch haben wir es Laufschuh-Herstellern jemals übel genommen, daß sie aus unseren Bedürfnissen ein Geschäft gemacht haben? Vielmehr profitieren wir von technischen Entwicklungen.

Gerade Walker haben aus gesundheitlichen Gründen mit dem sportlichen Gehen begonnen, während wir, die anfänglichen Gesundheitssportler, uns längst davon entfernt haben und im Wettkampfsport ziemlich Ungesundes in Kauf nehmen. Da aber unser Training der Gesundheitsvorsorge dient, müssen wir es begrüßen, wenn möglichst viele Menschen, wenn auch auf weniger intensivem Niveau, Bewegungstraining treiben. Ob die Stöcke tatsächlich von zusätzlichem Nutzen sind, ist dabei zweitrangig. Es gibt eine Untersuchung, wonach der Stockeinsatz beim Nordic Walking im Vergleich zum Walking nicht zu einer Reduzierung der mechanischen Belastung führe. Zudem werde beim Nordic Walking eine höhere Belastung des Kniegelenks innerhalb der Landephase beobachtet. Daher solle überdacht werden, ob Nordic Walking Übergewichtigen und Menschen mit Kniebeschwerden tatsächlich zu empfehlen sei (Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Jg. 58, Nr. 4). Nach anderen Untersuchungen soll der Trainingseffekt auf die Schultermuskulatur äußerst gering sein. Wahrscheinlich hängt dies auch von der Intensität des Stockeinsatzes ab. In der Tat – und das ist ja für uns immer ein Grund zur Belustigung gewesen – schleifen manche Nordic Walker die Stöcke mehr hinter sich her, als sich abzustoßen.

Es mag mit den Stöcken wie mit dem Buchkauf sein. Manche kaufen ein Buch und glauben damit schon, es gelesen zu haben. Hauptsache, man hat erst einmal die Stöcke.

Wie es auch sei, vielleicht dienen die Stöcke wenigstens der Motivation. Selbst wenn die Stöcke auf ebener Strecke nichts nützen sollten, veranlassen sie doch ihre Käufer, mit dem Bewegungstraining nun endlich zu beginnen. Möglicherweise erleichtern sie auch den Übergang von der Gesundheitsprophylaxe zur anspruchsvollen Herausforderung. Wenn ich, wie zuletzt beim Bieler Lauf, sehe, wie kraftvoll Nordic-Walker mich überholen, werde ich nachdenklich.

Die Grenzen sind ja ohnehin fließend. Beim Ultralauf und beim Berglauf werden die meisten Läufer zeitweise zu Gehern. Beim Spartathlon habe ich erlebt, daß ein Sportgeher, ein Franzose, der keinen einzigen Schritt gelaufen ist, vor mir am Ziel war. Walking, so erkenne ich nun, ist eine Perspektive fürs fortgeschrittene Alter. Auf der zweiten Hälfte des Berlin-Marathons ist mir bewußt geworden, wenn ich als Läufer schon nicht schneller bin als die Walker, dann kann ich auch gleich gehen. Ein Kurzschluß freilich, denn ein langsamer Läufer wird nicht automatisch zum Power-Walker, sondern bleibt dann auch als Walker langsam. Doch welche andere Alternative haben meine laufenden Altersgenossen, wenn sie nicht mehr laufen können? Einmal in der Woche ein bißchen Seniorengymnastik? Das kann es nicht sein. Sie nehmen sich vor zu wandern, und dann wird ein Fußausflug zum Wirtshaus daraus. Es fehlt die Herausforderung. Walking ist eine, auch wenn das Allerweltswort die Herausforderung weniger erkennen läßt als „Sportgehen“, und beim Nordic Walking scheint mir der Herausforderungscharakter noch höher zu sein.

Daraus ergeben sich Fragen. Kann es noch genügen, wenn die Teilnehmer eines Walking- oder Nordic-Walking-Angebots, sei es bei den Bieler Lauftagen oder beim Rennsteiglauf, auf einer Finisher-Liste erscheinen, und nicht mit Placierungen? Dies geschieht zwar aus gutem Grund, denn weniger gute Walker könnten ihre Placierung durch kurze Sprinteinlagen nachbessern; aber vielleicht könnte man das tatsächlich freistellen? Beim Ultralauf spricht man von „freiem Stil“; niemand wird disqualifiziert, wenn er nicht läuft, sondern geht. Walking-Wettbewerbe in freiem Stil würden bedeuten, daß Laufen zugelassen würde. Ich bin davon überzeugt, kein Läufer würde nur deshalb auf die Teilnahme in einem Laufwettbewerb verzichten, weil er im Walkingwettbewerb laufend vielleicht den Ersten machen würde. Ein Läufer wäre durch Teilnahme in der Walkingklasse fortan als Walker abgestempelt. Wer will das schon? Und Läufer wie ich, die nicht mehr kontinuierlich traben können, würden mit Laufpassagen beim Walking ohnehin nichts ausrichten. Außerdem: Wie will man einem Feld von Nordic Walkern laufend entkommen? Wir wissen ja nun aus läuferischer Praxis, daß das nicht geht.

Meine Meinung hat sich noch nicht gefestigt. Es sind Überlegungen, die ich anstelle. Es ist alles im Fluß. Vielleicht könnte ich besser mitreden, wenn auch ich Stöcke kaufte?

Eintragung vom 13. Juli 09

Saure-Gurken-Zeit im Tagebuch? Zu Michael Jackson kann ich nichts sagen; mein Musikgeschmack ist fossilisiert, er steckt in tiefen Ablagerungen der Musikgeschichte. Gefühle von Jackson-Fans mag ich nicht verletzen, wenn es denn Gefühle sind und nicht bloß emotionale Aufwallungen. Ich bedauere nur, daß Jackson unter seinen Ärzten keinen Lebensberater gefunden hat. Falko hat in Gars im Kamptal bei Willi Dungl Hilfe gesucht; dort habe ich ihn kennengelernt, ohne zu wissen, wer Falko war. Ich bin ein Pop-Banause. Professor Willi Dungl war Sanitätsunteroffizier und hat sich auf der Basis der Erkenntnisse von Dr. Otto-Max Bruker umfassende Kenntnis in gesunder Lebensführung und Naturheilverfahren angeeignet.

Der skandalöse Störfall im AKW Krümmel? Nichts wirklich Neues, außer daß der Atomausstieg nun Wahlkampfthema geworden ist. Und auch daran hat man sich gewöhnt, daß Rezzo Schlauch, der frühere Parlamentarische Staatssekretär der Grünen, im Beirat der EnBW sitzt, die 27,7 Prozent der von ihr gelieferten Energie in Kernkraftwerken erzeugt.

Kein aktuelles Thema also? Ein Griff in die Themenmappe. Ich wollte schon immer meine distanzierte Haltung zum Deutschen Leichtathletik-Verband artikulieren – als einen Beitrag zur Geschichte des Laufens in Deutschland. Wenn man bedenkt, so alt ist die Geschichte des Laufens als Breitensport ja gar nicht, und schon wird auf einer Laufseite behauptet, Ende der sechziger Jahre sei die Joggingwelle aus Amerika zu uns geschwappt. Da hat nichts geschwappt. Ernst van Aaken und seine zahlreichen Jünger, zu denen auch ich zählte, haben missioniert. Da wird der erste Volkslauf aus Bobingen nach Böblingen verlegt. Da behauptet ein Autor, Michel Bréal sei in Landau an der Isar geboren; er hat nicht recherchiert, daß es sich um Landau in der Pfalz handelt, das eben damals bayerisch war. Dieser Tage habe ich gelesen, daß Ernst van Aaken und Manfred Steffny die „Condition“ gegründet haben sollen – eine Verwechslung mit „Spiridon“. Neulich ist mir das Verdienst zugesprochen worden, den 100-km-Lauf von Biel in der Bundesrepublik bekannt gemacht zu haben. Ich habe dazu beigetragen, meinetwegen erheblich, ja, aber der erste und der entscheidende Pionier ist Helmut Urbach gewesen, der siebenfache Sieger von Biel.

Höchste Zeit also, meine kritische Haltung zum Deutschen Leichtathletik-Verband und die Ansätze, Läufer zu organisieren, darzustellen... Ich schreibe und schreibe und bin auf der siebenten Seite. Zuviel für eine einzige Tagebuch-Eintragung. Ich muß das Thema vertagen. Dann kann ich mir auch mehr Zeit für die Recherchen nehmen. Dabei gäbe es einen aktuellen Aufhänger: Der Ultramarathon-Berater beim DLV, Volkmar Mühl, hat seinen Rücktritt bekanntgegeben. Der sybillinisch formulierte Grund: Das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Verantwortlichen sei nicht mehr gegeben. Seitdem die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung, vertreten durch Harry Arndt, den jetzigen Ehrenpräsidenten, den Ultramarathon in den DLV integriert hat, hatte es sich verstanden, daß der Ultramarathon-Berater aus der DUV kam. Mit der Abwahl Volkmar Mühls als DUV-Präsident hat sich das geändert; Volkmar Mühl blieb Berater und gründete seinen eigenen Verband. Nun kann man gespannt sein, ob der DLV weiterhin die Basis des Ultramarathons, repräsentiert durch die 1500 Mitglieder der DUV, mißachtet.

Eintragung vom 6. Juli 09

Ich muß wieder einmal über Geld reden. Seit dem 1. Juli bekomme ich mehr davon, genau: 2,41 Prozent mehr Rente. Medien und Politiker werden nicht müde, die Rentenerhöhung als die höchste seit zehn Jahren zu bezeichnen. Es ist schwer, darüber nicht zum Zyniker zu werden. Ein schöner Zufall, daß in einem knappen Vierteljahr Bundestagswahl ist. Die Befürchtung ist, daß die Wähler nach rechts und links auseinander laufen könnten. Noch größer ist die Gefahr, daß sie daheim bleiben. Wenn 20 Millionen Rentner am Wahltag daheim bleiben, ist das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Da Politiker inzwischen mit dem Mißtrauen der Wähler rechnen, hat sich die Bundesregierung beeilt, eine Kürzung von Renten per Gesetz in Zukunft auszuschließen. Das wiederum hat Kritiker auf den Plan gerufen. Renten müssen schließlich von der jetzt arbeitenden und der künftigen erwerbstätigen Generation bezahlt werden.

Meine Haltung ist, versteht sich, wie die der meisten Rentner, ja, der meisten Menschen von den eigenen Interessen bestimmt. Doch sind die Interessen von uns Rentnern so schwer zu verstehen? Wir haben das Umlageverfahren, das unter Konrad Adenauer 1957 eingeführt worden ist, nicht erfunden. Und es gilt ja auch nur in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wer privat rentenversichert ist, erhält das, was an Beiträgen in die Kassen geflossen und durch Geldanlagen erwirtschaftet worden ist. Das ist in den 86 Versorgungswerken der freien Berufe wie Ärzten, Rechtsanwälten und Architekten erheblich mehr, als die gesetzliche Rentenversicherung bieten kann. Jahrzehntelang hat die gesetzliche Rentenversicherung mit ihrer Sicherheit geworben. Seit Blüms Rentenlüge glaubt das keiner mehr. Sicher ist nur das, was man abends nachzählen kann.

Die staatlichen Renten sind nur insoweit sicher, als der Staat Zuschüsse zur Rentenkasse leistet. Wieviel, hängt von der Kassenlage und dem Wahlturnus ab. Gegenwärtig ist es etwa ein Drittel der Ausgaben. Dafür wird die gesetzliche Rentenversicherung mit Ausgaben belastet, die nicht durch Beiträge der Begünstigten gedeckt sind. Diese Ausgaben sind politisch gewollt. Jedoch werden sie allein von den gesetzlich Zwangsversicherten getragen und nicht von der Gesamtheit der Steuerzahler. Erst wenn man das intransparente Rentensystem der gesetzlichen Rentenkassen mit schlichten Worten beschreibt, statt die Rentenformel verstehen zu wollen, wird dessen Problematik sichtbar.

Hat sich einer von uns, als wir im Erwerbsleben standen, vorgestellt, daß wir im Alter peu à peu enteignet werden würden? Nach Nullrunden gab es im Jahr 2007 eine Rentenanpassung von 0,54 Prozent, dem Jahr, in dem die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht worden ist. Im vorigen Jahr sind die Renten um 1,1 Prozent erhöht worden; da die von den Rentnern voll zu tragenden Pflegeversicherungsbeiträge um 0,25 Prozent erhöht worden sind, betrug die Rentenerhöhung real 0,85 Prozent. Nun also eine Erhöhung in den alten Bundesländern um 2,41 Prozent, in den östlichen um 3,38 Prozent. Dies bei einer Erhöhung der Lebenshaltungskosten im Vergleich zum Jahr zuvor um 2,6 Prozent. Die Rentenerhöhung muß von den Rentnern dadurch bezahlt werden, daß der diesmal unberechnet gebliebene sogenannte Riester-Faktor (bitte selbst bei Wikipedia nachschlagen!) später nachträglich in Anrechnung gebracht wird und damit eine künftige Erhöhung verkürzt.

Jeder Tarifkampf wird mit dem Hinweis auf die Höhe der jährlichen Preissteigerung bestritten. Auch die staatlichen Pensionen sind mit diesem Argument erhöht worden, seit 2002 um fast 7 Prozent. Ich erinnere mich noch an die Empörung einer Beamtenwitwe über die Kürzung der 13. Monatspension, etwas, wovon ich gar nicht wußte, daß es so etwas gibt. Inzwischen sind die Beamten-Pensionen zu einer erheblichen Belastung der Haushalte geworden. Als ob das nicht vorauszusehen gewesen wäre! Doch niemand denkt daran, die heilige Kuh zu schlachten.

Wie kann man jahrelang den Rentnern die adäquate Einkommens-Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten verweigern, obwohl dies allen anderen Teilen der Bevölkerung zugestanden wird? Wenn dies das Umlageverfahren nicht zuläßt, dann muß man es ändern. Renten sollten nicht nach versicherungsmathematischen Formeln gezahlt werden, sondern unter dem Aspekt der Berechenbarkeit im Erwerbsalter und dem Aspekt der Gleichstellung mit den Erwerbstätigen. Das ist keine einseitige Interessenpolitik zugunsten von uns Rentnern, denn jeder Erwerbstätige ist ein potentieller Rentenbezieher. Was wir jetzt erleben, droht auch künftigen Rentnergenerationen.

Merkwürdig, etwa 500 Milliarden Euro bringt die Regierung auf, um die Folgen der geduldeten Weiße-Kragen-Kriminalität zu beseitigen. Was nicht gelingt, weil die Banken das Geld lieber anlegen, statt die Wirtschaft zu finanzieren. Mit der Abwrackprämie, die ich hier vom ersten Tage an als problematisch bezeichnet habe und nun auch von Fachleuten mit Unbehagen betrachtet wird, sollte der Automobilwirtschaft geholfen werden. Doch für die Rentner, die jeden Euro, den sie bekommen, auch wieder ausgeben und damit die Wirtschaft am Laufen halten, ist kein Geld zum Ausgleich der Kaufkraftverluste da. Nicht einmal zur Erhöhung des Steuerfreibetrags für Ersparnisse, der ja in der Vergangenheit reduziert worden ist, konnte sich die Regierung aufraffen. Dies, obwohl jeder Erwerbstätige das, was er fürs Alter erspart hat, mit dem Einkommen bereits versteuert hat.

Die berufsmäßigen Ethiker mahnen, die Krise zum Anlaß einer Besinnung zu nehmen. Doch reale Änderungen des Systems sind nicht in Sicht. Ich wiederhole: Der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger, der wieder einmal Unwillen erregt hat, diesmal mit dem Vorschlag der Erhöhung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Lebensmittel und für Bücher, hat das Gehalt des neuen Vorstandsvorsitzenden der ruinierten Baden-Württembergischen Landesbank auf 1,1 Millionen Euro jährlich festgelegt, obwohl zuvor eine Deckelung auf 500.000 Euro beschlossen worden war. Ich frage mich, weshalb diese Bank nicht schlicht liquidiert worden ist. Bis vor wenigen Jahren gab es sie doch gar nicht. Statt sich auf die einheimische Wirtschaft zu konzentrieren, hat diese Bank, die fünftgrößte in Deutschland, versucht, im Kreise der Global Player mitzuzocken.

Ohne irgend etwas zu tun, bin ich Kunde dieser Bank geworden. Ich hatte, als ich 1957 nach Stuttgart kam, ein Gehaltskonto bei der Stuttgarter Sparkasse eröffnet. Auf dem Wege über Fusionen bin ich schließlich bei der BWLB, beziehungsweise der von ihr aufgekauften BW-Bank, gelandet. Nun habe ich mein Konto dort aufgelöst, wenn schon die Bank sich nicht aufgelöst hat. Ich halte die Versippung von Politik und Wirtschaft, wie sie sich in solchen Banken manifestiert hat, für unheilvoll. Da ist mir eine genossenschaftliche Bank, wo allenfalls ein paar Kommunalpolitiker mitreden, sympathischer. Und die 70,80 Euro Kontoführungsgebühr im Jahr spare ich auch noch, statt dessen darf ich mit einer Dividende für meine Einlage rechnen. Und man kann mich, wie schon einmal unter anderem Vorzeichen, mit Genosse anreden.

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