Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintrag vom 22. Dezember 03

Auf meiner Laufrunde blicke ich kaum einmal unterwegs auf die Uhr. Waltraut tat es nicht einmal während des Wettkampfes, als sie noch in Ultraläufen siegte. Beim Marathon ist auch mein Blick auf die Uhr immer seltener geworden. Die Zeit spielt kaum noch eine Rolle. Ich laufe halt so, wie es noch geht. Die Zeitmessung mit der Uhr ist ohnehin erst möglich, seit es Uhren gibt, vor allem die Taschenuhren von Peter Henlein. Noch eine ganze Weile siegte im Lauf, wer alle anderen überholt hatte. Wie schnell der Erste war, schien nicht interessant. Rekordlisten wurden nicht geführt. Zeitmessung – eine Erfindung der Menschen. Tiere haben immer Zeit. Ein schönes Thema, müßte man mal recherchieren.

Das wirklich Wichtige der Zeit, das Wachstum und die eigene Vergänglichkeit, mißt sich an anderem. Mir ist das jetzt auf meiner 11-km-Runde deutlich geworden. Dort, wo ich eine Straße überquere, stand monate-, wenn nicht jahrelang eine große Tafel, angekündigt wurde ein Bauprojekt, soundsoviele Wohnungen, eine ziemlich abstrakt wirkende Zeichnung mit einem ganz abstrakten Garten-Grün. Dann tat sich etwas, die Bagger rückten an. Wochenlang lief ich an einer Baugrube vorbei. Aus ihr wuchsen beim nächstenmal Ziegelwände. Ich habe es mir nicht notiert, aber ich hatte den Eindruck, von einem Tag auf den anderen sei im Umriß ein ganzes Stockwerk entstanden. Es ging rasend schnell. Als der Rohbau stand, ich den Richtkranz sah und das Dach gedeckt war, tat sich monatelang scheinbar wieder nichts. Ich sah beim Überqueren der Straße immer den unveränderten Rohbau. Was innen vor sich ging, konnte ich nicht sehen. Von Woche zu Woche kehrte sich das innere Wachstum nach außen. Plötzlich waren Fenster drin, überall, scheinbar gleichzeitig, denn ich sah auf der täglichen Laufrunde oder gar, wenn ich verreist war, nach Tagen immer nur das Ergebnis eines Zeitsprungs. Die Ziegelwände verputzt, Balkongitter, Garage, kleine Außenarbeiten. Mitte Dezember nach dem letzten Tagebucheintrag, war es soweit. Im ersten Stock brannte Licht. Da ich gegen 5 Uhr nachmittags vorbeilaufe, konnte ich das sehen. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne. Die Wohnung war noch gähnend leer, aber schon bewohnt. Vor einigen Tagen waren im Wohnzimmer diese kleinen Lämpchen installiert – ich weiß nicht, wie man sie nennt, so modern sind sie. Ein Hauch von Gemütlichkeit, von Individualität. Die Bewohner haben es geschafft, vor Weihnachten einzuziehen und sich einzurichten. Am vierten Advent reichte es zu einer Lichterkette um das Wohnzimmerfenster. Heute kam ein Weihnachtsmann dazu und eine Lichterkette am Balkon. Ob sie mich schauen lassen, wie groß der Weihnachtsbaum sein wird? Vielleicht sollte ich nach der Straßenüberquerung einmal stehenbleiben, als philosophierender Voyeur. Ein Zeitabschnitt, das ist: ein Haus bauen und es in Besitz nehmen.

Wieviele tägliche Laufrunden wird es dauern, bis der Neubau eingebettet ist in Frühlingsgrün? Heute war es stellenweise glatt, zum erstenmal in diesem Winter. Während ich schreibe, erkenne ich im Schein der Straßenbeleuchtung Schwaden von Schneeflocken.

Eintrag vom 14. Dezember 03

Ich laufe immer relativ spät, obwohl ich früher könnte, und so muß ich die letzte halbe Stunde in der Dunkelheit laufen. Freilich, pechschwarz ist es in einer dicht besiedelten Gegend nicht. Wenn ich mit dem Laufen anfange, treffe ich ziemlich regelmäßig das eine oder andere Mal auf eine Läuferin oder einen Läufer. Wenn es dunkel ist, nur ganz, ganz selten. Dieser Tage kam mir ein dunkler Schemen entgegen, eine Läuferin. Sie sprach mich an, ob sie mit mir laufen dürfe? Sie drehte also um, und wir liefen gemeinsam auf meiner Runde. Es stellte sich heraus, sie besuchte einen Kurs in der Technischen Akademie, in deren Nähe wir später vorbeiliefen. Nach dem intensiven Lernen brauche sie frische Luft. Sie kam aus Duisburg, kannte sich nicht im entferntesten aus, sondern nur den Weg von ihrem Hotel zur Technischen Akademie. Ich gab ihr eine kleine Einweisung, wo was liege. Sie hatte erwartet, im Schwäbischen eine Idylle vorzufinden. Mag sein, daß wir in der Provinz leben, aber im großen ganzen ist’s um Stuttgart nicht idyllisch. Da wird geschafft. Meine Runde besteht aus puren Asphaltstraßen zwischen den Feldern. Sie wunderte sich, daß ich nicht schwäbisch sprach. Ob ich aus Berlin käme? Im Grunde ja, aber das ist 51 Jahre her, und es waren auch nur zweieinviertel Jahre. Sie hatte auch einmal in Berlin gewohnt. Berlin müsse doch früher einmal schön gewesen sein? Nicht im entferntesten, zu meiner Zeit war es eine Trümmerstadt, und in dem Verlagshaus in der Taubenstraße, in dem ich arbeitete, gab es unverputzte Ziegelwände. Wir liefen, unterhielten uns, und zum Schluß zeigte ich ihr einen hübschen Blick auf das abendliche Neckartal mit Esslingen im Lichtergefunkel. Eine ganz und gar banale Begegnung. Zwar laufe ich am liebsten allein, aber so eine Zufallsbegegnung finde ich einfach schön. Und dieses Vertrauen! In der Dunkelheit einen fremden Mann anzusprechen! Offenbar kann man zu Läufern Vertrauen haben, obwohl es sicher auch unangenehme Menschen unter uns gibt.

Zwei Tage drauf, an der Steigung beim Wasserreservoir, wo ich immer gehe, holte mich jemand im Laufschritt ein. Es war die Läuferin aus Duisburg. Sie hatte sich unsere kleine gemeinsame Strecke zu eigen gemacht und lief sie halt zweimal, um auf eine Stunde zu kommen. In der Dunkelheit war’s ohnehin gleich. Es war ihr letzter Tag in der Akademie. Schade, sie wird mir fehlen.

Häufiger noch begegne ich Walkern. Meistens amüsieren sie mich. Irgend jemand hat ihnen gesagt, daß man zum Walken die Ellenbogen anwinkele, vielleicht auch, daß auf diese Weise auch die Schulterpartie durchgearbeitet werde. Doch wie sie da gehen! Es ist der ganz normale Wanderer- oder sogar Spaziergängerschritt, nur daß man dabei die Arme hin und her schwingt. Da passt etwas nicht zusammen. Walking ist schließlich ein betont sportliches Gehen, sonst könnte man ja auch eines der bekannten deutschen Worte dafür benutzen. Walking im Schleichschritt mit emporgehobenen Ellenbogen, das ist wie Frack mit Turnschuhen.

Eintrag vom 2. Dezember 03

Vor sechs Jahren war ich zum sechstenmal den Arolser Adventsmarathon gelaufen. Nun, bei meinem siebenten Marathon in Bad Arolsen, wie ich nun sagen muß, war ich über eine Stunde länger unterwegs. So rasch kann das in meinem Alter gehen.  Gewiss, angekommen bin ich. Die Sorge, nicht anzukommen, muß ich nicht haben. Aber ich habe die Sorge, den Organisatoren lästig zu fallen. Vielleicht nicht gerade in Bad Arolsen – hier wissen sie ja, daß ich mal schneller und vor allem länger konnte.

Ingrid und Heinrich Kuhaupt überreichten mir in der Twisteseehalle ein großes Photo aus dem Jahr 1981.

Damals hatten mich beide eingeladen, die damals gerade frisch markierte Marathonstrecke zu testen und anderntags eine weitere dazu. Damals konnte ich das. Irgendwo muß stehen, was ich damals geschrieben habe. Jedenfalls, ich war sehr angetan von dem Kurs, und ich sehe auch heute wieder, daß ich mich nicht getäuscht habe.

Weit vor dem Marathon-Test war ich immer wieder einmal in Arolsen. Damals entwickelte Karl Kuhaupt die Perspektive eines deutschen Ausdauerzentrums. Van Aaken war hier zu Gast, der Verband langlaufender Ärzte, die IGÄL,  ich beteiligte mich mehrmals an der Ausdauersportwoche, legte auch mindestens einmal die „100 km in drei Tagen“ zurück und strebte, als Räume frei wurden, die Errichtung eines Laufmuseums an. Das war sicher zu hoch gegriffen. Selbst das Sportmuseum in Berlin, das ja das offizielle AIMS-Museum ist, tut sich damit – schon aus personellen Gründen – schwer. Seitdem ich Karl Kuhaupt beim antiken Marathon in Athen kennengelernt  habe, bin ich dem heutigen Bad Arolsen verbunden, auch wenn die Blütenträume nicht reiften. Immerhin, mit dem Twistesee ist eine Erholungslandschaft geschaffen worden, Arolsen ist hoch verschuldet, aber eben „Bad Arolsen“. Früher war es nach meiner Erinnerung nach dem Marathon in der Stadt totenstill. Jetzt hingegen habe ich eine rege frequentierte touristische Infrastruktur entdeckt. Selbst in den letzten sechs Jahren hat sich, als ich das letztemal hier war, wieder einiges getan. Man hat durchaus die Wahl, wohin man abends gehen kann. Selbst an jenem letzten November-Samstag, vor dem ersten Advent, war Betrieb, und es waren sicher nicht nur die Lauftouristen, die da saßen. 

Mit dem Marathon hat die Familie Kuhaupt eine glückliche Hand, auch wenn sie das im Rathaus nicht einmal merken sollten. Die Veranstaltung hat Profil, ein provinzielles sicher. Aber ich habe den Eindruck, je größer die Stadtmarathons werden, desto mehr mögen wir eine solche familiäre Veranstaltung. Mit maximal 800 Teilnehmern ist sie nicht einmal klein. Der Schwarzwaldmarathon, mit 2000 Teilnehmern einst der größte Marathon der Welt, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Es wäre einer Diplom-Arbeit wert zu untersuchen, weshalb jener Landschaftsmarathon im Oktober in Bräunlingen so zusammengeschmolzen und bedeutungslos geworden ist, der gar nicht traditionsreiche Marathon  in Arolsen aber  sich in bald zwanzig Jahren vervierfacht hat. 

Ob ich im nächsten Jahr noch einmal herkommen sollte? Langweilig ist mir’s, auch wenn ich nun allein gelaufen bin, nicht geworden. Immer wieder haben mich Erinnerungen begleitet.

Eintrag vom 27. November 03

Gerade habe ich die Resultate des Médoc-Marathons erhalten, er war am 6. September. Mit der Siegerehrung ist für so manchen Veranstalter ein Lauf vorbei. Es scheint nicht klar zu sein, daß es außer den Teilnehmern auch noch andere gibt, die sich für die Ergebnisse interessieren. Ich weiß noch, wie ich selbst, bevor es das Internet gab, Ergebnislisten hinterher gelaufen bin. Manchesmal bin ich vor den ausgehängten und umlagerten Listen gestanden und habe die Leistungen der Besten notiert. Heute ist zwar alles leichter, aber das Interesse von Veranstaltern an Leuten, die für die Verbreitung der Ergebnisse sorgen, ist nach wie vor nicht allzu groß. Immer wieder klagen Statistiker und Kollegen, daß sie nicht oder zu spät informiert werden. Die Klagen beziehen sich selbst auf renommierte Veranstalter.

Die deutsche Volkslaufbewegung ist vierzig Jahre alt. Die Ergebnisse des jüngsten Schwarzwaldmarathons kann man abrufen, nicht aber die des Jahres 1968, des ersten Schwarzwaldmarathons. Vor einigen Wochen meldete sich Andy Milroy bei mir, der wahrscheinlich engagierteste Laufstatistiker der Welt. Es war ihm aufgefallen, daß die Statistik des 100-km-Laufs von Unna irgendwann endete. Niemand hatte ihm mitgeteilt, daß es diese Veranstaltung nicht mehr gibt. Welche Ultraläufe bestehen eigentlich noch in Deutschland? Da hat sich einiges verändert, und so genau weiß das keiner auf Anhieb.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich von Andy Milroy, daß es neuerdings einen Verband der Straßenlauf-Statistiker gibt, die Association of Road Racing Statisticians (ARRS). Noch’n Verein? Nein, es ist keiner mit Satzung, Vorstand, Beitragserhebung und Hauptversammlung. Es haben sich einfach Statistiker, die Laufgeschichte vor allem in Zahlen erfassen, zusammengetan. In Arbeitsgruppen werden verschiedene Aspekte wahrgenommen, Straßenlaufrekorde, Marathons, Ultramarathons, andere Straßenrennen, IAAF-Strecken, Kommunikation, Nachrichtenbrief, Datenbasis, Gehwettbewerbe, historische Aspekte. Mitglied kann jeder werden, der die ARRS unterstützt (www.arrs.net). Den deutschen Text habe ich ein bißchen korrigiert; wer ihn zu kritisieren hat, möge sich an mich wenden. Mit ein paar Dingen konnte ich Andy Milroy nützlich werden. Andererseits habe ich mir sofort die Liste der Altersrekorde (Rekorde darf man ja jetzt sagen) ausgedruckt, sie fängt beim Lebensalter von fünf an. Bucky Cox in den USA legte 1978 den Marathon in 5:25:09 zurück und verbesserte sich als Sechsjähriger auf 4:07:27. Das reicht dann – nein, nicht bis Josef Galia, der ist mit seiner Marathonleistung als Sechsundachtziger in 4:47:50 erwähnt –, sondern bis Fauja Singh aus England, geboren am 1. April 1911, und er lief den Marathon in 6:02:43 Stunden. Das war in diesem Jahr am 13. April in London, da war er, war er, richtig, 92 Jahre alt. Die Frauenliste beginnt mit der fünfjährigen Jennifer Amyx, die 4:56:36 Stunden lief, und endet mit Mavis Lindgren, die im Alter von 88 Jahren 8:03:24 Stunden unterwegs war. Plötzlich gewinnen Zahlen ein Gesicht. Statistik ist nicht bloß Erbsenzählerei.

Mehrere Anfragen von Andy Milroy zeigen, Statistiker tun sich schwer, nach Jahren verläßliche Informationen zu bekommen. Erstaunlicherweise ist er über die beiden Deutschland gut im Bilde. Doch es fehlt ihm einiges. Da hat er eine Liste der Bestleistungen im Stundenlauf, aber sie endet 1990. Wer kann helfen? Andy: „I would be very grateful for any information you might have, but also if you were able to send the list on to anyone else who might be able to help as well.” Für den Stundenlauf der Frauen fehlen ihm noch deutsche Leistungen, er hat die Ergebnisse von 50 Französinnen, 20 Italienerinnen und 20 Amerikanerinnen; die Kilometerzahlen von 10 deutschen Läuferinnen hat er, aber es müßten, meint er, weit mehr sein. Wegen anderer Fragen habe ich ihn schon an das Deutsche Sportmuseum Berlin verwiesen. Wir alle und vor allem spätere Generationen profitieren von der Chronisten-Mühsal. Seien wir froh, daß es Andy Milroy und seine Mitstreiter gibt. Helfen wir ihm!

Eintrag vom 17. November 03

Ein Tagebuch wie dieses, das kein Lauftagebuch ist, eignet sich gut dazu, Unfertiges festzuhalten, es eignet sich zu spontanen Äußerungen, zur Situationsbeschreibung, zum Dialog, warum nicht auch zu direkter Kommunikation.

Die Kolumne für „Runner’s World“ abgeliefert, nochmals Transeuropalauf, aber von anderer Warte. Mit der Idee für die dann folgende Kolumne eile ich weit voraus, da bin ich in Gedanken schon beim Februar-Heft. Zuweilen ist eine solche Vorlaufzeit unbedingt erforderlich, nämlich wenn ich Material sammeln muß. Dies ist hier der Fall. Mein Thema: Irrtümer und Mißverständnisse im Sport. Wer will, kann einen Bezug zur Sache Hohmann herstellen. Wenn Fakten breitgetreten werden, geht Klarheit verloren, tritt Meinung an die Stelle von Fakten. Mein Thema hat jedoch überhaupt keinen aktuellen Bezug; ich will nur populäre Verfälschungen, insbesondere des einen oder anderen Zitats, richtigstellen. Die Besserwisser – dies ohne jenen verurteilenden Beigeschmack – unter den Lesern des Tagebuchs sind aufgerufen. Gibt es etwas, das sie richtiggestellt sehen möchten? Nicht, daß es mir an Material fehlte, aber es ginge nun in einem Aufwasch.

Weitere Rundfrage: Würden mir diejenigen, die mit mir beim Rom-Marathon waren, ihre Adresse verraten, eventuell sogar eine Darstellung der letzten Stunde vor dem Start geben? Ich will die Leichtfertigkeit und das Verhalten des Reiseleiters nicht auf sich beruhen lassen. Vielleicht können andere davon profitieren.

Einen Leserbrief zur November-Kolumne von „Runner’s World“ muß ich noch beantworten. Es geht um Vorgänge von – na sagen wir – vor Hunderttausenden von Jahren, als tierische Wesen von den Bäumen stiegen und Menschen wurden. Ich habe den Eindruck, manchen paßt das gar nicht in die Überzeugung von der Krone der Schöpfung. Sie lesen die Zeitung nicht genau und schauen weg, wenn auf dem Fernsehschirm Blut zu sehen ist. Vor allem aber schreibe ich an einem Buchbeitrag über Vollwerternährung im Sport. Die Gesellschaft für Gesundheitsberatung bereitet ein entsprechendes Buch vor. Das Thema ist keineswegs neu für mich, aber Gedankenaustausch mit Praktikern wäre mir willkommen.

Mein linkes Knie ist nicht in Ordnung, und ich will in diesem Jahr noch einen Marathon laufen. Heute habe ich es nach dem Laufen mit einer Dauerdusche probiert, Brausekopf auf das Knie gerichtet. Hat durchaus geholfen.

Eintrag vom 9. November 03

Manchmal treffe ich auf meiner Laufstrecke Marco Heinz. Wir wohnen in derselben Stadt, zu der sich seinerzeit vier Dörfer zusammenschließen mussten. Er ist angestellt in dem Altenheim, in dem Professor Pohl, früherer Baubürgermeister in Esslingen und 100-Kilometer-Läufer, seine letzten Jahre verbrachte. Marco Heinz ist vor drei Jahren den Hunderter in Biel gelaufen, nachdem Professor Pohl dort seinen letzten gelaufen war. So vollziehen sich Stabwechsel. Bei der Begegnung neulich – ich bin gerade eine Steigung hinaufgegangen – erzählte mir Marco Heinz, daß er den Bodensee durchschwommen habe. Nicht von Nord nach Süd, sondern dort, wo er am längsten ist, von Ost nach West, von Bregenz nach Ludwigshafen am Überlinger See. Mit Ruhe- und Wartetagen elf Tage lang, die längste Etappe betrug 7 Stunden und 20 Minuten. Abends schlug er sein Zelt auf. Marco Heinz wurde nicht begleitet, er war völlig allein auf sich gestellt. Dieser Tage hat er mir die Kopie seines Berichtes in „running-pur“ in den Briefkasten gesteckt. Aus ihm erfuhr ich die Einzelheiten. Marco Heinz schwamm mit Gepäck. Einen Seesack und zwei Fahrradtaschen mit Zeltausrüstung, Wäsche und Vesper brachte er auf einem kleineren Surfbrett unter. Das beladene Brett zog er an einem 4 Meter langen Doppelseil, befestigt an einem Klettergurt, hinter sich her. „Wasser hilft tragen, der Unterschied zwischen Schwimmen mit oder ohne Gepäck ist nicht spürbar“, bemerkt er dazu. Es waren immerhin 14 Kilogramm, die er 70 Kilometer hinter sich her zog.

Solche scheinbar oder tatsächlich verrückte Ideen werden gewöhnlich im Zusammenhang mit dem „Buch der Rekorde“ realisiert. Davon ist Marco Heinz weit entfernt. Wer ihn kennt, weiß, daß er nicht nach Rekorden giert. Er lebt nach innen. Einen wichtigen Gedanken hat er ausgesprochen, mit dem er nicht allein steht. „Mein Sport soll Kunst sein, einen gestalterischen Aspekt haben, fernab vom puren Wettbewerbsgedanken, mit dem unser beruflicher Alltag vollgestopft ist. Kunst bedeutet, einen ganz eigenen Gedanken zu fassen und mit Leben zu füllen. Den Gedanken kannst du dir nicht antrainieren und kaufen schon gar nicht. Er ist eine Gnade und kommt von selbst – oder eben nicht. Eines Tages war in mir der Gedanke vom Gepäckschwimmen im Bodensee, eine wunderbar individuelle Idee, abenteuerlich und ein wenig verrückt.“

Den Gedanken, eine sportliche Leistung als Kunst zu gestalten, hat auch Achim Heukemes, über den ich noch schreiben werde. Wenn ich so sehe, mit wie wenig Hirnschmalz Bildende Künstler heute ihre „Installationen“ aufbauen, dann komme ich mir beim Laufen durchaus manchmal als darstellender Künstler vor. Ich laufe immer an einem „Kunstwerk“ vorbei, einem minimalistischen des New Yorkers Sol LeWitt – unter dem tun wir’s in unserem Stadtdorf nicht. Seine Idee: Am Eingang jedes der vier Dörfer, die eine Stadt bilden, stehen ein bis vier weiße Ziegelwände aus Kalksandstein, die sich jedoch nicht berühren, sondern jeweils 10 Zentimeter voneinander entfernt sind. Die 25 Quadratmeter großen Wände symbolisieren jeweils einen früher selbständigen Ortsteil. Punkt. Wenn mir dies im Suff eingefallen und ich es in einer Einwohnerversammlung vorgetragen hätte, wäre ich ausgepfiffen worden. Aus der Einwohnerschaft war zwar Kritik an dieser Art von Kunst gekommen, aber sie wurde damit beruhigt, daß die „Kunstwerke“ für 50000 Mark nur ein Jahr, nämlich 1992 für die Dauer einer Aktion in der Region Stuttgart, stünden. Doch für den Abriß von „Structure“ – so der Titel der kalkigen Wände – war kein Geld mehr da. Dagegen sind sie mehrmals von Graffiti gereinigt worden. Ein anderes Kunstwerk ist uns aus der Landesgartenschau überkommen, eine Anzahl großer Plastic-Hasen, die um eine Möhre kreisen. Die Plastictiere unterscheiden sich nicht von dem auf einer Tankstelle in unserem Ort. Die Kunststoffgebilde taugen nicht einmal dazu, daß  Kinder auf ihnen herumklettern; sie sind zu glatt, Plastic eben. Wenn ich dies sehe und andere zeitgenössische  Kunstwerke, dann erscheinen mir in der Tat Menschen wie Marco Heinz als Künstler in der Tradition der Kunstläufer des 19. Jahrhunderts. Wie damals über Biel wird Marco Heinz auch über seine Wassertour ein Buch schreiben. Eine Richtung seiner Reflexionen deutet sich an: „Wasser ist ein Ort vollkommener Harmonie. Es dämpft jedes Geräusch und straft jede hektische Bewegung. Deshalb war der herrlich funkelnde See nicht nur optischer Traum, sondern auch Lehrmeister. Ich habe ihn nicht bezwungen, er hat mich geduldet.

Eintrag vom 31. Oktober 03

Über den spektakulären Leistungen kommen die im Stillen vollbrachten zu kurz. Niemand spricht darüber, und doch bedeuten individuelle Fernläufe eine ebenso große Herausforderung wie ein Wettbewerb, vielleicht sogar eine noch größere, weil die Motivation tatsächlich von innen kommen muß.

Vor dem Berlin-Marathon am 28. September erfuhr ich, daß Heinz Schild hingelaufen war. Wer Heinz Schild kennt, weiß, daß er nicht in Potsdam wohnt, sondern im Berner Oberland. Heinz Schild, früher bei dem Sender DRS, ist Initiator zweier Laufveranstaltungen von beträchtlichem Ruf, des Berner Grand Prix und des Jungfrau-Marathons. Bis zum vorigen Jahr war er für die Organisation des Jungfrau-Marathons verantwortlich; seit einigen Jahren veranstaltet er touristische Mehrtageläufe in den schweizerischen Alpen. Anfang September brach Heinz Schild in Bern zu einem dreiwöchigen Lauf nach Berlin auf. Nach dem Tourplaner sind es 957 Kilometer, und da er nicht auf dem Mittelstreifen der Autobahn gelaufen ist, dürften es real einige Kilometer mehr sein.

Er habe, sagte er mir, bei dieser Tour erst entdeckt, wie schön Deutschland sei. Recht hat er. Meine Zustimmung entspringt wahrhaftig nicht nationalistischen Regungen. Ich habe nur Gelegenheit gehabt, auf Reisen zu vergleichen.

Zum Münchner Medienmarathon traf Detlef Ackermann ein. Er kam gerade vom Köln-Marathon. Den war er gelaufen, in 3:58:43, dann noch ein Stück weiter nach Bonn und anderntags nach München gestartet, 620 Kilometer in 7 Etappen. Die merkte man ihm, als er am 11. Oktober im Olympiagelände eintraf, durchaus an. Das hielt ihn nicht davon ab, am nächsten Tag den Münchner Marathon zu laufen (4:51:23). Im Gegensatz zu Heinz Schilds Tour hat man Detlef Ackerman, einem 33 Jahre alten Software-Entwickler, in München einen Empfang bereitet. Das „Münchner Kindl“ hydrierte den ungewöhnlichen „Doppeldecker“ aus einem Bierkrug.

Eintrag vom 26. Oktober 03

Die Pasta-Party ist ein Ritus, nichts weiter, das habe ich schon vor Jahren geschrieben, nachdem ich begonnen hatte, mich mit vollwertiger Ernährung zu befassen. Mit dem City-Marathon 1981 ist auch gleich in Berlin das Spaghetti-Essen aus den USA importiert worden. Man weiß ja, die Masse der Amerikaner versteht nichts vom Essen. Aufjaulen. Natürlich gibt es Gourmet-Restaurants, auf einer Reise durch Neuengland, nach dem Boston-Marathon, habe ich eines kennengelernt, das keinen Vergleich mit europäischen Gourmet-Restaurants zu scheuen braucht. Zumindest in New York gibt es einige vegetarische Restaurants, in denen man sich vollwertig ernähren kann. Doch Ernährungswissen ist in den USA noch weniger verbreitet als in Deutschland oder gar in östlichen Staaten, und es ist ja wohl kein Zufall, daß der Anteil der fetten Menschen in den USA besonders hoch ist.

An den Übergewichtigen läßt sich gleich zweimal verdienen, erst durch minderwertige Nahrung, dann durch nutzlose Diäten und möglicherweise schädliche Präparate. In der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ 128/2003 war vor einigen Wochen von einem Fall zu lesen, in dem nach der Einnahme von Würfeln aus komprimierter Zellulose eine Notoperation vorgenommen werden mußte. Eine Frau aus Aachen hatte vier solcher Kapseln geschluckt, um abzunehmen. Da sich die Zellulosewürfel auf das Fünfzehnfache vergrößern, war der Ausgang des Dünndarms blockiert.

Es wundert nicht, daß gerade in den USA die Auffüllung der Glykogendepots am Tag vor dem Marathon zum Kult erhoben worden ist. Die Erkenntnis ist ja richtig, schon Ernst van Aaken hatte sie, nämlich daß man mit vollen Glykogendepots starten müsse; doch naiv ist die Vorstellung, es komme darauf an, am Tage vorher Kohlenhydrate, und noch dazu ziemlich leere, in sich hineinzustopfen. Wer sich nicht kohlenhydratreich ernährt, dem hilft auch eine Überportion Spaghetti am Abend vor dem Lauf nicht. Außer dem amerikanischen Ernährungsaberglauben kommt bei der Pasta-Party hinzu, daß sich für Teigwaren aus der Packung viel eher Sponsoren finden lassen als für Kartoffeln und Gemüse, denn da gibt es keine Firmennamen, die zu vermarkten wären.

Dadurch, daß der Münchner Medienmarathon Charly Doll und Herbert Steffny gewonnen hat, ist ein Durchbruch gelungen. Es gab zum „Carboloading“ oder nach dem Marathon keine Spaghetti mehr, sondern einen vollwertigen Eintopf. Der Diplombiologe Steffny hatte den Vollwert gewissermaßen ausgerechnet – wiewohl das für eine einzelne Mahlzeit im Grunde sinnlos ist, weil vollwertige Ernährung die Summe aller genossenen Lebensmittel ist –; der Küchenchef aus erstklassigen Häusern Charly Doll lieferte das Rezept und überwachte die Zubereitung. Beide mußten freilich auch ein Interesse an ihrem Auftritt haben. Anfang des Jahres ist ein von ihnen gemeinsam erarbeitetes Buch mit dem Schwerpunkt Ernährung erschienen.

So kommt es wohl, daß sie sich erst jetzt einschlägig zu Wort gemeldet haben, denn sie selbst haben, wie ich auch, niemals etwas von Teigwaren gehalten und auch als Vorwettkampfernährung immer Kartoffeln, Gemüse und Obst bevorzugt. Wenn ich in Berlin oder anderswo am Vortag des Marathons Spaghetti mit Tomatensoße zu mir genommen habe, dann nur, weil ich mich ernähren wollte und dies auf der Marathonmesse am einfachsten und billigsten war. In München hingegen habe ich den Gemüse-Kartoffel-Eintopf vom Porzellanteller und einem richtigen Löffel mit großem Appetit gegessen. Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte anderntags nach dem Marathon einen Teller voll ohne Gutschein erbettelt, doch als ich vom Duschen kam, war schon alles abgebaut.

Nun hoffe ich, daß das Münchner Beispiel Schule macht. Die Thüringer Klöße beim Rennsteiglauf sind zwar bodenständig und originell, aber aus Weißmehl, und auf Vegetarier wird bei der Herstellung der Beilage keine Rücksicht genommen. Auf der Berliner Marathonmesse, wo erstmals der Vegetarier-Bund Deutschlands einen Stand hatte, erfuhr ich, daß sich inzwischen jeder 9. Deutsche rein vegetarisch ernährt; aus Gesprächen weiß ich, daß gerade unter Läufern viele anzutreffen sind, die zwar nicht Vegetarier sind, aber versichern, nur wenig Fleisch zu essen. Die Zunahme dicker Kinder im Sinne des Wortes wie auch ihrer Zahl zeigt, wie groß der Informationsbedarf noch ist. Bei der Pasta-Party könnten auch die Krankenkassen mit ihren Präventionsbemühungen ansetzen. Weshalb eigentlich mußten erst die Südtiroler kommen und an ihrem Stand für den Südtiroler Marathon auf der Münchner Marathonmesse Äpfel verteilen? Richtig, das ist ja geschäftsschädigend für die Riegel-Fabrikanten.

Eintrag vom 15. Oktober 03

Es wäre Heuchelei, wenn ich das Ereignis nicht im Tagebuch erwähnte. Es gibt sicher auch eine Arroganz der Bescheidenheit. Denn das Gewöhnliche ist, daß sich die meisten Menschen freuen, wenn sie ausgezeichnet werden. Wer das nicht tut, ist verbittert, dem Irdischen schon entrückt oder hält sich für einen, der weit über den Niederungen schwebt, eine besondere Form der Eitelkeit. Der Münchner Medien-Marathon verleiht, was ihm gut zu Gesicht steht, seit drei Jahren jeweils den Medien Award. Nach Manfred Steffny und Gustav Schröder bin ich am 10. Oktober ausgezeichnet worden. Vor Kollegen und Funktionären hat Manfred Steffny in seiner Laudatio liebenswürdige Worte gefunden. Normalerweise haben Kollegen ein eher distanziertes Verhältnis zueinander; Distanz gebietet allein schon der Beruf des Journalisten. Wenn dann eine Brücke des Menschlichen, der Solidarität, der Anerkennung, geschlagen wird, ist das überraschend und ein Anlaß, dankbar zu sein.

Ob ich’s verdient habe, darüber haben andere befunden. Vielleicht ist es schon ein Verdienst, wenn man eine Entwicklung ein bisschen früher erkennt als andere. Ende der siebziger Jahre wurde eine Rubrik im „Spiegel“ über das „Jogging“ mit dem Zitat eines amerikanischen Herzspezialisten bestritten:: „Lassen Sie den Quatsch!“ 1981 will „Bild“ beim ersten City-Marathon in Berlin Tausende umfallen gesehen haben. Die „Süddeutsche Zeitung“ ignorierte ein Massenereignis wie den früheren Münchner Marathon dadurch, daß sie davon ein zweispaltiges Bild samt einer Blabla-Bildunterschrift in der Montagausgabe veröffentlichte.

Ein Sportjournalist bin ich nicht. Und Manfred Steffny hat mich ein bisschen geneckt, ich würde mich mit Klauen und Zähnen gegen diese Bezeichnung sträuben. Dabei ist es so, außer vom Laufen – sagen wir: den Inhalten des Laufens – verstehe ich ja gar nichts von all den Sportarten. Wie sollte ich die vielen Leistungen anderer im Gedächtnis behalten – und das muß man als Sportjournalist –, da ich doch meine eigenen Laufbestzeiten nicht einmal zusammenbekomme? Ich habe einfach über das Laufen geschrieben, weil ich selbst mit dem Laufen begonnen hatte. Und das war halt relativ früh, drei Jahre nach dem ersten Volkslauf. 1967 begann ich, mich gedanklich mit dem Volkslauf und dem Laufen überhaupt auseinanderzusetzen. Ich war damals an die „Stuttgarter Zeitung“ zurückgekehrt, der ich schon einmal für sieben Jahre angehört hatte. Dazwischen war ich zwei Jahre bei einem Reisemagazin, das längst vergessen ist, sein nun in Irland lebender Chefredakteur (und Initiator des Magazins) nicht ganz, es war Dr. h. c. Horst Stern. In meiner zweiten Periode bei der StZ war ich Redakteur im Ressort Aus aller Welt, früher „Vermischtes“ genannt, ein Ressort für Generalisten. Man musste von allem etwas verstehen, wie geschaffen für Leute von solider Halbbildung wie mich. Daher kam es, daß ich meinen Fuß auch immer wieder in andere Ressorts setzte (was später zu dem Kuriosum führte, daß ich nebenbei auch der wohl einzige männliche Redakteur einer Frauenseite war; nur hatte ich diese umbenannt in „Frau, Familie, Gesellschaft“). 1967 schrieb ich für den Sportteil eine Plauderei über meine erste Teilnahme an einem Volkslauf, später dann eine Analyse des Volkslaufs. Sportressortleiter war Reinhart Appel, der ältere Bruder des späteren Intendanten des Deutschlandfunks. Appel verfolgte immer die Linie, Sport nicht nur als Publikumssport zu verstehen, sondern Brücken zu schlagen zu Breiten-, Gesundheits- und Rehabilitationssport. Ich fürchte, begänne die Laufbewegung erst heute, so würden mir Sportredakteure meine Beiträge mit dem Bemerken ablehnen, das interessiere ihre Leser nicht. Das Quotendenken hat ja längst auch die Printmedien erreicht. Der 1:0-Journalismus würde die Sportseiten beherrschen, gäbe es da nicht das Phänomen, das mancher Fußballer einen Furz läßt, mit dem man die Seite aufmachen kann. Auch sind zerbrochene Ehen von Sportlern interessanter als Trainingsprogramme. Ich halte die Sportteile heute für weit mehr an den Publikumsgeschmack angepasst als früher. Und gibt es denn eine Tageszeitung, die sich in der Zeit der Not, die ja nun schon eine Weile andauert, gegen den Unfug Olympischer Spiele in Deutschland gewandt hätte? In Stuttgart streiten sie gerade über Fehlbeträge der großkopfeten Olympia-Bewerbung, wohlgemerkt um Fehlbeträge Die regulären Beträge, die ebenfalls zum Fenster hinausgeworfen worden sind, gehen ja wohl in Ordnung. – Nun merkt wohl jeder, so schreibt kein Sportredakteur.

Immerhin, so einem geben sie den Medien Award. Dank an Gernot Weigl, Manfred Steffny, Urs Weber, der in München moderierte, Wilfried Raatz, der über das Ereignis berichtet hat, und all die anderen, die daran mitgewirkt haben.

Der Münchner Medien-Marathon besteht aus vier Marathons. In meinem Marathon waren wir offenbar nur einige hundert Leute. Dafür wurden wir erst eine reichliche halbe Stunde nach dem ersten Startschuß über die Matten gelassen, jedoch mit einem eigenen Startschuß. Das erstemal, daß ich vier Startschüsse gehört habe. Von der Menge der Teilnehmer, nach grobem Überblick wohl etwa 20 Prozent mehr als im letzten Jahr, habe ich nichts mitbekommen. Der viertgrößte Marathon in Deutschland war der mit dem aufgelockertsten Start. Sicher, Bilder wie in Berlin von dem Massenstart vor der Siegessäule waren auf diese Weise vom Louis-Spiridon-Ring nicht zu bekommen. Doch ich fand es angenehm, vom Start weg in einem aufgelockerten Feld zu laufen. Ich denke, daß auf diese Weise auch Kontinuität für die Zuschauer hergestellt worden ist. Die Schnellsten des jeweils folgenden Startblocks holten die Langsameren des vorangehenden Blocks ein. Nach meiner Beobachtung war in diesem Jahr auch für uns ganz hinten erheblich mehr Publikum an der Strecke.

Ich finde die Entwicklung des Medien-Marathons sehr positiv. Der Einlauf durchs Große Marathontor, den Tunnel, der von Spotblitzen und Rauchschwaden erfüllt ist, mag wohl Geschmackssache sein. Mir haben die Schwaden und grellen Lichtblitze die Sicht beeinträchtigt. Irgendwo gibt es im Tunnel eine Bodenwelle, die ich nicht sehen konnte. Und wir dahinten heben halt die Füße nicht mehr genügend. Doch wenn’s weiter nichts zu kritisieren gibt, kann ein Veranstalter schon zufrieden sein. Über die Pasta-Party eigener Art das nächstemal.

Eintrag vom 3. Oktober 03

Während des Berlin-Marathons: Diese Stadt scheint ebenso wie Paris für den Marathon gebaut zu sein. Alleen, Boulevards, Geschäftsstraßen, gegen die der Broadway wie ein Gäßchen wirkt. Berlin ist wieder wer, um eine „Bild“-Rubrik abzuwandeln. Während ich zwischen Lehrter Bahnhof und Bundeskanzleramt laufe – bereits hier hat sich dank der Entfaltung auf breiten Straßen das dichte Feld der weit über 30000 gelockert – , steigt Bitterkeit in mir auf. Auf diese Hauptstadt  wollte im Parlament eine beträchtliche Fraktion der Rheinstaat-Anhänger und ihrer Satrapen in Württemberg zugunsten des scheinbaren Provisoriums Bonn verzichten. Wer redet heute noch darüber? Ich rede darüber, um Politikern, denen wir uns anvertraut haben, anvertraut haben müssen, Kurzsichtigkeit nachzuweisen, wieder einmal. Eine Hauptstadt hat auch Kulturhauptstadt zu sein, das besonders. Drei Opernhäuser in Berlin – na und? Halt ein Starfighter weniger, die brauchen wir ohnehin nicht, nur die Amerikaner brauchen deutsche Beteiligung am Hindukusch. Diese Konsequenz war aber schon in den fünfziger Jahren abzusehen. Furchtbarer Gedanke: Terrorismus, der mit Krieg bezwungen werden soll, nur eine Randerscheinung friedlicher Eroberung mittels Kopftuchs und islamischer Schulen. Kann man in Berlin laufen, ohne politisch zu werden, sofern man nicht läuft wie Lemminge laufen?

Die Stalin-Allee ist entstalinisiert, die Hochzeitstorten-Architektur ist metropolisiert. Auf dem Alex finde ich mich nicht mehr zurecht, ich würde nicht einmal die Stelle finden, wo ich in der verschwundenen Prenzlauer Straße, die immer mit der Prenzlauer Allee verwechselt wird, zweieinhalb Jahre gewohnt habe. Damals kreuzten Straßenbahnen den Platz, die Prenzlauer Straße wurde durch die Trümmerbahn in der Linienstraße gekreuzt.

Altes Photo gefunden: 1951. Wer sich über die Sperrung für den Marathon aufregt, – damals wurden auch manchmal die Straßen gesperrt, hier die Friedrichstraße. Genosse Honecker mobilisierte die FDJ.

Das läuferische Diskussionsthema: Ist der neue Kurs besser? Er scheint mir dichter zusammengedrängt. Zuschauerfreundlich, die Dänen haben es nun einfacher. Die „Berliner Morgenpost“ hat es für witzig angesehen, irgendwo einen ihrer Lastwagen mit einer Schriftplatte „Noch 2,5 km bis zum Ziel. Luftlinie“ aufzustellen.

Gewiss, der „Wilde Eber“ ist kein Knackpunkt mehr, er liegt nun einfach an der Strecke wie das Schöneberger Rathaus, von dem die „Freiheitsglocke“ mir so etwas wie einen Schauer über den Rücken jagt. Kurfürstendamm, die Bilder im Kopf verschieben sich, das war hier einmal die Straße des Siegesrausches, des letzten Aufbäumens gegen die Erschlaffung. Das Ziel hinter der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche so nah. Jetzt geht es fast dorthin, wo wir hergekommen sind, beinahe zu Kilometer 11. Erstaunlich, wie oft man auf diesem Kurs im Schatten läuft, sogar im Schatten von Bäumen. Das ist an einem solchen sonnigen Tage wie dem 28. September zu schätzen. Philharmonie, der Potsdamer Platz – eine Kopie von Manhattan oder von irgendeiner anderen Großstadt. Leipziger Straße, der die Wiedervereinigung ihre alte Funktion wiedergegeben hat.

Auf den letzten 4 Kilometern geballte Sehenswürdigkeiten, dazwischen ein Schuppen wie an einem Schloß, nein, statt eines Schlosses. Wahrscheinlich läßt man den Asbest-Bau der DDR vollends verkommen, bis er abbruchreif ist. Zu Recht. Ich bin für den Neubau des Berliner Stadtschlosses, dessen Sprengung ich 1950 noch miterlebt habe. Schon damals war mir Dokumentation einiges wert, ich habe heimlich photographiert; doch im Westen hat sich dann niemand dafür interessiert.

Die letzten Kilometer eine läuferische Via triumphalis ohnegleichen. Auch ich habe vor dem Brandenburger Tor gezögert: welche Durchfahrt? Doch es hat mich keine Sekunden gekostet.

Wieder hat es sich bewährt, keinen Kleiderbeutel abzugeben und ihn suchen zu müssen. Der 30 Jahre alte Pullover von Puma, damals schon im Ausverkauf erworben, und eine Wärmefolie vom letzten Marathon haben mich am Start ausreichend geschützt. Für meine Frau ist eine solche Gelegenheit die einzige Chance, daß ich mich von alten Klamotten trenne. Das war mein 8. Berlin-Marathon, in den Jahren zuvor war ich um diese Zeit immer beim Spartathlon.

Am Tage zuvor Lesung beim Literatur-Marathon. Seltene Wiederbegegnung mit Professor Gerd Uhlenbruck, der unverwechselbare Witz seiner Aphorismen und Gedichte hat mich beeindruckt. Wir alle wissen, daß Literatur nur noch eine Randerscheinung ist. Aber muß man das beim Berlin-Marathon so deutlich machen? Die Ausstellung über den Wandel von Laufbüchern hinter einem Gewächsstand versteckt. Wir Laufschreiber waren diesmal in einem leerstehenden Messerestaurant. Am Freitag, als ich mich über die Örtlichkeit informieren wollte und noch keine Hinweise angebracht waren, habe ich eine halbe Stunde mit dem Suchen verbracht. Einer der  Helfer, die ich nach dem Restaurant Brandenburg befragte, wies mich in die Halle 22a. Doch da war kein Restaurant, sondern die Pasta-Party. War es doch; das Restaurant Brandenburg war für die Zeit der Marathon-Messe umgezogen und verabreichte die Spaghetti. Dort wiederum war keine Lesung. Die Zettel am Samstag führten dann doch dazu, daß das Publikum ein klein wenig zahlreicher als wir lesenden Lauf-Autoren war. Es tat mir leid um die Bemühungen Dr. Kuhlmanns. Wenn wir Autoren künftig streikten, – es träfe nur ihn. Außerdem sind Autoren eitel, sie wollen aufs Treppchen, genau wie Marathon-Sieger.

Fotos (3) aus dem Fundus von Werner Sonntag aus den Jahren 1950/51

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