Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintrag vom 22. Juni 03

Sie trabten ins Ziel wie beim Auslaufen nach der Runde eines Lauftreffs, die Transeuropaläufer, die nicht nur nach Moskau, sondern auch in die öffentlich-rechtliche Nachrichtensendung gelangt waren. Die Dramatik lag in den zurückliegenden neun Wochen, sie mußte nicht mehr in einem Sprint dargestellt werden. Am letzten Tag der 64 Tage fand ohnehin kein Wettbewerb mehr statt, die Plätze waren gesichert. Doch darauf kam es, zumindest für die meisten, nicht an. Die Leistung manchen Spitzenläufers beim Transeuropalauf war vor dem Umkippen gestanden. Nicht weil sie nicht hart genug im Nehmen gewesen wären, sondern insbesondere wegen der Magen-Darm-Infektion und unerwarteter Verletzungen.

Doch alles von dem Wenigen, was ich als Beobachter im Internet an Fakten wiedergeben kann, war schon zu lesen oder wird noch zu lesen sein. Mir bleibt am Tage nach dem Abschluß der gewaltigen Unternehmung nur, Respekt zu artikulieren. Respekt vor allen, die sich das Unternehmen zugetraut haben. Denn so etwas macht man nicht von ungefähr. Respekt auch vor der Entscheidung derjenigen, die ausgestiegen sind. Ich habe den Eindruck, sie haben auch die Kraft, zu ihrer Entscheidung zu stehen und sich nicht vorzuwerfen: Was wäre, wenn ... Respekt vor denjenigen, die aufgegeben haben und dennoch, immer wieder mit Unterbrechungen, weitergelaufen sind. Sicher, beim Einlauf in Moskau ist auch ein wenig Glanz auf sie gefallen. Ich finde es in Ordnung, daß auch sie geehrt worden sind. Beim Spartathlon sind diejenigen, die vorher ausgeschieden sind, in den Augen der Offiziellen nicht mehr existent.

Respekt vor den Helfern, die hinter Ingo Schulze standen. Ich hoffe, daß sich mancher von ihnen noch zu Wort melden wird, denn ihre Erfahrungen, die sie hier gewonnen haben, sind unschätzbar. Unbedachte Worte von Läufern, die damit vielleicht ihre eigene Krise bewältigt haben, mögen sie nicht allzu schwer nehmen.

Ich gratuliere denjenigen, den 22, die durchgehalten haben. Das Internet hat die sofortige Reaktion zum Zieleinlauf ermöglicht. Überhaupt, noch bei keinem Lauf dieser Qualität konnten wir so nah dabei sein wie bei diesem. Gewiß, die offizielle Seite des Transeuropalaufs litt unter Pannen. Das war sicher unvermeidbar. Von der Information her waren die Seiten von „Steppenhahn“ und von Bayer wesentlich ergiebiger. Da gab es interessante Details und richtige Analysen. Selbst die SMS-Botschaften von Günter Böhnke waren lesenswert. Wer sich deutschsprachig über die Ultralaufszene informieren will, klickt ohnehin den Steppenhahn an. Was er, Stephan Isringhausen-Bley, mit seinem „Extrablatt“ über den Transeuropalauf geleistet hat, bekräftigt seinen intellektuellen Anspruch. Respekt.

Medientechnisch hat das Ereignis deutlich gemacht, welche Rolle dem Internet heute zukommt. Dennoch, ich schreibe weiter auch in Printmedien. Denn ich meine, sie haben weiterhin eine Aufgabe, sofern sie ihr eigenes Profil gewonnen haben und es behaupten. Die aktuelle Information, das Streiflicht als verbaler Schnappschuß – da läuft das Internet den Printmedien den Rang ab. Die Situation wird für die Printmedien noch schwerer werden, aber es ist keine Konkurrenzsituation. Zur Tiefe bedarf es des Nachdenkens. Und es denkt sich eben langsamer nach, als man im Zehnfingersystem tippen kann. Nachlesend kann man Gedrucktes mit dem vergleichen, was man selbst gedacht hat. Und beim Printmedium kommt auch noch eine lukullische Komponente hinzu; hier kann man, zumal mit Bildstrecken, genießen, was man liest. Mir ist deutlich geworden, daß ich ein Mensch des Übergangs bin. Beruflich dem Printmedium verhaftet, aber – dank Walter Wagners Initiative – den Schritt in die mediale Zukunft nicht verpassend.

Eintrag vom 15. Juni 03

Um ein Thema, das mich im Tagebuch bewegen würde, mußte ich mir keine Gedanken machen. Die 100 Kilometer von Biel haben mich in der letzten Woche bewegt, sie bewegen mich jetzt erst recht. Manche, die leidenschaftlich gern Ergebnislisten lesen, werden vermuten, ich würde nun ins Grübeln kommen. Ach nein. Ich bin ja nie ein ernstzunehmender Läufer gewesen – dieser Satz unterläuft mir wahrscheinlich, weil ich mich gerade belohne (Staatsweingut Weinsberg, 1999er Riesling Kabinett; kein Sponsor, da überhaupt kein Sponsor vorhanden). Weshalb ins Grübeln? Ich bin 16:37:14 Stunden unterwegs gewesen, und wenn ich nicht zwecks Darstellung des Laufens auf den letzten 200 Metern locker getrabt wäre, sogar noch eine Anzahl Sekunden länger. Diese Zeit nähert sich der Zeit meines ersten Hunderters 1972. Damals war ich außerordentlich vorsichtig. Ich hatte mir vorgenommen durchzuhalten, sonst nichts. Und so bin ich zum Eingewöhnen erst einmal eine Stunde gegangen. Das würde ich heute niemandem raten, weil später noch genügend Gelegenheit ist zu gehen.

Anno 2003 ist es eine rationale Entscheidung gewesen. Der Lauf dieses Jahres wird als Hitzelauf in die Annalen des Bieler Hunderters eingehen. Es gab schon einmal einen Lauf, da waren wir, gestartet mit einem Netzhemd wie für einen 10000-m-Lauf, um 11 Uhr nachts durchgeschwitzt. Nur war ich damals am Morgen im Ziel. Auch im vorigen Jahr war es warm. Doch nach meiner allerdings ganz subjektiven Meinung war dies der heißeste Lauf. Subjektiv halt, weil ich seit einigen Jahren bis Mittag laufe. Hinzu kommt, gerade auf der Ultrastrecke werden die Alterssprünge immer größer. Was beim Halbmarathon Minuten sein mögen, kann sich auf 100 Kilometern zu einer Stunde oder mehr auswachsen. Im vorigen Jahr noch schienen mir die 14:27:59 wie ein Ausrutscher. In diesem Jahr ging es darum, sie zu erreichen. Jetzt – pfui Teufel – schreibe ich schon wie einer der auf Zeiten Fixierten, wie die Funktionäre in Sportvereinen oder wie einer der Sportredakteure, mit denen ich manchmal verwechselt werde.

An sich gefiel mir das Wetter; ich laufe lieber bei Wärme als bei Regen. Ein Vorurteil, ich weiß. Wenn ich auf der zweiten Hälfte – mit dem Malus der zweiten Hälfte – durchgehalten hätte, wäre die dann erreichte Zeit auch für die Sportvereinsfunktionäre der Vergangenheit akzeptabel gewesen. Doch dann – ich hatte es befürchtet – schlug die Hitze durch. Wenn selbst Spitzenläufer die Marken, die Biel gesetzt hat, nicht erreichen konnten, wie dann sah es im hinteren Feld aus?

Die Uhr ist für mich kein Maßstab. Ich merkte vor Kirchberg schlicht, daß es für mich zu früh hell geworden war. Magendrücken zuvor, darauf hätte ich mich vor den Kontrolleuren der Vereine berufen können. Meinem Arzt, der mir ein blutverdünnendes Medikament verordnet hatte, werde ich das sagen. In welchem Beipackzettel tauchen Nebenwirkungen bei einem 100-km-Lauf auf? Nach Kirchberg beschloß ich zu gehen. In der Konzeption des Organisators offenbar eine Rückkehr zum Ho-Chi-Minh-Pfad. Dann überfiel uns die Hitze. Eindeutig eine rationale Entscheidung. Durchkommen ohne Risiko ist alles. Im Gegensatz zu Profi-Sportlern, die dann aussteigen, wenn ihnen ihre Zeit nicht akzeptabel erscheint, beschloß ich, nicht mehr auf die Uhr zu schauen. Ich hatte subjektiv den Eindruck, es gehe darum, das letzte Viertel ohne die Gefahr eines Hitzschlags zu überleben. Ich ging nicht nur, – ich wanderte. Und ich stehe zu dieser Entscheidung.

Wenn ich mir den Empfang an der Eishalle in Biel vor Augen halte – eben auch für uns – , dies ist ein wirkliches Volkssport-Ereignis. Ich habe mir überlegt, macht es noch Sinn, in Biel an den Start zu gehen? Ich meine: Ja. Die 100 Kilometer von Biel bleiben eine persönliche Herausforderung

Eintrag vom 11. Juni 03

Anfrage beantwortet: Kann man von der Marathonzeit die 100-km-Zeit hochrechnen? Doch, man kann. Die Faustregel, noch aus van Aakens Zeiten, lautet: Dreimal die durchschnittliche Marathonzeit ergibt die 100-km-Zeit. Dennoch Vorsicht, dies ist kein ehernes Gesetz, und die Formel muß unbedingt variiert werden. Ein Weltelite-Läufer mit 2:10 wird keineswegs bei seinem ersten Hunderter einen 100-km-Rekord von 6:30 Stunden aufstellen. Andererseits können Vierstundenläufer des Marathons sehr wohl die 100 km um einiges unter 12 Stunden zurücklegen.

Hinzu kommen die bekannten Unwägbarkeiten beim 100-km-Lauf: Grad der psychischen Stärke, Krisenmanagement, Tageskondition, Wetter und Strecke. Diese Faktoren wirken sich beim 100-km-Lauf viel stärker aus als beim Marathon, ja, sie sind unter Umständen entscheidend.

Die Frage ging noch weiter: Kann man auch vom K 78 des Swiss Alpine auf die 100 km von Biel hochrechnen? Ich meine: nein. Ein langsamer Läufer kann stark am Berg sein und eben sehr flott zur Kesch-Hütte gelangen. In Biel hingegen kann er diese Stärke nicht ausspielen. Man könnte vielleicht eine Statistik erheben. Dazu brauchte man Läufer, die in einem Jahr die 100 km von Biel und den K 78 gelaufen sind. Doch das werden in der jeweiligen Altersklasse nur wenige sein, und daher wird eine Statistik nicht aussagekräftig genug ausfallen.  

Bei ebay wird gerade mein „Mehr als Marathon“, tatsächlich der erste Band, ausgeboten. 3 Bieter. Freut einen ja auch. Ich schreibe den Band – es wird nur einen Band geben – zwar neu, aber ich merke: Bei einem schon vorhandenen Buch muß ich mich jedesmal überwinden, an die Arbeit zu gehen. Der Mensch ist doch ein fauler Hund. Bei einem neuen Buch hingegen obsiegt die Neugier, das geistige Abenteuer, die gedankliche Auseinandersetzung mit einem neuen Thema.

Eintrag vom 3. Juni 03

In den achtziger Jahren hat mich beträchtlich amüsiert, daß Günter Otte jährlich eine Liste mit Marathon-Leistungen herausbrachte. Ich wunderte mich, daß so viele Leute geil darauf waren, sich mit ihrer mehr oder minder guten Marathonzeit gedruckt zu sehen und daher Jahr für Jahr diese Broschüre kauften. Immerhin verdanken wir Günter Ottes Buchhalterfleiß eine relativ exakte Bestandsaufnahme der Marathonläufer in der damaligen Bundesrepublik; nach meiner Erinnerung – denn ich habe die Broschüren entweder dem Sportmuseum Berlin geschenkt oder weggeworfen – waren es an die 30000, nach der Wiedervereinigung Deutschlands sollen es 37000 gewesen sein.

Nun ist nach über einem Jahrzehnt wieder eine Marathon-Liste erschienen. Peter Greif hat sich die Mühe gemacht. Und siehe da, ich habe mir – ungeachtet meiner früheren Reserviertheit – die Broschüre für immerhin 12 Euro gekauft. Zum einen war ich neugierig, zum anderen wollte ich wissen: Wieviel sind wir eigentlich in der obersten Altersklasse? Wo stehe ich? Beim Laufen hat unsereiner ja immer das Gefühl, ganz unten zu stehen. Die 250seitige Broschüre hat tatsächlich dank ihren Statistiken Informationswert. Schon einmal den, daß wir 79969 Marathonläufer und 13782 Marathonläuferinnen in Deutschland sind, jedenfalls erfaßt bei 105 deutschen und 39 ausländischen Marathons im Jahr 2002.

Insofern ist der Übertitel „Marathon-Bestenliste 2002“ absolut irreführend; verzeichnet sind nämlich die Jahresbestleistungen, und zwar von uns allen, den 93751. Mehrfach-Teilnahmen sind, wie seinerzeit schon bei Günter Otte, nicht gerechnet. Gegliedert ist die Rangliste „Runner: X“ nach Altersklassen. Es macht also keinen Sinn, herausfinden zu wollen, wie unser Konkurrent XY gelaufen ist; man muß schon die Marathonzeit ungefähr kennen, um ihn zu finden. Die eigene Zeit, die man zwecks Wiedererkennung in der Liste braucht, wird man ja wohl im Kopf haben.

Nun weiß ich es: In der M 75 – oder ist Heinrich Gutbier nicht schon in der M 80? – sind wir im vorigen Jahr 23 gewesen. Für die 12 Euro weiß ich nun auch: Ich bin, wie das ganze Läuferleben hindurch, einfach Durchschnitt. Und wenn ich der Letzte wäre? Dann gehörte ich noch immer zu den 23, und wir sind nun keineswegs Bevölkerungsdurchschnitt.

Insofern kann ich Peter Greifs Bemerkung im Vorwort, Marathonläufer seien die Leistungselite unserer Gesellschaft, zustimmen. Anderes hingegen quittiere ich mit einem Achselzucken: Daß (ich korrigiere damit, sprachsensibel wie ich bin, einen orthographischen Fehler des Vorworts), ich wiederhole: daß nicht einmal 50 Männer, deutsche Männer, versteht sich, unter 2:30 Stunden kamen? Na und! Warum sollen Kenianer nicht etwas besonders gut können? Peter Greif treibt es Tränen in die Augen, daß nur drei „unserer Herren schneller waren als Paula Radcliff, die aktuelle Marathon-Weltbeste“. Na und? Peter Greif ist doch nicht etwa ein Macho? Es sei ganz leicht, sich weiter vorn zu placieren. „Nur ein paar Sekunden schneller und man ist schon viele Plätze weiter oben. Trainieren Sie einen Tag und ein paar km mehr und Sie werden sehen, Sie rücken weiter vor in der Rangliste Runner: X.“ Ist es der Sinn des Laufens, ein paar Kilometer mehr zu trainieren und in der Rangliste nach oben zu rücken? Ich habe den Sinn überwiegend darin gesehen, in der Rangliste noch in M 75 zu stehen, ganz gleich in welcher Zeit. Vor zwanzig Jahren dürften wir in der M 55 etwa 1000 gewesen sein (heute sind es knapp 3000), doch unsere Zahl von damals ist auf 23 geschmolzen. Haben sie alle, bis auf uns 23, auf dem Weg zur Verbesserung ihres Rangs die Lust oder die Fähigkeit oder gar das Leben verloren? Durchschnittlichkeit einer Leistungselite, nämlich wenn sie nicht dem Durchschnittsbegriff der Masse entspricht, hat einiges für sich. Darüber werde ich noch weiter reflektieren. Auch so ein Tagebuch hat viel für sich; flüchtige Gedanken werden festgehalten. Aufs Eingemachte kann man, wenn man ein Thema braucht, zurückgreifen.

Eintrag vom 27. 5. 2003

So schwer es fällt, beim Laufen zuzuschauen – dies mußte sein: ein Besuch an der Strecke des Transeuropalaufs. Eindrücke, Stimmungen, Erinnerungen an den Deutschlandlauf vermischen sich. Nach einigen Stunden an zwei Etappenzielen und an der Strecke ist mir der Abschied schwergefallen. Ich hätte mich gern mit allen, die hier unterwegs sind, unterhalten, ich hätte gern mehr Anteil genommen. Ich wäre auch gern eine Etappe gelaufen. Doch dann hätte ich, als letzter, überhaupt nichts mitbekommen, und wie es ist, eine Ultrastrecke allein zu laufen, kenne ich ja zur Genüge. Also mußte ich mich in die Rolle des Beobachters fügen. Kein falscher Heroismus! Ich bin schon froh, daß ich nicht mehr in Sporthallen schlafen muß. Das Stichwort muß ich mir merken, ich muß ein andermal darauf eingehen, wo ich, wo meine Generation, das Haupt gebettet hat oder auch nicht, weil es nichts zu betten gab.

Wenn ich nicht sehr irre, bestätigt sich bei diesem Lauf über 5100 Kilometer, daß nicht das Laufen, sondern die Umstände die größere Belastung sind. Das klingt nach Lauf-Snobismus, aber ich meine: Wenn alle Systeme intakt sind, wenn sich der Körper an die Dauerbelastung gewöhnt hat, wenn die Balance zwischen Herausforderung und Fähigkeit erreicht ist und gewahrt bleibt, wenn keine Probleme des Bewegungsapparates auftreten, wenn man, wie Stefan Schlett das formuliert hat, „auf der Straße lebt“, dann bringt nicht mehr das Laufen die Probleme, sondern die Zeit, in der nicht gelaufen wird. Mein Rennsteiglauf ist eben nicht mit einer Etappe des Transeuropalaufes vergleichbar. Beim Rennsteiglauf muß ich zwar auch früh aus dem Bett, aber ich konnte wählen, wann ich zu Bett gehen würde. Ich konnte frühstücken, wie ich wollte, und am Abend konnte ich individuell duschen und tun, was mir beliebte, essen, was ich wollte, schlafen, wann ich wollte. Bei einem solchen Lauf sieht das ganz anders aus. Hier wird keiner bedient. Dazu kommen gruppendynamische Prozesse. Daraus lassen sich Bildzeitungsstories machen. Und es wird leider gemacht, wie ich dem Internet entnommen habe. Wer nicht professionelle Hilfe leisten kann, sollte den Mund halten. Für Analyse und – wenn’s denn sein muß – die Bildzeitungsthematik ist hinterher Zeit genug. Jetzt kommt es darauf an, allen den Rücken zu stärken.

Das Positive: Die Verfassung der 20 Läufer, 2 Läuferinnen und des Rollstuhlfahrers ist hervorragend, mögen im Einzelfall auch Probleme auftreten. Es ist eine Sache der Balance. Wer weiß schon, wie weit er gehen darf! Der Unterschied zu einem Wettkampf ist, daß der Wettkampf abends nicht zuende ist, sondern sich über 64 Tage erstreckt. Keine Zeit zur Regeneration. Gut gefallen hat mir, daß auch Teilnehmer, die aus der Gesamtwertung ausgeschieden sind, etappenweise weitermachen.

Die Transeuropaläufer schlafen zu wenig, doch ihre Betreuer noch um einiges weniger. Um 6 Uhr startet die erste Gruppe, doch zuvor ist der Markierer unterwegs, jeden Tag aufs neue. Es ist zwar vorgekommen, daß sich jemand verlaufen hat, aber insgesamt scheint mir die Markierung hervorragend zu sein, besser als beim Spartathlon. Das Frühstück muß bereitstehen, Getränke und Verpflegung müssen an die Strecke gebracht werden, für den ersten wie für den oder die letzte. Meine bange Frage im Stillen war nicht: Wieviele Läufer werden Moskau erreichen, sondern: Hält Ingo Schulze durch? Jeden Tag einzukaufen, für Kalorien zu sorgen, zu kochen – alles ohne das Netz eines Netzwerks. Die Läufer haben den Ruhm, wieder eine Etappe bewältigt zu haben, vielleicht sogar die 5100 Kilometer. Die Helfer bekommen, wenn es hoch kommt, ein Dankeschön.

Ich bin nach Hofgeismar gefahren, erlebte dort zum Teil den Einlauf und den Ablauf nach dem Lauf. Das Duschwasser sei in Deutschland heiß. Ich sah zu, wie die Läufer mit der Fähre über die Weser setzten – ein kleines romantisches Streiflicht. Ich erlebte, wie die ersten in Gieboldehausen einliefen. Ein Höhepunkt der Tour immerhin, denn das Finish war eingebunden in die Jahrtausendfeier des Ortes. Ich bin so neugierig, wie es weitergeht. Glücklicherweise ist die Internetseite des Transeuropalaufs wieder intakt. Ein einzigartiges Ereignis, und wir dürfen täglich dabei sein.     

Eintrag vom 21. 5. 03 

Wenn ich an die Publizität denke, die beispielsweise der Hamburg-Marathon in ganz Deutschland gefunden hat, dann hat sich der Rennsteiglauf in aller grünen Stille vollzogen. Außer daß wie immer der Mitteldeutsche Rundfunk die Veranstaltung unter seine Fittiche genommen hat. Dabei ist es eine Breitensport-Veranstaltung par excellance. Mit den Wander- und den Cross-Strecken waren am Wochenende zwischen Eisenach, Oberhof  und Neuhaus etwa 14000 Menschen auf den Beinen. Wahrscheinlich wird man kaum darüber lesen, daß wieder Dutzende von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung an den Start zu einem Spezialcross gingen. Der 31. Rennsteiglauf am 17. Mai.... Wenn man von leichtem Regen um die Mittagszeit absieht, herrschte optimales Laufwetter.

Meine Strecke ist wie immer der Supermarathon gewesen, wiewohl mich der Start um 6 Uhr noch immer hart ankommt. Vor Jahren hatte man mir im Hotel das Frühstück vors Zimmer gestellt, seit einigen Jahren steht das Frühstücksbuffet am Marathontag von 4.30 Uhr an bereit. Zu einer Vorverlegung des Frühstücks war das Hotel, in dem ich zum New York Marathon 1978 wohnte, nicht bereit, obwohl wir eine ganze Gruppe waren.

Am Marktplatz in Eisenach wegen Straßenbauarbeiten eine kleine Änderung am Start. Wer redet noch vom „längsten Cross Europas“? Nur die Reklame. Dr. Wolfgang Klemm hatte einmal den ersten Bericht über den Rennsteiglauf in „Spiridon“ so überschrieben, damals   völlig zu Recht. Doch jetzt  größtenteils Parkwege, ein paar Baumwurzelabschnitte gibt es noch; wieder sind riskante Abschnitte geglättet worden. Vor allem aber ist der langweilige Abschnitt durch Oberhof, wo man die Bundesstraße unterqueren mußte, weggefallen. In elegantem Schwung zieht sich jetzt eine Fußgängerbrücke im Verlauf des Rennsteigs über die Bundesstraße am Rondell.

Die Strecke hat sich damit um 900 Meter auf 73,2 Kilometer verkürzt. Ich möchte sagen, die Strecke ist nun wirklich optimiert, ebenso der Zieleinlauf. Den Haferschleim an einigen Verpflegungsstellen habe ich Jahre hindurch so sehr gelobt, daß er jetzt für die letzten ausgegangen ist.  

Vorher habe ich mir noch überlegt, kann ich den Supermarathon in der Zeit schaffen? Ein Polster von knapp einer Stunde im vorigen Jahr schien mir ausreichend zu sein. Nach etwa der Marathonlänge hatte ich das Gefühl einer beträchtlichen Herzbelastung, wenn ich vom Gehen wieder zum Traben überging. Und so ging ich fortan viel. Zuviel. Schon machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, am Grenzadler (km 54) auszuscheiden. Doch ich schaffte die Durchgangszeit. An der Schmücke hatte ich mich bereits verspätet, doch sie ließen mich durch, waren ja nur ein paar Minuten über der Zeit. In Schmiedefeld waren es dann 14 Minuten über der Zeit von 12 Stunden. Einerseits war ich froh, die Strecke geschafft zu haben; andererseits wurmte mich, nicht in der Zeit angekommen zu sein. Vor zwei Jahren erlebte ich, daß ein österreichischer Sportfreund, Weißenböck, sich vom Rennsteiglauf verabschiedete. Jetzt fühlte ich mich, ebenso alt wie er damals, in der gleichen Situation. Als ich durchs Zieltor trabte, nahm ich mit den Augen Abschied. Im Grunde wollte ich weinen, fand aber keinen Winkel, in den ich mich hätte verkriechen können, also ließ ich es lieber.  Es war ein freundlicher Abgang. Noch nie habe ich  beim Rennsteiglauf  erlebt, daß jemand von meinem Einlauf Notiz genommen hätte. Jetzt sogar Beifall, meine Lauftasche stand schon bereit. Das widerfährt offenbar  nur dem Letzten. Ich kann verstehen, alle sind dankbar, daß der nicht noch später gekommen ist.

Vorsichtshalber ging ich gleich zum Autobus, der wie immer um 19 Uhr nach Eisenach fahren sollte, es aber nicht tat. Doch ich war gewappnet, meine Lauftasche war prallvoll. An der Haltestelle zog  ich an: Trikot, starkes Laufhemd, ein Wollhemd darüber, ein Sweatshirt, die Jacke des Trainingsanzuges und darüber eine Regenjacke, dazu Halstuch, Mütze über beide Ohren, Handschuhe. So hielt ich es die Stunde bis zur tatsächlichen Abfahrt aus, während andere, wie ich früher, ziemlich fröstelten. Trotz  Kommunikationstechnik heutzutage – das haben sie noch immer nicht hingekriegt, daß man am Ziel in Schmiedefeld wenigstens auf die Viertelstunde genau gesagt bekommt, wann der letzte Autobus fährt.

Abschied vom Rennsteiglauf? Es gäbe noch den Marathon von Neuhaus nach Schmiedefeld, den ich noch nie gelaufen bin. Andererseits,  warum nicht doch den Supermarathon, mit dem Risiko, in Oberhof aufzuhören? Ein Jahr Zeit zu überlegen. Eine gute Vorbereitung auf Biel ist es ja doch. 

Eintrag vom 13. 5. 03

Kaum ist die Seifenblase von Olympischen Spielen am Neckar geplatzt, wird die Katze aus dem Sack gelassen. Nein, nicht die Katze mit dem Preisschild, was diese Bewerbung samt dem Büro von zwei Dutzend Leuten gekostet hat – das kommt bekanntermaßen erst sehr viel später heraus. Vielmehr: Wenn keine Olympischen Spiele in Stuttgart, dann braucht man auch keine Leichtathletik mehr im Daimlerstadion, dem früheren Neckarstadion. Das Daimlerstadion soll ausschließlich ein Fußballstadion werden. Bis zur Entscheidung über die Olympiabewerbung hat sich die Fußballmafia zurückhalten müssen. Jetzt gibt es keine Rücksicht mehr. München hat sein Olympiastadion gegen die Fußballunternehmerschaft dadurch verteidigen können, daß ein Nur-Fußballstadion gebaut wird. Wir haben’s ja. Der Münchner Medienmarathon kann nun weiterhin das Ziel im Olympiastadion aufbauen. Stuttgart? Ach so, das ist ja in der Marathonbewegung Deutschlands weißer Fleck. Bisher durften die Teilnehmer des Stuttgart-Laufs, eines Halbmarathons, im Daimler-Stadion einlaufen. Sie konnten sich dann sogar auf der Anzeigetafel im Bild wiederfinden. Mit dem zu erwartenden Umbau des Daimler-Stadions betreibt die Stadt Monokultur, wiewohl mir das Wort „Kultur“ in diesem Zusammenhang schwer über die Lippen geht. Man investiert, um weitere Spiele für die Massen ins Stadion zu ziehen, und nimmt damit die mit dem Berufsfußball verbundenen Folgeschäden, die eines Tages zwangsläufig eintreten werden, in Kauf, Ausschreitungen, Zerstörungen, Verletzungen von Polizeibeamten. Alles absehbar, alles vorhersehbar. Doch keiner will es hören.

Im allgemeinen sind Läufer für alle Arten von populärem Sport zu haben, manche kommen auch von anderen Sportarten, insbesondere Ballsportarten, her. Daher weiß ich, wie unbeliebt ich mich mit meinen Äußerungen mache. Welchen Verein ich favorisiere? Milde blicke ich zwar auf die Vorliebe zweier Enkel für Borussia Dortmund, was man am Neckar nicht unbedingt erwartet, aber ich selbst bin generell ein Fußballspötter. Das hat biographische Ursachen, ich denke, überzeugende Gründe. Mein Vater war Schiedsrichter. Als Vierjähriger mußte ich in Görlitz mit auf den Schenkendorffplatz. Wer Görlitz kennt, weiß, dort ist es meistens windig. Für einen Vierjährigen ist ein Fußballspiel auf dem zugigen Platz unerhört lang, weit länger als ein 10-Kilometer-Lauf. Ich habe erlebt, daß mein Vater von einem Spiel mit ziemlichen Abschürfungen heimkam und meine Mutter Binden wickelte. Mein Vater war verprügelt worden. Professor Walter Jens und all den anderen intellektuellen Fußballanhängern ist dieser Zusammenbruch väterlicher Autorität wohl erspart geblieben. Anderes verdrängen sie: Doktor Goebbels hatte sich die Kulisse für seine Massenkundgebungen beim Fußball abgeguckt. Die Kongruenz ist bis zum heutigen Tag geblieben. Wenn ich im Fernsehen die ekstatischen Massen in dieses heisere Gebrüll ausbrechen sehe und höre, graust es mich bis zur Widerwärtigkeit; das Gebrüll wie aus einem Rachen erinnert mich an die Inszenierungen der Nazis, die gehässigen Beschimpfungen der Gegner an „Juda verrecke!“ Wo ist der Unterschied? „Heil, heil“ – „Tor, Tor“.

Nun wird mich hoffentlich nie mehr jemand irrtümlich wieder als „Sportjournalisten“ bezeichnen. Und wenn ich nun auch noch die Diskuswerfer und -Werferinnen der sogenannten Leichtathletik als übergewichtig bezeichne und frage, was Kugelstoßen mit dem Breitensport des Sportabzeichnens zu tun hat, wird wohl auch niemand mehr, wie in „Swiss Runners“, mich als „deutschen Leichtathletik-Journalisten“ zitieren wollen.

Eintrag vom 4. 5.03

Ein Tagebuch der besonderen Art wird im Internet geschrieben: Berichte und Wertung des Transeuropalaufs. Es ist mir geradezu ein Bedürfnis, Abend für Abend zu lesen, wie sich der Lauf über die Etappe Tags zuvor vollzogen hat. Dem Ganzen wohnt eine stille Dramatik inne. Mit etwas Phantasie kann ich mir vorstellen, wie gekämpft wird. Tag für Tag im Durchschnitt 80 Kilometer. Was bedeutet ein Durchschnitt, wenn die Etappe eben 87 Kilometer mißt? Sie kann ein Überschreiten des Zeit-Limits bedeuten. Immer dabei ein tragisches Moment. Doch im Gegensatz zur antiken Tragödie erhebt es mich nicht. Es schmerzt, daß wieder einer aufgegeben hat, diesmal auch eine der sechs Läuferinnen, Sigrid Eichner. Als Tagesläuferin außerhalb der Wertung will sie wie Helmut Schieke weitermachen bis Moskau.

Was sich alles an Kuriosem abgespielt hat! Leider ist das tägliche Bulletin in einem grausamen Deutsch geschrieben; einmal habe ich den Satz wegen der Verunstaltung gar nicht verstanden. Bei www.steppenhahn.de/ultramarathon/ gibt es jeweils ein Extrablatt mit einer Zusammenfassung. Auch auf der Website von Bayer findet sich Interessantes. Beide Seiten sind zu empfehlen, wenn man sich über den Lauf informieren will. Von www.transeuropalauf.de drucke ich mir die Wertungen aus. Wohl noch nie in Deutschland konnten wir einem Fernlauf so nahe sein. Heute ist das erste Viertel der 64 Etappen geschafft.

Was ist nur mit der Seite der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung los? Sie wäre kompetent, diesen Lauf zu kommentieren. Stattdessen Schweigen, wie lange will man die Website „under construction“ halten, wie lange will man sich mit der Seite zum Gedenken an Dr. Adolf Weidmann präsentieren? Die DUV hat eine Chance verpaßt. Wenn ich könnte, wäre ich zur Stelle. Aber ich kann nicht. Wenn ich mich über Internet äußere, bedeutet das nicht, daß ich mich darin bewegen könnte. Dabei gehöre ich noch zu der Minderheit meiner Generation, die den Anschluß an ein neues Medium, eine neue Art der Kommunikation, geschafft hat. Das ist nicht mein Verdienst. Mein Sohn und ein Enkel haben mir geholfen. Ich bin dankbar, daß ich einen Zipfel der neuen Welt, wie immer man sie beurteilen mag, in der Hand halte. Andere meiner Generation haben resigniert und sich dem Medium verweigert.

Das Internet bietet dem Transeuropalauf eine Möglichkeit, die kein Printmedium bieten kann.

Eintrag vom 26. 4. 03

Bisher kein Wort verloren über die sogenannte Olympiabewerbung von fünf deutschen Städten samt umliegenden Regionen. Wer spricht jetzt eigentlich noch davon? Das Ergebnis habe ich vor dem Spreewaldmarathon erfahren. Sonderlich interessiert hat’s mich nicht. Ich halte den ganzen Wettbewerb darum, gegen internationale Bewerber um Olympische Spiele des Jahres 2012 antreten zu dürfen, für eine gigantische Verschwendung öffentlicher Mittel. Alle fünf Olympia-Bewerber und die sonst noch ins Boot gezogenen Kommunen haben über fehlende Mittel geklagt, ja, sie stünden vor dem Ruin.

Da ich in der Region Stuttgart lebe, ein paar Akzente von hier. Die Region Stuttgart, wiewohl Standort bedeutender Firmen, ist von der Mentalität ihrer Bewohner her tiefe Provinz. Als ich 1966 in Nellingen, heute Ortsteil der Retortenstadt Ostfildern, ein Reihenhaus erwarb, mußte ich über den Bauträger einen sogenannten Folgelastenbeitrag von 5000 DM an die Kommune zahlen. Denn, so die Beweisführung schwäbischer Kommunalpolitiker, ich würde ja der Gemeinde Unkosten verursachen, von der Schule bis zum Friedhof. Keine Rede davon, daß ich – in der Tat über Jahrzehnte – der Gemeinde über den Gewerbesteuerausgleich Geld bringen würde. Im Rathaus haben sie keinen Widerspruch zwischen dem Folgelastenbeitrag und der dringenden Aufforderung, doch bitte die Lohnsteuerkarte wegen des Gewerbesteuerausgleichs abzugeben, gesehen. Und die Gemeinde hat sich ungeachtet der bereits beglichenen „Folgelasten“ nicht gescheut, im vorigen Jahr die Friedhofsgebühren erheblich zu erhöhen. Trifft ja die Erben, und die mucken nicht auf. Als ich in Baden-Württemberg zuzog, verwunderte mich die Feuerwehrabgabe. Wer keinen Feuerwehrdienst leistete, mußte einen Beitrag zahlen. Da Frauen der Feuerwehr nicht beitreten durften, brauchten sie keinen Feuerwehrbeitrag zu zahlen, mit anderen Worten: Selbst Millionärinnen waren befreit. Männer hingegen, selbst wenn sie keinen Feuerwehrdienst leisten konnten, weil sie nicht am Ort arbeiteten und eine Stunde später am Brandplatz erschienen wären, waren abgabepflichtig. Das baden-württembergische Feuerwehrgesetz ist später auf den kommunalen Misthaufen geworfen worden. Die Unlogik war zu offensichtlich. Wer es zu einer Zweitwohnung in Baden-Württemberg bringt, hat – im Gegensatz etwa zu Bayern – eine Zweitwohnungssteuer zu zahlen, selbst wenn diese Wohnung durch Vermietung zur touristischen Infrastruktur, etwa im Schwarzwald, beiträgt. Das sind Beispiele für provinzielles Denken. Auf der anderen Seite aber der Griff nach Höherem. Vor der Verwaltungsreform sind in damals selbständigen Orten jeweils im Abstand von höchstens 4 Kilometern Hallenbäder gebaut worden. Der kommunale Horizont endete am Kirchturm. Eines ist noch rechtzeitig während des Baus umgewidmet worden. Auf die Stadt Ostfildern, zu der sich vier Orte zusammenschlossen, entfielen bei der Verwaltungsreform 5 Hallenbäder, eines davon wurde später geschlossen. Am liebsten möchte man ein weiteres schließen. Auch mein Wohnort ist nicht in der Lage, die Straßenreinigung ordentlich zu besorgen, dies in einer Gegend, in der die „Schwäbische Kehrwoche“ für Neuzugezogene den Charakter einer Repressalie hatte. Man veranstaltet nun Aktionen, bei denen Bürger den Müll auflesen. Anlagen der Landesgartenschau im vorigen Jahr werden von einem Kreis von Bürgern fortan ehrenamtlich betreut. Denn die Verluste durch die Schau sind beträchtlich. Aber die Schau habe einen Image-Gewinn gebracht. Wozu eigentlich? Vor 37 Jahren hat man sich doch veranlaßt gesehen, den Zuzug durch den Folgelastenbeitrag zu limitieren? Wer in der Stadtbücherei auch nur ein Buch ausleihen möchte, muß einen Jahresbeitrag von 10 Euro zahlen, dies in der Zeit der Pisa-Studie. Und diese Region voller Kleinkariertheit, die es auch nicht zu einem Stadtmarathon in Stuttgart gebracht hat, bewirbt sich um Olympische Spiele. Ich halte den fünften Platz in der Bewerberfolge für verdient. Schon frohlocken manche darüber, wieviel man dadurch gespart habe, daß man nicht deutscher Bewerber geworden sei. Aber um die bisher vergeudeten Mittel macht sich wohl keiner Gedanken. Jahrelang sind ein Manager und 23 Leute, die auch wieder Geld dafür ausgegeben haben, besoldet worden, damit sie für eine Fiktion arbeiten.

In den anderen Städten dürfte es nicht viel besser aussehen, nur kenne ich mich nicht so aus. Nun also Leipzig. Man mag sich freuen und darin eine Stärkung des Selbstbewußtseins in den neuen Bundesländern sehen. Mir tun die Leipziger eher leid, sie werden nun noch zwei Jahre lang mit einer Illusion leben. Von dem finanziellen Transfer nach Leipzig wird einiges für diese Illusion abgezweigt werden. Und am Ende wird sie platzen. Wen in New York interessiert die Rolle Leipzigs in der deutschen Geschichte?

Aus meiner Abneigung gegen Olympische Spiele beim Bankrotteur Deutschland habe ich in „Runner’s World“ kein Hehl gemacht. Ich hatte mit einer Leserbrief-Beschimpfung gerechnet. Stattdessen habe ich allein Zustimmung geerntet.

Eintrag vom 19. 4. 03

Wieder eine Premiere: der 1. Spreewaldmarathon am 13. April.  Im Grunde war es ein ganzes, dreitägiges Volksfest mit Radfahren, Skaten, Paddeln, Walken und Laufen. Eine Landschaft hat ihren breitensportlichen Ausdruck gefunden. Paddeln, das versteht sich hier. Seit etwa hundert Jahren setzen sich Touristen in die Kähne, um auf den „Fließen“,  den verzweigten Spreearmen, durch den Wald zu gleiten. Der gestakte Kahn galt einst als das bevorzugte Verkehrsmittel von Gehöft zu Gehöft. Der erste größere Schulausflug hatte mich 1937 in den Spreewald geführt. Jetzt ist der Kahnverkehr überwiegend eine Touristenattraktion. Sportliche Individualtouristen mieten ein Paddelboot. Hinzugekommen ist das Fahrrad – als ideales Verkehrsmittel und als Sportgerät. Alles flach, alles asphaltiert. „Wollen wir tauschen?“ fragte mich einer, der mich auf dem Rad überholte, beim Marathon. Zu einem kleinen Teil liefen wir auf besonders ausgewiesenen Radfahrstraßen. In den letzten Jahren folgten die Skater. Auch für sie ist dies ein ausgedehnter Sportpark. Ich habe, auch außerhalb der Skaterwettbewerbe, noch nie so viele Menschen auf Rollen gesehen.

Der Marathon im Oberspreewald ist im Sinne des Wortes ein Straßenlauf. Hier offenbar läßt es sich machen, Landstraßen auf eine Länge von bis zu 12 Kilometern zu sperren. Das Breitensportfest spielte sich in Burg ab. Der Marathon ist ein Punkt-zu-Punkt-Lauf. Sonderfahrten mit öffentlichen Nahverkehrsbussen brachten uns nach Cottbus. Der Start am Cottbus-Center nicht sonderlich attraktiv.

Tags zuvor, als ich mit dem Auto von der Startbesichtigung nach Burg zurück gefahren war, hatte mir eine freundliche Polizistin 35 Euro Verwarnungsgebühr abgeknöpft. Ich hatte gemeint, Cottbus nach dem Cottbus-Center verlassen zu haben, denn zu beiden Seiten war Wald. Es war aber noch Cottbus, das Ortsausgangsschild steht etwa 300 Meter weiter, und ich hatte zu früh beschleunigt. Ich bejahe zwar Geschwindigkeitskontrollen, aber hier fühlte ich mich hereingelegt.

Theodor Fontane hätte auf seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, schriebe er sie heute, sicher Bemerkenswertes zu berichten gehabt. Was er damals über den stillen Spreewald erzählte, war seiner Leserschaft auch in Berlin noch ziemlich neu.

Außer Läufern, Radfahrern und Skatern am Einkaufszentrum Cottbus-Center deutete zunächst nichts auf  einen Start hin, so sehr wir auch die Umgebung des Gebäudekomplexes absuchten. Zeit hatten wir, und bewegen mußten wir uns auch – es war ziemlich frisch. Doch schließlich verriet uns ein Lautsprecherwagen, wohin wir uns zu begeben hatten. Über eine angrenzende Straße am Waldrand war ein Transparent gespannt. Start also unter Ausschluß der Öffentlichkeit. 

Einige von uns hatten Sorge, wir könnten uns verlaufen. Doch die Sorge war überflüssig. Am Kreisverkehr und an jeder Abzweigung standen Posten. Es gab keinerlei Unsicherheit. Zudem jeder Kilometer markiert. Die Marathon-Provinz ist keine Provinz mehr. Auf dem Asphalt mit den kilometerlang geradeaus führenden Straßenstücken ist es eine schnelle Strecke. Ein Lauf durchs Grüne. Immer wieder einmal sieht man ein Fließ, zuweilen läuft man auf sich wölbenden Brücken, damit die Kahnfahrer durchpassen, über einen Wasserarm. Ich kann mir vorstellen, daß der Lauf auch unangenehm werden kann, dann nämlich, wenn einem Regenschauer entgegenprasseln. Die Premiere hingegen war vom Wetter begünstigt.

Wann habe ich zuletzt Störche gesehen? Die Störche in der Nähe von Vetschau, die  hoch auf einem Rad nisten, haben mit Sicherheit erstmals einen Marathon gesehen.

Aus der Ergebnisliste werde ich nicht klug. Da findet sich ein Russe mit  2:28:02, Oleg Karasew aus St. Petersburg in M 30, aber er hat nur den 2. Platz. Wer ist auf dem 1. Platz? Jens-Uwe Espe aus Cottbus in M 45 mit einer Zeit von 1:50:12. Toll. Bei den Frauen Christin Marx aus Dresden in 3:03:24. Sigrid Eichner war da – ein paar Tage vor ihrem Start zum Transeuropalauf. Horst Preisler, der ganz sicher auch Premieren sammelt.

Den Zieleinlauf verließ ich ziemlich gebeugt. Das kam von der Auszeichnung, einer gußeisernen Gurke am Band, die schwer nach unten zog. Was außer der Gurke bleibt? Die Erinnerung an einen Straßenlauf, der gleichzeitig ein Landschaftslauf ist, insofern interessanter als ein „Waldlauf“ wie in Kandel oder Königsforst. Eine durchaus eigenständige Veranstaltung ist entstanden. Über das Hinterland kann man sich im Oberspreewald auch nicht beklagen: Berlin gehört zum Marathon-Einzugsgebiet.

Eintrag vom 9. 4. 03

Reise nach Bad Lippspringe: Im Deutschen Lauftherapiezentrum ist der 13. Kurs für angehende Lauftherapeuten eröffnet worden. Professor Alexander Weber hatte mich eingeladen, den Vortrag zur Eröffnung zu halten. Ich habe mir das Thema gestellt: „Medizinische Moden. Ein Beitrag zur Bewußtseinsschärfung“. Lange schon war mir aufgefallen, daß es auch in der Medizin Moden gibt. In der Laufmedizin machen Läufer die Moden mit. Eine frühe Mode der modernen Laufbewegung waren Ernst van Aakens Salztabletten. Unter den Vitaminen ist es insbesondere Vitamin E, von dem sich manche Läufer, vor allem Laufartikelhändler, Wunderdinge versprechen. Fischölkapseln sollte ich schlucken, riet mir ein Arzt. L-Carnitin, Kreatin, Sauerstoffwasser – Läufer bilden eine hervorragende Zielgruppe. Der Markt der sogenannten Nahrungsergänzungsmittel, Elektrolytgetränke – hier hat das Marketing sein Ziel erreicht.

Kaum eine Läuferin, ein Läufer glaubt, beim Marathon auf Elektrolytgetränke verzichten zu können. Und wenn eine Laufveranstaltung wie der Berlin-Marathon zum Trinken nur Wasser und Tee anbietet, weil Dr. Heepe Elektrolytgetränke ebenfalls für überflüssig hält, dann wird der Organisator beschimpft. Auch in Berlin gibt es wieder „Sportgetränke“. Es darf weiter gekotzt werden. Hauptsache, die Placebo-Wirkung bleibt erhalten. Als ich mich 1999 über das Nasenpflaster lustig machte, wurde mir in einem Leserbrief Arroganz vorgeworfen, denn im Jahr zuvor sei der Marathon-Weltrekord der Männer mit Nasenpflaster erzielt worden. Na denn. Wieso ist dann später auch ohne Nasenpflaster gesiegt worden? Wie verbreitet ist das Nasenpflaster heute? Mir schien es wichtig zu sein, gerade Lauftherapeuten zu kritischer Betrachtungsweise anzuregen.

Provokationen bin ich auch sonst nicht aus dem Weg gegangen. Einige Zeit habe ich in meinem Vortrag dem „Cholesterin-Wahn“ gewidmet. Der hat schließlich auch zu einem Medikament wie Lipobay geführt, dem etwa hundert Todesopfer zur Last gelegt werden. Durch Beschluß sind aus sogenannten Normalen Risikofälle gemacht worden, nämlich durch die Herabsetzung des angeblichen Grenzwerts auf 200 mg/dl. Die Margarine-Industrie hat ihre Schlacht gegen die Butter gewonnen. Kein Hotel kann es sich mehr leisten, nur noch „gute Butter“ zum Frühstück anzubieten. In meiner Kindheit konnten wir uns Butter nicht leisten, die Margarine war der Aufstrich der armen Leute. Infolge der Cholesterin-Psychose ist ein natürliches Lebensmittel von einem synthetischen Produkt in die Ecke gedrängt worden. 

Als ich das Magnesium erwähnte, das nach meiner Meinung ebenfalls in den Bereich der laufmedizinischen Mode fällt, blickte ich zu Alexander Weber hinüber, für den Magnesium Bestandteil seines Läufer-Müslis ist. Doch er hat auch nach dem Vortrag mit mir geredet. Und auch die angehenden Lauftherapeuten haben mich nicht ausgepfiffen.

Das Deutsche Lauftherapiezentrum besteht nun seit fünfzehn Jahren. Ich habe mich von Anfang an damit identifiziert. Was hier gemacht wird, halte ich für einen guten Weg, die nichtmedikamentöse Therapie, die in Deutschland offenbar vernachlässigt wird, zu stärken. Gleichzeitig ein Weg der Prävention.

Unter den etwas über 30 Teilnehmern des neuen DLZ-Kurses entdeckte ich Hubert Carl. Bei einem Spartathlon waren wir in Athen Bettnachbarn. Inzwischen hat er siebenmal den Spartathlon regulär beendet; damit steht er mit der Zahl der Spartathlon-Finishs an der Spitze in Deutschland. Wer würdigt solche Läuferkarrieren? Karrieren, die schließlich in sozialem Engagement münden. Solche überraschenden Begegnungen wie hier in Bad Lippspringe machen mich immer glücklich.

Eintrag vom 1.4.03

Aus Rom zurückgekehrt. Rom-Marathon nicht gelaufen. Verschuldet  durch einen fahrlässigen Reiseleiter. Dazu habe ich nun eine Reise bei einem Marathon-Reiseveranstalter gebucht!  Ich werde den Vorgang in meiner Juni-Kolumne in „Runner’s World“ schildern. Es gab auch ein komisches Moment dabei, nämlich wie ich versuchte, dennoch auf eigene Faust den Rom-Marathon zu laufen. In der verkehrten Richtung.

Eindrücke aus Rom: Kaum eine Straße, in der nicht aus mindestens einem Fenster ein Tuch in den Regenbogenfarben mit der Aufschrift „Pace“ gehängt ist. Manche Mädchen haben sich das Friedenstuch um die Hüften geschlungen. Auch Rom hat eine US-Botschaft. Vielleicht bleibt der US-Administration nicht verborgen, daß auch Italien zu „old Europe“ zählt, das von Kriegen ein für allemal genug hat. Meine Äußerungen würden früher als „Antiamerikanismus“ bezeichnet worden sein. Heute kümmert sich kein Politiker und keine Redaktion mehr darum, ob man kritische Äußerungen vielleicht als Antiamerikanismus auslegen könnte.

Ich fürchte, daß sich der Golfkrieg auch auf die europäische Beteiligung an amerikanischen Marathons auswirken wird. Noch nicht auf den Boston-Marathon, denn der ist gebucht worden, als Blix noch seiner Aufgabe nachgehen konnte. Aber bestimmt auf den New York Marathon. 

Im Etruskischen Museum in der Villa Giulia habe ich aufmerksam die Vasen betrachtet. Auf einigen sind Läufer dargestellt. Es hat mich überrascht, daß dieses Motiv nicht nur auf griechischen Vasen und Schalen zu finden ist. Über der Wohlstandskultur des Römischen Reiches wird gern die Kultur der Vorgänger, der Etrusker, geringgeschätzt. Das Etruskische Museum öffnet einem die Augen.

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