Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 24. Juni 14

Meine kritische Haltung zum Fußball, die für einen Laufsportler ungewöhnlich sein mag, beruht nicht nur auf rationalen Erwägungen; sie hat auch einen emotionalen Hintergrund. Mein Vater war Schiedsrichter.

Eine der ganz frühen Kindheitserinnerungen ist noch lebendig: Mein Vater war von einem Fußballspiel gekommen, das er gepfiffen hatte – offenbar nicht zur Zufriedenheit einer der beiden Mannschaften. Ich sehe ihn auf einem Stuhl sitzen, vor sich eine Schüssel mit Wasser. Meine Mutter kniete vor ihm und reinigte mit einem Lappen seine Wunden am Bein und legte einen Verband an. Ein Badezimmer würden wir erst etwa zwanzig Jahre später bekommen. Die Küche dagegen war zu eng und bot keinen Sitzplatz. Also saß mein Vater im Wohnzimmer und pflegte seine Wunden. Als ich später einem ein Jahr älteren Kollegen erzählte, mein Vater sei Schiedsrichter gewesen, fuhr es aus ihm spontan heraus: „Oh, dann ist er immer verprügelt worden!“

Mein Vater durch böse Menschen verletzt, das Bild meines Vaters verletzt – ein Leben lang, das sitzt offenbar tief. Wie kann man Fußball lieben, wenn der Vater dabei verprügelt wird!

Eine andere Fußball-Erinnerung. Meine Mutter mußte immer wieder einmal zu einem Fußballspiel, wenn mein Vater pfiff. Weshalb, weiß ich nicht. Es war auch möglich, daß meine Mutter meinen Vater nur abholen wollte, das Spiel jedoch verlängert worden war. Ich mußte mit, weil ich noch so klein war und man mich nicht allein in der Wohnung lassen konnte. Der Fußballplatz in meiner Heimatstadt Görlitz liegt in der Schenckendorffstraße, in Zgorzelec, dem heute polnischen Teil von Görlitz. Die Stadt hat ein eher rauhes Klima; über den Schenkendorff-Sportplatz pfiff ein kalter Wind. Wie alt mag ich gewesen sein? Drei oder vier Jahre? Ich fror. Das mochte auch mit fehlender Winterbekleidung zusammenhängen. Jungen trugen damals jahrelang auch an kalten Tagen kurze Hosen, dazu lange Wollstrümpfe, die irgendwo angeknüpft waren. Das Fußballspiel interessierte mich nicht; ich verstand es nicht. Gelegenheit zu wärmender Bewegung hatte ich nicht. An der Hand meiner Mutter stapfte ich entlang der Tribüne und jammerte darüber, daß mich gottserbärmlich fror. Meine Mutter wußte sich keinen anderen Rat, als mit mir zum Aufwärmen in die vollbesetzte Vereinsgaststätte zu gehen – und sehr bald auch wieder hinaus. Das wiederholten wir mehrmals. Platz nehmen durften wir nicht, als Wärmesuchende auffallen durften wir ebenfalls nicht; meine Mutter erklärte mir, wir hätten kein Geld, und hier müsse man etwas verzehren. Also fror ich.

Das Kälteerlebnis auf dem Sportplatz hat keine Pointe, außer daß ich es bis heute nicht vergessen habe. Ganz sicher weckt man bei einem während eines Fußballspiels frierenden Kind keine Neigung zum Fußballsport. Niemals in meinem Leben habe ich freiwillig Fußball gespielt. An den Schulen verhielt man sich ohnehin noch reserviert gegenüber dem Fußball; im Fach „Leibesübungen“ wurde Völkerball und Handball gespielt.

Heute, während der Fußballweltmeisterschaft: Ich suche hier keine Rechtfertigung für mein Desinteresse, ich will keine Emotionen wecken, kein Mitgefühl mit dem Unterschicht-Kind; ich will nur berichten, wie es gekommen ist, daß ich Fußball nicht mag. Wäre ich Sportjournalist, für den mich viele halten, weil ich über das Laufen schreibe, wäre ich wohl der einzige dieser Zunft, der sich bei Fußball ausklinken muß.

Als ich diesen Text geschrieben hatte, schlug ich heute morgen die Zeitung auf. In einer Personalie über Alfred Biolek las ich, ihn lasse die Weltmeisterschaft völlig kalt. Es sei ihm gleichgültig, ob Deutschland Weltmeister werde oder nicht. Da wurde mir warm ums Herz – ich bin nicht allein.

Eintragung vom 17. Juni 14

Wäre ich in Biel gewesen, hätte ich mit Sicherheit die Lauftage als Thema genommen. In Gedanken war ich in Biel. In der Stunde des Starts klickte ich die Website der Bieler Lauftage an. Ein Banner, auf dem vorher die Zahl der Tage bis zum Start zu lesen gewesen war, verkündete jetzt: 48 Minuten. Beim Zähneputzen dachte ich an den 100-Kilometer-Lauf. Als ich am frühen Morgen aufwachte und liegen bleiben durfte, drängten sich mir Bilder der Bieler Strecke auf. Die Ersten mußten nun im Ziel sein… Der Lauf war noch nicht zuende, da waren auf der Website bereits Ergebnisse zu lesen. Welcher Unterschied zu der Zeit, in der man sich in Biel vor den ausgehängten Listen drängte, um seine offiziell erfaßte Zeit zu lesen! Welche Mühe damals, nach dem Lauf auch nur die Zahl der tatsächlichen Starter zu erfahren! Gewiß, die digitale Technik birgt unermeßliche Risiken; aber sie bietet uns auch gewaltige Chancen.

Drei Tage nach der Veranstaltung bei LaufReport ein umfangreicher Bericht und eine ebenso umfangreiche Zuschauer-Beschreibung! Gefreut habe ich mich über die Bemerkung, Biel fehle ein Angebot für diejenigen, die weder laufen noch walken können, eine Wanderung, ähnlich wie beim Rennsteiglauf. Eine oder mehrere Runden durch die Stadt gehen, ist keine Herausforderung. Die Halbmarathonstrecke nach Aarberg wäre eine Herausforderung, aber der Zielschluß ist für uns ausgeschiedene Biel-Läufer viel zu früh. So bleibt nur das Zuschauen. Das ist jedoch bei einem nächtlichen Rundkurs gar nicht so einfach zu organisieren.

Doch ich war eben nur in Gedanken beim Lauf. Daher das andere Thema. Welches? Das können nur Leute meiner Art fragen. Wenn im Fernsehen die abendliche Nachrichtensendung auf einen ungewohnten Zeitpunkt gelegt wird, wenn allerorten Reklame für Fan-Artikel gemacht wird, die Zeitung um Verständnis dafür bittet, daß die Auslieferungszeiten verschoben seien, Autos mit Fähnchen fahren, dann kann all das nur bedeuten: Fußball.

Damit könnte ich meine Tagebuch-Eintragung auch schon beenden. Fußball interessiert mich nicht; mit Fußball habe ich mich daher nicht beschäftigt. Über Fußball kann ich nur das schreiben, was längst schon in allen Facetten geschrieben ist. Vor der Weltmeisterschaft konnte man Kritisches lesen und die Fernsehbilder von Demonstrationen gegen die unsinnigen, weil das Land schädigenden Investitionen sehen. Seit dem 16. Juni ist wahrscheinlich alles anders. Da jubeln die Nationen unisono.

Doch die Gründe der Demonstrationen in Brasilien bestehen nach wie vor. Das trübe Kapitel Weltmeisterschaft in Katar ist noch nicht beendet. Bei den deutschen Verbandsfunktionären gärt es. Der FIFA-Präsident steht einem riesigen Wirtschaftsunternehmen vor, und er will weiterhin vorstehen. Auf den Spielfeldern – und vor den Stadien – herrscht die Aggression. Spieler-Aufstellungen werden von Medizin-Akten bestimmt. Ich habe den Eindruck, die Millionengehälter der Spieler sind reine Schmerzensgelder.

Ja, gut, das alles ist weit fundierter anderswo zu lesen. Was ich möchte, ist: Das negative Bild in den Tagen des Jubels nicht zu vergessen.

Eintragung vom 10. Juni 14

Seit weit über drei Jahrzehnten laufe oder – seit zwei, drei Jahren – gehe ich diese Strecke, lange Zeit beinahe täglich, jetzt drei- oder viermal in der Woche. Das mag langweilig klingen, doch immer wieder ereignet sich Neues, manchmal Dramatisches. Der Angriff eines Bussards, zweimal von einem Hund gebissen, ein Pferd in panische Angst versetzt, von einer Katze gekratzt, von einer Amsel Platz freigegeben, die artig zur Seite trippelte und dabei einen Wurm aufnahm, Ärger mit Radfahrern, freundliches „Danke“ von Radfahrern, Gespräche mit Anwohnern, Fragen von Autofahrern, Begegnungen…

Hasen sehe ich selten. Und wenn, dann sind sie so flink, daß sie im Nu verschwunden sind. Neulich bin ich jedoch einem Hasen begegnet, dessen Reaktion mich völlig überrascht hat. Es war ein verhältnismäßig großes Tier. Es saß in einer Wiese, als ich den Weg herantrottete. Gewiß, der Hase flüchtete – aber anders, als ich erwartete. Statt sich von mir schleunigst zu entfernen, lief er auf mich zu und an mir vorbei. Ich gestehe, wenn der Hase ein Wildschwein gewesen wäre, hätte ich es mit der Angst zu tun bekommen. Immerhin der Hase hielt etwa 3 Meter Abstand und schlug Haken. Dann verschwand er genau in der Richtung, in die ich gehen wollte. Was mag in ihm vorgegangen sein? Weshalb wählte er nicht den naheliegendsten Fluchtweg? Die Fragen bleiben.

In der letzten Woche erblickte ich einen Hubschrauber. Er stand über einem Wäldchen im Nachbarort, so daß ich schon vermutete, er lade dort etwas ab oder nehme eine schwebende Ladung auf. Ich ging etwa einen Kilometer, dann bewegte sich der Helikopter in meine Richtung. Fast hätte ich in dem Lärm, den er seit einer Viertelstunde verursachte, das Auto nicht gehört, das sich mir von hinten genähert hatte. Das kommt öfters vor. Diesmal war es ein Polizeifahrzeug. Ich war zur Seite getreten, um ihm Platz zu machen. Doch das Fahrzeug hielt dicht neben mir. Ein Polizeibeamter sprang aus dem Auto. Das ist selten. Das letztemal – da lief ich noch - hatte mich ein Polizeibeamter aus dem Auto heraus gefragt, mit der höflichen Einleitung, ob er mich etwas fragen dürfe. Ob ich ein Rudel Wildschweine gesehen hätte? Der Beamte war sitzengeblieben und hatte nur das Fenster geöffnet.

Diesmal war alles anders. Der Polizeibeamte, wenn er schon den Beifahrersitz verlassen hatte, schlug die Autotür nicht zu, sondern baute sich daneben auf. Ob ich der Herr M… sei? Ich verzichtete darauf dreist zu erwidern: „Nicht daß ich wüßte…“, sondern nannte meinen Namen. Das änderte jedoch nichts. Der Fahrer war ebenfalls ausgestiegen und hatte sich neben dem kontrollierenden Beifahrer aufgestellt. Hinterher fiel mir auf: Auto, geöffnete Tür und zwei Beamte – ich war umzingelt, der Fluchtweg war so gut wie abgeschnitten. Ob ich meinen Ausweis dabei hätte? Hatte ich nicht, versteht sich. Bei Läufern kommt wohl niemand auf die Idee, den Ausweis zu erbitten. Aber ich war ja kein Läufer mehr. Ich erwiderte, denn ich dachte mir: Erwidern ist in einer solchen Situation immer gut, ich hätte nur meinen Hausschlüssel bei mir und ich wohnte in dem Stadtteil XY. Damit gab ich den Beamten die Chance nachzuprüfen, daß ich wirklich nicht der Herr M… sei. Da endlich erklärte sich der Beamte: „Wir suchen jemanden.“ Doch das war mir schon vorher klar geworden. Der Beamte sagte nur: „OK“, und die beiden setzten sich wieder ins Auto und fuhren auf den Wald- und Wiesenweg meiner Route.

„Hat er sich denn wenigstens entschuldigt?“ fragte mich später Marianne, als ich ihr das erzählte. Nein, das habe er nicht. Wenn ich ihm schon nicht den Gefallen getan hatte, der Herr M… zu sein, besteht ja wohl kein Anlaß, sich für den Überfall zu entschuldigen.

Als ich meine Trainingsstrecke fortsetzte, kam mir der Gedanke: Vor Jahrzehnten war es von vornherein verdächtig, wenn jemand rannte, ohne noch eine Straßenbahn erwischen zu wollen. Heute sind so viele Läufer unterwegs, daß es umgekehrt verdächtig erscheint, wenn einer in kurzer Laufhose und T-Shirt nicht läuft, sondern gemächlich geht. Nun bin ich in einem Alter, in dem mich keiner für einen Läufer auf einer Gehpassage hält, sondern ich verdammte Ähnlichkeit mit einem wahrscheinlich infolge Demenz irgendwo ausgerissenen Herrn M… habe, zumal aus der Luft betrachtet, denn offensichtlich hatte die Hubschrauber-Besatzung dem Polizeifahrzeug den Weg zu mir gewiesen.

Noch etwas fiel mir ein: Ich trug ein Laufhemd mit der Aufschrift vorn und hinten „LaufReport.de“. Das schien den Beamten keine Frage wert zu sein, denn schwerlich trägt ein Dementer ein solches Laufhemd. Läufer also waren die beiden Polizeibeamten aus dem Streifenwagen nicht.

Eintragung vom 3. Juni 14

Ich bin für Toleranz. Auch im Laufstil. Auch was das Aufsetzen angeht.

Eine ganz frühe Erfahrung in meiner Laufgruppe war 1976, als eine neue Teilnehmerin nach der 5-Kilometer-Runde über heftige Wadenschmerzen klagte. Es stellte sich heraus: Sie war eine ehemalige Leichtathletin. Vom Sprint her war sie es gewohnt, beim Laufen mit dem Vorfuß aufzusetzen. Auf diese Weise legte sie auch die 5 Kilometer bei mir zurück. Ich selbst sah meine Aufgabe überwiegend im Motivieren und darin, möglichst sanft vom Gehen zum Laufen anzuleiten. Über den Laufstil sprach ich selten, verstand ich doch ohnehin nichts davon.

Schon damals wurde über den „richtigen“ Auftritt diskutiert. Empfohlen wurde das „Abrollen“ über die Ferse, das die meisten von uns praktizierten. Doch Fachleute wie Manfred Steffny vertraten die Meinung, daß das Aufsetzen mit dem Ballen am wenigsten Kraft koste. Als sich das Laufen über lange Strecken popularisiert und kommerzialisiert hatte und sich Ratgeber profilierten, wurde der Auftritt mit dem Vorfuß als „natürliches“ Laufen wieder ins Gespräch gebracht. Der Körper selbst sorge, wenn man mit dem Vorfuß aufsetze, für eine gute Absorption der Stoßbelastung auf die Gelenke; Fußgewölbe und Wadenmuskulatur federten die Stöße ab. Der Auftritt mit dem vorderen Fuß ermögliche eine flüssige Laufbewegung und gestatte eine bessere Entfaltung der Kraft. Überpronation werde verhindert. „Effiziente Läufer setzen mit dem Vorfuß auf und belasten ihre Fersen nie mit ihrem vollen Körpergewicht“ („Lauftraining für Triathleten und Marathonläufer“ von Ken Mierke, Deutsch 2007).

Noch immer ist die Art des Aufsetzens ein Diskussionsthema in den einschlägigen Foren. Ich selbst habe mich weder früher noch später im mindesten darum gekümmert. Ich bin gelaufen, wie ich zu laufen gewohnt war, und das war „abrollenderweise“. So haben es wohl die meisten gehalten, denen es nicht um eine Spitzenzeit, sondern zumindest auf Marathon- und Ultramarathonstrecken um das Ankommen allenfalls an der persönlichen Leistungsgrenze ging. Ausnahmen hat es, versteht sich, immer gegeben – insbesondere bergauf zum Beispiel.

Im Laufe der Jahre hat sich der Ultralauf, früher eine Sache von Spezialisten, weiter entwickelt. Ultraläufer jedoch, wenn sie sich denn überhaupt über ihren Laufstil Rechenschaft geben, rollen ihren Fuß ab.

Die Bestätigung habe ich – ziemlich zufällig – beim 42. GutsMuths-Rennsteiglauf gefunden. Als wandernder Zuschauer habe ich die Muße gehabt, mir eine Spiegelreflex-Kamera umzuhängen und in aller Ruhe Supermarathon-Läufer zu photographieren. Als ich zu Hause die Bilder ordnete, entdeckte ich: Die Läufer, die ich gerade im Augenblick des Auftretens abbilden konnte, hatten sämtlich mit der Ferse aufgesetzt.

Offenbar, so schließe ich, ist das wohl die ökonomische Art, ultralange Strecken zu bewältigen, und wohl auch die Art, die im Ultramarathon bei angemessenem Training am wenigsten zu muskulären Problemen führt.

Wer will, mag nun weiter diskutieren: Vorfuß oder Ferse. Gescheiter ist’s nach meiner Meinung: so zu laufen, daß man keine oder die wenigsten Probleme hat.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 27. Mai 14

Keineswegs will ich mäkeln oder eine Laufveranstaltung gegen die andere ausspielen. Doch gerade gut organisierte Veranstaltungen wie die Bieler Lauftage und der GutsMuths-Rennsteiglauf fordern ihre Teilnehmer geradezu auf, sich zu äußern und gegebenenfalls Vorschläge zu machen.

Nach wie vor schlage ich denjenigen, die den Schritt vom Marathon zum Ultramarathon gehen möchten, die 100 Kilometer von Biel vor. Für mich selbst allerdings sehe ich keine Startmöglichkeit mehr. Für die Halbmarathonstrecke nach Aarberg reicht die Zeit längst nicht mehr. Nun könnte ich zwar eine oder mehrere 2-Kilometer-Runden durch die Stadt Biel absolvieren, Aber so erhebend ist dieser Stadtrundgang auch wieder nicht, daß ich eine Autofahrt von vier Stunden und ein bis zwei Hotelübernachtungen dafür aufwenden würde.

Die Reise in den Thüringer Wald, nach Oberhof, erfordert zwar fast denselben Aufwand, aber hier lohnt sich wenigstens die Wanderstrecke von 17 Kilometern. Die 35 Kilometer wären zwar die interessantere Herausforderung; doch schon vor drei Jahren habe ich die Strecke nicht mehr in 9 Stunden geschafft, innerhalb derer man schon wegen des Autobusses am Grenzadler angekommen sein muß. Für die 17 Kilometer besteht allerdings auch eine Zeitvorgabe; doch für die 6 Stunden reicht es noch. Diese Wanderstrecke entspricht im großen ganzen dem letzten Teil der Supermarathon-Laufstrecke. Die – im übrigen kommode – Steigung liegt bereits nach dem ersten Drittel.

So wäre also alles in schönster Ordnung? Als ich am 17. Mai beim 42. GutsMuths-Rennsteiglauf zum zweitenmal die Wanderstrecke zurückgelegt habe, ist mir klar geworden: Da fehlt etwas. Wir sind zwar in einem schmalen Kanal neben den Supermarathon- und Marathonläufern ins Schmiedefelder Ziel gewandert, aber irgendwie fehlt der Schlußstrich. Die Wanderung hört sang- und klanglos auf. Zu Recht wird keine Zeit genommen, begrüßen kann man uns auch nicht. Wir sind in dem Ziel-Areal der Läufer uns selbst überlassen.

Das muß nicht sein. Das Bedürfnis des Zielerlebnisses, das wir Wanderer genauso haben wie die Läufer – und gar wenn wir einmal Läufer waren –, sollte irgendwie abgedeckt werden. Ich habe keinen konkreten Vorschlag, aber ich könnte mir vorstellen, daß man uns erst jetzt die Ansteck-Plakette überreicht, die wir beim Abholen der Startnummer bekommen haben. Die Ansteck-Plakette ist zwar völlig überflüssig, aber die Überreichung könnte eine Lücke, genau genommen: die Leere, die wir verspüren – füllen. Man brauchte dazu allerdings eine Helfergarde, zur Not auch nur einen einzigen Helfer, der die Wandertrophäe an einem Tisch vorrätig hält. Da der Tisch ja nur denjenigen zugänglich ist, die das Ziel passiert haben, ist der Mißbrauch wahrscheinlich ausgeschlossen. Sollten sich Wanderer wirklich zwei oder mehr Nadeln erschleichen wollen?

Eine andere Möglichkeit wäre, uns Wanderer in einem Extra-Zelt zu versammeln. Auf diese Idee hat mich das Zelt für die Mitglieder des GutMuths-Rennsteiglaufvereins gebracht. Dort können sich die GMRV-Mitglieder, die an einem der Läufe teilgenommen haben, austauschen. Das Zelt für die Wanderer könnte mit dem Ausschank des Freibiers verbunden werden, das auch die Wanderer auf den Coupon an ihrer Startnummer erhalten. Auf diese Weise könnten auch die Wanderer miteinander ins Gespräch kommen. Die Wanderung hätte einen würdigen Abschluß.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 21. Mai 14

Wenn sich etwa 17.000 Menschen zum Laufen, Walking und Wandern versammeln, muß es gute Gründe geben. Lassen wir die Traditionen beiseite, die sich ja statistisch mit dem Lebensalter der Beteiligten abschwächen. Die Gründe für die Beliebtheit des GutsMuths-Rennsteiglaufs sehe ich in der Vernetzung, nämlich der Vernetzung der Menschen – von Kindern bis zu uns Greisen – , der Vernetzung der Landschaft – die Laufkurse erstrecken sich über nicht weniger als 115 Kilometer – und der Vernetzung der Lauf- und Gehstrecken. Das klingt alles sehr intellektuell, „pseudointellektuell“, wie es bei Amazon in einer Leserkritik über mich heißt.

Starten wir endlich! Während die ersten Läufer der Supermarathonstrecke schon den Großen Inselsberg erreichten, versammelten wir Wanderer uns in Oberhof. Der Thüringer Wald lag lange noch im Nebel. Zweieinhalb Stunden später wich der graue Himmelsvorhang – zum Kummer des späteren Siegers – strahlendem Sonnenschein. „Bombenwetter!“ sagte einer. Auf dem Großen Beerberg (982 m), dem höchsten Punkt der langen Strecke, lagen in bestem Erhaltungszustand zwei Schneehaufen.

Immer wieder hatte ich auf der Rennsteigwanderung den Eindruck, nun sei ich der letzte; doch immer wieder überholten mich Grüppchen von Gehern. Mag ja sein, daß etliche erst einige Zeit nach dem Startschuß ihre Wanderung begonnen haben – doch so viele wohl auch wieder nicht. Schließlich überholten mich zwei Motorradfahrer. Also doch der letzte? dachte ich. Aber nein, die beiden fuhren dem ersten voran, Christian Seiler. Es dauerte eine ganze Weile, am Schluß wohl fünfzig Minuten, bis die nächsten folgten. Der erste, im ärmellosen Hemd, hatte den Sieg schon in der Tasche. Er schwebte über Wurzeln und Geröll – 4:50:56 Stunden, ein neuer Rekord. Wenn ich in dieser Zeit den 43,5 Kilometer langen Marathon beendet hätte, wäre ich glücklich und hoch zufrieden gewesen. Doch Christian Seiler legte in dieser Zeit 72,7 Kilometer zurück, jeden Kilometer in 4 Minuten. Anfangs rief ich den einzelnen Läufern – außer dem ersten, der mich überrascht hatte – „Bravo“ zu. Der fünfte nahm sich die Zeit „Danke“ zu sagen.

Das verstehe ich unter Vernetzung: Wo sonst kann man, ohne nur Zuschauer zu sein, Läufern begegnen? Freilich nicht allen; die Wanderstrecke zweigt ab und führt an der Suhler Hütte vorbei, zu der einst Goethe gewandert war, mündet jedoch wieder in die Laufstrecke ein. Wenn man nur lange genug unterwegs ist, wird man hier vom Hauptteil der 2200 Ultraläufer überholt. Da ich die Startnummer mit dem Vornamen auf dem kleinen Rucksack trug, grüßten mich manche mit dem Vornamen. Einige jedoch erkannten mich – ein Zeitsprung zurück in die laufaktive Zeit. Auch das ist die Vernetzung dieser Laufveranstaltung. Man muß nicht aufhören, solange man nur die 17 Kilometer in sechs oder vielleicht sieben Stunden zurücklegen kann.

Nicht wenige, die flotter als ich unterwegs waren, legten Pausen ein, an Plänckners Aussicht, am Großen Beerberg und vor allem an der Suhler Hütte, wo ein Trio spielte und sang. Auf diese Weise bleibt auch der langsame Wanderer, anders als der langsame Läufer, auf die Dauer nicht allein. Vernetzung: Kinder suchen sich am Waldsaum ihren eigenen, versteht sich, unbequemeren Wanderweg.

Gern wäre ich noch einmal die 35 Kilometer von Schnepfenthal zum Grenzadler gewandert, bei dem mich vor zwei Jahren der Nosovirus geplagt hatte. Jetzt bin ich froh, daß ich den Großen Beerberg, den ich 14mal hinaufgelaufen bin, mit zweimal Stehenbleiben erklommen habe. An dem Spitziger Berg spürte ich die schweren Beine. Bei den Stufen an der Suhler Hütte und den Wurzeln war ich zufrieden, daß ich die Wanderstöcke, die vorübergehend auch einmal Walkingstöcke waren, als Krücken benützen konnte. Meine relative Sicherheit, die früher von den Kraftreserven her rührte, kommt jetzt von den hilfreichen Stöcken.

Wie schön, daß man als Wanderer unterwegs in Ruhe photographieren kann, ohne sich um die Zielzeit zu kümmern! Der Einlauf – oder sagt man dazu jetzt: der Einwander? – vollzieht sich ganz unspektakulär. Man kommt einfach im umgrenzten Zielbereich der Läufer an und ist da. Die Medaillen, mit denen eine ganze Mädchengarde aufwartet, gehen einen nichts an. Man hat schon bei der Abholung der Startnummer eine grüne Anstecknadel bekommen. Man wird sie vermutlich nie tragen.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 13. Mai 14

Mit der Meldung, die ich hier wiedergeben möchte, scheint mein Erlebnis nicht im entferntesten etwas zu tun zu haben. Oder doch?

Zunächst das Erlebnis: Es war Anfang der siebziger Jahre; mein Ehrgeiz war größer als meine läuferische Fähigkeit. Da lief ich einen Marathon, vermutlich in Achern in Baden. Nach der Halbmarathonstrecke kamen wir an einem dichtbesetzten Parkplatz vorbei. Ein Auto verließ den Parkplatz und rangierte sich ausgerechnet in unsere Marathonstrecke ein; Marathonläufe waren damals sicher nicht so perfekt organisiert wie heute. Der Fahrer schnitt mir den Kurs ab. Da wurde ich wütend, ich schlug mit der flachen Hand auf die Karosserie. Erstens tat mir das weh, zweitens war der Fahrer ohnehin verzweifelt, da er sich vor lauter Läufern keinen Rat wußte, drittens trug mein Schlag auf die Karosserie nicht im mindesten zu einer Problemlösung bei. Heute schäme ich mich für meine sinnlose Reaktion. Ich hätte, wie andere auch, nur einen Moment warten müssen, um ihn die rettende Ausfahrt aus der Marathonstrecke erreichen zu lassen, oder ich hätte ein oder zwei Meter nach rechts laufen müssen, um das Auto hinter dem Heck zu passieren. Das hätte ein paar Sekunden gekostet. Nein, ich schlug mit der Hand aufs Blech und demonstrierte meinen Anspruch.

Es hat sicher später noch weitere Wettbewerbe gegeben, bei denen ich die Contenance verloren habe, zum Beispiel in Wien, als eine Frau mit Koffer den Läuferstrom passieren wollte. Zwar erinnere ich mich nicht mehr im einzelnen, aber mit Sicherheit geschah dies in der zweiten Hälfte, als ich jeweils schon kämpfen mußte. Eine Untersuchung an der Ohio State University in Columbus liefert mir jetzt den Ansatz einer Erklärung. Möglicherweise hängt mein aggressiver Ausbruch mit Unterzuckerung zusammen.

An der Ohio State University in Columbus hat der namhafte Psychologie-Professor Brad Bushman – er hat auch einen Lehrauftrag in Amsterdam – die Stärke von Aggressionen unter Partnern messen lassen und deren Blutzuckerspiegel ermittelt. Jeder der 107 verheirateten Paare erhielt eine Voodoo-Puppe, die den jeweiligen Partner symbolisieren sollte, sowie 51 Nadeln. Drei Wochen lang sollten die Teilnehmer Nadeln in die Puppe bohren, und zwar um so mehr, je ärgerlicher sie auf ihren Partner waren. Das Ergebnis war: Die Puppen mit den meisten Nadeln kamen von Teilnehmern, die am Abend einen niedrigen Blutzuckerspiegel gehabt hatten – je niedriger dieser war, desto mehr Nadeln bohrten sie in die Puppe. Das abschließende Experiment bestand darin, daß die Partner jedes Ehepaars nach drei Wochen in einem Labor scheinbar gegen ihren Partner antreten sollten; nach dem Erscheinen eines roten Quadrates auf einem Bildschirm sollten sie eine Taste drücken. Wer sie als erster bediente, mußte den Verlierer durch ein Tongemisch aus unangenehmen Geräuschen, zum Beispiel kratzenden Fingernägeln auf einer Tafel, dem Heulen von Sirenen oder dem Bohrgeräusch eines Zahnarztes, bestrafen. Der vermeintliche Gewinner konnte selbst darüber entscheiden, wie lange und wie laut das Geräusch über einen Kopfhörer auf den Partner wirken sollte. Dieser Versuch bestätigte: Wer am Abend zuvor einen niedrigen Blutzuckerspiegel aufgewiesen hatte, war am aggressivsten bei der „Strafzumessung“.

Bushman begründet dieses Phänomen damit, daß Glucose als Hirnnahrung dient. Reduziert sich die Glucose, fehlt es an Selbstkontrolle. Die Folgerung: Eine Aussprache unter Partnern sollte nach einer kohlenhydrat- und proteinreichen Mahlzeit stattfinden. Wahrscheinlich, so folgere ich aus den Experimenten, werden auch Läufer aggressiver, wenn im Verlauf eines Rennens die Kohlenhydratvorräte größtenteils aufgebraucht sind. Nach über vierzig Jahren also bitte ich den Fahrer, dem ich aufs Blech geschlagen habe, um Entschuldigung und um mildernde Umstände – ich war unterzuckert.

Eintragung vom 5. Mai 14

Mit großer Betroffenheit habe ich der DUV-Website entnehmen müssen, daß Dr. Karl Lennartz am 2. Mai gestorben ist. Er ist 74 Jahre alt geworden – sein Tod ist viel zu früh gekommen. Allerdings hat er vor Jahren schon gesundheitliche Probleme gehabt. Dennoch, er hat sich in den Funktionen, die er wahrgenommen hat, nicht geschont.

Wem Karl Lennartz kein Begriff ist: Was immer man über ihn schreiben kann, – in die Gefahr der Überschätzung wird man nicht kommen. Er war ein Sporthistoriker von Format, – für die Geschichte des Laufens vermutlich der wichtigste deutschsprachige, er war ein weltweit anerkannter Forscher der olympischen Bewegung. Er war Läufer und damit der Laufszene eng verbunden – Marathon-Bestzeit 2:42:20 Stunden, persönliche 100-km-Bestzeit 8:33 Stunden; er war Trainer, und er war von 1985 bis 1987 der Gründungsvorsitzende der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung.  

Karl Lennartz wurde am 19. März 1940 in Aachen geboren, studierte von 1960 bis 1967 Geschichte, Geographie, Sport, Kunstgeschichte und Pädagogik und promovierte in historischer Geographie. Zunächst war er Assistent, dann Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Bonn und Köln. Nach der Habilitierung im Fach Sportgeschichte an der Deutschen Sporthochschule war er dort von 1980 bis zur Emeritierung im Jahr 2005 Hochschullehrer und leitete 16 Jahre lang das Carl und Liselott Diem-Archiv. Von ihm liegen über 30 Bücher vorwiegend über Spezialthemen der Olympischen Spiele vor. Für uns Läufer ist erfreulich, daß er 2005 bis 2007 in der Reihe „100 Jahre Leichtathletik in Deutschland“ das dreibändige Standardwerk „Marathonlauf“ fertigstellen konnte, ein einzigartiges präzises Standardwerk: „Von den Anfängen bis van Aaken“, Ost und West und gesamtdeutsch“, „Frauen – geborene Marathonläuferinnen“.

All diese Daten und Fakten habe ich abgeschrieben; jedoch verdanke ich persönlich Karl Lennartz wie keinem anderen die Fußspuren in die Geschichte des Laufens. Dazu haben zunächst seine Veröffentlichungen in der „Condition“ beigetragen. Wie kaum ein anderer Autor nach van Aaken hat er trotz seiner starken Beanspruchung jahrelang Kontakt zu mir gehalten, selbst als sich ein Problem auftat. Als die große Diskussion über Carl Diems Rolle im Nationalsozialismus entbrannt war, äußerte auch ich mich kritisch über Carl Diem (ich hatte mich, wie man so sagt, dem linken „mainstream“ angeschlossen). Karl Lennartz überzeugte mich im Briefwechsel davon, daß Diem kein Nazi war; ich vertraute seiner Kompetenz als jahrelangem Diem-Forscher und seiner politischen Objektivität als SPD-Mitglied. Mein Argument ist zudem: Ein Land, in dem NSDAP-Mitglieder Bundeskanzler und Bundespräsident sein konnten, hat keinen Anlaß, Sporthallen und Straßen, die den Namen eines konservativen, vielleicht auch restaurativen oder opportunistischen Sportpioniers umzutaufen.

Ich danke Karl Lennartz, daß er sich honorarfrei als Referent des ersten Ultramarathon-Seminars in Berlin zur Verfügung gestellt hat. Er hat es verstanden, aus dem Training seiner Kinder Birgit und Burkhard, beide hervorragender Ultraläufer, Grundsätze zu abstrahieren. Als Ende 1985 die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung gegründet wurde, war er dabei und stellte sportpolitisch die ersten Weichen. Den Vorsitz gab er nach zwei Jahren, damals bereits aus gesundheitlichen Gründen, an Bernd Evers ab.

Als er das Laufen aufgeben mußte, kaufte er sich als einer der ersten ein Fahrrad mit elektrischer Unterstützung, das er später auch mir empfahl. Auch nach seiner Emeritierung war er weiterhin in verschiedenen Kommissionen des Internationalen Olympischen Komitees und in der International Society of Olympic Historians tätig; er war Gründungsvorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft von Sportmuseen, Sportarchiven und Sportsammlungen, Mitherausgeber des Journal of Olympic History und lokal Vorsitzender des Stadtsportverbands. Dreißig Jahre gehörte er dem Gemeinderat seiner Wohngemeinde St. Augustin an und war auch eine Zeitlang Vizebürgermeister. Sein Terminkalender war, wie sich denken läßt, nach wie vor gefüllt. Sein Wirken ist unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse, dem Olympischen Orden in Silber und mehreren Ehrenmitgliedschaften gewürdigt worden.

Doch es sind nicht die weggefallenen Funktionen, die uns trauern lassen. Wir trauern um einen aufgeschlossenen Menschen, der auch, als er nicht mehr sportlich aktiv sein konnte, die Verbindung zur läuferischen Basis gehalten hat. Mir persönlich wird er fehlen.

Eintragung vom 30. April 14

Mein Irrtum war riesig - im Herbst 1979 kaufte ich mir in New York ein Paar Laufschuhe von Nike zu herabgesetztem Preis. Ich war glücklich, ich pries die Schuhe: Man laufe in ihnen wie auf einem weichen Waldboden. Solche Schuhe gab es in der Bundesrepublik nicht. Als wir im Herbst 1981 zum Deutschland-Lauf starteten, trug ich sie. Zwar führte ich auch noch zwei Paar andere Schuhe mit, aber den Nikie trug ich am liebsten. Nach vierzehn Tagen begannen die Knieschmerzen. Ich war der einzige von uns sechs, bei dem sich eine Verletzung eingestellt hatte. Schon kam die Hypothese auf, es könne an meiner bis dahin konventionellen Ernährung mit Zivilisationskost liegen.

  Erst viel später wurde mir alles klar: Die Verletzung war keine Folge der 600 oder 700 Kilometer, die wir bis dahin zurückgelegt hatten, sondern allein durch die so überaus weich gedämpften Schuhe verursacht. Da ich O-Beine habe, hatte ich die Schuhe schiefgetreten wie noch keinen Schuh zuvor. Die Statik des Knochengerüsts muß darunter gelitten haben. Daß die amerikanischen Schuhe das schmerzvolle Malheur verursacht haben, habe ich erst nach dem Lauf erkannt, als die Schuhe auch ohne jegliche Belastung als völlig schiefgetreten erkennbar waren. Nike hatte 1979 mit dem „Tailwind“ das Angebot umgestellt und die zu weichen Schuhe im Handel verramschen lassen.

Vor zehn Jahren begann Nike abermals, einen neuen Kurs zu steuern. Amerikanische Wissenschaftler, insbesondere der Harvard-Biologe Daniel Lieberman, hatten behauptet, ein Großteil der nicht wegzudiskutierenden Läufer-Verletzungen sei auf die Schuhe zurückzuführen. In der Bundesrepublik hatte sich früh bereits Carl-Jürgen Diem energisch gegen zuviel Dämpfung ausgesprochen. Nike schuf den ersten minimalistischen Schuh, Barfußschuh genannt, weil man mit ihnen so lief, wie wenn man barfuß liefe.

Inzwischen gibt es mehrere Dutzend solcher Barfuß-Modelle. In Freiburg im Breisgau hat sich ein Laufshop allein auf diese Art von Laufschuhen spezialisiert. Die Firma Bär, dessen Schuhmodell Transeuropa ich – bis auf die Haltbarkeit der Sohle – sehr schätze, unterhält in Berlin einen Laden, in dem einzig die eigene Barfußschuh-Marke Joe Nimble verkauft wird. Im August vorigen Jahres kaufte ich mir ein Paar Nimble, obwohl ich gar keine neuen Schuhe gebraucht hätte. Doch über den Trend zur Minimalisierung der Fußbekleidung wollte ich mir ein eigenes Urteil verschaffen, selbst wenn dieses dadurch eingeschränkt wird, daß ich nur gehe und nicht mehr laufe.

Ich folgte dem Rat und gewöhnte mich ganz allmählich an dieses Minimum von Schuh. Es ist der „Conscious“; wie ich erst später sah, hatte ich mir Schuhe zweiter Wahl ausgesucht und dafür ein Drittel weniger bezahlt. In der kalten Jahreszeit allerdings verzichtete ich auf den Test. Erst seit März gehe ich wieder ein- bis zweimal in der Woche in dem Nimble Conscious mit Vibram-Sohle. Auf den ersten 50 Metern war ich im Nimble über die eigenen Füße gestolpert; das ist später nicht mehr passiert. Das Aha-Gefühl ist einzigartig; ja, noch immer ein Gefühl, wie wenn man barfuß liefe. Aufgefallen ist mir, daß ich für die 8-Kilometer-Runde in der Regel 5 Minuten länger brauche als in normalen Laufschuhen. Ich führe das darauf zurück, daß die Barfuß-Schuhe Muskeln aktivieren, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Offenbar sind es auch Muskelpartien in den Oberschenkeln. Es fällt mir schwerer, noch schwerer als ohnehin, Steigungen hinaufzugehen. Ich schleiche sie hinauf. Treppensteigen fällt mir nach der in Barfuß-Schuhen zurückgelegten Gehrunde schwerer.

Empfohlen wird eine langsame Umgewöhnung, konkret, erst einmal nur 30 bis 60 Minuten in solchen Schuhen zurückzulegen. Doch ich bin in der Regel zweiundeineviertel Stunde unterwegs. Ich werde demnächst eine neue Testphase beginnen, nämlich nicht mehr mit herkömmlichen Laufschuhen wechseln, sondern allein den Joe Nimble tragen. Da müßten genau auch diejenigen Beinmuskeln trainiert werden, die der Conscious anspricht.

Grundsätzlich stimme ich in den Chor derjenigen ein, die das befreiende Laufgefühl in den Barfuß-Schuhen loben und keinen anderen Schuh mehr tragen möchten. Allerdings beunruhigt eine Studie von Michael Ryan von der Griffith University in Southport. Er hatte 99 Läufer jeweils eines von drei Schuhmodellen unterschiedlichen Typs anziehen, sie zwölf Wochen lang trainieren und an einem 10-Kilometer-Lauf teilnehmen lassen. Es ereigneten sich 23 Verletzungen (Kriterium: Ausfall von drei Trainingseinheiten). Am niedrigsten war mit 4 Verletzungen die Quote der Normalschuhträger, am höchsten mit 12 Verletzungen die Quote der gemäßigten Minimalisten (Nike Free 3.0 V2); die Träger des extrem minimalistischen Schuhs (Vibrant Five Fingers) erlitten 7 Verletzungen und klagten häufiger über Schmerzen an Schienbein und Wade. Das veranlaßte die „Ärzte-Zeitung“ zu der Überschrift „Mehr Verletzungen und Schmerzen in Barfuß-Laufschuhen“ (6. Februar 2014). Sicher, da sollte man aufhorchen; doch ich halte eine Studie mit 99 Teilnehmern auf diesem Gebiet für wenig relevant.

Für den Barfuß-Schuh wird auch damit geworben, daß sich nachgerade automatisch ein anderer Laufstil einstelle – statt des Abrollens von der Ferse her der Auftritt mit dem Vorderfuß. Dieser Stil wird von Experten für natürlich gehalten. Der Trend zum „natural running“ deckt sich mit dem Trend zum Barfuß-Schuh. Doch jede Umstellung des Laufstils provoziert Verletzungen. Die Diskussion über die zweckmäßigste und gesündeste Fußbekleidung ist längst nicht abgeschlossen.

 

Erinnert sei daran, daß schon Ernst Brütting Ende der sechziger Jahre zu einem einfachen, wenn auch nicht minimalistischen Schuh tendierte. Sein „EB Road Runner“ aus Wildleder bedeutete nichts weiter als einen Schutz des Fußes; Dämpfung wurde allein durch die – häufig bald verschlissene – Sohle bewirkt. Brütting-Schuhe waren einst die Schuhe für Kenner. Sind wir mit der Entwicklung der Fußbekleidung wieder am Anfang angekommen?

Photos: Sonntag

Eintragung vom 23. April 14

Die Schlagworte gaben Anlaß zu schlimmen Befürchtungen: „Rennen bis zum Rausch“, „extremer Ausdauersport“, „Optimierungswahn“. „Schönheitsoperationen, Marathonlauf, Pillen für Konzentration, Doping, Neuroenhancement (Anm.: Einnahme psychoaktiver Substanzen zum Zwecke geistiger Leistungssteigerung), Partnerschaftstraining, Gehirnjogging, Diätmarathon, Präimplantationsdiagnostik, bei all dem und vielem anderen mehr handelt es sich um Ausdrucksformen eines Optimierungsdenkens und -handelns, das weltweit verbreitet ist.“ Das ist die Meinung von Gert Scobel über das Thema seines Abends am 17. April. Doch der Film über drei Triathleten, den 3sat ausstrahlte, war eine ganz normale Dokumentation sportlicher Leistungen. Kein mahnender Zeigefinger, wie man sich denn so überfordern könne, sondern im Gegenteil die Aussage des Fachmanns, des Professors Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule: Ja, so mache es der Triathlet richtig!

Dokumentiert wird die Vorbereitung von drei unterschiedlichen Triathleten auf den Halb-Ironman auf Lanzarote: Die 27jährige Natascha Schmitt wird als Triathlon-Profi bezeichnet; der Oberbootsmann Jan-Erik Wittenhagen trainiert in der Woche nicht nur die 3 Stunden, die an Dienstzeit dafür zur Verfügung stehen, sondern auch in der Freizeit; der 58jährige Bilanzbuchhalter Jürgen Bohm ist der Typ des ambitionierten Freizeitsportlers. Professor Froböse hat diese Vorbereitung überwacht; zusammen mit dem Sportwissenschaftler Moritz Anderten kommentiert er verschiedene Filmszenen.

Das Ergebnis des Schwimmens über 2 Kilometer, des Radfahrens über 90 Kilometer und des Halbmarathons: Natascha schafft es nicht, wie sie angestrebt hat, aufs Treppchen, sondern belegt den siebenten Platz der Frauen; Jan-Erik ist auf Platz 130 der 624 Teilnehmer, und Jürgen kommt auf Rang 348. Nun ja, die Kamera hielt genau auf diejenigen zu, die sich nach dem Halbmarathon-Einlauf zu Boden warfen. Aber im großen ganzen war es die sachliche Wiedergabe eines ganz normalen Wettbewerbs.

Nach diesem Film wurde diskutiert; Gert Scobel hatte die Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen, den Philosophen Bernward Gesang und den Soziologen Dietmar J. Wetzel gebeten. Nicht daß es uninteressant gewesen wäre, aber mit dem vorangegangenen Film hatten die Antworten auf Scobels Stichworte rein gar nichts zu tun. Und mit dem Sport nur insofern, als auch das Doping, die Möglichkeit, den stärksten Erfolg zu erzielen, behandelt wurde.

Weshalb nun der Marathonlauf eine Ausdrucksform des Optimierungsdenkens sei, diese Auskunft mußte die Diskussions- oder besser: Befragten-Runde schuldig bleiben. Bei den Schönheitsoperationen konnte wenigstens eine relevante Zahl genannt werden: 1,1 Millionen Menschen haben sich in einem Jahr operativ angeblich schöner machen lassen. Auch für den Marathon gibt es Zahlen, die jedoch unberücksichtigt blieben: Angeblich betreiben über 16 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Laufsport. Die Zahl der deutschen Marathon-Teilnehmer bewegt sich um die 120.000. Zwar ist nicht jeder Wald- und Wiesen-Marathon erfaßt, aber ebensowenig sind die Mehrfach-Teilnahmen registriert. Dennoch wird man sich leicht auf diesen Prozentsatz einigen können: Weniger als 1 Prozent der in Deutschland Laufenden laufen auch einen Marathon. Wo also ist das Indiz eines Optimierungswahns? Gewiß, man kann jede gemessene sportliche Leistung als Ausdrucksform der Optimierung bezeichnen. Aber wieso dann nur den Marathon und nicht auch beispielsweise den 100-Meter-Lauf? Was wir seit einiger Zeit beobachten, die Hinwendung zum Trail-Lauf oder die gewaltige Zunahme von Teilnehmern an Hindernis- und Schlammläufen, worin besteht hier der Optimierungswahn?

Die Fragen, die sich mir an diesem Fernsehabend aufgedrängt haben, sind nicht beantwortet worden. Im Hinblick auf das Thema der Ankündigung – „Laufen bis zum Rausch – Extremsport als Massenbewegung“ bleibt nur das Urteil: Thema verfehlt.

Eintragung vom 16. April 14

Mißtrauen gegen meine Nachricht ist angebracht: Ich erwähne hier ein Hotel, das sich als Läuferhotel empfiehlt. Keine Sorge, ich bin weder eingeladen worden noch würde ich einer Einladung Folge leisten. Der Hotelier hat mir schlicht eine Mail geschickt. Der Grund war: Er hält auf seiner Website ein E-Book übers Laufen bereit. Das ist auf jeden Fall ungewöhnlich.

Vergegenwärtigen wir uns, welchen Weg der Lauftourismus zurückgelegt hat! Wenn ich persönliche Stationen dieses Weges beschreiben sollte, müßte ich damit beginnen: Als im örtlichen Verein die Zahl der Marathonläufer auf etwa zwanzig gestiegen war, beschlossen wir, gemeinsam am Schwarzwaldmarathon teilzunehmen. Dazu wurde ein Autobus gemietet – eine Frühform des Lauftourismus. Das war ums Jahr 1970.

Im Jahr 1974 begann der Verein Teutonia 1920 Lanstrop, einen Marathon auf der antiken Strecke von Marathon zum historischen Olympiastadion in Athen zu organisieren. Nach meiner Erinnerung, aber wohl auch nach anderer Quelle war das die früheste Laufreise der modernen Laufbewegung. Man buchte Hotel und Marathonstart samt Bus nach Marathon beim Dortmunder Veranstalter.

Im Jahr 1976 rief Arthur Lambert, der Erste Vorsitzende der IGÄL (Interessengemeinschaft der älteren Langstreckenläufer), zum Lauftreffen auf Teneriffa. Der Hintergrund ist in der Geschichte der IGL (Günter Scharf und Gusthelm Schläbitz) nachzulesen. Auf Vorschlag eines Wuppertaler Reisebüros hatte Lambert die Kanarische Insel gewählt, deren Witterung den Gegenpol zu dem in Mitteleuropa als „grau“ verschrienen Monat November zu versprechen schien. Das Wuppertaler Reisebüro organisierte später auch die anderen IGÄL-Reisen, darunter die sehr erfolgreiche Laufreise nach Japan. Privater Laufurlaub auf Teneriffa fand auch noch statt, als es längst schon keine IGÄL-Reisen mehr gab. Das Reisebüro hatte den Lauftourismus anderen überlassen.

Als Manfred Steffny zusammen mit Dr. Ernst van Aaken 1974 „Spiridon“ gegründet hatte, betätigte er sich alsbald als Reiseveranstalter. Eine Spezialität seines Angebots waren Ozean-Laufkreuzfahrten. Ein früher Veranstalter von Laufreisen war Inter Air Voss; sein Inhaber war über den Skilanglauf zu seinem Angebot an Reisen zu Laufveranstaltungen gekommen. Andere Veranstalter waren zunächst Läufer und machten sich dann als Händler und/oder als Laufreiseveranstalter selbständig. Das Angebot ist ziemlich unübersichtlich. An Hand von Internet-Adressen schätze ich die Zahl der echten Laufreiseveranstalter in Deutschland auf etwa 50. Die Anzeigen in den Laufzeitschriften kommen nur von wenigen Spezialisten.

Im Jahr 1978 habe ich noch erlebt, daß die Hotels in New York für Teilnehmer des New York Marathons, zu dessen Start auf Staten Island man ziemlich früh transportiert wird, kein Frühstück anboten. Im Jahr darauf hatte der namhafte Schweizer Reiseveranstalter, bei dem ich eine Laufreise gebucht hatte, versäumt, den von mir schon erhobenen Zimmerpreis an das Hotel abzuführen. Ein anderer Reiseveranstalter wiederum hatte vergessen, die beiden Läufer, die eine Laufreise gebucht hatten, zum Start anzumelden; der Anbieter hatte die Reiseorganisation einem Unternehmen in London anvertraut. Die Kunden des Lauftourismus wurden, wie man sieht, ziemlich nachlässig behandelt.

Immerhin, wir waren schon Kunden. 1968 hatte die Seniorwirtin des Hotels, in dem wir zum ersten Schwarzwaldmarathon übernachteten, noch gefragt, was wir für unsere Teilnahme an dieser Schinderei bekommen würden. Sie fiel aus allen Wolken, als sie erfuhr, daß wir nicht nur nichts bekamen, sondern dazu auch noch eine Startgebühr zahlen mußten. In den späten siebziger und den achtziger Jahren versuchte das Hotel Ehrenbachhöhe am Hahnenkamm bei Kitzbühel, sich als Läuferhotel zu profilieren. Zu einer Zeit, da das Laufen in den Bergen noch eine Ausnahme war, muß man das als sehr mutig bezeichnen. Gelohnt hat sich’s offenbar nicht; spätestens mit dem Inhaber-Wechsel wurde das Profil eines Läuferhotels aufgegeben. Im Gegensatz zu den Fahrradtouristen waren die Läufer, die Marathon-Touristen, keine Zielgruppe, auf die sich Hotels erfolgreich spezialisieren konnten.

Heute ist die Situation im allgemeinen so, daß Lauf-Ereignisse von Tourismus-Verbänden beworben, wenn nicht sogar zum Zwecke des Tourismus erst geschaffen werden. Nicht ein einzelnes Hotel, sondern die ganze Branche soll von uns profitieren.

Wenn es Hotels gibt, die Laufreisende anlocken, dann stehen nicht selten persönliche Motive dahinter; die Inhaber sind selbst Läufer. Das ist zum Beispiel der Fall beim Hotel Cendevavis in den Dolomiten, das den Anlaß dieser Betrachtung gibt. Die beiden Gastgeber, Birgit und Christian Stuffer, die das Hotel bei Gröden in zweiter Generation führen, sind selbst ambitionierte Läufer. Das Südtiroler Hotel, dessen Panoramalage mit der des österreichischen Läuferhotels bei Kitzbühel vergleichbar ist, wird nicht als „Läuferhotel“ ausgewiesen; aber in die Website ist das Laufen ganz unabhängig und wie selbstverständlich integriert. Zweimal im Jahr findet hier unter der Leitung von Albert Rungger, einem Laufpionier und Trainer, eine Berglaufwoche statt. Von der Hotel-Website kann man sich nun zu einem E-Book „Alles rund ums Laufen“ weiterklicken. Sicherlich wird eine solche Schrift weder Gäste ins Hotel führen noch aus einem „Couch-Potato“ einen Bergläufer machen; aber sie ist ein Anstoß, und sie trägt wahrscheinlich zur Profilierung eines Sporthotels bei. Längst schon sind Gourmet-Küche und Ausdauersport keine Gegensätze mehr.

Eintragung vom 9. April 14

Dieter Baumanns Karriere dürfte bekannt sein: Er ist vom Rekordläufer zum „Lebensläufer“ geworden und hat damit unseren Status erreicht. Er kann Marathon laufen und weiß, was ein 100-Kilometer-Lauf ist. Er kann mitreden, und das so gut, daß er mitschreiben kann, und das so gut, daß er mitreden kann. Vier Bücher liegen vor, eines davon schon nicht mehr, weil es vergriffen ist. Derzeit ist er mit einem Vortragsprogramm unterwegs. Der Ausdruck ist mißverständlich: Das sind ja keine „Vorträge“, sondern er plaudert auf unverwechselbare schwäbische Weise, er analysiert, er witzelt, er spielt. Der Autor Baumann ist zum Kabarettisten geworden und damit zur Zierde jedes Lauf-Ereignisses.

Seit kurzem hat er eine weitere, neue Funktion: Er ist Vorstandsmitglied im Verein für ganzheitlichen Journalismus. Den meisten Lesern wird dieser Verein unbekannt sein. Das läßt sich rasch ändern; sie brauchen nur die Website www.kontextwochenzeitung.de aufzurufen. Das ist eine Website, auf der wöchentlich einmal, jeweils von Mittwoch null Uhr an, in aktuellen Beiträgen „Qualitätsjournalismus“ geboten wird. Das Projekt ist einzigartig in Deutschland. Es ist eine ernst zu nehmende Wochenzeitung, die für jedermann zugänglich ist.

Einzigartig ist sie deshalb, weil sie völlig unabhängig ist; es gibt keinen Verleger, sondern eben den Verein für ganzheitlichen Journalismus. Ihn haben vor drei Jahren einige Journalisten in Stuttgart gegründet, darunter der ehemalige Chefreporter der „Stuttgarter Zeitung“, Josef-Otto Freudenreich. Seine Vision war: Eine Online-Wochenzeitung zu schaffen und damit gegen den Filz nach fast 60 Jahren CDU-Herrschaft in Baden-Württemberg anzugehen. Arbeitsprinzip soll ein „altmodischer“ Journalismus sein – Gründlichkeit vor Schnelligkeit, Ausführlichkeit statt Nachrichtenschnitzel.

Freudenreich, geboren 1950 in Bad Waldsee in Oberschwaben, ist Diplom-Soziologe und seit Beendigung des Studiums im Journalismus. Zunächst war er Sportreporter in Karlsruhe. In den internen Hierarchie-Vorstellungen hatten Sportjournalisten die unterste Stufe inne, noch unter den Lokaljournalisten – ein Vorurteil, das Freudenreich ebenso wie zuvor Hanns-Joachim Friedrichs und andere, wie der Schriftsteller Hans Blickensdörfer, gegenwärtig vor allem Oliver Welke glänzend widerlegt haben. Damals habe ich mir von Freudenreich einen Beitrag für die „Condition“ erbettelt – ich weiß nicht mehr, welchen; aber unvergessen bleibt, daß er dem honorarfreien Nachdruck zustimmte. Nach der Mitarbeit für die „Zeit“ und die „Süddeutsche“ hatte er in Karlsruhe versucht, eine Wochenzeitung, die „Karlsruher Rundschau“, zu gründen. Das lief jedoch schief. Freudenreich ging zur „Stuttgarter Zeitung“. Dort war er bis 2010 Chefreporter. Manche seiner Beiträge – er ist mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Wächterpreis ausgezeichnet worden – haben Eingang in seine Bücher gefunden.

Am 6. April 2011 rief er mit Kollegen die Internet-Wochenzeitung „Kontext“ ins Leben. Nach zwei Jahren wäre auch sie finanziell am Ende gewesen; doch der Appell an die Leser, monatlich 10 € für die Lektüre zu zahlen, fruchtete. Internet-Beiträge aus „Kontext“ werden an jedem Wochenende von der taz für die Bundesausgabe übernommen. Gleich zu Beginn hatte Freudenreich Dieter Baumann, der inzwischen als langjähriger Kolumnist Erfahrungen mit Medien erworben hat, ins Boot geholt. Beide haben zwei Baumann-Bücher erarbeitet, 1995 „Ich laufe keinem hinterher“, 2003 „Lebenslauf“. Nun, bei der Vorstandswahl des Vereins für ganzheitlichen Journalismus am 26. März, ist Baumann in den Vorstand gewählt worden. Er ist zuständig für die Redaktion.

Damit hat das Persönlichkeitsprofil des 49jährigen Olympiasiegers eine neue Facette bekommen. Die Zukunft von „Kontext“ scheint gesichert, soweit man auf diesem Gebiet von Sicherheit sprechen kann. Denn niemand weiß, wie es mit den Medien weitergeht. Print-Medien haben starke Einbußen hinnehmen müssen. Die Verleger versuchen, sie durch Einsparungen, nicht zuletzt an der Redaktion, zu kompensieren. Der Journalismus hat sichtbar an Quantität der Print-Medien, aber auch an Qualität verloren. Zu beobachten ist dies bei der „Stuttgarter Zeitung“, früher einmal die vermutlich beste Regionalzeitung in der Bundesrepublik. Der Hamburger Springer-Verlag konzentriert sich auf digitale Medien. Jedes Lokalblatt hat zwar seinen Internet-Auftritt, aber er bringt in der Regel keinen finanziellen Gewinn, sondern verursacht nur Kosten. Die wenigsten Verlage können es sich leisten, ihre Internet-Beiträge an Leser zu verkaufen. Nicht selten ist die gedruckte Zeitung vorab gegen Gebühr digital abrufbar. Doch Zeitungen und Magazine, die allein digital erscheinen, sind die Ausnahme.

Wir sind im digitalen Zeitalter, aber wir wissen nicht, wie es von den Medien bewältigt werden soll. Insofern ist es ein tollkühner Gedanke von Constanze und Walter Wagner gewesen, bereits im Jahr 2002 mit einem Laufmagazin den Schritt in eine digitale Zukunft zu wagen, von der auch heute noch niemand weiß, wie sie medial aussehen wird. Während LaufReport ausschließlich durch Werbung finanziert wird, verzichtet Kontext auf jegliches Werbeaufkommen. Der Appell an die Leser muß genügen. Dies also ist eine Möglichkeit, aber keine Sicherheit für das Weiterbestehen.

Auf den Vorstand des Vereins für ganzheitlichen Journalismus werden beträchtliche Aufgaben zukommen. Dieter Baumann hat den Schritt ins Übermorgen gewagt. Vielleicht erreicht er es, daß man in Kontext dann und wann einmal auch einen kritischen Text zum Sport zu lesen bekommt. Hieran besteht mit Sicherheit Bedarf.

Eintragung vom 2. April 14

Vielen Läufern, die erst in den letzten Jahren zum Laufen gefunden haben, wird der Name nichts mehr sagen, es sei denn sie hätten meine Würdigung vom 24. September 2012 gelesen. Da habe ich den 95. Geburtstag meines Laufmentors gefeiert: Dr. med. Dieter Maisch. Er war in der Laufszene der Mensch, den ich am längsten kannte, nämlich seit dem Jahr 1966. Am Sonntag, 30. März 2014, ist er im 97. Lebensjahr gestorben.

  Dr. med. Dieter Maisch war ein Laufpionier, wahrscheinlich der älteste Mediziner auf diesem Gebiet. Gelaufen war er bereits, als er das humanistische Karls-Gymnasium in Stuttgart besuchte. Als er 1962 dank Vermittlung durch einen Kollegen Verbindung zu Dr. Ernst van Aaken bekommen hatte, wurde das Laufen sein wichtigster Sport; bis ins hohe Alter betrieb er es leistungsbezogen. Zwar nahm er in den siebziger Jahren auch an einer Anzahl Marathonläufe teil, aber sein Interesse galt insbesondere den kurzen Langstreckenläufen; auf ihnen erwarb er eine Anzahl Meister-Titel. Fünfmal war er Deutscher Ärztemeister auf 1500 Metern. Ebenso beteiligte er sich an Skilangläufen, betrieb Abfahrtsskilauf und legte 35 Mal das Deutsche Sportabzeichen ab. Schwimmen, gymnastische Übungen und Radfahren gehörten zu seinem Training.

Von Anfang an versuchte er, seine Patienten zum Bewegungstraining zu motivieren. Auf diese Weise bin ich zum Laufen gekommen. Meine Migräne hatte mich 1966 zu ihm, dem Neurologen in Kirchheim unter Teck, geführt. Er motivierte mich zum Laufen; als er mir von einem Volkslauf erzählte, dem ersten in Stuttgart, wollte ich da mitmachen. Mein Ehrgeiz war geweckt. Wenn ich zu Dr. Maisch kam, sprachen wir – die Mitpatienten mögen mir verzeihen – zunächst einmal über unser Lauf-Erleben. Fast immer griff er in ein Schreibtischfach, wo nicht etwa eine Cognac-Flasche stand, sondern seine Urkunden lagerten. Über diese Gespräche lernte ich Dr. Ernst van Aaken kennen. Ich erfuhr von der IGÄL, bekam Einblick in deren Rundbriefe, und nach einem Gespräch mit Dr. Maisch war es mein Ziel, am ersten Marathonlauf für über Vierzigjährige teilzunehmen. Die 100 Kilometer von Biel – Dieter Maisch hatte mir davon erzählt, ich mußte das Abenteuer kennenlernen.

Dank dem Lauftraining konnte ich Migräneanfälle zunächst kupieren, dann verschwanden sie völlig. Aus dem Nervenarzt und seinem Patienten waren Freunde geworden, auch wenn sich die Freundschaft auf gelegentliche Anrufe, Ansichtspostkarten und Mitteilungen beschränkte.

Auch andere Patienten verdanken Dr. Maisch den wichtigsten Ratschlag ihres Lebens, den Rat zum Bewegungstraining. Einige Fälle hat Dr. Maisch in den Rundbriefen der IGÄL dokumentiert. Der Deutsche Verband langlaufender Ärzte und Apotheker hat die Verdienste Dr. Maischs einschließlich seiner Pionierleistung durch die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft gewürdigt.

 

Nach dem Tode seiner ersten Frau war es Dieter Maisch vergönnt, in einer zweiten Ehe glückliche Altersjahre zu erleben. In den letzten Monaten schien sich die Kraft des Sechsundneunzigjährigen zu erschöpfen; am Sonntag ist er gestorben.

Am Mittwoch haben wir, eine große Trauergemeinde, uns von ihm verabschiedet. Er ist auf dem Friedhof von Ötlingen, einem Stadtteil von Kirchheim, bestattet; der dörfliche Charakter des Ortes einschließlich des Friedhofes mit seiner Kapelle ist erhalten geblieben. Diese Ruhestätte scheint zum Leben von Dieter Maisch, der die Natur geliebt hat, zu passen. Wir haben eine Beisetzung erlebt, bei der das Laufen als ein wesentlicher Lebensinhalt ausdrücklich erwähnt worden ist.

Photos: Sonntag

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