Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 29. Juni 09

Ich schreibe ungern ab und beeile mich, voller Eitelkeit hinzuzufügen, habe es auch nicht nötig. Doch die folgende abgeschriebene Meldung ist so schön, daß sie Verbreitung verdient. Meine Mappe „Laufkriminalität“ ist um ein weiteres Blatt bereichert. Doch zunächst einmal die Quelle, die ich hier plündere: In der Stuttgarter Zeitung online vom 22. Juni habe ich als Laufsplitter vom „Stuttgarter-Zeitung-Lauf“ die Nachricht gelesen „Im Endspurt von der Polizei gefaßt“.

Was Autoren von Kriminalromanen und einer Verfilmung phantasieren, die echte Verfolgung in einem Marathon, – beim Stuttgarter Halbmarathon am Sonntag, dem 21. Juni, hat sie sich ereignet. Mit dürren Worten: Kurz vor dem Ziel des Halbmarathons in der Mercedesstraße in Bad Cannstatt zogen Polizisten einen 39jährigen Läufer aus dem Feld. Ein mitlaufender Polizeibeamter aus Böblingen hatte im Feld einen Mitläufer erkannt, der seit einiger Zeit in Bayern wegen Gewaltdelikten zur Fahndung ausgeschrieben war. Der laufende Beamte verständigte seine Kollegen am Straßenrand, und diese nahmen den Verdächtigen kurz vor dem Ziel fest. Gewissermaßen ein curricolo interruptus (hoffentlich krankt die frivole Anspielung nicht an mangelhaftem Latein). Doch hätte man ihn ins Ziel laufen lassen, hätte er sich danach leicht verkrümeln können.

Die Nachricht vermittelt mehrere Erkenntnisse: Auch wer läuft, fühlt sich im Dienst. Der laufende Polizist hat eben keinen Tunnelblick gehabt wie so manche anderen beim Laufen. Der Begriff „Trainingsarbeit“ bekommt auf einmal einen neuen Sinn. Immer wenn wir laufen, arbeiten wir. Wir schreiben unterwegs unsere Artikel, machen als Insolvenzverwalter laufend eine Firma flott, finden in Runner’s high auf einmal das fehlende Glied einer wissenschaftlichen Beweiskette, tanken Kraft für unsere Arbeit als Gabelstaplerfahrer, ja, und veranlassen, wenn wir den passenden Beruf haben, auch die Festnahme eines mutmaßlichen Delinquenten. Wer honoriert uns das alles? Wir zahlen für das, was unseren Arbeitgebern zugute kommt, auch noch die Startgebühr, von den unzähligen, steuerlich nicht absetzbaren Schuhsohlen ganz zu schweigen.

Bis dahin haben wir es gewußt: Wir bewegen uns bei unserer Teilnahme an Volksläufen im Kreise edler, uneigennütziger Menschen. Denkste. Auf der Strecke haben wir es nicht nur mit dem inneren Schweinehund zu tun, sondern wie beim Stuttgarter Halbmarathon offenbar auch mit einem Schweinehund an sich. Vielleicht jedoch steckt auch in einem Schweinehund ein guter Kern. Wie sonst hätte ein solcher zum Halbmarathon gemeldet? Dieter Baumann wird den beim Stuttgarter-Zeitung-Lauf Festgenommenen sicher eines Tages beim Rotieren im Hof einer Haftanstalt an sein Herz drücken.

Neues Thema, ein ganz altes Thema: Lange bevor die Medizin Bewegungstraining als unerläßlich auch für alte Menschen erkannt hat, warb Ernst van Aaken für die Idee des lebenslangen Ausdauersports. Dazu rief er Anfang der sechziger Jahre die Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer ins Leben. Unter dem Einfluß van Aakens entstanden mehrere andere Initiativen, den Laufsport für Ältere zu fördern. In Bad Brückenau etablierte sich ein "Opa-Lauf". Der Deutsche Verband langlaufender Ärzte organisierte im Benehmen mit der Kurverwaltung von Bad Grönenbach im Allgäu einen ärztlich betreuten Seniorenlauf. Erich Haußner sammelte Altersgenossen zum Laufen um sich. Doch all diese Initiativen erloschen oder gingen in der allgemeinen Laufbewegung unter. Nun kommt eine Nachricht aus Bad Brückenau: Der "Opalauf", der nach sechs Wiederholungen eingestellt worden war, wird – das Bild ist wohl angepaßt – reanimiert. Am 4. Oktober findet der neue Opalauf auf einer 7,5-km-Strecke statt.

Ich gestehe, daß ich damals bei aller Anerkennung des Grundgedankens einen Opalauf als skurrile Angelegenheit betrachtet habe. Der Alterssport schien mir nicht ernstgenommen zu sein. In der Tat war ja wohl auch weniger das hehre Ziel des lebenslangen Laufens das Motiv, sondern der Versuch, mit einer originellen Veranstaltung Geld in die Vereinskasse zu bekommen. Am Anfang stand eine Wette. Der 61jährige Julius Wassermann bot jedem Vorstandsmitglied des Vereins TV 1864 zehn D-Mark, das ihn auf der 5 000-m-Strecke schlagen würde. Der Sieger sollte 1000 Mark erhalten. Das war jedoch nicht Julius Wassermann, sondern der 65jährige Karl Grünewald, der 18:05 min brauchte. 40 Altersläufer hatten sich auf die Strecke begeben. Beim 3. Lauf waren es etwa 120 Läufer, darunter 12 über Achtzigjährige. Nach der 5. Austragung sollte der Lauf nur noch alle zwei Jahre stattfinden. Doch aus Geldmangel war nach dem 6. Lauf Schluß. 1979 knüpfte Erlangen mit dem Internationalen Seniorentestlauf an den Bad Brückenauer Opalauf an. Der älteste Teilnehmer in Bad Brückenau war der 91jährige Wilhelm Häfner aus Kochel am See (51 min).

Das Bild des mit einem Stock laufenden 90jährigen Bautzener Arztes Dr. Ernst Schnabel war wohl auch nicht dazu angetan, die Skurrilität eines "Opalaufes" zu mildern. Heute käme wahrscheinlich niemand mehr auf die Idee, einen Lauf für über Sechzigjährige – in deren Klasse die Marathon-Bestzeiten immerhin unter drei Stunden liegen – "Opalauf" zu nennen. Etwas hochgestochen ist der Lauf in Bad Brückenau von 1968 an auch als Olociade bezeichnet worden (Opa-Lauf-Organisations-Comitee-iade).

In sehr modernem Gewande kommen heute die Bemühungen Andrea Tufflis daher, nämlich die Marathonstrecke C 42 von Davos nach Tiefencastel als Wettbewerb für Senioren auszuweisen und vom 19. bis zum 26. Juli eine Seniorensportwoche „Senior’s highseven“ anzubieten. Doch ich kann verstehen, daß man in Bad Brückenau auf der Bezeichnung "Opalauf" beharrt; zumindest in meiner Generation ist der Name im Gedächtnis geblieben. Ein originelles Markenzeichen ist er ohnehin. Warum soll man nicht an eine Tradition der sechziger Jahre anknüpfen? Doch was ist mit den Omas? Hat man in den sechziger und siebziger Jahren in Bad Brückenau nichts von Eva-Maria Westphal und Rosa Vögeli gehört? Aber diese Omas liefen ja 100 Kilometer, die Bad Brückenauer Strecke hätte nur zum Aufwärmen getaugt.

Eintragung vom 22. Juni 09

Ein Unternehmen, das in die Geschichte des Laufsports eingehen wird, ist beendet, der Transeuropa-Lauf 2009. Hoher Respekt vor allen, die daran beteiligt gewesen sind, auch denjenigen, die das Nordkap nicht aus eigener Kraft erreicht haben. Anerkennung auch für sie – allein daß sie hier starten konnten, hat sie über den Durchschnitt erhoben. Anerkennung allen, die das Unternehmen ermöglicht haben, voran Ingo Schulze und sein Team, Dank an alle Helfer und diejenigen, die das Projekt unterstützt haben, eingeschlossen die Etappenläufer, die dem einsamen Kampf einen Rahmen gegeben haben.

Ich muß hier nicht wiederkäuen, was ich über den Lauf gelesen habe. Die Informationen im Internet waren authentisch und kompetent. Jeder kann das Ereignis vom ersten bis zum letzten Tage nachverfolgen und sich über die Ergebnisse und die Dramatik zuvor informieren.

Laufgeschichte ist nach meiner Ansicht aus mehreren Gründen geschrieben worden: Das Unternehmen ist eine Manifestation der Ausdauer. Sie hat gezeigt, welche Möglichkeiten, physische und psychische, im Menschen stecken. Die Entwicklung hat gelehrt, daß das Laufen die Medizin, nicht nur die Sportmedizin, außerordentlich befruchtet hat. Die extreme Leistung eines 64tägigen Laufes über fast 4500 Kilometer wird dazu sicher weiteren Stoff liefern. Auf lange Sicht wird auch deutlich werden, welche gruppendynamischen Prozesse sich auf einem solchen Unternehmen abspielen; im großen Ganzen scheinen sie diesmal geglückt zu sein. Gewiß hat bei den Teilnehmern der Wunsch eine Rolle gespielt, die eigenen Grenzen auszuloten; aber niemand wird mehr, anders als noch vor Jahren, die Teilnahme als Rekordsucht abtun können. Die psychische Seite ist in positivem Sinne erkannt. Der Transeuropa-Lauf hat den Ultralauf insgesamt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Gerade in einer Zeit, in der Medien und Publikum auf Schnelligkeit fixiert zu sein scheinen, ist es wichtig, die Bedeutung der Ausdauer zu betonen. Der Lauf durch mehrere Länder, der Lauf mit Teilnehmern verschiedener Nationen hat sicher auch einen politischen Aspekt.

Alles in allem: Herzliche Gratulation!

Was sich auf der letzten Etappe am Sonntag ereignet hat, wird Stoff zur Diskussion geben. Der erste Platz war seit Tagen klar: Rainer Koch mit 378:12:44 Stunden in der Gesamtwertung. René Strosny, den in der Gesamtwertung nur wenige Minuten vom zweiten Platz trennten, hätte die Chance gehabt, den Japaner Takasumi Senoo auf den dritten Platz zu verweisen. Dieser hatte bis dahin hinter Rainer Koch geführt; doch in der letzten Etappe brach er ein. René hätte ihm wahrscheinlich eine Stunde abnehmen und sich damit den zweiten Platz sichern können. Aber René Strosny wartete auf ihn und ließ ihm schließlich den Vortritt. Die Meinungen sind gespalten. Und sie sind beide richtig. Was vor dem Zielband ist, ist ein Wettkampf, sagen die einen. Die anderen: Es gibt Situationen, in denen man nicht mehr überholt. Ich denke, in einem Marathon muß an der Spitze bis zur letzten Sekunde gekämpft werden. Selbst ein 100-km-Lauf ist schon auf den letzten hundert Metern entschieden worden. Doch bei Volksläufern finde ich es albern, wenn noch im Zielkanal überholt wird. Wer Plätze gutmachen will, hätte auf der Strecke genügend Gelegenheit dazu gehabt. Die im Zielkanal Überholten würden zwar auch noch sprinten können, aber sie sind zu vernünftig dazu. Bei dem 64tägigen Transeuropalauf hat sich Takasumi Senoo eindeutig auf den zweiten Platz gekämpft. Ich finde René Strosnys Entschluß, Senoos Einbruch auf der letzten Etappe nicht auszunutzen, einen Fairneß-Preis wert. Abgesehen davon, haben sich, wie zu erfahren ist, die beiden verabredet, gemeinsam einzulaufen. Duelle zu vermeiden, kann bei einem solchen Lauf Teil der Bewältigungsstrategie sein. Also: In einem Wettkampf muß bis zur letzten Sekunde gekämpft werden, aber es gibt Situationen wie beim Transeuropa-Lauf, in denen eine Handlungsweise wie die von René Strosny die sportlichere ist. Placierungen sind hier viel weniger relevant als bei einem Marathon.

Ein anderes Thema: Für manche wird der im Editorial von „Runner’s World“ (Juli 2009) enthaltene Hinweis auf die 800-m-Zeit als Indikator für die Marathonzeit neu gewesen sein. Das Beispiel, 3:28 min für 800 m bedeuteten eine Marathonzeit von 3:28 Stunden, muß man jedoch genau lesen, sonst gibt es Mißverständnisse. Sind nicht schon in den zwanziger Jahren 800 Meter in wenig mehr als 2 Minuten gelaufen worden? Doch die 800 Meter, von denen hier die Rede ist, müssen im Intervalltraining und in zehnfacher Wiederholung gelaufen werden, und dies fünf oder sechs Wochen vor dem Marathon.

Entdecker ist Bart Yasso, ein amerikanischer Läufer, der auf allen sieben Kontinenten gelaufen ist. Seine Erkenntnis ist bereits im Oktober 1994 in der amerikanischen „Runner’s World“ publiziert worden. Vorsicht ist geboten, allzu leicht stellt sich der Verdacht einer Kabbalistik ein. Welcher Volksläufer kann schon eine Trainingseinheit von 8 Kilometern in zehn 800-m-Abschnitten als Work out aufweisen?

Wie Bart Yasso zu seiner Erfahrung gekommen ist, schildert er in einem Kapitel seines im vorigen Jahr erschienenen Buches „My Life on the Run“. Darin gibt er auch zu, daß seine Berechnung nichts mit Wissenschaft zu tun habe. 1981 hatte er, 25 Jahre alt, beabsichtigt, sich mit einer Marathonzeit von 2:50 Stunden für den Boston-Marathon zu qualifizieren. Als Tempotraining lief er 800 Meter und joggte danach 400 Meter. Dies wurde dann zum Standard vor jedem Marathon. Als er drei Jahre später seine Aufzeichnungen durchsah, bemerkte er zu seiner Verblüffung die zahlenmäßige Übereinstimmung der 800-Meter-Zeit aus dem Intervalltraining und der Zeit des Marathon-Wettkampfes. Bei 15 Marathons bestätigte sich das auf die Minute genau. Andere Läufer setzten ebenfalls diese Erkenntnis um. Schließlich trug die Trainingseinheit seinen Namen: Yasso 800s.

Dennoch, es handelt sich um hochqualifizierte Läufer mit einem sorgfältig strukturierten Trainingsplan. Es bleibt anzuzweifeln, ob das Yasso-Gesetz bei durchschnittlichen Amateuren funktioniert.

Eintragung vom 15. Juni 09

Der Test des Shuttle-Busses von Kirchberg nach Biel ist erfolgreich gewesen. Kann man die Beendigung des 100-km-Laufs eleganter beschreiben? Jeder Lauf birgt das Risiko des Scheiterns. Ich behaupte: Wer noch nie gescheitert ist, hat nur seine Möglichkeiten nicht ausgereizt. Ich selbst habe mich ja auch einmal damit gebrüstet, daß ich noch nie bei einem Marathon aufgegeben hätte. Unsinn, es kommt der Tag, an dem man aufgeben muß oder schlicht wegen Zeitüberschreitung aus dem Rennen genommen wird. Aber auch wenn man noch zu jung dafür ist, kann man an einer Aufgabe scheitern. Ich behaupte: Ohne das Risiko des Scheiterns fehlte jeder Wettbewerbsteilnahme der Pfeffer. Erst der Kampf mit der Aufgabe (gemeint ist nicht das Aufgeben, daher benütze ich „Aufgabe“ allein in der Wortbedeutung) macht den Sieg, das Ankommen, so köstlich.

Wenn man so will, habe ich zum erstenmal bei den 100 Kilometern in Biel aufgegeben; doch ich betrachte mich nicht als an der Aufgabe gescheitert. Schon die Veranstalter haben dem einen Riegel vorgeschoben, indem sie seit Jahren schon die Bewältigung von Teilstrecken als Wertung mit eigener Rangliste ausgewiesen haben. Das knallharte DNF (did not finish) wird nur vermerkt, wenn man den ersten Abschnitt, 38,5 km, nicht vollendet. Das hat es auch diesmal gegeben, in Aarberg schon, obwohl die äußeren Bedingungen des 51. Hundert-Kilometer-Laufs von Biel günstig gewesen sind, allerdings mit einem beträchtlichen Unterschied zwischen der niedrigen nächtlichen Temperatur und der Wärme des folgenden Tages.

Nicht nur nach dem objektiven Kriterium der offiziellen Wertung muß ich mich nicht als gescheitert betrachten, sondern auch nach meiner subjektiven Einschätzung. Schon im vorigen Jahr, bei der 33. Teilnahme, habe ich geächzt, dies werde wohl mein letzter Hunderter gewesen sein. Und wieder habe ich, wie schon im Jahr 2007, mit der persönlichen Option gemeldet, den Lauf, genauer: den Marsch, in Kirchberg, bei km 56,1, zu beenden.

Zum unaufhaltsamen Alternsprozeß ist in diesem Jahr das Trainingsdefizit gekommen – erst infolge des späten Winters, dann infolge der Baumblüte allergische Bronchitis und keine vier Wochen vor dem Biel-Termin ein zehntägiger Krankenhausaufenthalt, wie die Leser des Tagebuchs wissen. Seit dem Berlin-Marathon Ende September vorigen Jahres kein langer Lauf mehr. Ein neues Experiment: Wie weit kommt man, wenn man nur jeweils 11 Kilometer größtenteils im Walkingschritt zurückgelegt hat? Nicht sehr weit, schon vor Oberramsern hatte ich genug. Danach kämpfte ich, wie ich sonst im letzten Viertel gekämpft hatte.

Ein einsamer Kampf von Anfang an. Früher – das ist ja gerade erst ein Jahr her – , als ich noch längere Zeit traben konnte, befand ich mich in Gesellschaft. Diesmal, als ich von Anfang an im Walkingschritt ging, war ich allein. Von den letzten Marathons her war ich das zwar gewöhnt, aber im Gegensatz zum Marathon, wo sich kein Mensch um einen Nachzügler kümmert, schien es mir ein Spießrutenlaufen zu sein. Die Zuschauermauern in Biel zerstreuten sich ja nicht, die Leute warteten noch auf die Marathonläufer. Vereinzelt Beifall, aber man muß sich erst von dem Gedanken befreien, auf diese Weise verhöhnt zu werden.

In Aarberg noch immer Betrieb auf dem Stadtplatz, doch das Publikum war nun mit sich selbst beschäftigt. Von den Radfahrern, die in Lyss ihre Läufer suchen, kein Rücklicht mehr zu sehen. Eine Gelegenheit, die Markierung zu testen. Sie ist hervorragend, der Kurs ist auch ohne Orientierung durch andere Läufer oder Geher zu finden. Ich gestehe jedoch, daß mir auf dem komplizierten Weg nach Lyss die mich einholenden Marathonwalker willkommen waren. An einer Stelle, das muß nach Kilometer 50 gewesen sein, irritierte mich ein Schild, das in spitzem Winkel der bisherigen Laufrichtung entgegen wies und dessen Schriftseite aufs freie Feld zeigte. Ein Radfahrer klärte mich auf: Jemand hatte den Wegweiser umgedreht. Ein ärgerlicher Spaß. An dieser Stelle holte mich ein Geher ein. Ich war keineswegs der Letzte gewesen, als der ich mir bis dahin vorgekommen war.

Mein Marschtempo eröffnete neue Perspektiven. Ich erblickte mehr von der Strecke als in den Jahren zuvor. Der Feuerball der Sonne lugte über dem Horizont hervor, indes im Westen noch der Dreiviertel-Mond am Himmel stand. In einigen Ställen war das Licht an. Als ich bei Tageslicht aus einem Waldstück hervortrat, faszinierte mich eine merkwürdige tiefliegende Wolkenformation. Sekunden später erkannte ich in ihr das Panorama der Berner Alpen, eine Kette kristalliner, zackiger Gipfel von Drei- bis Viertausendern, beglänzt von den frühen Morgenstrahlen. Seit 1972 bin ich nun beim Bieler Hunderter unterwegs gewesen, aber zum erstenmal konnte ich diesen phantastischen Anblick genießen. Es war kurz vor sieben Uhr morgens. Der Anblick wiederholte sich nach einer weiteren Waldpassage. Doch diesmal hatte der Effekt des frühen Morgenlichts nachgelassen, und später verflüchtigte sich das Panorama, das wie eine Fata morgana gewirkt hatte, im Dunst. Die Berner Alpenkette – ein spätes Glücksmoment für einsame Nachzügler.

Kirchberg – keine Frage mehr, ob ich ausscheiden sollte. Die Kilometer waren immer länger geworden. Der Walkingschritt von 6 Kilometern in der Stunde war längst auf 5 Kilometer verlangsamt, die langen Steigungen hatten alpinen Charakter bekommen. Da fragt man sich, ob man sich das als fast Dreiundachtzigjähriger noch zumuten sollte. Es ist eine Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Heroismus. Doch stellt sich diese Frage nicht zu jeder Zeit? Welchen Sinn macht es, 100 Kilometer zu rennen? Jeder von uns hat mit seinem Start die Frage beantwortet. Die 100 Kilometer oder welche Strecke auch immer bleibt eine Herausforderung. Auch im Alter, vielleicht sogar gerade dann. Müssen wir uns an „normalen“ Altenkarrieren womöglich mit dem Finish im Pflegeheim orientieren? Sind wir nicht neue Alte? Keineswegs müssen wir der Welt noch zeigen, wie fit wir sind. Wir stellen uns unsere Herausforderungen selbst, der eine in den 18 Kilometern nach Aarberg, der andere in den 56 Kilometern nach Kirchberg.

Der unvergeßliche Dr. Adolf Weidmann hat, als er im 83. Lebensjahr war, für die 100 Kilometer 21:12 Stunden gebraucht. Ich habe immer wieder an ihn gedacht. Nach heutigem Maßstab wäre auch er gescheitert, nämlich an der Sollzeit von 21 Stunden. Die M 80 war diesmal verhältnismäßig gut besetzt, wir waren zu viert. Der Italiener Franco Tacella schied in Aarberg aus, der Schweizer Peter Leisi nach 10:09:18 Stunden in Kirchberg und ich dort nach 11:43:01 Stunden, der Schweizer Hans Behounek, Jahrgang 1929, hingegen hielt nicht nur durch, sondern vollbrachte dabei auch eine phänomenale Leistung: 17:57:24 Stunden. Mir scheint, daß solche Vergleiche wichtig sind. Sie zeigen, was möglich ist, sie zeigen, wo man selbst steht. Mit unserer Beteiligung korrigieren wir landläufige Bilder vom Alter.

Das Hochgefühl nach dem Marsch fiel schwächer aus. Dafür habe ich besser geschlafen als früher nach der Strapaze von 100 Kilometern. Etwas unbehaglich fühle ich mich, daß ich eine 100-km-Medaille habe und ein T-Shirt bekomme wie jeder, der die 100 Kilometer gelaufen ist. Ich meine, daß differenziert werden sollte. Eine halbe Medaille gibt es nicht, außerdem hat man, da man die Medaille nun bezahlen muß, einen Anspruch darauf. In Davos drückt man die Wertigkeit der Leistung in unterschiedlichen Hemden aus. In Biel sollte über eine Differenzierung noch diskutiert werden.

Eintragung vom 8. Juni 09

Außer Waldemar Cierpinski und einigen anderen Spitzenläufern sind im Gebiet der früheren Bundesrepublik kaum Läufernamen aus der ehemaligen DDR bekannt. Zwar sind die entscheidenden Anstöße zum Laufen als Volkssport aus der Bundesrepublik, der Schweiz, den USA und anderen Ländern gekommen, aber auch in der DDR hat sich, wenn auch verzögert, eine Laufbewegung entwickelt; sie hat es wie in allen Ländern des früheren Ostblocks schwerer gehabt. Auch in der DDR gab es Persönlichkeiten, die schon früh den Volkssport Laufen gefördert und geprägt haben. Der Anlaß, daran zu erinnern, ist ein trauriger.

 

Im Juni-Heft der "Laufzeit" steht ein Nachruf auf Folker Lorenz. Er ist einer derjenigen in der DDR, zu denen ich Kontakt bekommen habe. Es mag über den Rennsteiglauf gewesen sein. Dr. Hansmartin Bresch, mit dem ich 1981 den Deutschlandlauf von Professor Jung gelaufen bin, hatte die Verbindung zu Roland Winkler hergestellt, und er hat mir dank Sportfreunden die illegale Teilnahme am Supermarathon auf dem Rennsteig ermöglicht, ebenso die Teilnahme am Harzgebirgslauf. Bei diesen Gelegenheiten und bei den Supermarathons im ungarischen Donauknie begegnete ich in den achtziger Jahren läuferisch profilierten Sportfreunden aus der DDR. Einer von ihnen ist Folker Lorenz gewesen.

Er ist am 6. Mai 2009 gestorben. Erst dem warmherzigen Nachruf von Wolfgang Weising, dem Chefredakteur der "Laufzeit", habe ich entnehmen können, wer Folker Lorenz wirklich war. Menschlich hat ja gerade die Sportfreunde aus der DDR ausgezeichnet, daß ihre Persönlichkeit, anders als die Größen in der Bundesrepublik, nicht durch den medialen Kometenschweif überstrahlt worden ist. Allerdings blieben darüber ihre sportlichen Verdienste verborgen. Ein Porträt in der damals noch jungen "Laufzeit" (6/1991) war betitelt mit "Der stille Enthusiast". Lorenz war vom Radsport hergekommen und hatte das Laufen zunächst als effizientes Zusatztraining betrieben – dies bereits Mitte der sechziger Jahre. Seine 10.000-m-Bestzeit betrug 30:42 min. Den Marathon im damaligen Karl-Marx-Stadt lief er in 2:18:44 Stunden. "Eigentlich", so schreibt Wolfgang Weising, "hätte er sich mit dieser Zeit für die Nationalmannschaft empfohlen, doch das war in der DDR nur als ,Kader' in einem der Leistungssportclubs möglich. Diese Tür blieb ihm wegen seiner ,Westverwandtschaft' verschlossen."

Wie nur wenige ehemalige Leistungssportler engagierte sich Folker Lorenz als Organisator; mit seinem Verein Einheit Berliner Bär begründete er bereits in den siebziger Jahren mehrere Laufveranstaltungen in Ostberlin. An der politischen Konstellation lag es, daß sich aus ihnen nicht ein Lauf wie der Marathon im Grunewald, die Keimzelle des Berlin-Marathons, entwickeln konnte. Gerade deshalb erscheint es in einem Jahr, in dem 20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland gefeiert werden, wichtig, daran zu erinnern, daß die neuen Bundesländer ihre eigene Laufgeschichte haben, die nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Folker Lorenz, so erfahren wir aus dem Nachruf der "Laufzeit", fand auch nach einem Unfall – er war als Fußgänger angefahren und schwerverletzt worden – zurück zu eigener Laufaktivität; 2007 lief er den Kosice-Marathon, den ältesten noch bestehenden in Europa. Einer Krebserkrankung, die vor wenigen Monaten diagnostiziert worden war, ist er einige Wochen nach seinem 70. Geburtstag erlegen. Drei Wochen vor seinem Tode stand er beim Pankower Lauf in den Frühling an der Strecke.

Sein Tod macht nachdenklich. Auch ein lebenslanges Bewegungstraining hat ihn nicht vor dem tödlichen Krebs bewahren können. Mag auch Bewegung eine wichtige Prävention und ein wichtiges Therapeutikum sein, mag Ernst van Aaken mit seinem von Otto Warburg übernommenen Ansatz vom Lebenselixier Sauerstoff grundsätzlich recht haben, – auch Läufer können dem Krebs, der eben nicht nur ein Sauerstoffproblem ist, nicht entfliehen. Bei aller Hochachtung vor van Aaken, – seine Erklärung war zu einfach und seine Studie, wonach bei den älteren Langläufern weniger Krebserkrankungen aufträten, schon zu seinen Lebzeiten als methodisch anfechtbar beiseitegelegt. Es zeigt sich, daß Krebs viele und unterschiedliche Ursachen haben kann, nicht zuletzt in zunehmendem Maße auch umweltbedingt. Ich meine, daß daher auch der Krebs an vielen Fronten bekämpft werden muß. Die einst gescholtene "Polypragmasie" hat vielleicht doch ihre Berechtigung; Bewegungstraining ist ein kleiner Teil davon.

Ein Tagebuch spiegelt zwar den Tag, an dem es geschrieben wird, aber seinen Wert, ganz gleich um welches Tagebuch es sich handelt, gewinnt es erst nach Jahren, ja nach Jahrzehnten. Unter diesem Aspekt sind drei Ereignisse zu registrieren. Der Absturz eines Airbus am Pfingstmontag mit 228 Menschen an Bord auf dem Flug von Rio de Janeiro nach Paris bewegt die Menschen. Die Medien wetteifern in der Wiedergabe von eiligen Informationsbruchstücken, die sich allzu bald als Pseudo-Information herausstellen – von der Ursache Blitzschlag bis zum Treibgut, das als Reste des Unglücksflugzeuges ausgegeben worden ist.

Ein Grund mehr, statt der Internet-Nachricht von vor 30 Minuten – derartige Zeiten werden ja auf den Nachrichtenseiten des Internets angegeben – lieber einen Essay zu lesen, nämlich aus den „Essais“ von Michel de Montaigne, einem adeligen Alltagsphilosophen, der nach über 400 Jahren noch lesenswert ist. Ich habe mehrfach bei ihm nachgeschlagen, während ich mich mit dem Altern befaßte. Nach dem Absturz, dem vier Menschen dadurch entgingen, daß sie ein anderes Flugzeug buchen mußten, habe ich Montaignes „Philosophieren heißt sterben lernen“ gelesen. Ich zitiere: „Was einmal geschehen kann, kann auch heute geschehen. ...Wenn wir in einer besonders bedrohlich scheinenden Lage daran denken, wieviel Millionen Gefahren außerdem noch über unserem Haupte schweben, da müssen wir doch finden, daß der Tod uns immer gleich nahe ist, ob wir kerngesund oder fieberkrank sind, auf der See oder in unserer Wohnung, in der Schlacht oder in ruhiger Sicherheit uns befinden: Alle sind gleich gebrechlich; keiner ist sicherer als die anderen, daß er den nächsten Tag erleben werde. ...Lange Zeit leben und kurze Zeit leben, durch den Tod wird alles gleich gemacht. Denn die Begriffe lang und kurz haben keinen Sinn, bezogen auf Dinge, die nicht mehr sind.“

Wenige Politikerbesuche sind so anrührend gewesen wie der des amerikanischen Präsidenten, Barack Obama, in Dresden und Weimar. Unvergleichlich mehr als durch Gedenktage ist das Grauen von Buchenwald und damit des gesamten KZ-Systems ins Bewußtsein gerückt. Die Fernsehberichterstattung aus Buchenwald jedoch fand ich schwach; wertvolle Sendeminuten sind in der Zeit des Wartens auf den Hubschrauber verplempert, verschwätzt worden. Hätte man nicht ein paar Namen derjenigen nennen können, die hier gefangengehalten worden sind wie Eugen Kogon oder ermordet wie Ernst Thälmann? Hätte man nicht einige Bilder aus der Ausstellung einblenden können anstatt penetrant bei der Jugendgruppe am Eingangstor zu verweilen? Wer aus Buchenwald moderiert, muß ja wohl wenigstens den kurzen gedruckten Führer gelesen haben. Muß man nicht den Fernsehzuschauern eindringlich vor Augen führen, daß die geschotterten Felder des Geländes die Baracken markieren? Daß diese Weite in Wirklichkeit Enge war?

Ich kann verstehen, daß Obama nicht die nachmalige Nutzung des Hauptlagers Buchenwald erwähnt hat – diplomatische Rücksicht auf Rußland, Nachfolger der einstmals sowjetischen Besatzungsmacht. Doch warum hat nicht irgend ein Moderator oder Kommentator darauf hingewiesen, daß Buchenwald nach dem Untergang des Dritten Reiches bis 1950 weiter als KZ genutzt worden ist? Das Konzentrationslager der Nazis war von 1945 bis 1950 das sowjetische Speziallager Nr. 2. Sicher, unter den Insassen waren auch einige Nazis, doch in der Hauptsache waren es Regimekritiker, diejenigen, über die in der Bevölkerung getuschelt wurde, sie seien „abgeholt“ worden. Niemand hat etwas über sie erfahren, nie standen sie vor Gericht. Buchenwald war kein Lager mehr, in dem systematisch Vernichtung durch Arbeit betrieben und Menschen ermordet worden sind, aber es war ein Lager, in dem etwa 9.000 Menschen zu Tode gekommen sind. An einem Tage wie dem des Besuchs von Obama sollte dies wenigstens einen Nebensatz wert sein. Gerade dann, wenn man das Nazi-KZ Buchenwald als Mahnung darstellt.

Die Wahl zum Europäischen Parlament wird auch weiterhin ausgiebig kommentiert. Für mich ist wieder deutlich geworden: Die Bevölkerung ist sehr wohl für ein vereinigtes Europa. Darin hat sich, seit den Aktivitäten der „Europa-Union“ (dort habe ich 1952 für eine Mark die Stunde deren Zeitschrift zum Versand vorbereitet) und seit demonstrativ, aber ganz sicher bei der Polizei angemeldet, Schlagbäume zerbrochen worden sind, überhaupt nichts geändert. Aber sie will nicht das Europa, das die Souveränität der Staaten bis in lächerliche Details hinein immer weiter beschneidet, nicht das Europa der Subventionen, nicht das Europa, das Problemstaaten nicht in die Pflicht nimmt, nicht das Europa einer hochbezahlten Bürokratie. Am Sonntag ist die Quittung erteilt worden, zum einen in der Wahl-Nichtbeteiligung, zum anderen in dem in anderen Ländern zu beobachtenden Trend zu europakritischen Parteien. Wann wird man zugestehen, daß auch Rechte recht haben können? Mein Tagebuch heißt: Laufen, Schauen, Denken. Es gibt viele Arten zu laufen, viele Anschauungen, viele Gedanken.

Eintragung vom 1. Juni 09

Der Fernsehsprecher teilte mit, der Verhandlungsmarathon um Opel habe elfeinhalb Stunden gedauert. Der Begriff Marathon hat eine erstaunliche Metamorphose hinter sich (Stoff für eine philologische Dissertation?). Der Name einer griechischen Ortschaft, neugriechisch: Marathonas, auf deutsch Fenchelfeld, hat dem Distanzlauf bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit den Namen gegeben, dies jedoch erst in der Entwicklung des Sprachgebrauchs.

Der erste Marathonlauf 1896 war der „Course de Marathon“; der erste deutsche Marathonlauf, 1898 in Leipzig, hieß damals „40-km-Distanz-Laufen“ (Karl Lennartz: in dem dreibändigen Werk „Marathonlauf“, einer Fundgrube für solche Betrachtungen). Erst der fremdsprachige Begriff, abgeleitet vom Startort Marathon, hat die Strecke von damals 40 Kilometern zu einer Sportdisziplin gemacht; ein Fenchelfeldlauf wäre wohl nicht im mindesten attraktiv gewesen. Wer würde heute schon einen „Fenchelfeld“ laufen wollen? Der „Course de Marathon“ von Michel Bréal ist deutschsprachig zunächst zum Marathonlauf geworden. Seit Jahren ist der Begriff verkürzt; niemand sagt mehr, er laufe einen Marathonlauf. Jeder würde sich höchlich wundern, käme beispielsweise der Berlin-Marathon im Gewandes eines Berlin-Marathonlaufes daher. Es würde gestelzt wirken, provinziell, unprofessionell. Auch in anderen Sprachen ist das Marathon-Rennen (marathon race) zum Marathon geworden. Fast scheint es heute so, als ob die primäre Bedeutung des Begriffs „Marathon“ vom Wettkampf hergeleitet und nicht der Name der 8.700 Einwohner zählenden Stadt an der attischen Küste wäre. Sie hat nicht weniger als 7 Geschwister in den USA und Kanada. Doch möglicherweise steht gar nicht das „Fenchelfeld“ am Anfang, sondern der Ort ist nach dem Arkadier Marathon benannt, der sich in der griechischen Mythologie als Gefährte der Söhne des Spartanerkönigs Tyndareos im Krieg gegen Theseus aufopferte. So meint Plutarch, der Erfinder des mythischen Marathonlaufs. Nach Pausanius jedoch ist Marathon der Sohn des Epopeus. Damit höre ich auf, ehe mein ältester Enkel die Hände überm Kopf zusammenschlägt.

Der Marathon ist von der Bezeichnung eines Dauerlaufs, den es in dieser Distanz längst auch vor dem Marathonlauf gab, zum Sprachbild geworden, zum Synonym für alles, was lang ist. Begonnen oder zumindest sich verstärkt hat die Begriffserweiterung in den zwanziger Jahren mit dem „Marathontanzen“, der Sucht nach dem Rekord im Dauertanzen. In weiteren Sportarten ist der „Marathon“ übernommen worden, es gibt den Rad- und Mountainbike-Marathon, den Skimarathon – am bekanntesten ist der Engadiner Skimarathon –, den Kanu-, Ruder-, Eisschnellauf- und Inlinemarathon, auch einen Pokermarathon hat es 1949 gegeben.

Niemand schert sich darum, ob das Sprachbild noch stimmt. Die Spitzenzeiten im leichtathletischen Marathon liegen um die 2:05 Stunden, und selbst ein Hundertjähriger hat für die 42,195 Kilometer weniger als die elfeinhalb Stunden des Opel-Verhandlungsmarathons gebraucht.

Korrekt wäre, wenn das Sprachbild erweitert würde: Über Opel habe in Berlin ein Verhandlungsultramarathon stattgefunden. Sollte das einmal eintreten, wären wir Ultramarathonläufer am Ziel; im öffentlichen Bewußtsein würde die Langstrecke nicht mehr beim Marathon enden. Würde es helfen, wenn sich der Begriff „Supermarathon“ für die Ultralangstrecke durchsetzte? Dann müßte der Nachrichtensprecher vom Verhandlungssupermarathon über Opel reden. Daraus könnte dann leicht in den Printmedien oder am Teleprompter ein Superverhandlungsmarathon werden. Und das war er im Falle Opel wirklich nicht.

Eintragung vom 25. Mai 09

Das erste, was ich am 18. Mai gelesen habe, war Antje Krauses informativer Bericht über den Rennsteiglauf. Wenn ich schon nicht dabei sein konnte, wollte ich wenigstens wissen, wie es war. Es mag schmerzlich sein, nur darüber zu lesen. Aber die Alternative, die Berichterstattung daher lieber zu ignorieren, ist auch keine Lösung, so wie es auch keine Lösung ist, sich in den Stupor der Teilnahmslosigkeit, die Erstarrung, zurückzuziehen, wenn man nicht mehr mitmachen kann.

In Antjes Bericht hat mich die Episode mit den Pferden, die den Spuren der Rennsteigläufer mehrere Kilometer lang folgten, amüsiert. Genau das habe ich nämlich vor einigen Jahren ebenfalls erlebt. Etwa in der Höhe des Burschenschaftsdenkmals stießen sie zu uns; wie lange uns die Pferde begleiteten, weiß ich nicht, wahrscheinlich waren sie schneller als ich. Dabei erinnerte ich mich an ein Erlebnis beim Deutschlandlauf 1981: Als wir an einer Koppel entlang trabten, setzten sich jenseits des Zauns die Kühe in Bewegung und liefen mit uns, bis ihnen die Umzäunung Halt gebot. Nie hätte ich gedacht, daß die schwerfällig wirkenden Kühe so schnell laufen können. Pferde und Kühe – beim Anblick von Läufern erwacht in ihnen die animalische Natur, die wir durch Domestizierung unterdrückt haben.

Der 250. Geburtstag von Johann Christoph Friedrich GutsMuths am 9. August ist mir Anlaß, die Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart aufzusuchen. Dort liegt ein Exemplar seiner "Gymnastik für die Jugend" aus dem Jahr 1793. Es wird, wenn ich meine ablaufende Benützerkarte verlängere, ein teurer Besuch, nicht weil mich das 5,80 Euro für die Stadtbahn oder die Parkgebühr kostet, sondern weil die beiden staatlichen Bibliotheken in Stuttgart und in Karlsruhe seit dem 9. Mai dieses Jahres Gebühren erheben, und zwar jährlich 30 Euro. Schüler, Studenten und Auszubildende sind von dieser Zahlung ausgenommen. Doch wir anderen müssen zahlen, ganz gleich ob wir wie ich jetzt einmal im Jahr den Lesesaal für alte Drucke benützen, im großen Lesesaal die Präsenzbibliothek aufsuchen oder immer wieder jeweils mehrere Bände ausleihen.

Seit vielen Jahren schon erheben kommunale Büchereien eine Jahresgebühr, im nahen Esslingen zum Beispiel 12 Euro im Jahr. Schon das fand ich bedenklich genug. Aus gutem Grund sind Gebühren für elementare Bildungsangebote wie den Besuch weiterführender Schulen im demokratischen wie im sozialistischen Deutschland abgeschafft worden. Für die Weiterbildung außerhalb von Bildungsinstitutionen gibt es keine effizienteren Institute als öffentliche Büchereien. Nun mag man argumentieren, daß Bildung zur Grundversorgung der Einwohner zählt wie die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung und beides halt vom Bürger finanziert werden muß. Man kann weiter argumentieren, daß Bildungseinrichtungen wie Stadtbüchereien, Volkshochschulen, Stadttheater und städtische Galerien ohnehin subventioniert werden, auch von denjenigen, die sie gar nicht benützen. Man kann bei diesen Institutionen auch nicht strikt trennen zwischen Bildung und Unterhaltung, die Operette am Stadttheater wird genauso subventioniert wie das experimentelle Stück. Stadtbüchereien dienen auch der Unterhaltung. Den Roman, über den alle sprechen, braucht man sich nicht zu kaufen, wenn man sich etwas Zeit läßt, sondern leiht ihn sich aus. Längst sind Stadtbüchereien nicht auf Buchbestände beschränkt, sondern halten auch elektronische Medien bereit. Erst recht auf diesem Gebiet dürfte das Unterhaltungsangebot größer sein als das Bildungsgut. Und wenn man wie jetzt die Stadt Esslingen einen neuen Bücherbus kauft, der die Vororte abklappert, lassen sich vielleicht Gründe finden. Sie sind, denke ich, nicht so sehr bei den wenigen gehbehinderten Rentnern zu suchen, denen auf diese Weise die Fahrt in die Stadtmitte erspart bleibt, sondern bei den Versprechungen, die man den ehedem selbständigen Gemeinden im Umfeld der Stadt einst gegeben hat. Wahrscheinlich wäre es billiger gewesen, den Bewohnern von Vororten die Omnibusfahrt zur Stadtbücherei zu finanzieren als einen Bücherbus mit ohnehin eingeschränktem Medienangebot. Es ist wie mit den Hallenbädern; einige zentrale Hallenbäder in der Region, jedoch mit guter Verkehrsanbindung, hätten wie zu früherer Zeit auch genügt.

Wissenschaftliche Bibliotheken wie die beiden Landesbibliotheken in Baden-Württemberg nimmt man in Anspruch, weil man sich intensiv mit einem Thema beschäftigen will. Romane von Hera Lind wird man hier vergebens suchen. Wer sich weiterbilden will – Erwachsenenbildung ist ein erklärtes kulturpolitisches Ziel wohl auch in Baden-Württemberg –, einen Fachaufsatz oder ein Buch schreiben oder einen Vortrag halten möchte, ist auf wissenschaftliche Bibliotheken angewiesen. Und das ist nun in Stuttgart und in Karlsruhe kostenpflichtig. Der Föderalismus hat eine neue Blüte getrieben, denn in anderen Bundesländern ist die Benützung wissenschaftlicher Bibliotheken nach wie vor kostenfrei, bei einigen derartigen Bibliotheken muß man eine einmalige geringe Gebühr für die Ausstellung des Bibliotheksausweises zahlen. Selbst da, wo ebenfalls eine Jahresgebühr erhoben wird, beträgt sie nur 10 oder 20 Euro. Berlin (10 Euro) gewährt sogar die Möglichkeit, sich für 2,50 Euro auf jeweils einen Monat Benützung zu beschränken.

Nirgends sonst habe ich eine Gebühr in dieser Höhe gefunden; Baden-Württemberg, dessen politische Repräsentanten sich bei jeder Gelegenheit in die Brust werfen – notfalls auch mit bezahlter Reklame ("Wir können alles – außer Hochdeutsch") –, liegt auch hier an der Spitze. Es ist das Land, in dem die inzwischen abgeschaffte Feuerwehrsteuer für Männer erfunden wurde, Folgelastenbeiträge für neu hinzuziehende Hauskäufer erhoben werden durften und die Zweitwohnungssteuer auch von denjenigen kassiert wird, die mit ihrer Ferienwohnung die touristische Infrastruktur stützen. Ich habe den Eindruck, keiner will es gewesen sein, der den Zugang zum Bildungsgut wissenschaftliche Literatur kostenpflichtig macht. Ursprünglich hatte der Landesrechnungshof einen höheren Grad der Kostendeckung bei den beiden Landesbibliotheken gefordert. Die WLB nimmt 600 000 Euro jährlich ein, hat aber einen Etat von 9 Millionen Euro, nicht zuviel für eine Einrichtung dieser Größe, dieser Effizienz und diesen Ranges. Nun kann man viel fordern, wie wäre es zum Beispiel mit dem Abbau von Pensionen für Landesbeamte? Die bürgerliche Regierungskoalition versteckt sich mit ihrer Entscheidung hinter dem Landesrechnungshof. Doch entscheidend ist, was politisch gewollt ist. Nicht der Landesrechnungshof, sondern die Regierung hat zu entscheiden. Sie hat gegen die Stimmen aus der Opposition entschieden. Sie war so großzügig, von Hartz-IV-Empfängern, wenn diese sich mit Material der Landesbibliotheken fortbilden, nur 15 Euro im Jahr zu verlangen. Das Groteske ist, daß ein Teil der Neuanschaffungen gar nicht von den Landesbibliotheken finanziert werden muß – im Gegensatz etwa zu den Stadtbüchereien –, sondern von Verlagen und Autoren im Lande. Von den von mir verlegten eigenen Büchern muß ich nicht nur zwei Pflichtexemplare an die Deutsche Nationalbibliothek abliefern, sondern auch jeweils zwei an die Württembergische Landesbibliothek.

Von der neuen Gebührenordnung erhofft man sich Einnahmen von jährlich 330 000 Euro. Der Verwaltungsaufwand für dieses Inkasso wird mit 88 000 Euro veranschlagt. Um die Größenordnung zu verdeutlichen: Der Chef der Landesbank Baden-Württemberg, dessen Vertrag wegen der in Raten offenbarten Milliardenverluste durch Spekulationsgeschäfte nicht verlängert worden ist, erhält jährlich 300 000 Euro Pension – dies im Alter von 54 Jahren. Der Landtag hatte beschlossen, das Gehalt seines Nachfolgers solange zu deckeln, nämlich auf 500 000 Euro jährlich, bis die Bank wieder Gewinne abwürfe. Der Ministerpräsident, Günther Oettinger, warb den Nachfolger von der Berliner Landesbank zum bisherigen Gehalt dort ab. Das Gehalt beträgt 1,1 Millionen Euro. Der Mehrbetrag macht also das Doppelte der zu erwartenden Gebühreneinnahme bei der Württembergischen Landesbibliothek aus. So sieht Bildungspolitik im angeblichen Musterländle aus.

Eintragung vom 18. Mai 09

Nichts in diesem Jahr war so wenig geplant wie diese Pause im Tagebuch. Die heutige Eintragung sollte vom Rennsteiglauf handeln. Ich wollte wie vor zwei Jahren den Marathon von Neuhaus nach Schmiedefeld wie auch immer zurücklegen, walkend, trabend, wandernd. Nichts war so lange vorher geplant wie diese Teilnahme. Den „Schieferhof“, mit anscheinend einem der besten thüringischen Restaurants, hatte ich bereits im letzten Herbst gebucht. Am Freitag hatte ich das GutsMuths-Museum in Schnepfenthal besuchen wollen, das eigens für Rennsteigläufer an diesem Nachmittag geöffnet war. Stattdessen verbrachte ich den Tag wie die Tage zuvor in einem Krankenhaus-Zimmer. Anlaß und Grund waren kein traumatisches Ereignis, an das wir immer denken, wenn wir einander eine verletzungsfreie Saison wünschen. Es begann schleichend, so wie der ganze pathologische Prozeß.

Bei der jährlichen Gesundheitsuntersuchung fand das Labor okkultes Blut im Urin. Offenbar wieder ein Harnwegsinfekt wie schon vor einem Jahr. Ein Antibiotikum brachte ihn zum Verschwinden. Der Hausarzt schickte mich zum Urologen. Der wollte sich die Blase ansehen. Aber er kam mit seinem Instrument nicht weit. Er stieß auf eine Verengung, und er fand, was ich im Grunde seit drei Jahren weiß, die Restharnmenge sei zu groß, jede Blasenentleerung war unvollständig. Ich hatte mich nur an die etwas mühselige Pinkelei gewöhnt, morgens halt Entleerung in zwei Raten, nachts Nykturie, wie die verbreitete Schlafunterbrechung durch Wasserlassen heißt. Der zweite Versuch des Urologen, in die Harnröhre einzudringen, scheiterte ebenfalls. Ein Striktur; da helfe nichts, als die Harnröhre aufzuschlitzen. Das klingt brutal, ist aber nicht so qualvoll wie das Stochern in der Röhre, weil es in Vollnarkose geschieht. Der Eingriff war ambulant geplant, es bestand Hoffnung für den Marathon. Kann man sich nach einem solchen Eingriff acht Tage später derart belasten? Beim Urologen hatte ich vorsichtshalber nur von einer längeren Wanderung gesprochen und nur bei zwei Marathon laufenden Ärzten den Rennsteiglauf genannt. Es müßte gehen – bei neun Stunden Zeit für die 43,5 Kilometer. Allerdings bestehe die Gefahr einer Nachblutung; aber ich könne ja jederzeit aufhören. Mein Besuch beim Transeuropalauf auf deutschen Boden blieb zwar auf der Strecke, aber der Rennsteigmarathon ließ sich vielleicht retten.

Es gibt offenbar eine informelle Parallelgesellschaft, Verschwörungstheoretiker sprechen in anderen Fällen von Verschwörung. Logenbrüder erkennen und helfen einander. Die neue Parallelgesellschaft ist die der Läufer. Einer der Pfleger, der mich im Verschiebebahnhof vor dem Operationsraum aufs richtige Gleis bewegte, erkannte mich als den, der übers Laufen schreibt. Eine bessere psychologische OP-Vorbereitung, als auf verwandte Seelen zu treffen, kann es kaum geben. Betäubung über eine Kanüle. Als ich wieder zu mir kam, wurde ich aus dem Aufwachraum über Gänge und Flure in ein Krankenzimmer geschoben. Aber es war nicht das, in dem ich mich als ambulanter Patient umgezogen hatte. Wenig später kam Marianne. Es war in der zwölften Stunde. Wir hatten verabredet, daß wir nach dem ambulanten Eingriff noch im Krankenhaus essen würden (was mir ohnehin nicht gestattet worden wäre), um dann nach Hause zu fahren. Ich erfuhr, ein zweiter Eingriff sei notwendig. Aus dem ambulanten Eingriff war ein stationärer Aufenthalt geworden. Die Assistenzärztin, die meine betrübte Miene sah, weil die Chance, am Rennsteigmarathon teilzunehmen, nun endgültig dahin war, bekundete Anteilnahme: „Ich kann Sie verstehen. Ich bin Läuferin.“ Der junge Anästhesist, der mir für den zweiten Eingriff eine spinale Betäubung empfahl, erzählte, daß er beim Schönbuch-Marathon, dessen Organisationskomitee ich in der Anfangszeit angehört hatte, als Streckenposten tätig gewesen war. Er selbst bezeichnet sich als Sprinter.

Bei der ersten Operation war die Verengung der Harnröhre beseitigt worden, bei der zweiten wurden Barrieren am Blasenhals entfernt. Danach dieses Gefühl: So muß es Rolli-Fahrern zumute sein – voll da, aber vom Bauch an völlig empfindungslos. Ich erfuhr am eigenen Leibe: Behinderte sind eben keine Kranken, als die sie häufig betrachtet oder behandelt werden. Sie verfügen nur nicht mehr über alle Funktionen, über die man von Natur aus verfügt. Doch wer übt schon noch alle Funktionen aus, die zu unserem physischen Potential gehören? Jeder Nichtbehinderte ist ursprünglich in der Lage, nach Training Marathon oder längere Strecken zu laufen – wie viele tun es?

Noch eine verblüffende Erkenntnis: Als ich mit temporär gelähmtem Unterkörper im Bett lag, hatte ich ständig das Gefühl, mit angewinkelten, hochgelagerten Beinen zu liegen, so wie ich auf dem Operationsstuhl gelegen war. Hat die Muskulatur ein Gedächtnis? Man spricht auch von einem Schmerzgedächtnis. Kann uns das Körpergedächtnis beim Laufen helfen? Wenn wir uns in muskulärem Schmerz daran erinnerten, daß er beim letztenmal während des Laufens auch wieder vergangen ist? Überhaupt, wenn wir uns während eines Tiefpunktes an dessen Überwindung und an die Höhepunkte beim letztenmal erinnerten? Die Erfahrung besteht in der Summe und im Wert des Erinnerns.

Als mein Unterleib im Bett wieder zu sich kam, spürte ich Schmerzen in der Nierengegend, die sich zu verstärken schienen. Ein Hypochonder hätte in Panik geraten können. Nach einer halben Stunde sagte ich es dem Pfleger. Er blickte auf meine Unterlage und grinste. Ich war auf einem Plasticteil des Pipeline-Systems gelegen, und je mehr die Wirkung der spinalen Anästhesie nachließ, desto stärker spürte ich den Druckschmerz. Die Pipeline führte zu einem Wasserbeutel, der Tropfen für Tropfen an die Blase abgab, eine Art Hydro-Sanduhr, eine Spül-Uhr gewissermaßen. Und direkt aus der Blase durch eine bleistiftdicke Kanüle in der Harnröhre tröpfelte permanent der Urin. Mit der hellen Farbe war man zufrieden. Das System wurde zwar drei Tage nach der zweiten Operation abgebaut, aber das Ergebnis im Flow, der Strahlprobe, stellte nur mich zufrieden, nicht die Urologen. Die Blase ist seit Jahrzehnten überdehnt und hat die notwendige Spannung verloren. Während des Bieler 100-Kilometer-Laufs ein einziges Mal zu pinkeln, mag zwar sehr bequem sein, aber es hätte mir zu denken geben müssen.

Wer nun fragen sollte, wen denn meine Pinkelei interessiere, dem ist zu erwidern: Mein Tagebuch wird wahrscheinlich von viel mehr über Fünfzigjährigen als über Zwanzigjährigen gelesen; nach dem 50. Lebensjahr kann es aus unterschiedlichen Ursachen zu einer Vergrößerung der Prostata oder einer Veränderung der Blase kommen. Eine gestörte Entleerung ist nicht bloß eine nur lästige Beeinträchtigung, sondern hat vor allem auch Krankheitswert, wie ich habe lernen müssen. Es kann sogar ein Harn-Rückstau eintreten, der die Nieren schädigt. Wir wissen, daß es während eines längeren Laufes zu einer Eindickung mit Dunkelfärbung des Urins kommt, früher als Pseudonephritis bezeichnet. Infolge dessen läßt der Harndrang während des Laufens nach. Damit kann jedoch bei älteren Läufern der Krankheitswert einer pathologisch veränderten Blase überdeckt werden – wir halten für normal, was in Wahrheit schon krankhaft sein kann.

Eintragung vom 4. Mai 09

Die gestrige 15. Etappe des Transeuropalaufs hat erstmals der Japaner Takasumi Senoo gewonnen, eine schöne Motivation für seine 13 Landsleute und sicher auch ein Anreiz für die japanische Läuferszene, nach Europa zu blicken. Robert Wimmer, der Sieger des 1. Transeuropalaufs, hat sich auf den 4. Platz vorgearbeitet. Die Spannung nach dem ersten Viertel bleibt erhalten. Wer ihrer täglich teilhaftig werden möchte, kann sich den Newsletter des TR übermitteln lassen. Leider ist Sigrid Eichner ausgestiegen. Bewundernswert ist ihr Mut, im Alter von 68 Jahren hier überhaupt anzutreten; sie hat immerhin über 1000 Kilometer zurückgelegt, fast die Distanz eines Deutschlandlaufes.

Von Markus Müller, der seit einiger Zeit in Colorado lebt, habe ich eine Entgegnung erhalten. Zu meiner Verwunderung, daß bereits nach zehn Tagen Shin splints aufgetreten seien, meinte er, sie träten bei Viel-Tage-Läufen gerade in den ersten zehn Tagen auf, nämlich bezeichnend für ein zu hohes Anfangstempo. Ich war von meinen Erfahrungen auf Läufen über die 100 Kilometer hinaus ausgegangen, nämlich daß die Überlastung infolge der Summation der Kilometer eintrete. Der Schritt vom Gewohnten zur nächsthöheren Leistungsstufe ist dann zu groß. Das mag also für Eintages-Wettbewerbe gelten. Ich gebe Markus Müller recht. Bei Viel-Tage-Läufen tritt eine Anpassung ein, und die Überlastung entsteht durch andauernd zu hohe Laufgeschwindigkeit. Ich bin davon überzeugt, daß wir durch solche Extremleistungen sehr viel über uns erfahren. Dies um so mehr, als dies der erste Extremlauf mit intensiver wissenschaftlicher Durchdringung ist. Zwar ist der von Professor Klaus Jung organisierte Deutschlandlauf 1981 wissenschaftlich begleitet worden, aber zum einen ist der Transeuropalauf mit seinem Wettbewerbscharakter und der viermal längeren Distanz unvergleichlich anspruchsvoller und zum anderen sind wohl auch die wissenschaftlichen Parameter weiter entwickelt worden. Erstmals sind Untersuchungen mit einem mobilen Tomographen möglich, die Dr. Uwe Schütz aus Ulm vornimmt. Nach der Auswertung werden wir erheblich mehr über Grenzbelastungen, aber wahrscheinlich auch über Prozesse während einer Belastung überhaupt wissen. Die „Zeit“ hat bereits am 23. April, wie ich inzwischen gelesen habe, darüber berichtet. Insofern ist über die Laufszene hinaus Öffentlichkeit hergestellt. Mich freut dies besonders, hat doch die „Zeit“ bereits in den sechziger Jahren durch Dr. Adolf Metzner über Ausdauerleistungen berichtet und danach mir Gelegenheit gegeben, Laufthemen zu behandeln. Dies zu einer Zeit, in der sich „Spiegel“ und „Bild“ noch über uns lustig gemacht haben.

Wie gern hätte ich genau wie beim ersten Transeuropalauf eine Tagesetappe des TR beobachtet! Ich hatte nur noch geschwankt, ob ich dazu ins Allgäu oder nach Franken fahren würde. Nun ist mir beides nicht möglich. In diese Zeit fällt ein notwendig gewordener urologischer Eingriff. Das bedeutet, sowohl vorher als auch danach habe ich Arzttermine und sollte mich schonen. Acht Tage nach dem Eingriff unter Vollnarkose möchte ich den Rennsteigmarathon wenigstens wandern. Das ist in dieser Situation Belastung genug. Weder wollte ich zur Beobachtung des Transeuropalaufs nach Italien fahren noch möchte ich nach Norddeutschland reisen. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß es den Teilnehmern in Deutschland nicht an moralischer Unterstützung fehlen wird, sind doch bisher bereits einige Besuchsläufer die eine oder andere Etappe mitgelaufen.

Im nahen Fellbach habe ich einen Vortrag von Dr. Dieter Kleinmann besucht: „Mit Sport den Alterungsprozessen entgegenwirken“. Genau das Thema, das seit Jahren im Mittelpunkt meiner theoretischen Beschäftigung mit dem Laufen steht. Alterungsvorgänge sind, wie Dr. Kleinmann ausführte, genetisch festgelegt. In den letzten Jahren sind die Telomere, die Enden der Chromosomen, als zellbiologischer Schlüssel der Alterungsprozesse angesehen worden; die entsprechenden Erkenntnisse sind mit dem Nobelpreis honoriert worden. Da mit jeder Zellteilung Bestandteile des Telomers verlorengehen, werden schließlich die Chromosomen selbst angegriffen, und die Zellen gehen zugrunde. Doch die Gene sind nicht Schicksal, die Alterungsvorgänge sind beeinflußbar. Vitaminpillen bringen wenig, wie mit neueren Studien belegt worden ist. Ohne ein Übungsprogramm nimmt die Kraft vom 50. Lebensjahr an jährlich um 1 Prozent ab. Die weißen Muskelfasern, die schnellen, schrumpfen früher als die langsamen roten, die erst nach dem 70. Lebensjahr signifikant zurückgehen. Daraus ergibt sich, daß hohe Ausdauerleistungen auch im Alter möglich sind.

Ausdauertraining wirkt sich positiv auf die Gefäße aus („Der Mensch ist so alt wie seine Gefäße“). Arteriosklerotische Prozesse können beeinflußt und kardiovaskuläre Risiken reduziert werden. Die Hirndurchblutung wird durch Übungsprogramme verbessert und der Stoffwechsel reguliert. Im Alter ist eine Zunahme von Fettgewebe zu beobachten. Dr. Kleinmann klärte über die zugrundeliegenden Prozesse auf.

Wenn körperliche Aktivität in all dieser Hinsicht effizient sein soll, muß eine minimale Reizschwelle erreicht, besser deutlich überschritten werden. Dr. Kleinmann referierte dabei über amerikanische Untersuchungen, wonach 1500 bis 2000 kcal in der Woche durch Muskelarbeit verbrannt werden müssen. Nach diesen Kriterien sind in Deutschland weniger als 15 Prozent der Männer und weniger als 10 Prozent der Frauen vom 40. Lebensjahr an ausreichend körperlich aktiv, nach dem 70. Lebensjahr sind es nur noch etwa 8 Prozent der Männer und 5 Prozent der Frauen.

Offenbar sind in Fellbach genau diese wenigen Prozent der Aktiven in den Volkshochschul-Vortrag des Internisten und Sportmediziners Kleinmann gekommen. Diejenigen, die es besonders nötig gehabt hätten, die Fetten, waren im Veranstaltungssaal nicht auszumachen. In vornehmer Zurückhaltung hat Dr. Kleinmann nicht auf sein Buch „Laufen und Walking im Alter. Gesundheitliche Auswirkungen und Trainingsgrundsätze aus sportmedizinischer Sicht“ hingewiesen; daher sei dies hier nachgeholt.

Eintragung vom 27. April 09

Knapp 4500 Kilometer in 64 Tagen, der 2. Trans-Europa-Lauf, diesmal von Süd nach Nord, müßte unter Läufern Tagesgespräch sein. Ist es das? Mehr als fünfzig Jahre nach dem ersten Trans-Amerika-Run ist ein Roman darüber geschrieben worden; mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Übersetzung ins Deutsche hat sich Elke Heidenreich, nur weil eine neue Übersetzung erschienen ist, damit befaßt. Offenbar ist es so, daß Zeitzeugen nicht begreifen, wovon sie Zeitzeugen sind.

In den beiden Laufzeitschriften, die ich lese, ist das Unternehmen nicht einmal erwähnt worden. Gewiß, in der Zeit der großen Zahlen, der Marathons von 30.000 Teilnehmern, mag es nicht von Bedeutung sein anzukündigen, was 68 Ausdauer-Spezialisten zu treiben gedenken. Und wem es schwer fällt, sich beim Joggen – ich gebrauche den Ausdruck hier ganz bewußt – einen 100-Kilometer-Lauf vorzustellen, dem geht ein Lauf über ein Zehntel des Erdumfangs schlicht über den Horizont. Ich selbst nehme mich von der Kritik an mangelndem Echo nicht aus; längst hätte ich mich über das Unterfangen äußern sollen. Den Anstoß haben erst Klaus Neumann und Stefan Schlett, als sie mich besucht haben, gegeben, Teilnehmer des 2. Transeuropa-Laufes der eine, Teilnehmer des 1. Transeuropa-Laufes der andere.

Was in diesen Wochen geschieht, ist, daß die Beteiligten, die Läuferinnen und Läufer, die Organisatoren und Betreuer, ein Zeichen setzen. Ein Zeichen haben in der Frühzeit der modernen Laufbewegung Ernst van Aaken gesetzt und Otto Hosse mit seinen Freunden. Jahre, ja Jahrzehnte hat es gedauert, bis ihre Arbeit in der Öffentlichkeit beachtet worden ist. Ein Zeichen haben die Pioniere des Lauftreffs gesetzt und Carl-Jürgen Diem mit seinem Darmstädter Modell. Ein Zeichen haben wir gesetzt, als wir dank der Initiative von Harry Arndt die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung gründeten. Die ersten individuellen Deutschland-Durchquerungen im Laufschritt... Alles Ereignisse, die in der Öffentlichkeit unbeachtet geblieben sind.

Wofür setzen Teilnehmer und Helfer mit einem solchen Transkontinentallauf ein Zeichen? Genau wird es erst die Nachwelt wissen. Wir können nur spekulieren, worin die Bedeutung des Ereignisses besteht. Genug, daß es das Ereignis gibt. Anders als frühere Marksteine der Laufbewegung hat der Laufsport heute seine eigene Öffentlichkeit, die Millionen der Läufer und Läuferinnen. Von ihnen ist zu erwarten, daß sie über den Gartenzaun ihres eigenen Umfeldes blicken. Schließlich eilen in New York, in Berlin und anderen Metropolen Hunderttausende von Menschen an die Marathonstrecken, um Anteil zu nehmen an dem Kampf, der von anderen geführt wird. Sicher, das Spektakel der Stadtmarathone hat seinen eigenen Reiz. Aber erzeugt nicht auch der Transeuropa-Lauf Spannung?

Diesmal kommt hinzu, daß der Fernlauf durch Europa unvergleichlich besser für die Öffentlichkeit aufbereitet ist als die erste. Es ist ganz offensichtlich, daß Ingo Schulze aus den Mängeln des ersten Transeuropa-Laufes gelernt hat. Auch die Routine seiner Deutschlandläufe mag eingeflossen sein.

Was ist anders? Die Strecke führt von der italienischen Stiefelspitze – Start am 19. April in Bari – zum Nordkap, verläuft also durch Länder, in denen keine sonderlichen Schwierigkeiten zu erwarten sind. Das mag weniger spektakulär sein als eine Strecke von Portugal nach Moskau, ist aber vernünftig. Das Helferteam ist ausgesucht, ständige medizinische Betreuung ist gesichert. Das ganze Unternehmen macht einen hoch professionellen Eindruck. Wahrscheinlich wird mancher Teilnehmer bei meinem Urteil aus der Ferne bitter auflachen, gibt es doch noch genügend Unerwartetes, und sei es, daß die italienische Polizei einen Verpflegungspunkt einfach auflöst.

Ingo Schulze ist auf dem Weg zum Fernlauf-Unternehmer. Mit einem Kompagnon hat er eine Firma gegründet. Mag der Charme des Abenteuers dahin sein, – eine solche Entwicklung ist offenbar unvermeidlich. Sie reduziert den Streß, der zuweilen die Herausforderung des täglichen Laufpensums überstiegen hat. An Hand der Website – http://www.transeuropalauf.de – kann man sich täglich aktuell informieren. Während ich dies schreibe, schlafen die Teilnehmer der zehnten Etappe entgegen. Wahrscheinlich wird man am frühen Nachmittag der zehnten Etappe bereits erfahren, wer die drei Schnellsten sind. In der Tageswertung hat es ein Duell zwischen René Strosny und Rainer Koch gegeben, die Gesamtwertung führt jetzt Rainer Koch an, der Abstand zwischen beiden ist denkbar gering, auf dem dritten Platz der Japaner Takasumi Senoo. Nippons Läufer sind mit 14 stark vertreten, auch wieder ein Indiz, daß dort ein solcher Lauf offenbar stärker beachtet wird als in der deutschen Läuferschaft. 67 Läuferinnen und Läufer sind gestartet, dazu einer außer Konkurrenz auf dem Roller – dies nicht, weil es sonst nicht zur Teilnahme gelangt hätte, sondern verletzungshalber, ein Kompromiß. Vier sind bisher ausgeschieden, darunter der älteste, der 74jährige Richard Hofbauer.

Die Emotion, die man den Läufern nicht an der Strecke angedeihen lassen kann, wird durch die auf der Website aktualisierten Wertungen geweckt. Mehr als der Kampf an der Spitze, der jetzt noch keine Relevanz hat, fesselt, wer wie eine Etappe bewältigt hat. Schon sind Shin splints aufgetreten, ein wenig früh, wie ich finde. War der Aufforderungscharakter des Wettbewerbs zu stark? Laufen oder marschieren die Klugen am Schluß? Ich bange um jeden Namen. Eine Ausfallquote von bisher noch nicht einmal 10 Prozent halte ich für niedrig.

Die Website sorgt für Spannung. Ingo Schulze hat sich der Mitarbeit eines ehemaligen Sportjournalisten versichert. Die Berichte von Jürgen Klemenz haben Hand und Fuß. Meistens erscheinen über die einzelnen Etappen mehrere informative Berichte von Beteiligten – kein Vergleich zu dem Gestammel eines Dilettanten beim ersten Transeuropa-Lauf.

Als ich wegen eines Problems mit dem Internet-Zugang meine Eintragung nur mit Verspätung übermitteln konnte, habe ich noch von der Dramatik der zehnten Etappe erfahren: „Überschattet wurde die Etappe auf der sehr engen und verkehrsreichen Straße in Tantion nach dem zweiten Verpflegungsposten durch einen schweren Verkehrsunfall, als ein Lastwagen mit drei Personenautos zusammenkrachte. Der Japaner Koji Nakamura war mit als erster am Unfallort und half mit, die schwerverletzten Personen aus den total zertrümmerten Wracks zu befreien. Die Straße war stundenlang gesperrt, die Läufer, von den schrecklichen Bildern sehr mitgenommen, konnten zwar durchlaufen, mußten aber über eine Mauer klettern, um ihren Weg fortzusetzen. Die Betreuerfahrzeuge mußten umgeleitet werden“ (aus dem Bericht von Jürgen Klemenz).

Eintragung vom 20. April 09

Nach Jahrzehnten habe ich das Manifest der Kommunistischen Partei wieder gelesen. Da steckt zwar viel 19. Jahrhundert drin, insbesondere in den Kommentaren von Friedrich Engels; aber die Grund-Erkenntnisse von Karl Marx sind erstaunlich aktuell. Sie werden ihre Gültigkeit behalten, genau wie auf anderen Gebieten die Evolutionstheorie von Charles Darwin, die Tiefenpsychologie von Sigmund Freud oder die Erkenntnisse des Ernährungsforschers Werner Kollath und des Gesundheitslehrers Max-Otto Bruker. Ihre Bedeutung kann man schon daran erkennen, daß sie allesamt erbittert bekämpft worden sind.

Als ich das Kommunistische Manifest 1946 zum erstenmal las, war eines der Reizworte für mich der Klassenkampf. Hinter uns lag der entsetzliche Krieg; nichts lag uns ferner als neue Kämpfe. Kaum daß wir einer Diktatur entronnen waren, wurde uns vom Marxismus der Weg zu einer neuen Diktatur gewiesen, der Diktatur des Proletariats. Nein, das wollten die meisten von uns nicht, an die Stelle der kapitalistischen Klasse nun eine andere Klasse vorgesetzt zu bekommen. Dennoch glaubte auch ich eine Weile, in einer sozialistischen Gesellschaft auf dem rechten Weg zu sein. Doch die angebliche Diktatur des Proletariats, korrekt: die Vorstufe dazu, erwies sich in der DDR als die Diktatur einer Schicht von Funktionären in Abhängigkeit einer ideologisch fixierten Besatzungsmacht. Wahrscheinlich hatten sich auch Karl Marx und Friedrich Engels ihre gerechtere Gesellschaft so nicht vorgestellt.

Bei aller Distanzierung: Den Satz „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft (der schriftlich überlieferten) ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ habe ich real nicht widerlegt gefunden. „Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengesetze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“ Dieses marxistische Axiom aus dem Jahr 1847 hat seinen Wahrheitsgehalt nicht verloren. Wir haben uns nur jahrzehntelang in der Illusion gewiegt, in der sozialen Marktwirtschaft die Klassengegensätze überwunden zu haben. Jeder von uns hat ja einen Anteil an dem von uns geschaffenen Wohlstand gehabt; wir waren keine Proleten, keine Besitzlosen, mehr. So wie die Bourgeois des 19. Jahrhunderts die Attituden des Adels nachäfften, haben auch wir Anleihen bei denjenigen, denen wir unsere Arbeitskraft verkauften, genommen. Die Klassengegensätze waren verwischt.

Doch jetzt in der Krise zeigt sich, daß auch wir nicht viel mehr besitzen, als zur Reproduktion unserer Arbeitskraft notwendig ist. Das Auto – lange Zeit war es Luxus der Reichen, wir brauchen es, um zur Arbeit zu kommen, oder weil es rationeller als öffentliche Verkehrsmittel ist. Die Urlaubsreise, die für unsere proletarischen Ahnen unerschwinglicher Luxus war, ist ein Mittel, eine Weile dem zunehmenden Disstreß der Arbeit zu entkommen; für den Arbeitgeber verbindet sich die Erwartung damit, daß wir dann unseren Pflichten um so besser nachkommen. Das Haus, das wir mit einem Finanzierungsplan gekauft haben, – wahrscheinlich gehört es der Bank. Die Ersparnisse fürs Alter – entweder sind wir darum betrogen worden oder, wenn wir klug genug waren, nicht auf Finanzberater zu hören, verlieren wir die Spargroschen zusehends durch den Kaufkraftverlust. Da sich geschichtliche Entwicklungen nicht wiederholen, sind wir nicht mehr die Proletarier der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, wobei zu bemerken ist, daß auch Marx keineswegs nur die beiden Klassen der Bourgeois und der Proletarier kannte. Die Gesellschaft hat sich differenziert. Besitzlose arbeiten auch in freien Berufen, und dies in der Selbstausbeutung, haben sich in eine Schein-Selbständigkeit drängen lassen, sind eine Ich-AG, haben als Landwirte ihren Hof aufgeben müssen, verdienen zur Sozialunterstützung oder der Rente etwas hinzu, sind aus dem Arbeitsprozeß „freigesetzt“ worden, sind der Sozialbürokratie des Wohlfahrtsstaats überantwortet worden. Während man einst Proletarier ohne weiteres als „Unterschicht“ definieren konnte – der Gedankensprung zu „Asozialen“ lag nicht fern –, kann man die Klassengesellschaft angesichts der Vielfalt der existenzbedrohenden Abhängigkeiten längst nicht mehr auf diese Formel bringen. Die wenigsten, die von der Arbeitslosenstatistik in wahrscheinlich überflüssigen, weil folgenlosen Fortbildungsmaßnahmen versteckt worden sind, gehören zur ehemaligen Unterschicht. Die meisten, sofern sie nicht aus Immigrantenfamilien kommen, sind ausgebildet und qualifiziert; ihre Fortbildung dient dazu, daß sie beim nächstenmal auf einem höheren Niveau arbeitslos werden.

Die moderne Soziologie gebraucht für diese Schichten, in die durchaus auch insolvent gewordene Unternehmer einzubeziehen sind, uns brotlose Gedankenarbeiter und Künstler ohnehin, den Begriff „Prekariat“ (von Prekarium, einem auf Widerruf gewährten Besitzverhältnis). Der Begriff hat erstmals 2006 durch eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über das sogenannte „abgehängte Prekariat“ Verbreitung erfahren. Während die Interessenlage der Proletarier im 19. Jahrhundert zur Solidarisierung führte – in Gewerkschaften, marxistischen und sozialistischen Parteien und anderen Gruppierungen (ich bin einmal wütend beschimpft worden, weil ich hier die Rolle des Arbeitersports im Vergleich zur bürgerlichen Sportbewegung hervorgehoben habe) –, ist das Prekariat von einer politischen Willensbildung weit entfernt.

Dennoch, der Prozeß ist im Gange, und er hat durchaus klassenkämpferische Züge. Die Finanzkrise, die Decouvrierung vieler Manager und die Durchmischung von Wirtschaft und Weiße-Kragen-Kriminalität haben diesen Prozeß beschleunigt. Anders als die plakativen Demonstrationen klassenbewußter Proletarier am 1. Mai vollzieht er sich in spontanen Aktionen. Vor Pleitebanken, in denen Rentner ihre Ersparnisse verloren haben, gruppieren sich stumm einige Dutzend Demonstranten. Dem Chef der Royal Bank of Scotland, Fred Goodwin, der einen Verlust von 26 Milliarden Euro zu verantworten hat und mit 755.000 Euro Jahrespension nach Hause geschickt worden ist, hat man die Scheiben eingeworfen. So bedenklich die Nähe zum Vandalismus ist, – die Attentäter haben sich offenbar Grenzen gesetzt: Statt den dazugehörigen Mercedes 600 zu zerstören, haben sie nur die Heckscheibe zertrümmert. In Frankreich, wo seit 1789 Revolutionen dramatische Ausmaße annehmen, haben Arbeiter wiederholt Manager festgesetzt – wohl eher eine Demonstration denn eine Geiselnahme.

Die Klasse der etwa 10 Prozent, die 90 Prozent des Volksvermögens besitzen, taucht ab. In den Vereinigten Staaten, wo ein Menschenleben weniger gilt als in Staaten anderer Zivilisation, hat es Todesdrohungen gegen Manager des zusammengebrochenen Versicherungskonzerns AIG gegeben. Offenbar sind Verhaltensmaßregeln aufgestellt worden; manche US-Firmen haben ihre Angestellten angewiesen, keine Firmenlogos an der Kleidung zu tragen. Die Business-Uniform, der dunkelblaue Anzug mit Krawatte und Aktenköfferchen, wird offenbar als gefährlich erachtet; mehr und mehr wird auf die Krawatte verzichtet.

 

Auf die Hauptversammlung der BASF am 30. April bin ich gespannt: Wird man am Vorstandstisch ohne Krawatte Platz nehmen? Der Aktionärsbericht „BASF Kompakt 2008“ enthält eine Neuheit: Erstmals präsentieren sich sämtliche acht Vorstandsmitglieder auf ihren Porträts ohne Krawatte. Ich überlege: Soll der Klassenkampf durch Verzicht auf Klassen-Abzeichen konterkariert werden? Auch in der Politik ist diese Tendenz zu beobachten. Anfangs waren es israelische Politiker, die im offenen Hemd regiert haben, dazu die südamerikanischen Politiker, die sich als revolutionär verstanden. Der Maoismus hat die neutralisierende Parteiuniform mit der hochgeschlossenen Jacke kreiert. Nun also formiert sich in Deutschland der klassenlose Aufsichtsrat, der ohne Krawatte. Da werden sich die Arbeitnehmervertreter, die vordem den Krawattenknoten gelernt hatten, wieder einmal anpassen müssen; sie dürfen zum Schillerkragen zurückkehren. Die deutsche Wirtschaft hat eine Krise mehr, die der Krawattenhersteller.

Die Hoffnung ruht auf dem deutschen Sport. Wir Läufer repräsentieren zwar auf der Strecke die klassenlose Gesellschaft, und hier geschah es außer beim Golf und beim Wanderausflug zum erstenmal, daß die Krawattenträger ihre Krawatte ablegten und in Shorts und T-Shirt nicht mehr von weniger bedeutenden Menschen zu unterscheiden waren; aber da der deutsche Sport von Haus aus konservativ ist, hat sich hier die Krawatte bei offizieller Repräsentation erhalten. Sobald Sportler die Sportkleidung ablegen und mehr oder weniger den Sport verwalten, knüpfen sie sich eine Krawatte. Sie ist das Rangabzeichen im deutschen Sport, so wie sie es viele Jahrzehnte lang in Wirtschaft und Politik gewesen ist. Einen Funktionär im Laufhemd irgend eines Marathons könnte man ja für einen ganz gewöhnlichen Läufer halten.

Eintragung vom 13. April 09

Ich habe mich bemüht, das Tagebuch nicht zur Nabelschau verkommen zu lassen. Doch diesmal liegt das Problem tiefer. Unterhalb des Nabels. Ich muß es schildern, weil es vielleicht nützlich für Betroffene sein könnte.

Unversehens bin ich am Gründonnerstag beim Urologen gelandet. Bei der jährlichen Gesundheitsuntersuchung war der Urin auffällig. Okkultes Blut schien auf eine Entzündung hinzudeuten. Eine Harnwegsinfektion hatte ich schon einmal. Beschwerden hatte ich nicht. Vielleicht hatte ich auch die Infektion schon lange mit mir herumgeschleppt, und mir waren Auffälligkeiten gar nicht mehr bewußt. Man ist ja nicht mehr der Jüngste, und da zwackt es hier, und da zwickt es dort, juckt es hier, juckt es dort. Vielleicht hing auch meine jeweils schlagartig eintretende Müdigkeit damit zusammen, daß sich im Maquis des Unterleibes erbitterte bakterielle Kämpfe mit der Résistance abspielten, eine Baktaille sozusagen. Obwohl ich kein Schlafdefizit gehabt habe, überkam mich nicht selten bereits am späten Vormittag Müdigkeit, nach dem Essen ohnehin. Und abends, nach der Trainingsrunde, konnte es passieren, daß ich während einer Fernsehsendung, die mich durchaus interessierte, für Minuten einschlief.

Der Urologe bestätigte den Verdacht des Hausarztes und verordnete mir ein Antibiotikum. Nachdem ich am Gründonnerstag die Trainingsrunde flott gegangen war – zum Laufen hatte ich keine Lust –, probierte ich es am Ostersamstag wieder mit Laufen. Nach etwa 3 Kilometern und nur etlichen hundert Metern Traben, wobei ich mich durchaus wohl fühlte, traf mich wie der Blitz aus heiterem Himmel ein Schmerz an den Adduktoren, die sich normalerweise erst bei einer beträchtlichen Überlastung bemerkbar machen. Ich wollte den Schmerz nicht wahrhaben und probierte es wieder mit Traben. Jeder Schritt schmerzte. Ich wußte, daß Antibiotika die Achillessehne angreifen, und hütete mich, den Bogen zu überspannen. Banges Gefühl: Hoffentlich halten die Sehnen! So legte ich weitere qualvolle zwei Kilometer zurück, dann ließ der Schmerz nach. Doch nun war es eine Wade, die unerhört weh tat. So etwas hatte ich noch nie gehabt, es war kein Muskelkater – woher denn auch. Und es war eine unnatürliche muskuläre Erschöpfung, ganz anders als nach einem Marathon.

Von flottem Gehen keine Rede mehr. Ich verkürzte die Trainingsrunde und schleppte mich etwa in der Geschwindigkeit von Menschen, die sich am Rollator festhalten müssen, den Rest nach Hause. Inzwischen schmerzte auch die andere Wade, ja, selbst das Gesäß war in Mitleidenschaft gezogen, wie ich dann beim Sitzen spürte. Noch am anderen Tag, am Ostersonntag, erklomm ich die Treppe nur stufenweise, und hinab ging’s ohne Seilsicherung nur mit festem Griff am Geländer. Ein Zyniker, der mich so gesehen hätte, würde mir den Rat gegeben haben: Ab ins Pflegeheim!

Den Beipackzettel des Medikamentes hatte ich zwar gelesen, aber erst jetzt erkannte ich die Bedeutung des Hinweises: Nebenwirkungen können unter anderem sein – Schmerzen und Entzündungen der Sehnen, Beschwerden beim Bewegen und Gehen, Muskelschwäche. Weiß der Himmel, es waren hochgradige Beschwerden! Der Hochmut von uns Trainierten besteht darin, daß wir so etwas nicht wahrhaben wollen. Wer trainiert ist, denken wir, den wird’s so schlimm nicht treffen. Ein Irrtum. Mit den Flatulenzen und dem Stuhldrang hätte ich ja leben können, aber hinfällig durchs Haus zu tapern und den Frühling nicht in der Bewegung genießen zu können, das ist schon hart. Dabei kann ich noch von Glück reden – weder habe ich Sehstörungen noch Suizidgedanken (eine „Nebenwirkung“!), es sei denn, der Doktor erblicke in meinem Bewegungsdrang angesichts meiner Beschwerden „eine suizidale Handlung“. Der Kopf ist auch noch klar. Da durchzuckt’s mich jäh: Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, denn Halluzinationen sind laut Beipackzettel auch möglich.

Eintragung vom 6. April 09

Schon immer wollte ich vor dem Rennsteiglauf das GutsMuths-Museum in der Salzmannschen Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal besuchen; doch es ist nur Mitte der Woche geöffnet. In diesem Jahr feiern die Länder Sachsen-Anhalt und Thüringen den 250. Geburtstag des Philanthropen und ersten deutschen Leibeserziehers.

Auch bei Menschen mit guter Allgemeinbildung kann man nicht voraussetzen, daß sie wissen, weshalb der Rennsteiglauf den Beinamen GutsMuths trägt. Es könnte, wie schon ernstlich vermutet, auch der Name des Sponsors sein – da gibt es ja die ulkigsten Namen. Der GutsMuths-Rennsteiglaufverein hat nicht viel getan, die Bildungslücke zu schließen. Doch auf meine Anfrage hat man sehr rasch reagiert. Ich hatte im Forum gefragt, ob man nicht vor oder nach dem Rennsteiglauf das GutsMuths-Museum öffnen könne, weil vielleicht noch ein paar Teilnehmer im Jubiläumsjahr das kleine Museum besichtigen möchten. Doch, das geht – am Freitag vor den Laufveranstaltungen, also am 15. Mai, kann man sich von 15 Uhr an die Ausstellung ansehen. Das sei hier mitgeteilt, ehe die Information verlorengeht. Schnepfenthal liegt bei Waltershausen, wenige Kilometer von der entsprechenden Ausfahrt der Autobahn Eisenach – Erfurt entfernt.

 

Noch eine Aktualität: Vor einigen Wochen erhielt ich ein Heft zugesandt, das wie eine neue Laufzeitschrift anmutet. So ist es wohl auch gedacht, jedoch mit nur jährlich einmaligem Erscheinen. Konkret handelt es sich um einen Katalog von Laufveranstaltungen im Allgäu. Da wird einem erst richtig bewußt, wie viele Läufe es im Allgäu gibt. Dabei muß man sich im klaren sein, daß das Allgäu keine politischen Grenzen hat, sondern sich auf die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg sowie auf Österreich, nämlich das Kleine Walsertal und das Tannheimer Tal, erstreckt. Angesichts dieser Vielfalt mag es schon ein Stück Arbeit gewesen sein, die Veranstalter unter einen Hut zu bringen und die Texte chronologisch wie thematisch zu ordnen. Da gibt es Seenläufe, Bergläufe sowieso, Kinderläufe, Stadtläufe, den Voralpen- und den Panorama-Marathon, zusammen über 30 Veranstaltungen, wobei man großzügig auch 3 Läufe in Oberschwaben mit ins Allgäu eingemeindet hat.

 

Doch, sind da nicht Lücken? Was ist mit dem 1. Deutschen Alpin-Marathon von Oberstaufen-Kalzhofen zum Hochgrat und zurück? Im „verflixten siebenten Jahr“ findet er nicht statt; der Veranstalter hat sich entschlossen, den Marathon nur noch alle zwei Jahre zu starten, also erst wieder im nächsten Jahr. Dafür soll in den marathonlosen Jahren ein Genußlauf in Oberstaufen stattfinden, in diesem Jahr am 4. Juli. Die Teilnehmerzahl des anspruchsvollen Marathons mit der ausgesetzten Passage unterhalb der Hochgrat-Bergstation ist auf unter 200 gesunken. Im ersten Jahr, 2003, waren 233 ins Ziel gekommen, 20 Starter, darunter ich, gelangten nicht mehr in die Wertung. Wenn knapp 10 Prozent der Starter es nicht bis zum offiziellen Zielschluß schaffen, ist dies ein Zeichen, daß man das Potential für die gesetzte Laufzeit überschätzt hat.

Doch ich vermisse noch mehr: Der Königsschlösser-Romantik-Marathon in Füssen am letzten Juli-Wochenende ist nicht vertreten und auch nicht der Immenstädter Gebirgsmarathon vom Mittaggipfel zum Hochgrat und zurück. Und all die kürzeren Bergläufe: den vom SV Lochau, zum Widderstein, zum Nebelhorn, zum Hochgrat, zum Tegelberg, zum Stoffelberg bei Niedersonthofen. Den Gore-Tex-Transalpin Run habe ich vergeblich gesucht ebenso wie den Extrem Moutain Run im Tannheimer Tal. Dort gibt es auch den Drei-Hütten-Lauf, dazu Sonnwendläufe um den Grüntensee und den Rottachsee, in Fischen den Higrisa-Waldlauf, in Mindelheim einen Pfingstlauf, in Leutkirch den Allgäu-Volkslauf, in Bad Grönenbach den Armin-Krautheim-Lauf, in Vogt einen Halbmarathon. Und wenn man den Lauf in Aulendorf vorstellt, dann müßte man auch den im nahen Bad Buchau dazu nehmen. Ich bin sicher, daß meine Aufzählung unvollständig ist, zumal im Hinblick aufs Unterallgäu.

Das Heft „Allgäu Running“ zieht sich damit aus der Klemme, daß es „Infos, News & Facts“ – im Allgäu redet man so – über „die schönsten Laufveranstaltungen im Allgäu“ ankündigt. Na, ja, wer auf den Gipfeln bis zum Hochgrat den Wald vermißt, für den ist das eben nicht einer der schönsten Allgäu-Läufe. Im Ernst: Die Internet-Seite Allgäu Running bringt Klarheit, das „Magazin der Allgäuer Läufe“, Auflage 15.000, ist ein kommerzielles Produkt, die Doppelseite kostet 1000 Euro. Wer will es angesichts dessen dem Veranstalter des Immenstädter Iller-Marathons mit 90 Teilnehmern verübeln, wenn er seinen Marathon dann halt lieber nicht zu den schönsten Laufveranstaltungen im Allgäu gerechnet wissen will!

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