Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 22. September 08

Von einem Tag auf den anderen schien die Zeit der kurzen Hosen vorbei zu sein. Bei den Radfahrern, die mir begegneten, prüfte ich, ob sie schon Handschuhe trügen. Waren die Getreidefelder nicht gestern erst abgeerntet worden? Aber nein, ich hatte es nur nicht so recht wahrgenommen. Dagegen ist mir aufgefallen, wie reich die Apfelbäume tragen. Die Äste biegen sich, im Gras liegen die herabgefallenen Äpfel. In den dreißiger Jahren, als an den Chausseen noch Obstbäume standen statt Leitplanken, wurde der Sonntagsausflug damit verbunden, daß wir die herabgefallenen Äpfel auflasen. Meine Mutter bereitete Apfelmus daraus. Ob das Aufklauben des Fallobstes legal war, bezweifle ich. Wir hätten uns damit rechtfertigen können, daß die Äpfel sonst breitgefahren worden wären. Doch sie lagen ja auch im Straßengraben. Dieser Tage beobachtete ich eine Spaziergängerin, die von einem der in Augenhöhe gesenkten Äste einen Apfel pflückte. Die Leute sind heute unbekümmerter. Oder sind die Besitzer der Baumgrundstücke großzügiger? An einem umfriedeten Baumgrundstück steht eine Schüssel mit Äpfeln und einem Schild: Zum Mitnehmen. Damit nicht genug, am Zaun hängen Beutel.

So viele tausend Kilometer habe ich auf meiner Hausrunde zurückgelegt; doch immer wieder mache ich neue Beobachtungen. Vor kurzem habe ich tatsächlich wieder einmal einen Hasen, ein ziemlich großes Tier, von einem Kohlfeld über die Wiese springen sehen – von wegen hoppeln! Heute unterbrach ich den Lauf wegen eines Eichhörnchens. Es wollte den Asphaltweg überqueren, kehrte jedoch sofort zurück, als es mich erblickte. Ich verharrte, und da entschloß es sich zu der gefahrvollen Überquerung, suchte jedoch sofort Zuflucht hinter einem Maschendrahtzaun. Manchmal begegne ich Reitern. Heute führte einer das Pferd. Beide hielten an, als ich herantrabte. Der Reiter klopfte dem Tier beruhigend den Hals. Im allgemeinen haben sich Pferde längst angepaßt. Seitdem sie selbst Auto fahren, im Viehanhänger, scheuen sie auch nicht vor Kraftfahrzeugen, die dicht an ihnen vorbei fahren. Möglicherweise ist es ein feines Textilgeräusch von Läufern, das sie unruhig macht.

Die Nachrichten am letzten Mittwoch: Das einzig Erfreuliche waren bis zum Mittwoch die Sportnachrichten von den Paralympics in China. Der Öffentlichkeit, uns also, ist der Behindertensport und damit die Existenz von Behinderten unter uns ins Bewußtsein gerückt worden. Auch wenn China wieder eine Inszenierung geboten und den Skandal der vergifteten Milch erst danach an die Öffentlichkeit dringen ließ, ist offenbar nun im eigenen Land das Bewußtsein für die im Schatten lebenden Millionen von Behinderten in China geöffnet worden.

Sonst jedoch? Die Finanzkrise. Sie hat die schönrednerische Ideologie des Kapitalismus entlarvt. Einige wenige haben vor dem Crash gewarnt. Nun ist er da. Der Dax macht die Börsianer ratlos. Erst kurz vorher hat ein Internet-Börsendienst, den ich unbestellt im e-mail-Briefkasten vorfand, einen Stand von 12.000 Punkten für Ende des nächsten Jahres phantasiert. Ich vermute, daß der mir völlig unbekannte Dienst PR-Arbeit für die Börsen leistet. Schönes Thema für WISO oder Frontal 21 im Zweiten. Vorher haben nur die Tageszeitungen immer brav nachgedruckt, wenn einer der angeblichen Experten die alte Leier anschlug, daß die Deutschen zu wenig Aktien besäßen. Sicher, welches Vorbild sind doch die Amerikaner! Ob übermorgen das Heulen und Zähneklappern, das über den Atlantik zu uns dringt, wirklich vergessen sein wird? Noch ist ungewiß, wie sich die Finanzkrise auf die Warenwelt durchschlagen wird. Ich bin neugierig, was meine Bankberaterin, ausgebildet in bankfinanzierten Instituten, im nächsten jährlichen Gespräch an neuen, Provision bringenden Produkten empfehlen wird. Sie wird es schwer bei mir haben, ist doch auch unsere Bank, die Landesbank Baden-Württemberg, die sich durch Aufkäufe hervortat, nun in den roten Zahlen. Das Management, das zu wissen glaubte, was für meine Finanzen gut sei, hat die Grenzen seiner Kompetenz offenbart.

Kaum daß der Dax wegen der Stützung amerikanischer Banken durch Steuergelder einige Punkte gewonnen hat, jubelten die Börsianer und die unkritischen Kollegen in den Wirtschaftsredaktionen. Ich habe dennoch neuntausend Euro verloren, weil ich alles so gemacht habe, wie mir die angeblichen Fachleute geraten haben. Es war ja nicht ihr Geld. Schon gibt es einen neuen Lockvogel: Immobilien. Dabei kann man selbst im Land der Häuslebauer Immobilien nicht mehr zu dem Preis verkaufen, zu dem man sie vor zehn bis fünfzehn Jahren erworben hat, geschweige denn daß eine Wertsteigerung eingetreten wäre. Ich halte inzwischen die Wollsocke oder den Platz unterm Kopfkissen für eine gute Anlage. Für die Sicherheit der Wollsocke bin ich, nur ich allein, verantwortlich. Dessen bin ich mir bewußt. Diejenigen dagegen, denen ich mein Geld anvertraut habe, waren sich ihrer Verantwortung für die Sicherheit der ihnen überlassenen Gelder nicht bewußt.

Dem Vertrauensverlust bei Banken hat der Skandal in der KfW-Bank die Krone aufgesetzt. In den Zeitungen war beschönigend von Panne die Rede. 350 Millionen Euro, und keiner im sogenannten operativen Geschäft, wie Geldausgeben in besseren Kreisen genannt wird, hält angesichts bedrohlicher Informationen übers Wochenende das Geld zurück. Vor der nächsten Krisensitzung am Montag um 9 Uhr war es halt schon weg. Ob es bei der halben Milliarde bleibt, die bei dem staatlichen Institut in Verlust geraten ist, weiß man noch nicht so genau. Und da lauert das Fernsehen einem Herrn Zumwinkel wegen einer lumpigen Million auf, um die er diesen Staat wahrscheinlich geprellt hat! Die wirklich gefährlichen Wirtschaftskriminellen darf man so nicht bezeichnen, denn strafrechtlich werden sie nicht zur Verantwortung gezogen werden. Der Filz von Bankern und Politikern erweist sich als hoch riskant.

Karl Marx und Friedrich Engels haben mit ihrer Analyse des Kapitalismus recht behalten. Sie konnten nichts dafür, daß ihre Visionen unter die Ideologen fielen. Nicht die Denker, sondern die Epigonen, die sich auf die Ideen aus dem 19. Jahrhundert beriefen, haben unzählige Menschen in Unfreiheit und Unglück gestürzt. Doch nicht nur der Sozialismus ist gescheitert. Auch der Kapitalismus zeigt sich unfähig. Die soziale Marktwirtschaft, mit der Ludwig Ehrhard einen Kompromiß versucht hat, ist ebenfalls gescheitert. Die Krise macht es deutlich. Leider haben wir derzeit keine scharfsinnigen und scharfzüngigen Analytiker wie Karl Marx und Friedrich Engels, die ihrer Zeit voraus waren.

Welche Alternativen? Menschen wie ich, die an dieser Gesellschaft leiden, sehen in den Visionen von Reformern eine Chance, insbesondere der Freiwirtschaft von Silvio Gesell – mit der Abschaffung des Zinses und Sanktionen gegen diejenigen, die Geld horten. Da sie nicht per Beschluß eingeführt werden kann – höchstens auf einer Insel, die man zuvor kaufen und jeglicher staatlichen Autorität entziehen muß –, schleichen sich die Bestrebungen jener Reformer durch die Hintertür ein. Regionalgeld, das sich nicht verzinsen läßt, ist in Umlauf. Das Mißtrauen gegen die Globalisierung ist gewachsen. Das Kommunikationsmittel Internet fördert die Naturalwirtschaft, den Austausch auch von Dienstleistungen. Wenn der Dachdecker den Rohbau des Elektrikers mit dem Dach versieht, macht der Elektriker dem Dachdecker die elektrische Installation. Wenn man so will, ist die gesamte Schattenwirtschaft Ausdruck der heimlichen Bestrebung, unter Umgehung von kostspieligen Zwischeninstanzen zur Naturalwirtschaft zurückzukehren. Das wäre das Schlechteste nicht. Jedenfalls braucht man keine Banken dazu.

Eintragung vom 15. September 08

Der Bedienzuschlag für den Kauf einer Fahrkarte im Reisezentrum ist zwar abgeschmettert, aber wir haben ihn doch längst auf anderen Gebieten. Ist das noch niemandem in der Politik aufgefallen? Wenn ich in einen der Telefonläden gehe, um ein Mobilphon zu kaufen und in Betrieb zu nehmen, muß ich bei t-mobile einen Bereitstellungspreis von 24,95 Euro zahlen. Vollziehe ich denselben Vorgang über das Internet, fällt der Bereitstellungspreis weg, und das Gerät wird mir obendrein kostenlos zugestellt. Gebe ich in einer Agentur der Deutschen Post ein Paket auf, muß ich in der unteren Gewichtsstufe 6,90 Euro zahlen. Kaufe ich über das Internet einen Paketschein, was allerdings nicht so einfach ist, zahle ich 5,90 Euro. Direktbanken, bei denen man also niemals einem Angestellten begegnet, sind preiswerter als die Banken mit Geschäftsstellen; die Kontoführung kostet nichts, und die Guthaben-Zinsen sind höher. Selbst unser Gasversorger hat mir einen günstigeren Tarif angeboten, wenn ich mein Konto online führe und auf eine Papierrechnung verzichte.

Wen also treffen die verkappten Bedienzuschläge? In erster Linie diejenigen, die über keinen Computer verfügen. Das sind überwiegend alte Menschen, und dazu auch noch einkommensschwache oder solche, bei denen die Geisteskraft empfindlich nachgelassen hat. Nun plädiere ich zwar dafür, daß gerade alte Menschen sich die digitale Technik – wenn auch vielleicht nicht bis in die feinsten Verästelungen – aneignen sollten, aber ich respektiere den Entschluß derjenigen, die sich ihr verweigern. Ich habe zum Beispiel einen leitenden Bankangestellten gekannt, der von den ihm Unterstellten sehr wohl die erforderlichen Fertigkeiten am Rechner verlangt hatte, aber für sich selbst als Pensionär den Computer im Haus abgelehnt hat. Im allgemeinen jedoch sind es Benachteiligte, die keinen Computer in Anspruch nehmen können und dafür „Bedienzuschläge“, eingeführt durch die Hintertür, in Kauf nehmen müssen. Die Gesellschaft ist von Gerechtigkeit weiter entfernt denn je.

Bei der Bahn hat man nur den Fehler gemacht, den Bedienzuschlag nach dem Verursacherprinzip erheben zu wollen, statt ihn wie die freie Wirtschaft zu kaschieren. Wäre die Deutsche Bahn so verfahren wie alle anderen, hätte sie bei der nächsten Tariferhöhung denjenigen, die ihre Fahrkarte am Automaten oder über das Internet kaufen, eine Ermäßigung eingeräumt, die – versteht sich – in der Tariferhöhung längst berücksichtigt worden wäre. Kein Politiker, kein Journalist hätte sich aufgeregt. An der Ungerechtigkeit freilich, der Belastung der am Internet-Zugang Gehinderten, hätte sich nichts geändert.

Was ist bei der Anmeldung zu Laufveranstaltungen die zum Teil immens erhöhte Nachmeldegebühr anderes als ein „Bedienzuschlag“? Meldet man sich rechtzeitig an, trifft es auch hier wieder die ohnehin Benachteiligten. Niemand bleibt aus freien Stücken einer Veranstaltung fern, wenn er sich angemeldet hat. Da muß schon einiges passiert sein, eine Verletzung, ein persönliches Unglück. Die Pechvögel werden also gleich doppelt bestraft: Außer daß sie nicht laufen können, auch noch dadurch, daß die eingezahlte Startgebühr fast immer verloren ist. Im Jahr 2006 hatte ich mich wie jedes Jahr für Biel angemeldet und rechtzeitig für den Berlin-Marathon, nicht ahnend, daß mir wenige Tage später eröffnet werden würde, ich müsse mich einer Bypaß-Operation unterziehen. Bei dieser Gelegenheit ein öffentliches Dankeschön: Ich rechne es der Organisation des Berlin-Marathons hoch an, daß sie mir, als sie zufällig den Grund meines Fernbleibens erfuhr, das Startgeld zurück überwies. Nie hätte ich das von einem so anonymen Apparat erwartet.

Wer aber nun vorsichtig disponiert, verpaßt entweder den bei beliebten Veranstaltungen vorgezogenen Anmeldeschluß oder muß nachmelden – mit eben dem „Bedienzuschlag“, der bei der Deutschen Bahn zum Politikum geworden ist. Eine rühmliche Ausnahme bildet der Schwäbische-Alb-Marathon (der nächste ist am 25. Oktober): Wer als angemeldeter Läufer aus gesundheitlichen Gründen – das kann ja auch nur eine Infektion sein – nicht starten kann, erhält einen Gutschein für den Start im folgenden Jahr.

Eintragung vom 8. September 08

Wenn ich als Kind zum Einkaufen in den Görlitzer Wareneinkaufsverein geschickt wurde, schärfte mir meine Mutter ein, nicht zu vergessen, mir Rabattmarken geben zu lassen. Sie wurden in ein Heftchen geklebt, und meine Mutter warf manchmal einen prüfenden Blick darauf, wie viele Marken noch fehlten, bis es voll sein würde. Vorzugsweise vor Weihnachten wurde das Heftchen in Bargeld umgetauscht. Es mögen 1,50 Reichsmark gewesen sein, aber bei monatlich 60 Reichsmark Arbeitslosengeld bedeuteten sie eine Zubuße. Man konnte drei Brote dafür kaufen.

Nach dem Krieg gab es keine Waren, sondern Zuteilungen, und daher keine Rabattmarken mehr. Der Handel besann sich zwar wieder darauf, aber wohl in den siebziger, spätestens achtziger Jahren, als auch die Arbeitgeber den „sozialen Klimbim“ strichen, beendete der Handel die Ausgabe von Rabattmarken, denen ja immer der Hauch des Miefigen, des Kleinbürgerlichen, anhaftete. Aber irgendwo sind wohl die meisten in tiefster Seele Kleinbürger geblieben. Die Rabattmarken sind längst wieder da, nur nennen sie sich im Marketing, wo geschwollen geredet wird, Kundenbindungsprogramm, und sie werden nicht mehr geklebt, sondern sind digitalisiert. Ein Programm heißt auch geradewegs „Happy digits“. Ich habe sie bei der Telekom bekommen, jener Telefon-Aktiengesellschaft, deren Leistungen ich jahrelang gegen überteuerte Rechnungen in Anspruch genommen habe. Erst als die Kunden wegliefen, sind die Tarife gesenkt worden. Ich telefoniere nicht viel weniger als früher, aber ich zahle trotz Surfen im Internet nur noch die knappe Hälfte des Preises von früher (mein Sohn meint, es sei noch immer zuviel). Anfangs konnte man sich die Happy digits auf die Telefonrechnung anrechnen lassen. Doch bei den Preisen fiel das kaum ins Gewicht. Seit Jahren schon kann man seine Digits im Grunde nur gegen Prämien einlösen. Die Bedingungen sehen zwar die Auszahlung von Geld vor, aber erst von mindestens 1000 Digits an. Da man die Punkte nicht unbegrenzt horten kann – sie verfallen nach drei Jahren –, habe ich sie gegen einen Wecker eingetauscht. Der Wecker ist, versteht sich, hoch digitalisiert und ein rechter Tinnef. Ich bin noch immer damit beschäftigt zu lernen, wie man die Alarmzeit einstellt. Was „snooze“ ist, weiß ich inzwischen. Vorläufig stelle ich in Hotelzimmern lieber meinen Jahrzehnte alten mechanischen Wecker auf; von dem weiß ich, daß er vernehmlich funktioniert. Und seine zwei Funktionen kann ich überblicken. Dafür passiert es mir nicht wie in den achtziger Jahren in San Diego, daß ich beinahe den Marathonstart verpaßt hätte; ich hatte nicht beachtet, daß der digitale Wecker in der eingebauten Nachtschränkchen-Uhr auf p. m. statt auf a. m. gestellt war. Wie konservativ muß ein solches Land sein, in dem man sich der Vierundzwanzigstunden-Zeitrechnung verweigert! In Zimmern mit LAN-Funktion und neben dem Laptop nimmt sich mein Aufzieh-Wecker geradezu archaisch aus. Muß ich fürchten, daß auch andere Rabattprämien von der Art meiner digitalen Weck(werf)uhr sind?

Zu jedem Rabattprogramm gehört auch eine Kundenkarte. Damit machte ich erstmals bei Bloomingdales in New York Bekanntschaft. Dieses Kaufhaus hatte die Teilnehmer am New York Marathon eingeladen, es zu besuchen und ein Andenken in Empfang zu nehmen. Das bestand in einem kleinen, durchaus nützlichen Handtuch, das sich der Kleinbürger in mir nicht entgehen ließ, und in der Zusendung einer Mitgliedskarte des Bloomingdales International Club. Jahrelang schickte mir Bloomingdales in der Vorweihnachtszeit seinen jährlichen Katalog. Auf diese Weise erfuhr ich immer schon jahrelang vorher, welcher Kitsch demnächst auch in deutschen Landen landen würde. Die Amerikaner hatten damals schon ganze Kartenspiele solcher Kundenausweise in ihren Brieftaschen. Jetzt habe ich sie auch, und die Hersteller von Portemonnaies und Brieftaschen haben längst die dafür passenden Schlitze eingearbeitet. Doch für all die Karten, einschließlich der unverlangt gesendeten, reichen sie nicht.

Jedes Unternehmen, das im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen will, gibt eine Karte aus. Die Karte der Deutschen Bahn heißt BahnCard, und man muß sie kaufen. Merkwürdigerweise bekommt man eine BahnCard erheblich schneller als einen neuen Personalausweis oder Reisepaß, obwohl der technische Vorgang, die Integration eines Paßphotos in ein Stück Plastik, derselbe ist. Ich habe eine Microsoft Card und die Shop-Card eines Software-Herstellers. Ich habe eine Postcard, nicht zu verwechseln mit einer Postkarte, und es ist ein erhabenes Gefühl, nicht verlassen zu sein, wenn man eine Briefmarke braucht und kein Geld einstecken hat. Doch immer, wenn ich meine Geldbörse vergessen hatte, brauchte ich gerade keine Briefmarke, zumal da ich ja e-mails schreibe. Ich habe eine Miles & More-Card der Lufthansa und mir eingebildet, mit meinen Marathon-Flügen würde ich vielleicht einmal einen Freiflug erfliegen. Meine Erwartungen waren ebenso übertrieben wie meine Gier nach einer freien Übernachtung in zwei Hotelketten, von denen ich Karten habe und jährlich ein buntes Magazin bekomme. Von einem infolge der Rentner-Enteignung längst aufgelösten Fonds besitze ich eine Service-Card, so daß ich nach wie vor die Hotline in Anspruch nehmen könnte. Nur fürchte ich, daß der Beginn der Rezession dort auch nicht angekündigt wird. Seit ich für 80 Euro in einem Baumarkt eingekauft habe, bin ich dort Großkunde, selbstverständlich mit entsprechender Karte. Als Kleinverleger darf ich bei Metro einkaufen, unabdingbar ist die Kundenkarte; denn die Kassenwartin scant nur noch die Strichcodes an den Waren; mit Karte zahlen oder mit Kundenkarte abbuchen lassen, muß man selber. Seriös sind außer Bank- und Kreditkarte, die ich schon in der Sporthose mitgeführt habe, auch die Karten, die mir die Benützung der Württembergischen Landesbibliothek, der Stuttgarter Uni-Bibliothek und des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N. sowie der Stadtbücherei Esslingen, falls ich dort meinen Jahresbeitrag an die Kommune entrichte, gestatten. Merkwürdigerweise sind das keine Reading Cards, sondern schlicht eine Lesekarte, eine Leihkarte oder ein Benutzerausweis. Bei der Privatisierung dieser Institute würde sich die Bezeichnung im Nu ändern, doch diese Institute, obwohl sie gut besucht sind, will ja keine von den Heuschrecken haben.

Die vorletzte Karte, die ich bekommen habe, war mir vom Stromversorger zugesandt worden. Früher wäre das ein kommunales Elektrizitätswerk gewesen. Doch die Werke, die den Strom für die Bürger vor deren Haustür mit Hilfe von Wasserkraft produzierten, sind stillgelegt. Statt dessen sind einige wenige Energieversorgungsunternehmen mit dem Charakter von Monopolisten geschaffen worden. Das meinige, EnBW, trägt den Wettbewerb mit unbedeutenden Konkurrenten nicht über den Preis aus, wie das den Schöpfern der sozialen Marktwirtschaft vorgeschwebt hatte, sondern über ein Kundenmagazin und die Erfindung einer Rabattkarte namens SüdBest, über die man Bonuspunkte erwerben kann. Ich könnte bei meiner AOK SüdBest-Punkte bekommen, wenn ich nicht schon in deren eigenem Bonusprogramm wäre. Da ich weder bei McDonalds esse noch den Freizeitpark Spieleland besuche, kein Auto miete und keine VfB-Spiele sehe und sofort, tue ich mich schwer mit dem Erwerb von SüdBest-Punkten. Doch die Freie Tankstelle, bei der ich im Schnitt jeden Monat einmal tanke, hat sich dem SüdBest-Programm angeschlossen. Auf diese Weise habe ich in den letzten anderthalb Jahren Punkte im Wert von 6,70 Euro angehäuft. Dieser Tage habe ich eine neue SüdBest-Karte zugeschickt bekommen; SüdBest ist eine Partnerschaft mit den glücklichen, wollte sagen: Happy Digits eingegangen. Ob das wohl ein Indiz dafür ist, daß der Slogan „Baden-Württemberg punktet“ ein wenig zu vollmundig gewesen ist? Nun kann ich die Punkte von Telekom und meiner Tankstelle kumulieren.

Doch wenn ich bedenke, welchen Zeitaufwand mir diese Kundenbindungsprogramme mit ihren Prospekten, Informationen und womöglich Blick in die Internetseiten verursachen und wo überall meine Daten gespeichert sind und gehandelt werden, meine ich, das Gescheiteste wäre gewesen, alle diese Kundenkarten sofort in den Papierkorb zu hauen, so wie man das mit den Preisausschreiben macht. Denn den Gefallen, nun Einkäufe nur dort zu machen, wo es Punkte gibt, tue ich den Erfindern nicht. Wenn ich weiterhin bedenke, welch riesigen Aufwand die Betreuung dieser Kundenbindungsprogramme mit Karten- und Prospektversand, mit Lesegeräten und Kontenverwaltung erfordert, meine ich, daß man dafür lieber die Preise hätte senken können. Mag sein, daß in den Firmen, die diese Bonusprogramme organisieren, ein paar Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Wir produzieren mit immer weniger Menschen, und wir verwalten mit immer mehr Menschen.

Einsehen kann ich, daß Vereine und Verbände ihre Mitgliedsausweise in Form von Karten ausstellen. Falls man wirklich einmal seinen Ausweis mit sich führen muß – den ADAC-Ausweis unbedingt –, hat man dann keinen Lappen in der Jackettasche, sondern eine unempfindliche Plastikkarte. Doch auch hier kommt es zu Ausuferungen. Der Hamburg-Marathon, wie er ohne Sponsor derzeit heißt, hat mich, weil ich in Hamburg Marathon gelaufen bin, vor Jahren zum Mitglied des Clubs Marathon Hamburg gemacht, mit Karte, versteht sich, und mit dem Hinweis: „Bitte zeigen Sie Ihre persönliche Club Marathon Hamburg Mitgliedskarte auf Anfrage vor.“ Bisher hat mich noch keine Anfrage ereilt. Auf der wohl längst verstaubten Homepage des Clubs habe ich gelesen, daß der Club Marathon Hamburg mit 65 000 Mitgliedern der größte Marathon-Club Deutschlands sei. Kunststück, wir alle sind Zwangsmitglieder.

 

Was bietet der Club? Konkret nur eine Bestpreisgarantie, falls man bei einem regionalen Reiseveranstalter eine Reise bucht. Und sonst nur die Versprechung: „Viele weitere, tolle Angebote sind in Vorbereitung!“ Heiße Luft im kühlen Norden. Nimmt denn keiner die Seite vom Netz und löst den größten Marathon-Club Deutschlands auf? Dann kann ich nämlich die Karte ohne Hemmung wegwerfen. Ach nein, Plastik muß man ja „entsorgen“.

Ein „Kundenbindungsprogramm“ könnte ich mir für das Laufen durchaus vorstellen. Die Mitglieder des 100 Marathon Clubs horchen auf. Wenn man ein Dutzend Marathons im Jahr läuft, wäre es nicht mehr als recht und billig, hier einen Mengenrabatt zu geben. Man könnte mit Plastikkarten sogar die Verpflegungsstruktur rationalisieren und damit verbilligen. Erst wenn man die in der Sporthose mitzuführende Running Card – so heißt sie selbstverständlich – in ein Lesegerät eingeführt hat, darf man zulangen. Mehr als sechs Zugriffe je Marathon sind nicht gespeichert. Die Hyponatriämie, die Natrium-Ausschwemmung durch zuviel Trinken, würde vermieden. Doch wie finanziert man den Startgeld-Bonus der Running Card? Man erhöht das Startgeld. In der Wirtschaft ist es doch gang und gäbe, daß die Werbung einschließlich der Bonusprogramme von den Kunden bezahlt wird.

Eintragung vom 31. August 08

Ich will wahrhaftig keinen Kulturkampf seligen Angedenkens an Bismarck eröffnen, ich will nur Dr. Manfred Lütz in die Schranken weisen. Seine religiösen Überzeugungen gingen mich nichts an, wenn er nicht selbst mit seinen Publikationen die Öffentlichkeit suchte. Mein Tagebuch wäre auch kein Forum für die Auseinandersetzung mit ihm, wenn er uns, die Gesundheitsbewußten, nicht aufs Korn nähme. Seine These, der „Gesundheitswahn“ habe religiöse Züge angenommen, macht ihn gesundheitspolitisch gemeingefährlich. Sein Buch „Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitneß-Kult“ ist ein Bestseller. Wahrscheinlich also wird sein Buch von denjenigen, die ein schlechtes Gewissen hätten, als Rechtfertigung ihrer Lebensweise empfunden.

Gewiß kann man sich lustig machen über Menschen, denen ihr Zipperlein der Nabel der Welt ist. Nicht wenige in der Laufszene machen sich auch lustig über Sportfreunde, die am Start über ihre jüngsten Verletzungen wehklagen. Hypochonder hat es auch früher schon gegeben; Molière hat sie mit dem „Eingebildeten Kranken“ aktuell bis heute karikiert. Was jedoch Dr. Lütz, Chefarzt in Köln und katholischer Diplom-Theologe, mit seinen Thesen bewirken möchte, steht im Widerspruch zum Zeitalter der Aufklärung, das zumindest Mitteleuropa geprägt hat. In jener geistesgeschichtlichen Tradition haben Gesundheitslehrer von Hufeland über Pfarrer Kneipp, Bircher-Benner bis Max-Otto Bruker, der im übrigen ein religiöser Mensch war, Aufklärung betrieben. Nichts lag ihnen ferner als Sadismus und Wahnvorstellungen oder auch nur, der Gesundheitsvorsorge religiöse Weihen zu geben.

Als ich mich im Internet über Dr. Manfred Lütz informierte, stieß ich auf eine Tagebucheintragung, in der er das Christentum als die sinnlichste Religion aller Zeiten bezeichnete. Mir haben sich die Haare gesträubt. Habe ich meine katholische Jugend nur geträumt, die Zerknirschungen im Beichtstuhl, die Leibfeindlichkeit? Sinnlichkeit ist zwar mehr als Sex, aber Sex setzt Sinnlichkeit voraus. Unkeusches auch nur zu denken, hat der Katechismus meiner Jugend als Sünde eingestuft. Im Religionsunterricht wurde Masturbation ausdrücklich als Todsünde gebrandmarkt. Versteht der Diplom-Theologe Lütz unter Sinnlichkeit nur das Glas Wein oder auch zwei? Frauen mit nackten Armen oder gar in Shorts durften die Kirche nicht betreten, es sei denn, sie kaschierten ihre Entblößung zuvor mit einem Schal oder dergleichen. Welches Mißtrauen gegenüber möglicher Sinnlichkeit!

Gerade die katholische Tradition sei „entgegen dem gängigen Klischee“ immer schon außerordentlich sexualfreundlich gewesen, meint Dr. Lütz. Ja, wenn er an die mittelalterlichen Päpste denkt... Doch das Volk ist in dieser Beziehung kurz gehalten worden. Die unzähligen Gretchen-Tragödien, die gesellschaftliche Ächtung unehelicher Mütter, wären ja nicht denkbar ohne die rigide Haltung der katholischen Kirche zum Sexualleben. In der „Teufelsbuhlschaft“, einer häufigen Anklage in Hexenprozessen, ist Sex im Sinne des Wortes verteufelt worden – typischer Fall einer Projektion von zu kurz Gekommenen. Dr. Lütz beruft sich auf Teresa von Àvila, die „Gottesvisionen von erotischer Kraft“ hatte. Gewiß doch, gerade wegen der Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche hat sich die Erotik immer wieder durch die Sakristeitür eingeschlichen. Sie ist umgelenkt worden auf Marienkult und erotisch getönte Anbetung des „lieben Jesulein“. Der antike Phalluskult kehrte in dem Kult wieder, der um das Praeputium Christi, die Vorhaut, betrieben wurde. Die Zeit der Flagellanten muß eine hohe Zeit der Sinnlichkeit für Masochisten gewesen sein. Figuren des Alten und des Neuen Testaments lieferten den Malern immer wieder Nacktmotive. Bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat einem Autor, Franz von Baader, eine „Theologie der Erotik“ vorgeschwebt. Dr. med. Dr. phil. Klaus Thomas hat in seinem „Handbuch der Selbstmordverhütung“ darauf hingewiesen. Thomas verkörpert die seltene Personalunion von Arzt, Pädagoge, Psychologe und Theologe. Selbst er hält resignierend fest: „Weit über die Hälfte unserer Ratsuchenden hatten dem christlichen Glauben den Rücken gekehrt, weil seine Vermittler ihnen lebensbejahende Erotik und aufrichtige Nachfolge Christi durch ihre Worte oder ihren Gesamteinfluß als unvereinbar gekennzeichnet haben.“

Kennt der Psychiater Dr. Lütz keine Kasuistik „ekklesiogener Neurosen“, einen Begriff, den Eberhard Schaetzing 1955 geprägt hat? Es mag sein, daß deren Zahl erheblich zurückgegangen ist, aber doch bloß, weil so viele Menschen von der Kirche abgefallen sind. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“ kann Dr. Lütz über eine Vergleichsstudie „Schizophrenie und Religiosität“ lesen. Danach hat jeder dritte Schizophrenie-Patient Wahnvorstellungen, die religiös gefärbt sind. Der Verfasser, der Psychiater Michael Pfaff, kommt zu dem Schluß, daß der religiöse Wahn kulturbedingt sei. Im stark katholisch geprägten Regensburg litten die Menschen doppelt so häufig unter religiösen Wahnvorstellungen als Schizophrenie-Patienten im damaligen eher atheistischen Ost-Berlin.

Wie vereinbart Dr. Lütz seine Behauptung, die katholische Tradition sei außerordentlich sexualfreundlich, mit dem Verbot der Empfängnisverhütung? Als katholischer Theologie muß er doch die Haltung der katholischen Kirche vertreten: Kein Sex vor der Ehe! Nicht von ungefähr begünstigt sexuelle Unterdrückung sexuelle Aberrationen; inzwischen ist öffentlich geworden, daß Sexual-Vergehen im katholischen Klerus keine seltenen Einzelfälle gewesen sind. Das alles kann man doch nicht übersehen, wenn man sich mit der Haltung der Kirche zur Sexualität befaßt. Mag ja sein, daß man im katholischen Rheinland, wo Dr. Lütz lebt, den karnevalistischen Seitensprung eher verzeiht als in der Diaspora vorehelichen Sex.

Nochmals: Ich will gläubigen Menschen nicht zu nahe treten. Ich will nur die Angriffe von Dr. Lütz zurückweisen. Zum Glück gibt es auch in der Laufbewegung genügend gläubige Menschen, einschließlich Geistlicher, die Spiritualität sehr wohl mit Sport und Gesundheitsvorsorge vereinbaren können. Auch sie laufen nicht, um dem Tod davonzulaufen, wie Dr. Lütz unterstellt. Vermutlich halten sie es mit der Kirchenlehrerin Teresa von Àvila, die Dr. Lütz ja als Kronzeugin der Sinnlichkeit in der katholischen Kirche anführt: „Tue deinem Leib Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“

Eintragung vom 22. August 08

Olympische Spiele – meine distanzierte Haltung zu dem IOC-Unternehmen samt angeschlossenem Berufsförderungswerk ist bekannt. Das ändert nichts daran, daß ich Respekt habe vor Sportfreunden, die nicht schlafen gegangen oder nachts aufgestanden sind, um im TV die Life-Übertragung von Wettbewerben zu sehen. Wie Heinz Spies, der sie auf seiner Website Marathonis Lauftipp kommentiert hat. Muß man daran erinnern, daß Heinz Spies einer der deutschen Laufpioniere ist? Er hat, wie ich lese, bereits 1952 mit dem Lauftraining begonnen und als Trainer von 1960 an die Waldnieler Methode van Aakens praktiziert. 1966 organisierte er den ersten norddeutschen Volkslauf, und 1983 rief er den Bremen-Marathon ins Leben. Dabei hat er die Bezeichnungen „Marathoni“ und „Marathona“ erfunden. Marathonis Lauftipp ist die Nachfolgeseite des Trainingsmix2000plus. Mit Sicherheit werde ich die Seite in den nächsten Monaten immer wieder anklicken, bereitet sich doch Heinz Spies trotz fünf Herzinfarkten wieder auf einen Marathon im Jahr 2009 vor.

Am 18. August die Wiederholung einer Sendung des Südwestrundfunks gehört: „Körper im Dauerstreß – Die neue Sportlichkeit“. Wir sind gemeint. Was folgt nach dieser provokativen Behauptung? Aussagen über Bewegungsmangel. Angeblich verbringen die Deutschen, so die Autorin, fast vier Stunden täglich vor dem Fernsehgerät (einen solchen Durchschnitt vermag ich, der ich kaum auf vier Stunden TV in der Woche komme, nicht zu glauben). Nach Professor Klaus Roth bewegen sich Kinder nur noch gut eine Stunde am Tag und davon höchstens 30 Minuten sportlich. Zudem sei die Alltagsmotorik zurückgegangen, das heißt die Kinder würden zuviel gefahren. Folgen seien Übergewicht und Gefäßverdickungen. „Dies alles läßt darauf schließen, daß wir später keine gesunden Erwachsenen haben werden.“ Die Autorin faßt die Erkenntnis, daß vielseitige koordinative Aktivitäten im Kindes- und Jugendalter einen entscheidenden positiven Einfluß auf die Neurogenese hätten, mit den Worten zusammen: „Das heißt, durch die regelmäßige, abwechslungsreiche Bewegung, durch die Entwicklung körperlicher Geschicklichkeit, werden Nervenbahnen geknüpft, erneuert und stabilisiert, die nicht nur körperliche, sondern offenbar auch intellektuelle Fähigkeiten steuern. Diese Erkenntnis gilt im übrigen bis ins hohe Alter; auch im fortgeschrittenen Alter profitieren Geist und Körper von einem regelmäßigen Training.“ Und so geht das weiter, nach Klaus Roth äußern sich Dr. Karen Petry und Professor Ingo Froböse, beide von der Kölner Sporthochschule, positiv über die Wirkungen sportlichen Trainings. Aber lautet der Titel der Sendung nicht „Körper im Dauerstreß“? Um diese These zu stützen, muß wieder einmal der angeblich humorvolle Psychiater und katholische Diplomtheologe Dr. Manfred Lütz herhalten (Titel seines Bestsellers: „Lebenslust – Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitneß-Kult“). Sein Vier-Zeilen-Statement in dieser knapp halbstündigen Sendung lautet: „Der Anreiz in diesem ganzen Bereich ist, je mehr man für seinen Körper tut, je mehr man für Fitneß tut usw., desto mehr kann man sozusagen so etwas wie das ewige Leben sich erlaufen, wie das früher bei den Ablässen oder Wallfahrten war. Hinzu kommt, daß ... das Ego von Menschen sich über den Sport vielfach definiert.“ Wer Dr. Lütz zum Kronzeugen für „Körper im Dauerstreß“ anruft, sollte vielleicht dessen sonstige Aussagen hinterfragen. Ich werde noch darauf zurückkommen.

Der Sportsoziologe Professor Karl-Heinrich Bette findet auf ein Stichwort der Autorin hin: „Für Menschen, die vielleicht momentan ohne feste Bindung leben oder Lebenskrisen zu bewältigen haben, ist das ein Halt, den der Sport bietet. Und das kann dazu führen, daß man diesen Halt auch nicht aufgeben möchte. Und das führt dann beispielsweise zu einem Marathontourismus. In bestimmten Szenen gibt es dann auch Vereine mit Leuten, die schon 100 Marathonläufe gelaufen sind. Und das ist natürlich dann eher als bedenklich einzuschätzen.“ Natürlich. Wenn das doch ein Sportsoziologe sagt. Welche Vereine mit Leuten, die schon 100 Marathonläufe gelaufen sind, meint er eigentlich? Ich kenne nur einen einzigen, den 100 Marathon Club. Marathontourismus scheint ebenfalls etwas Verwerfliches zu sein. Dann doch lieber Ballermann-Tourismus.

Sieht man von eher wertneutralen Erörtungen über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung des Sports ab, so beschränkt sich die These vom Körper im Dauerstreß auf die Mahnung von Professor Froböse, nicht so sehr den Leistungscharakter in den Vordergrund zu stellen, und auf die Aussage der Autorin: „Viele Menschen überfordern sich, quälen sich an Fitneßgeräten, auf Mountainbikes und beim Joggen, weil sie es verlernt haben, ihre körperlichen Reaktionen richtig zu bewerten und einzuordnen“, und nach dem Hinweis von Froböse auf eine Analyse von 80 Läufern im Kölner Stadtwald, die zu Dreiviertel zu schnell unterwegs gewesen seien, fährt sie fort: „Außerdem entwickeln Menschen, denen der Zuwachs an Wohlbefinden nie wirklich reicht, ein geradezu süchtiges Verhalten. Mit wunden Fußsohlen und völlig abgemagert landen beispielsweise Lauf-Süchtige beim Arzt.“ Also, das muß ja furchtbar sein, wenn die Leute mit wunden Fußsohlen trainieren, mir war das bisher nur von Mehrtageläufen bekannt. Und dann noch Gewicht verlieren, was ja kein Mensch wirklich will!

Auf Sätze dieser Qualität also stützt sich die auf den ambitionierten Freizeitsport gemünzte Behauptung „Körper im Dauerstreß“. Die Sendung in der Reihe Wissen – als Menschenfreund und mangels Rechtsabteilung unterschlage ich den Namen der Autorin und der Redakteurin – ist von einer öffentlich-rechtlichen Anstalt verbreitet worden, die Tausenden von Menschen versprochen hat, sie in einem einjährigen Crashkurs „von null auf zweiundvierzig“ zu bringen.

Eintragung vom 15. August 08

Nach dem Unglück am 13. Juli an der Zugspitze habe ich die Frage aufgeworfen, ob man nicht auch die Ausrüstung verbessern könne, nämlich sie so zu gestalten, daß Bergläufer Schutzkleidung möglichst ohne Behinderung mitführen können. Im Notfall, bei einem Wetterumschlag also, sollte sie dann ihre Schutzfunktion erfüllen. Denn das zentrale Problem scheint mir die Gefahr der Unterkühlung zu sein. Nicht durch die Anstrengung, sondern erst durch Unterkühlung kann es bei gesunden Trainierten zu lebensgefährlichen Zuständen kommen. Auf meine Wunschvorstellungen, eingeschlossen auch der Wunsch nach bergfesten Trailschuhen, haben etliche Leser mit konkreten Hinweisen geantwortet.

Lars hat mich auf die französische Firma Raidlight aufmerksam gemacht. Deren Produkte seien sehr gut für Landschaftsläufe, auch für anspruchsvolle, geeignet. Die Schuhe seien mit einer vernünftigen Sohle ausgestattet. Lars benützt einen Rucksack von Deuter, den Race lite 15, der wie eine zweite Haut anliege. Sein Fazit: „Ich gebe dir jedoch recht, wenn du schreibst, die großen Hersteller richten ihre Kollektion immer mehr auf Stadtmarathon aus.“

Ich habe mir die Website von Raidlight angesehen und um einen Katalog gebeten. Das Problem scheint mir noch zu sein, daß die Firma kein internationales Marketing betreibt. Auf der Messe des Swiss Alpine war wieder Salomon vertreten, nicht aber Raidlight. Wie der Website zu entnehmen ist, ist Raidlight erst 1999 durch Benoit Laval gegründet worden, einen Outdoor-Spezialisten. Daran zeigt sich, daß zumindest bis dahin eine Marktlücke bestanden hat.

Maya, die vom Bergsteigen herkommt, schrieb mir (gekürzt): „Es gibt schon extrem gute, leichte, wasserabweisende, windfeste Jacken heutzutage. Ich gebe aber zu, daß ich sie bei unserem Laufladen auch nicht sehe. Ich glaube, da sie recht teuer sind, werden sie nicht viel verkauft. Und das Berglaufsegment ist noch kleiner als das der Feldwaldwiesenläufer, und schon davon scheint der Einzelhandel mehr schlecht als recht zu leben (die großen Ketten verkaufen ja sowieso nichts ,Spezielles’).

Zu Hosen, die abtrennbar sind: Die Firma Pearl Izumi (bisher eher bekannt unter Radlern) verkauft Beinlinge, Armlinge und Knielinge, mit denen man kurze Tights und T-Shirts verlängern kann. Die entsprechenden kurzen Hosen von PI haben dann noch eine Art Gummierung am Beinsaum der Hose und am Beinling, damit dieser nicht runterrutscht. Von der Stoffdicke ist so ein Beinling etwa eine Winterhose, unten hat er einen Reißverschluß, so daß man zum Anziehen nicht mal die Schuhe ausziehen muß.

Es gibt also immer wieder Sachen, von denen man nichts weiß, bis man zufällig (manchmal in anderen Sportarten) darüber stolpert. Ich glaube, die Franzosen sind da viel fixer als wir. Oder hast du schon mal in Deutschland im Laufladen Läufergamaschen gesehen? (Sehr praktisch, wenn’s schuttig und geröllig wird, aber auch sehr warm).“

Markus, dessen Brief unter den Leserbriefen veröffentlicht wird, empfiehlt, sich bei Bergausrüstern umzusehen.

Eines ist mir klar geworden: Wer an Bergläufen teilnimmt, muß auch seine Ausrüstung darauf einstellen. Insofern muß ich mich an der eigenen Nase fassen. Wie wohl die meisten Läufer bin ich zum Swiss Alpine und zu anderen Bergläufen wie zum Stadtmarathon gestartet, außer daß ich Schuhe mit Geländeprofil gewählt habe und auf UV-Schutz bedacht war. Gegenwärtig genügt es leider nicht, in den nächsten Laufshop zu gehen und sich dort für den Berglauf ausrüsten zu wollen. Man muß sich selber informieren.

Eintragung vom 8. August 08

Aus Davos zurückgekehrt, habe ich einiges an Berichten über den Swiss Alpine gelesen. Dabei auch wieder mit Vergnügen Powerschneckes Kommentar (100MarathonClub). Im Gegensatz zu anderen Plauderern (Spiegel-online, „Runner’s World“), die ihren Witz aus grotesken Überzeichnungen beziehen müssen, gründet Schneggi seinen Witz unambitioniert auf eigene Beobachtung bei Läufen; er ist damit der Szene ganz nah, ja, er ist Teil der Szene, wobei er mit Erfolg sein intellektuelles Format hinter seiner Mundart-Orthographie versteckt. Einen großen Lauf wie den Swiss Alpine mit den Augen eines kleinen Mannes beschrieben zu sehen, hat mir besonderes Vergnügen bereitet. Doch am Schluß seines Berichtes über den Kampf mit verschärften Durchgangszeiten bricht Schneggi aus seiner selbst gewählten Rolle des Komikers aus und wird ernst. Was war geschehen? Beim K 78 sind besonders viele Läufer aus dem Rennen genommen worden, darunter auch solche, die wie Schneggi bereits gezeigt haben, daß sie die Strecke innerhalb von 12 Stunden bewältigen können. Schneggi zählt zu denjenigen, die sich über die Weisung, den Lauf zu beenden, hinweggesetzt haben und dreist weitergelaufen sind. So habe ich mich einmal beim Défi verhalten, als ich eine Durchgangszeit überschritten hatte; ich bin innerhalb der zulässigen Zeit ins Ziel gekommen. Doch ich kenne das bange Gefühl unterwegs: Werden sie dich disqualifizieren und aus der Wertung nehmen? Bitterkeit kommt auf: 1999 wurde ich beim K 78 an der Keschhütte aus dem Rennen genommen; ich hatte die Durchgangszeit, die damals allerdings noch bei 16 Uhr lag, um wenige Minuten überschritten. Ich wagte damals nicht, mich zu widersetzen, schon weil man in solchem Gelände nie weiß, ob man nicht vielleicht Hilfe benötigt.

Die rigorose Entfernung derjenigen K-78-Läufer, die Filisur nicht bis 11.40 Uhr, Bergün 12.50 Uhr, Chants 14.05, Keschhütte 15.30 und Dürrboden bis 17.50 Uhr erreicht hatten, wurde von vielen deshalb als unfair empfunden, weil es verschiedentlich zu Stauungen und damit Wartezeiten gekommen war, infolge des gemeinsamen Starts von K 78, C 42 und K 31 schon bei km 10. Eine solche Stauung kenne ich vom Berglauf Sierre - Zinal, aber sie hat dort keine Bedeutung für die Erreichung des Ziels.

Schneggi rügt, daß Andrea Tuffli bereits im Vorfeld auf die Probleme hingewiesen worden sei und dennoch an den verschärften Zwischenzeiten festgehalten habe. In einer Erklärung kündigt er nun an, daß man im nächsten Jahr zu den vormaligen Streckenschlußzeiten (Bergün 13.00 Uhr, Keschhütte 15.40 Uhr) zurückkehren werde. Mußte man wirklich erst die zehn Minuten abknapsen? Zehn Minuten weniger Zeit zu geben bedeutet immer auch, einigen Teilnehmern mehr, die ausscheiden müssen, die Freude am Ereignis zu nehmen und etliche weitere in Streß zu versetzen. Ist es an der Zeit, davor zu warnen, die Interessen der Organisation höher zu stellen als die der Teilnehmer?

Den 2008 aus dem Rennen genommenen K-78-Teilnehmern sichert Andrea Tuffli Finisherhemd, Medaille und den Freistart im nächsten Jahr zu. Das macht schon mal einen Einnahmeverlust von schätzungsweise 15000 Euro. Schneggi meint: „Bravo, diesen Saltorüggwärts muß man anerkennen. Abschließend hoffe er (Andrea Tuffli), daß man dem SAM die Treue halte – aha, hier liegt der Köter begraben, er hat Angst, daß die Kunden ausbleiben, nämlich die Lahmen hinten im Feld sind ja oft die Wiederholungsläufer – vielleicht schwant ihm auch endlich, daß die K78iger nicht auf den K42iger umsteigen möchten.“ Wenn man bedenkt, daß der K 78 als Kernstück des Swiss Alpine angesehen wird, dann sind 840 Zieleinläufe nicht sehr viel, weniger als beim K 42.

Das Etikett beim C 42 lautet: der erste Kulturmarathon der Schweiz. „Gehen und sehen in einem ausgesprochen reizvollen Kultur- und Landschaftspark.“ Aus eigener Erfahrung weiß ich nun, daß der Kulturmarathon mit Gehen nicht zu schaffen ist, und wer ihn zügig läuft, kann sich nicht allzuviel Sehen leisten.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als habe der Swiss Alpine auf eine Selektion des hinteren, lästigen Feldes zugesteuert. Wer nur das Potential hochleistungsfähiger Läufer im Auge hat, muß – wie nicht nur Schneggi meint – eine hohe Teilnehmer-Fluktuation in Kauf nehmen. Die Läuferinnen und Läufer, die das Renngeschehen prägen, bauen selten eine Bindung über Jahre auf. Wie wertvoll solche Bindungen sind, zeigt das Benefit von Biel und dem Rennsteiglauf.

Auf der Website des Swiss Alpine finden sich Links auf einschlägige Veröffentlichungen. Darunter ist auch eine in dem Internet-Magazin schwarzaufweiß. Der Reportage entnehme ich mit Staunen, daß zur Schatzalp ein „Bimmelbähnchen“ verkehre. Die Autorin heißt Ulla Ackermann. Moment, da war doch was? O ja, jene Kriegsreporterin und Afrika-Korrespondentin, deren Buch „Mitten in Afrika“ 2005 vom Verlag eingestampft worden ist, weil sich die angebliche Biographie als Fälschung erwies. Ulla Schmitz, wie sie sich dann nannte, gelobte an ihrem neuen Wirkungskreis Spiekeroog Besserung. Angesichts des Bimmelbähnchen statt der vor zwei Jahren modernisierten Standseilbahn kommen Zweifel auf. In Davos hat man sie offenbar nicht; auch Persenn und Rischa, die der Reisejournalistin unterlaufen sind, haben die Zitierfähigkeit nicht gemindert. Auch die Spuren Thomas Manns – so ihr Thema – hat sie wohl nicht ganz getroffen. Und andere schreiben nach.

Sicher, man kann nicht jede Information selbst recherchieren. Zu erwarten ist jedoch zum Beispiel, daß wer über Thomas Manns „Zauberberg“ schreibt, ihn auch gelesen hat. Zwar kann man sich das Ambiente des Mann’schen Zauberberg-Sanatoriums Berghof so vorstellen, wie es sich im historischen Hotel Schatzalp präsentiert, und fast wäre Hans W. Geißendörfers Zauberberg-Film ja auch in der Schatzalp gedreht worden, aber der Schauplatz des Romans „Der Zauberberg“ ist, auch wenn die topographische Lage absichtlich verfremdet ist, einwandfrei das heutige Waldhotel Davos, das damalige Waldsanatorium des Professors Jessen. Schließlich hat Thomas Mann, als er seine Frau Katia im Waldsanatorium besuchte, in der gegenüberliegenden Villa am Stein gewohnt.

 

Der im vorigen Jahr ausgeschilderte Thomas-Mann-Weg ist über die Zufahrt zum Waldhotel Davos zu erreichen und nicht mit dem „Bimmelbähnchen“ zur Schatzalp. Bei den Bauarbeiten im Jahr 2006 hat die von der schwäbischen Besitzerfamilie beauftragte Architektengruppe versucht, die Anklänge an das historische Interieur wieder zu verstärken. Die „Schatzalp“ kommt im Roman auch vor, jedoch nur als Hinweis von Hans Castorps Vetter Joachim Ziemßen, daß die im Schatzalp-Sanatorium Verstorbenen im Winter über die Bobbahn zu Tal befördert würden.

Vor zwanzig Jahren war ich sicher einer der ersten Läufer, die im Hotel Schatzalp logierten. Uns entzückte der Blick auf die Bergkette, der Blick auf die häßlichen Hauswürfel von Davos bleibt einem hier erspart. Uns entzückte, daß sich im Zimmer noch ein Säckchen mit Kirschkernen befand. Das auf der Heizung erwärmte Säckchen hatte den Tuberkulosekranken dazu gedient, sich die kalten Füße zu erwärmen. Noch bevor das Hotel Schatzalp nach dem Verkauf im Sommer geschlossen worden war, zog ich um – nämlich zum echten Zauberberg, zunächst Thomas Manns wegen; sofort jedoch lernte ich das Restaurant schätzen. Auf der Schatzalp nämlich durften wir im Jugendstil-Speisesaal nur frühstücken; das Abendessen jedoch gab es im danebenliegenden Ausflugslokal. Als ich schließlich nach dem damaligen 67- oder real 72,1-km-Lauf über den Sertigpaß zum Abendessen erst gegen halbneun erscheinen konnte, die Küche geschlossen war und ich, mich auf das wohlverdiente Menü freuend, mit Mühe und Not mit Brot und Käse abgespeist wurde, geschweige denn, daß mir jemand auch nur beiläufig zum erfolgreichen Bestehen gratuliert hätte, brachte dies das Faß zum Überlaufen. Heute, nach Jahren des Niedergangs, soll das anders sein, wie ich gelesen habe; da sind die Swiss-Alpine-Läufer als Zielgruppe erkannt. Für mich und andere zu spät. Im Verlauf meiner zehn Jahre im Waldhotel Davos, wo ich auch wieder zunächst ein bunter Vogel gewesen war, hat sich inzwischen ebenfalls eine Läuferklientel etabliert. Und abends nach dem Lauf, auch um neun Uhr noch, setzen wir uns in unseren Finisher-Hemden medaillengeschmückt zu Tische, feiern mit einem Gourmet-Menü den erlebnisreichen Tag und müssen viele Hände drücken.

Eintragung vom 29. Juli 08

Die Bedingungen beim 23. Swiss Alpine sind optimal gewesen. Über 4500 Teilnehmer der verschiedenen Wettbewerbe können es bestätigen. Es gibt keinen Grund, drum herum zu reden, daß mein Vorhaben gescheitert ist. Ich wollte den C 42 bestehen, den Lauf von Davos nach Tiefencastel.

Ermutigt fühlte ich mich dadurch, daß für dieses Jahr die Streckenführung des C 42 gewendet worden ist; das hat bedeutet: Nur noch 470 Meter Steigung und 1080 Meter Gefälle. Ein Durchschnitt von 9:20 Minuten für den Kilometer müßte zu halten sein. Die ersten fünf Kilometer in Davos auf nahezu ebener Strecke sollte ich durchtraben können. Ich kann es nicht mehr. Entweder hat sich der Abbau beschleunigt oder es liegt an der Höhenlage von 1500 Metern. Was man in der Ebene noch schafft, kann man 1200 Meter höher nicht mehr. Ich mußte zwischen Traben und Gehen wechseln. Kein angenehmes Gefühl, dies vor Publikum zu tun. Die Anstiege nach Spina und Monstein konnte ich noch mit gutem Läufergewissen im Gehschritt bewältigen. Doch auf dem Gefälle konnte ich den gestiegenen Kilometerdurchschnitt nicht mehr ausgleichen. Spätestens in Wiesen, km 25, war mir klar, ich würde Filisur bei weitem nicht in der geforderten Zeit von viereinhalb Stunden erreichen. Nicht einmal über die Länge des Wiesener Viadukts, wo die morschen Holzplanken durch Metall ersetzt worden sind, konnte ich durchtraben. Als ich den Anstieg auf die Höhe über Filisur hinter mir hatte, eröffnete mir ein Posten, ich solle ins Dorf gehen; der Streckenabschnitt des C 42 sei gesperrt, die Straßen seien für den Verkehr freigegeben. Wo sind da Straßen zwischen Filisur und Tiefencastel? Die Strecke führt über Wanderwege. Ich war einige Tage zuvor den Streckenabschnitt in der Gegenrichtung gewandert. Doch wenn man sich um eine gute Stunde verspätet hat, wird man kleinlaut. Ich lief ins Ziel des K 31, die Matten lagen noch. Anders als bei manchem Marathon fühlte ich mich noch ziemlich frisch. Die 11 Kilometer auf größtenteils sanft abfallendem Wanderweg entlang des Landwassers hätte ich ohne jeglichen Zweifel bewältigt – nur eben nicht in einer Zeit, die dem Zielschluß an der Kirche St. Peter in Mistail nach sieben Stunden gerecht geworden wäre.

Nun handelte es sich nur um die technische Abwicklung; ich mußte dem Gepäck hinterherreisen, wollte ich es nicht erst in Davos wiederbekommen. Also stapfte ich wieder zum Bahnhof empor. Nach einer Viertelstunde war ich in Tiefencastel und traf beim Verlassen des Zuges einen weiteren C-42-Teilnehmer, dem dasselbe Schicksal widerfahren war, aus dem "Rennen" genommen worden zu sein. Seine einzige Sorge, nämlich wo er das Finisher-Hemd und die Medaille erhalten würde, vermochte ich nicht zu teilen. Ich hatte beides verloren gegeben und wollte nur zu meinem Läuferrucksack, in dem sich die codierte Karte zu meinem Hotelzimmer befand. Ein Shuttle-Bus am Bahnhof stand nicht mehr bereit, das Schulhaus mußten wir suchen. Ich fürchte, mein Begleiter hätte mich gelyncht, wenn sich herausgestellt hätte, daß es die Medaille nur am Ziel des C 42 einen Kilometer in der Gegenrichtung vom Bahnhof gegeben hätte. Aber nein, uns wurden am Schulhaus ohne weitere Erklärung das Finisher-Hemd des C 42 und die Medaille überreicht. Ich gestehe, ich habe es zu Unrecht getragen. Das Hemd weist mich als Finisher des K 42 oder des C 42 aus. Ob ich ein Stück abschneide? Denn ich habe es ja nach einer Leistung von nur 31 Kilometern erworben. Mein Begleiter, im Besitz seiner Trophäe, entfernte sich stehenden Fußes. Ich genoß im Schulhaus die Wohltat einer tatsächlich heißen Dusche.

Soweit die Erzählung. Im Hotel klopften sie mir alle auf die Schultern. Doch die Wahrheit ist: Der Läufer Werner Sonntag ist langsamer als mancher Wanderer gewesen, wenn es denn welche gegeben haben sollte, die von Davos nach Filisur marschiert sind. Dennoch war es kein Spaziergang. Wie geht es weiter? Bei 73 Jahren hat sich herausgestellt, daß mir der K 78 verschlossen bleiben würde, bei 79 Jahren, daß ich den K 42 nicht mehr schaffen würde, nun also, mit 82 langt es für den C 42 nicht mehr und für das rechtzeitige Eintreffen beim K 31 auch nicht. Welche Möglichkeiten bleiben? Andrea Tuffli wird sagen: der neue 11-Kilometer-Lauf oder Walking von Klosters aus. Doch der Start zu 11 Kilometern ist für einen, der zwölfmal die 67 Kilometer über den Sertigpaß bewältigt hat, schlicht eine Beleidigung. 11 Kilometer sind die Trainingsrunde daheim oder eine Wanderung, wenn es eine regenerative sein soll. Die Ausdauer ist noch da, wohin damit außer zu den 100 Kilometern von Biel? Weshalb gibt es Kinderläufe, aber keine Ausdauerwettbewerbe für über Achtzigjährige? Ach, wenn Ernst van Aaken noch lebte, der eigens für wenige Frauen einen Hundert-Meilen-Lauf veranstaltet hat! Die Nachlaßverwalter der IGÄL haben das Erbe vertan. Mit der Streichung des Ä hat sich die IGL von Ernst van Aakens Bestrebung in der Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer anscheinend hoffnungslos entfernt.

Andrea Tuffli hat vieles erkannt, aber dieses Bedürfnis nicht: Eine Strecke, die für Hochaltrige eine Herausforderung und nicht ein mildes Gewähren-Lassen darstellt, dennoch aber keinen Streß durch ständigen Blick auf die Uhr hervorruft. Sich still zu verabschieden, auch bitteschön als zahlender Hotelgast, und von der Erinnerung an 23 Mal Laufen in und um Davos zu zehren, kann doch keine Lösung sein, solange man nicht am Gehwägelchen hängt.

Mein Vorschlag, den ich mit Markus beim Frühstück erörtert habe: Den C 42 zum zweitenmal umkehren, Start in Mistail, jedoch um 11 Uhr, dann kann man dort alles wieder abbauen, kann auf Shuttle-Bus und Infrastruktur am Schulhaus verzichten. Bei einem Start um 11 Uhr wird auch kein Gegenverkehr nach Filisur mehr herrschen. Zielschluß in Davos wie für den K 78 und den K 42 um 20 Uhr. Bis dahin herrscht hier ohnehin voller Betrieb. Gewiß, dann hat man wieder die Steigung vom Landwassertal nach Filisur und die Steigungen nach Monstein. Doch diese Steigungen wandert man, sie sind die Herausforderung. Nicht die Uhr ist es, sondern die Herausforderung der Strecke.

Ich habe in so vielem recht behalten, im Hinblick auf die Entwicklung des Landschaftslaufs und des Ultralaufs. Ich war beim 3. New York City Marathon am Start, als sich für europäische Läufer eine neue Welt auftat. Ich habe frühe Bergläufe ausprobiert. Ich habe die Rolle des DLV im Hinblick auf die Laufbewegung vor dreißig Jahren in Frage gestellt und mich gewundert, weshalb die Psychologen noch nicht das Laufen entdeckt hatten. Vielleicht hat auch diese Aussage Bestand, die ja im Grunde nicht neu ist: Wir brauchen Wettbewerbe auch für Hochaltrige, und zwar nicht auf 60- oder 100-m-Bahnen oder ähnlichen skurrilen Sport-Imitaten, sondern auf dem Gebiet der Ausdauer.

Für den Swiss Alpine wünschte ich mir eine wirkliche Langstrecke, die in freiem Stil, nämlich laufend oder gehend, auch von der M 80 bewältigt werden kann. Dies ist nicht der Wunsch eines einzelnen Herrn, dem es nicht gelang, den C 42 zu beenden. Dies ist das Bemühen um eine Perspektive - sowohl für Läufer als auch für Veranstalter.

Eintragung vom 22. Juli 08

Die Läuferkatastrophe an der Zugspitze ist mir noch immer durch den Kopf gegangen. Als das zentrale Problem der Teilnehmer des Extremberglaufs am 13. Juli erachte ich die ungenügende Bekleidung. Ich möchte mich nicht mit dem Urteil begnügen, wer bei ungünstiger Wetterprognose in Shorts und T-Shirt auf das knapp 3000 Meter hohe Ziel loslaufe, sei selbst schuld. Verwurzelt ist die Läuferregel, wenn man am Start fröstle, sei man richtig angezogen. Es ist schwer, sich bei einem Lauf, den man in drei, höchstens vier Stunden zu beenden gedenkt, zu einer Wintergarnitur zu entschließen.

Nach meiner Meinung tut sich eine Ausrüstungslücke auf. Die Industrie bietet Laufsachen an, als ginge es immer um einen Stadtmarathon und als werde dieser von allen in höchstens dreieinhalb Stunden gelaufen, wiewohl auch auf einem Stadtmarathon Tausende, wenn sie länger unterwegs sind, frieren können. Vor allem aber für einen langen Landschaftslauf und für Bergläufe fehlt eine Ausrüstung, die Variationen gestattet. Das Kriterium: Sie darf so wenig wie möglich behindern, muß aber im Notfall genügend Schutz bieten. Die Industrie ist zu Innovationen aufgerufen, nicht zu immer neuen Designs.

Auch bei den Schuhen scheint mir noch nicht das Optimum für Bergläufer erreicht. Als ich Mitte der sechziger Jahre begann, hochalpin zu wandern, war meine erste Anschaffung ein Paar Bergschuhe mit Vibram-Sohle, die es damals erst bei wenigen Schuhmodellen gab. Die Vibram-Sohle vermittelte mir ein Gefühl der Sicherheit, sie klebt förmlich am Fels. Die Erfindung dieser abriebfesten Gummisohle geht auf ein Bergunglück im Jahr 1935 zurück, das angeblich durch untaugliches Schuhwerk verursacht war; damals starben an der Punta Rasica an der schweizerisch-italienischen Grenze sechs Bergsteiger. Vitali Bramani, ein italienischer Bergsteiger, begann daraufhin, in Zusammenarbeit mit einem Reifenhersteller mit Gummisohlen zu experimentieren. Nach dem Krieg war es soweit, er konnte ein brauchbares Produkt vermarkten. Da er es sich patentieren ließ, mußten die Bergschuhhersteller, wollten sie diese optimale Sohle verwenden, es bei seiner Firma kaufen.

Warum gibt es nicht Laufschuhe mit Vibram-Sohle? Bei manchen Bergläufen, zum Beispiel von Sierre nach Zinal, läuft man über geneigte Steinplatten. Die Vibram-Sohle böte hier das Höchstmaß an Sicherheit. Ich habe im Internet recherchiert. Außer Bergwanderern tragen insbesondere Motorradfahrer Schuhe mit Vibram-Sohle, offenbar weil sie da nicht von den Fußrasten rutschen. Schuhe mit Vibram-Sohle gibt es anscheinend auch für Trailrunning. Nur die großen Laufschuhhersteller haben sie nicht, offenbar auch nicht der Berg- und Wintersport-Spezialist Salomon. Ich lasse mich gern korrigieren, wenn es nicht stimmen sollte. Vielleicht behaupten die Laufschuh-Hersteller, ihre eigenen Sohlen seien gleich gut. Ich warte auf exakte Vergleichstests in Laufzeitschriften.

Gibt es eine Berglaufhose? Angeblich ja, auch wenn sie nicht so heißt. Für den Berglauf sollte man eine Hose wählen, die auf jeden Fall die Oberschenkel bedeckt. Wenn sie übers Knie reicht, würde das bei einem Sturz die Haut schonen. Die noch zu erfindende Berglaufhose jedoch müßte nicht nur ein winziges Täschchen für den Autoschlüssel haben, den man bestimmt nicht auf die Zugspitze mitnimmt, sondern großflächige Taschen, die es zum Beispiel gestatten, eine Rettungsfolie mit sich zu führen. Seit Jahren habe ich im Wanderrucksack eine solche Rettungsdecke. Als ich noch den K 42 laufen und gehen konnte, habe ich sie auch da mitgeführt. Beim Aufstieg auf den Scalettapaß war ich jahrelang unter den Letzten. Wäre ich gestürzt und bewegungsunfähig gewesen, hätte ich lange auf Hilfe warten müssen. Die Folie hätte mich warm gehalten. Hätte man mit einer solchen Folie laufen können? Schwer, wenn es windig ist.

Das bringt mich auf den Gedanken, warum gibt es nicht eine Jacke aus solcher Folie? Rede mir keiner von mangelnder Funktion, von Luft-Undurchlässigkeit. Wenn es nur noch darum geht, einem Kälteeinbruch zu trotzen, ja, wie beim Zugspitzlauf eine möglicherweise durch Unterkühlung tödliche Bedrohung zu überleben, spielen andere Funktionen als der Kälteschutz keine große Rolle mehr. Sie dürfte allerdings auch keine glatte Oberfläche haben. Wer auf einem abfallenden Schneefeld stürzt, darf keine herkömmliche, aus Kunstfasern bestehende Laufjacke oder Windjacke anhaben, eine unkontrollierte Rutschpartie wäre ihm sicher. Frage keiner, wie man eine Jacke aus Metallfolie schneidern solle. Wir brauchen innovative Produzenten, wie Eugen Brütting einer war. Er kreierte Laufschuhe zu einer Zeit, als uns Adidas und Puma etwas leichtere Halbschuhe als Laufschuhe anboten. Wir wollen nicht immer mehr Schnickschnack in Hochglanzkatalogen und modische Werbesprüche, wir brauchen eine funktionsfähige, hochdifferenzierte Ausrüstung, differenzierter, als sie vorhanden ist.

Sicher, es gibt Jacken, die regenabweisend und windundurchlässig sind. Doch was nützt es, wenn Bergläufer sie nicht anlegen, weil im Tal die Sonne scheint und die Jacke als hinderlich empfunden wird! Man brauchte eine derart leichtgewichtige Jacke als Kälte- und Regenschutz, daß man sie auch als Läufer ohne Beschwer mitführen kann.

Kann man sich nicht überlegen, ob man nicht Laufhosen mit abtrennbaren Beinlingen, die sich in der Hose verstauen lassen, schaffen könnte? Fjällräven hat Sporthosen, die man auf diese Weise in Shorts verwandeln kann. Für Biel-Läufer wäre diese Lösung optimal; nach einer kalten Nacht trennt man am Morgen die Beinlinge ab und steckt sie in die Hose. Könnte man nicht einen leichten Nierenschutz und ein windundurchlässiges Suspensorium schaffen, die man mit sich führen und im Bedarfsfall mit Hilfe von Klettverschlüssen anlegen kann?

Wahrscheinlich sollte man auch mit Laufrucksäcken noch experimentieren. Sie sollten funktionabler werden, sich noch besser tragen lassen. Wie wäre es mit einer Laufjacke, die man als Rucksack trägt und im Bedarfsfall entfaltet? Phantasie ist nicht nur beim Design von Katalogen gefragt.

Sicher, ein großer Markt ist das nicht. Auch wir Läufer insgesamt waren einst kein großer Markt. Jetzt wird in der Branche mit Laufschuhen am meisten Geld verdient. Die Zahl der anspruchsvollen Landschaftsläufer und der Bergläufer wird weiter zunehmen. Wenn die Großen sich nicht um uns kümmern, dann taucht vielleicht ein Kopf wie der von Vitali Bramani auf, und wenn das Produkt ausgereift ist, dann werden die Großen vielleicht bei dem innovativen Erfinder einkaufen, oder es wird ein Spezialist wie Salomon diese Nische bedienen.

Meine Gedanken sind absolut unausgegoren. Die Fachleute werden den Kopf schütteln. Vielleicht jedoch gibt es jemanden, der Fragen nicht für dumm hält. Vielleicht fummelt er vierzehn Tage lang herum und stöhnt schließlich, er habe sich gleich gedacht, daß das nichts werde. Vielleicht aber gibt es einen Manager, der eine Abteilung dafür abstellt und ihr zwei Jahre Zeit läßt. Dann wird es eine Berglaufkleidung geben; da darf sie der Marketing Manager ruhig mountain equipment nennen.

Eintragung vom 14. Juli 08

Ins Tagebuch schreibt man nicht, weil nun vielleicht wieder eine Eintragung fällig wäre. Das bedeutet aber auch, wenn Diskussionsbedarf besteht, kann man nicht warten, bis eine gute Woche seit der letzten Eintragung vergangen ist. Am Sonntag sind zwei Läufer beim Extremberglauf auf die Zugspitze ums Leben gekommen. Wen ließe das unberührt? Wie immer in solchen dramatischen Fällen rufen die Medien bei ihren Kunden Emotionen ab. Zu befürchten ist, daß wieder einmal oberflächlich diskutiert wird – Reizworte: Staatsanwalt, fahrlässige Tötung.

Ich kann mich gut in die Lage des Veranstalters, einer im Auftrag eines Sportgeschäftes tätigen Agentur, wie in die der Teilnehmer hineinversetzen, habe ich doch eine vergleichbare Situation beim Swiss Alpine im Jahr 1998, dem ersten Jahr auf der Strecke über die Kesch-Hütte, erlebt. Aus der Lage damals hat die Organisation des Swiss Alpine Konsequenzen gezogen. Ich befürchte, daß weder andere Veranstalter noch Läufer aus der damaligen Situation, die noch glimpflich ausgegangen ist, gelernt haben.

Die Laufbedingungen beim Start des Zugspitzlaufs um 9 Uhr waren als akzeptabel geschildert worden; aber die Wetterprognose ließ bereits eine Verschlechterung erkennen. Die wenigsten Läuferinnen und Läufer richteten sich darauf ein. Darin liegt auf der Teilnehmer-Seite das Kernproblem: Die Bergläufer waren gegen Temperaturen um null Grad nicht geschützt. Es kam bei vielen zur Unterkühlung. Sechs Läufer wurden zu Tal geflogen und in der Intensivstation behandelt. Die Körperkerntemperatur soll unter 33 Grad betragen haben.

Die vorläufige Diagnose in den Medien, die beiden Läufer, 41 und 45 Jahre alt, seien an Erschöpfung gestorben, verschleiert die Problematik. Wenn es stimmt, daß der Tod beider Läufer bereits nahe der Knorrhütte (2051 m) eingetreten sein soll – nach anderen Quellen 300 Höhenmeter unterhalb des Gipfels – , haben die Läufer bis dahin etwa 12 Kilometer zurückgelegt, davon etwa 6 Kilometer auf einer Fahrstraße, und 1000 Höhenmeter überwunden. Das erschöpft nicht. Unter Erschöpfung versteht man korrekt einen bedrohlichen Zustand, der sich erst im Verlauf von mehreren Tagen beheben läßt. Alles andere fällt unter den Begriff Ermüdung. An Ermüdung stirbt man nicht. Die sechs Patienten der Intensivstation konnten bereits am nächsten Tag das Krankenhaus verlassen. Es kann zur Erschöpfung kommen, aber dann ist sie eine Folge der Gegebenheiten, die physiologische Reaktion auf Unterkühlung durch Kälte, Nässe, eisigen Wind. Der Blutkreislauf konzentriert sich auf die Versorgung lebenswichtiger innerer Organe. Doch körperliche Anstrengung führt zum Gegenteil, nämlich primär der Versorgung der beanspruchten Muskeln. Es kommt zur Unterversorgung innerer Organe und damit zu lebensgefährlichen Zuständen.

Zur Illustration die Situation im Jahr 1998 beim Swiss Alpine: Beim Start am Morgen waren wir vor Hitze gewarnt worden. Darauf ließ ich meinen kleinen Rucksack, den ich mir eigens in jenem Jahr gekauft hatte, in der Lauftasche und lief wie in früheren Jahren in Sporthose und kurzärmeligem Hemd. Beim Aufstieg zur Kesch-Hütte wurden wir von einem Gewitter überrascht; der Gewitterregen führte im Nu in etwa 2600 Metern Höhe zu einem starken Temperatur-Abfall. Wie man weiß, sind von der Kesch-Hütte bis zum Scalettapaß 7 Kilometer auf hochalpinem Pfad zurückzulegen. Der Müllsack, den wir an der Kesch-Hütte erhalten hatten, schützte nicht vor der Kälte. Immer wieder mußten wir Sturzbäche durchwaten. Das bedeutete, daß das rasche Gehen immer wieder unterbrochen wurde und die Betriebstemperatur des Körpers immer mehr sank. Ich merkte, daß ich nicht mehr Herr meiner Glieder war. Beim Durchqueren des letzten Sturzbaches, schon in Sichtweite des großen Sanitätszeltes am Scalettapaß, klammerte ich mich an einen Felsen. Mein subjektives Gefühl war: Ich bin in Lebensgefahr. Ich weiß noch, mich durchzuckte der Gedanke: Das kann es, das darf es nicht gewesen sein. Dieses Leben voller Gesundheitssport kann nicht auf 72 Jahre angelegt sein. Man startet nicht fit im Tal und stirbt oben. Weiter durchatmen, du darfst nicht in Panik fallen! Solange du atmest, lebst du. Ein Streckenposten hatte meinen hinfälligen Zustand bemerkt, eilte herzu und führte mich zum Sanitätszelt. Beat verabreichte mir wie all den anderen im Zelt eine Infusion. Ich habe ihn später nie danach gefragt, wie er meinen Zustand medizinisch beurteilt hatte. Den Becher mit Tee konnte ich nicht halten, so zitterte ich, ein Zustand, der wohl mehr als eine halbe Stunde anhielt, auch im Hubschrauber noch, der gerade zum Dürrboden hinunter starten wollte und mich mitnehmen konnte. Eine Helferin versuchte während dessen vergeblich, mich warm zu massieren. Und doch, das Zittern war, so unangenehm es war, schon kein bedrohliches Zeichen mehr. Möglicherweise hatte ich mich, als ich im Bach stand, schon dem Zustand des Rigor genähert, einer Starre, die bei einer Körpertemperatur von etwa 33 Grad eintritt.

Vom Dürrboden brachte uns ein Kleinbus mit voll aufgedrehter Heizung nach Davos. Und siehe da, als ich ausgestiegen war, konnte ich ohne weiteres die Steigung zum Hotel hinaufgehen, und nach der heißen Dusche war beim Abendessen keine Spur mehr von dem Gefühl in 2600 Meter Höhe vorhanden, dem Tode näher als dem Leben zu sein.

Die Essenz aus dieser Erzählung: Ich war wie all die anderen nicht erschöpft, obwohl wir ja vor dem Gewitterregen und dem Kälteeinbruch schon 55 Kilometer in den Beinen hatten; ich war unterkühlt. Hätte ich über Sporthose und T-Shirt einen Regenanzug anziehen können, hätte ich den kritischen Abschnitt von etwa anderthalb Stunden bis zum Scalettapaß zwar naß bis auf die Haut, aber nicht unterkühlt überstanden und hätte dann wie andere auch zum Dürrboden absteigen und den Lauf trotz allem sogar beenden können. Seither habe ich auf allen Gebirgsmarathons und selbst in Biel einen Rucksack mit dem Regenanzug und einer wärmenden Mütze mitgenommen. In diesem Jahr habe ich die dünne Regenjacke noch gegen eine gefütterte ausgetauscht.

Bei dem Drama an der Zugspitze sind einige Unterlassungen feststellbar. In der Internet-Ausschreibung des Extrem-Berglaufs habe ich keine Empfehlung gefunden, Kälteschutz mitzunehmen. Man kann zwar einwenden, wer an einem Extremberglauf teilnehme, sei erfahren genug. Aber zum einen besteht keine Gewähr, daß sich nicht doch der eine oder andere wenig Berg-Erfahrene erstmals dabei versucht, zum anderen neigen Läufer dazu, auch auf solchen Strecken in Sportkleidung wie in der Ebene zu laufen oder zu gehen. Man will ja nicht mit Wanderern verwechselt werden. Auch auf der Route von Ehrwald zum Zugspitzgipfel kommt man lange Zeit erst einmal ins Schwitzen. Viele Läufer orientieren sich bei der Wahl der Kleidung an den Spitzenläufern, die diese 16 Kilometer hinauf zum Zugspitzgipfel in wenig mehr als zwei Stunden zurückgelegt haben. Sie bedenken nicht, daß sie, zumal in einer Schwächephase, ihre Laufgeschwindigkeit nicht halten können, sondern wandern und Schritt für Schritt steigen müssen. Seilgesicherte Passagen wie an der Zugspitze sind ohnehin nur kletternd zu überwinden. In dieser Zeit verlangsamter Körperaktivität bietet man der Kälte Angriffsflächen.

Bei solchen Bergläufen muß an die eigene Verantwortung der Teilnehmer appelliert werden. Der Veranstalter kann nur die Infrastruktur stellen und Vorsorge für Notfälle treffen; aber er kann das Risiko nicht abnehmen. Allerdings sollte die Information bei solchen Läufen verbessert werden, vielleicht auch die Kontrolle. Seit Jahr und Tag hat beim Supermarathon des Swiss Alpine auf dem Sertigpaß, später an der Kesch-Hütte der Rennarzt den Läufern in die Augen geblickt, vielleicht auch einige Worte gewechselt. Psychische Auffälligkeiten können ebenfalls ein Symptom bedrohlicher Zustände sein.

Es geht nicht darum, gegen solche Herausforderungen zu wettern oder bestimmte Vorschriften zu erlassen; auch in dieser Diskussion ist ja wieder einmal die nun schon alberne, weil längst beantwortete Frage eines ärztlichen Attestes aufs Tapet gebracht worden. Auch jede Alpin-Wanderung ist mit einem erhöhten Risiko verbunden, genau wie jeder Marathon. Vor einigen Jahren sind selbst bei einem Halbmarathon, dem Stuttgart-Lauf, zwei Läufer gestorben.

Beim Swiss Alpine bietet man seit dem Unwetter-Lauf über den K 78 die Möglichkeit, vor dem Aufstieg auf 2600 Meter Höhe Überkleidung zu deponieren. Vielleicht würde sich das auch bei kürzeren Strecken wie dem Lauf zur Zugspitze empfehlen.

Beim Swiss Alpine ist von vornherein auf dem hochalpinen Abschnitt eine entschärfte Variante vorgesehen, über die auch die Marathonstrecke führt. Auch der Ersatz der Strecke durch eine ganz andere Strecke im Tal ist festgelegt und auch schon einmal in Erwägung gezogen worden. Bei dem Zugspitzlauf ist die Beendigung 300 Höhenmeter tiefer bei SonnAlpin vorgesehen und im vorigen Jahr zum Unwillen von Läufern auch praktiziert worden. Auch in diesem Jahr wurde der Lauf auf SonnAlpin verkürzt, jedoch viel zu spät. Diesmal hat niemand protestiert. Veranstalter dürfen sich von Läufern nicht unter Druck setzen lassen.

Walters differenzierten Bericht, einen der wenigen von einem Augenzeugen, sollte man mehrmals lesen, und zwar jeder, der in den Bergen läuft.

Eintragung vom 11. Juli 08

Manchmal, wenn ich mein Buch „Bieler Juni-Nächte“ versende, ärgere ich mich. Nicht über die Besteller, sondern über die Post. Ich ärgere mich immer dann, wenn die Besteller in der Schweiz oder in Österreich wohnen. Die Schweiz ist von meinem Wohnort wenig mehr als 200 Kilometer entfernt; doch die Landesgrenze scheint nur mit Geld überwindbar. Innerhalb der Bundesrepublik kann ich das Buch, sofern es nicht mehr als 500 Gramm wiegt, für 0,85 Euro als Büchersendung versenden. Ich weiß, das ist ein politischer Preis; Printmedien und Lesekultur sollen gefördert werden. Wenn ich dasselbe Buch ins Ausland versende, im konkreten Fall in die Schweiz oder nach Österreich, kostet dieselbe Sendung, nämlich „zu ermäßigtem Entgelt“, 3 Euro; das wären früher 5,88 Deutsche Mark gewesen und soviel wie für ein dickes Paket.

Als die Deutsche Post noch ein Staatsunternehmen war, wurde uns die europäische Einheit unter anderem damit schmackhaft gemacht, daß Briefe in EU-Mitgliedsstaaten zum Inlandsporto befördert wurden. Na also! Kaum daß die staatliche Post privatisiert war, wurden, wie es im Jargon hieß, die Auslandsgebühren „abgekoppelt“. Mit anderen Worten: verteuert. Der Brief in andere EU-Mitgliedsstaaten kostet seither genausoviel wie in die unabhängige Schweiz: 0,70 Euro. Womit dies zu begründen ist, – ich weiß es nicht. Am Transportweg, der ja nach Österreich nicht mehr durch Zollschranken aufgehalten wird, kann es nicht liegen. In meiner laienhaften Vorstellung müßte ein Brief von Stuttgart nach Hamburg teurer sein als ein Brief von Stuttgart nach Zürich, ein Brief von München nach Wien billiger als ein Brief von München nach Berlin.

Lange Jahre hat es gedauert, bis bei den Bankgebühren innerhalb der Europäischen Union die Ländergrenzen beseitigt waren. Es gab schlicht keine Begründung mehr dafür, daß ein digitaler Buchungsvorgang teurer sein sollte, wenn eine digital nicht vorhandene Staatsgrenze überwunden werden mußte. Ich habe den Verdacht, daß es bei der gelben Post nicht anders ist. Ob ein Flugzeug mit Post in Hamburg, in Zürich-Kloten oder in Wien-Schwechat landet, belastet die Transport-Dienstleister nicht dadurch, daß Staatsgrenzen überflogen werden. Politiker preisen die Globalisierung. In der Postgebührenordnung scheint mir im Prinzip kein Unterschied zur Kleinstaaterei vor der postalischen Einigung im Norddeutschen Bund durch Heinrich von Stephan im Jahr 1864 zu bestehen.

Mein Wohnort ist neulich im Fernsehen gewesen. Das ZDF-Magazin WISO brachte als Allerletztes den unsäglichen Streit über die Versetzung der Sitz- und Flitzhasen. Der Streit ist rasch erzählt: Zur Landesgartenschau im Jahr 2002 in Ostfildern war bei der Bühnenbildnerin Rosalie ein Dekorationsobjekt, das in der kommunalen Terminologie gern als Kunstobjekt bezeichnet wird, in Auftrag gegeben worden, eine Gruppe von überlebensgroßen Plastik-Hasen, gruppiert um eine Möhre. Denn die Fama will wissen, daß in unserem Landstrich, in dem Kohl angebaut wird, Hasen die typischen Feldbewohner seien. Ich habe allerdings seit vielen Jahren keine mehr gesehen, wahrscheinlich sind sie auf Treibjagden ausgerottet worden.  

In die Landesgartenschau ist Gelände einbezogen worden, das unter Landschaftsschutz steht. Daher machte die Untere Naturschutzbehörde des Kreises Esslingen zur Auflage, nach Beendigung der Schau alles wegzuräumen, was im Schutzgebiet nichts zu suchen habe, darunter auch die Hasengruppe, von der Künstlerin als Sitz- und Flitzhasen bezeichnet, denn sie waren im Landschaftsschutzgebiet aufgestellt und aus Sicherheitsgründen ziemlich solide verankert worden. Alles wurde weggeräumt, außer den Hasen. Denn wohl jetzt erst stellte sich heraus, daß die Versetzung des Hasen-Ensembles um etwa 300 Meter 20 700 Euro kostet. Nun begann die Stadt zu feilschen. Der neue Oberbürgermeister, der diese Altlast aufzuarbeiten hat, versuchte mit dem Vorschlag zu vermitteln, das Geld lieber an anderer Stelle für den Naturschutz auszugeben. Die Erhaltung der Hasengruppe am alten Platz ging sogar vor den Petitionsausschuß des Landtages, der jedoch eine Intervention ablehnte.

In der WISO-Sendung des ZDF sind zwar beide Standpunkte dargestellt worden, aber beim Zuschauer blieb der Eindruck, hier werde sinnlos auf einem Vertrag beharrt. Genau dieser Vertrag ist jedoch in der Darstellung vernachlässigt worden. Weshalb haben Verwaltung und Gemeinderat der Aufstellung des Objektes an einem Platz zugestimmt, an dem es nicht bleiben durfte? Wie hoch war das Honorar für die Künstlerin Rosalie, die in Offenbach eine Professur hat, wie hoch die Gesamtkosten für das Objekt? Es ist anzunehmen, daß die jetzt drohenden Kosten für die Versetzung nur einen Bruchteil der Gesamtkosten ausmachen. Wer soviel Geld für eine Plastik-Dekoration ausgibt, dazu auch für weitere „Kunst“, nämlich Baukräne, an denen wie riesige Kondome Plastikballons baumelten, sofern sie der Wind nicht zerstört hatte, der muß auch bereit sein, Geld für die Einhaltung einer Vertragsbestimmung aufzubringen.

Das „Allerletzte“ in WISO ist an der Oberfläche geblieben, die Stadt Ostfildern samt denjenigen, die diesen Schildbürgerstreich zu verantworten haben, kann zufrieden sein. Es ist nicht das erstemal, daß wir hier über Kunst diskutieren. Vor Jahren hat sich die Stadt Ostfildern an einer Kunstförderungsaktion mit 50 000 DM beteiligt. Sie erhielt dafür – ja, was? Nennen wir es mal: Installationen. An den Eingängen der vier Ortsteile, aus denen sich die Stadt Ostfildern zusammensetzt, wurden ein bis vier weiße Wände aus verfugten Blocksteinen aufgestellt.

 

Die Idee hätte von Hannes, dem etwas tumben Gemeindeboten aus einer Fernsehserie des SWR sein können; man hatte jedoch eigens den New Yorker Künstler Sol LeWitt bemüht, der als Vertreter der Minimal Art in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Aufgebrachte Bürger wurden damit beschwichtigt, daß die Wände, die von auswärtigen Autofahrern wahrscheinlich als Pissoirs wahrgenommen werden, nach Beendigung der Aktion wieder abgerissen würden. Sie stehen noch heute, denn der Abriß hätte auch wieder Geld gekostet. Dafür sind sie von Sprayern besprüht worden, und die Stadt hat Geld für die Reinigung ausgegeben.

Wenn ich das Wortgeklingel „Minimal Art“, „Konstruktivismus“, „Conzept Art“ auf das reduziere, was ich bei den so bezeichneten Objekten wahrnehme, komme ich im Hinblick auf das Laufen zu einer Parallele. Wir bedienen uns einer ganz alltäglichen Funktion, mit der jeder nicht mißgebildete Mensch ausgestattet ist, so wie Künstler vom Schlage Sol LeWitt und Rosalie aus simplem Material wie Hohlblocksteinen und Hartplastik simple Objekte herstellen lassen. Der künstlerische Anteil liegt allein in der Idee, und die Ideen des Minimalismus kann jeder haben, sogar ein zeichnerisch Untalentierter wie ich. In dem Moment, in dem wir zweckfrei zu laufen beginnen, können wir genauso in Anspruch nehmen, darstellende Künstler zu sein. Wir verwenden unseren Körper dazu, innere Vorstellungen zu entwickeln, seelische Prozesse in Gang zu setzen, stärkere wahrscheinlich, als dies Plastik-Hasen zu bewirken vermögen. Umgekehrt ist unser Körper Ausdruck innerer Dynamik. Unsere Kunst heißt Kinetik. Sie ist nicht starr, sondern fließend, nicht permanent, sondern temporär, wie das manche anderen Künstler von ihren Produktionen auch behaupten. Unser Publikum finden wir laufdarstellenden Künstler an den Stadtmarathon-Strecken, ein weit zahlreicheres als bei den Vernissagen von Installationen. Wir müssen uns nur, wie das hier versucht wird, in der einschlägigen hochgestochenen Terminologie artikulieren.

Eintragung vom 3. Juli 08

Am Montag nach dem Finale der Fußball-Europameisterschaft habe ich im Deutschlandfunk eine ausgewogene kritische Diskussion über das Spektakel gehört, die einzige. Das scheinbar hoffnungslos vorgestrige Medium, als „Dampfradio“ verspottet, hat wieder einmal seinen Stellenwert demonstriert. Mit solchen Live-Diskussionen ist es das einzige demokratische Medium. Nicht daß Printmedien undemokratisch wären; doch Interaktion läßt sich mit Leserbriefen immer nur schwer und eingeschränkt herstellen. Und wen interessiert nach drei Wochen noch die Fußball-Europameisterschaft! Allenfalls, daß da noch die Fähnchen am Auto flattern, weil es doch so schön ist, sich zu seiner Nationalität zu bekennen, zumal nach all den Jahren des Nationalmasochismus zur deutschen Nationalität.

An der Diskussion im Deutschlandfunk hat mich überrascht, daß es offenbar mehr Menschen gibt, als ich angenommen hatte, denen der Fußballkult auf die Nerven gegangen ist. Die Kritiker in der Expertenrunde fanden, daß die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die mit dieser Eigenschaft gerade Reklame machen, dem Fußball weit mehr Bedeutung eingeräumt hätten, als ihm zukomme. In der Tat ist es fast schon pervers, daß die Nachricht von der deutschen Kommandoübernahme in Afghanistan, die nun auch Kampfeinsätze und damit die direkte Kriegsbeteiligung nicht mehr ausschließt, an zweiter Stelle der Fernseh-Nachrichten kam – an erster Stelle der Fußball. Die Tränen deutscher Fußballfans über den entgangenen Titel ihrer Mannschaft sind für wichtiger erachtet worden als die Nachricht, daß demnächst wohl Tränen von Angehörigen gefallener deutscher Soldaten zu erwarten seien.

Wenn eine ganze Regierungsriege nach Wien zum Fußball fliegt, wird mit dieser widerlichen Selbstinszenierung – Seht her, wie volksnah wir sind! – ein professionell ausgeübter Schausport gesellschaftlich und politisch überhöht. Wenn sich dagegen in Berlin über 30.000 Breitensportler zum Marathon versammeln, geschieht das im politischen Abseits. Im Kanzleramt am Start öffnet sich kein einziges Fenster.

Mit welcher Anmaßung die UEFA auftritt und durch Kontrolle der Fernseh-Übertragungen die Pressefreiheit außer Kraft setzt, hat Udo Möller im Juli-Heft von „Spiridon“ glossiert. Das Spektakel ist vorbei, bei den Nachdenklichen hinterläßt es Nachdenken. Politiker gehören offenbar nicht dazu.

Ich weiß, mit meiner Schelte entlohne ich die Fürsorge meines Staates schlecht. Erhalte ich doch seit Dienstag mehr Rente. Wer spricht da von Bestechungsversuch im Hinblick auf die Bundestagswahl im Jahr 2009? Mein Einkommen verbessert sich täglich um 30 Cent. Selbst bei der Anquatscherei durch sozial Gestrandete ist 1 Euro die kleinste Münze – „Haste mal ’nen Euro?“ Nun kann ich überlegen, ob ich die Erhöhung der Rente um 9 Euro im Monat in die Tanksäule, in die Gaslieferung oder in die nächste Gebührenerhöhung investiere.

Ja, aber, warnen die fiskalischen Kritiker, das Prinzip der Rentenformel sei nun durchbrochen, wenn auch nur vorübergehend. Wie viele Änderungen hat eigentlich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bisher erfahren, ohne daß jemand den Vorwurf erhöbe, dieser Staat stehe nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes? Die Mehrausgaben für die Rentenerhöhung machen für dieses Jahr 0,7 Milliarden Euro aus. Auf der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund (sie heißt tatsächlich so), die dieser Tage stattfand, teilte der Vorstandsvorsitzende, Alexander Gunkel, mit, für das Jahr 2008 sei mit einem Haushaltsüberschuß von 3,5 Milliarden Euro zu rechnen.

Was seit Jahren mit uns Rentnern geschieht, ist ein sozialer Skandal. Ich sehe mich schlicht um die Früchte meines Arbeitslebens, das bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres reichte, betrogen. Fast jedes Jahr ziehen gewerkschaftlich organisierte Streikkolonnen durch die Straßen, und das stärkste Argument dabei ist, daß die Preissteigerungen die letzte Lohnerhöhung aufgefressen hätten. Was ist mit uns Rentnern? Von der Verrentung an findet eine schleichende Enteignung statt. Niemand von uns geht auf die Straße, allerdings demnächst wohl auch nicht mehr ins Wahllokal. Dabei ist bereits 1996 unser Rentensystem als „Ausbeutung der Rentenversicherten“ bezeichnet worden (in dem wahrscheinlich ultralinken Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.2.1996). Nach einem Beitrag im Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 46, auf den die FAZ damals Bezug genommen hat, waren die Rentenansprüche des 1957 unter dem christdemokratischen Kanzler Konrad Adenauer geänderten Rentensystem von Anfang an unsicher. Der „Gefährdungsfall“ sei spätestens 1992, als das Rentensystem reformiert werden mußte, aktenkundig geworden. Nach wie vor sei jedoch die gesetzliche Alterssicherung eine verstaatlichte Alterssicherung mit Zwangsmonopolcharakter. Im Ruhestandsfall stünden die eingezahlten Beiträge nicht als angesammeltes Kapital zur Verfügung, sondern seien der Verfügung der Zahlenden entzogen. Würde eine staatliche Alterssicherung das ihr zufließende Geld mündelsicher anlegen, und sei es auch nur zu einem Nominalzins von 4 Prozent im Jahr, erhielte der spätere Rentner bei gleichbleibendem Bruttoeinkommen nach 45 Beitragsjahren fast das Fünffache an Altersgeld als beim staatlichen Zwangsverfahren.

Meine Generation wurde in dem Glauben gehalten, was der Rentenberater ausgerechnet habe, stünde uns im Alter an Kaufkraft zur Verfügung. Die Chance, die Altersversorgung durch freiwillige Zahlungen zu erhöhen, nützten wir im Vertrauen auf die Seriosität der staatlichen Rentenversicherung. Selbst als dann Zweifel aufkamen, beschwichtigte uns der christdemokratische Rentenlügner Norbert Blüm; unverständlich ist mir, daß Medienvertreter noch heute an seinen Lippen hängen und seinen kabarettistischen Darbietungen Aufmerksamkeit zollen. Niemand pfeift ihn aus, wenn er auftritt.

Die Rentenversicherung ist mit Fremdleistungen belastet worden, mit Leistungen, die aus politischen Gründen gewährt werden. Doch belastet werden allein die Rentenversicherten, nicht diejenigen, vorzugsweise finanziell Bessergestellte, die bei berufsständischen Versicherungen für ihr Alter vorgesorgt haben, und erst recht nicht die Beamten. Wer dagegen samt seinem Arbeitgeber vierzig Jahre in die staatliche Rentenversicherung eingezahlt hat, finanziert damit auch die Renten derjenigen, die nichts eingezahlt haben, aber dank erworbener deutscher Staatszugehörigkeit einen Renten-Anspruch erworben haben. Fremdleistungen haben nicht wir Versicherten verursacht, sondern die Politik, aber finanziert werden sie nicht über den Bundeshaushalt, sondern von unseren Beiträgen.

1983 wurden von der Regierung Kohl die Altersgrenzen für den Rentenbezug durch das Vorruhestandsmodell des Arbeits- und Sozialministers Norbert Blüm aufgeweicht. Mit 55 Jahren konnten Arbeitnehmer aus dem Beruf ausscheiden. Die Wirtschaft nutzte diese Möglichkeit nach Kräften, um sich älterer Arbeitnehmer zu entledigen. Die Finanzierung des Vorruhestandsmodells, das zudem nicht einmal verbindlich war, wurde der Rentenversicherung aufgehalst. 13 Jahre später erkannte die Bundesregierung, daß die Vorruhestandsregelung ein Fehler war; sie wurde aufgehoben. Dem Ansehen des Verantwortlichen, Norbert Blüm, hat das keinen Abbruch getan. Keine 25 Jahre nach dem kapitalen Irrtum ist das genaue Gegenteil beschlossen worden, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre.

Die Altersvorsorge, von der Bismarckschen Sozialgesetzgebung in guter Absicht geregelt, ist zum Spielball der Politik geworden. Kein Politiker wird darüber schamrot, daß ein großer Teil der Bevölkerung von Jahr zu Jahr ein geringeres Einkommen hat, und dabei sind die Altersrenten ohnehin nicht übertrieben hoch.

Man kann meiner Generation vorwerfen: Warum habt ihr auch dem Staat vertraut, statt euch zusätzlich eine private Altersvorsorge aufzubauen! Viele von uns, wie ich auch, haben das getan. Das Ergebnis ist: Die bescheidenen Zinserträge des Ersparten, das ja schon einmal als Einkommen versteuert worden ist, müssen wir in der Einkommensteuererklärung angeben und nochmals versteuern. Und nun kommen die Finanzberater der Banken, die das ganze Fachchinesisch gelernt haben und ebensowenig wissen wie ihre Vorstände, und wollen uns ihre abgeltungssteuerfreien Produkte verkaufen. Ein Blick auf den Dax genügt, von den Blasen der Börse wie dem Neuen Markt, den Immobilienfonds und der Mittäterschaft der Politik an unrealistischen Spekulationserwartungen bei ehemaligen Staatsbetrieben ganz zu schweigen, dazu ein Blick auf den Anlagehorizont von Rentnern, und das bittere Gefühl stellt sich ein, wir Arbeitnehmer, die wir unsere Altersvorsorge einem Zwangsmonopol überlassen mußten, sind im Alter die Geprellten. Die Rentenerhöhung um einige Euro im Monat ist weiter nichts als eine ironische Fußnote dazu.

In der Schweiz, so habe ich gelesen, werden die Renten alle zwei Jahre der Lohn- und Preisentwicklung angepaßt. Wenn die Teuerung in einem Jahr höher als 4 Prozent ist, wird die Rente früher angeglichen. Auch im Hinblick auf die betriebliche Altersversorgung könnte man dort etwas lernen.

Doch wozu? Wir haben ja stillgehalten. Mit ein bißchen schwarzrotgoldnem Fußball wird man uns auch künftig besänftigen können.

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