Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 29. Dezember 08

Bei den Ausgaben fürs Laufen sparen? Der größte Unkostenfaktor beim Laufen sind wahrscheinlich die Laufreisen. Doch es wäre verkehrt, aus Kostengründen auf die Teilnahme an Laufveranstaltungen zu verzichten. Sich den einen oder anderen Marathon, der ins Geld geht, verkneifen – ja. Man muß nicht in Dubai starten, nur weil es dort nun auch einen Marathon gibt, es sei denn man wolle ihn gewinnen. Aber man sollte nicht gänzlich auf Wettbewerbsteilnahmen verzichten, wenn man Freude an diesen Herausforderungen hat, was für die meisten Läuferinnen und Läufer zutrifft! Eine Lebensregel heißt sinngemäß: Nicht die falschen Entschlüsse bereut man, sondern die versäumten Chancen. Selbst wenn man sich das Startgeld und die Reisekosten vom Munde absparen müßte, wäre der Preis nicht zu hoch. Bestimmte – individuell unterschiedliche – Herausforderungen bestanden zu haben, hat eine prägende Kraft, die ein Leben lang anhalten und selbst als Erinnerung noch das Alter bereichern kann. Das ist mehr wert als die Zinsen auf der Bank.

Das bedeutet nicht, daß man nicht den Rechenstift ansetzen sollte. Wenn man sparen muß, sollte unbedingt das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen, wobei unter Leistung nicht bloß die materiellen Dinge zu verstehen sind, sondern auch der Erlebniswert.

Mehr denn je sollten wir uns die Startgebühren ansehen. Wem es nur um den Wettbewerb geht, – es gibt auch abgespeckte Angebote, und vielleicht genügt es einem, nur die Laufzeit dokumentiert zu wissen. Wenn ich das richtig sehe, neigen Veranstalter vermehrt dazu, keine Inklusivgebühren mehr zu erheben, sondern eine Grundpauschale und gegen Zuzahlung einzelne Leistungen anzubieten. Das ist auf jeden Fall sinnvoll für die Pasta Party. Von einer Party kann, wenn man nicht in Frankreich läuft, ohnehin keine Rede sein. Es ist eine mehr oder weniger appetitliche Abfütterung von Massen. Wer sparen muß, kann sich dadurch allerdings ein Abendessen im Restaurant ersparen. Ernährungsphysiologisch macht das Nudelgericht keinen Sinn, und wer Weißmehl als totes Nahrungsmittel verabscheut, tut gut daran, sich privat zu verpflegen. Als erstes also gehört das Nudelgericht aus der Pauschale genommen. Wer den Aberglauben teilt, allein Teigwaren am Tag vor dem Marathon könnten die Glykogenspeicher füllen, soll gefälligst selbst für die Kosten einer Fehlernährung aufkommen.

Unsinnig ist in den meisten Fällen das Finisherhemd. Bei manchen Veranstaltungen bekommt man es bei der Abholung der Startnummer, und es wird einem auch nicht entzogen, wenn man den Lauf nicht beendet. Das mag gerecht sein, weil man die Aufgebenden nicht bestrafen will; doch ungerecht ist, wenn sich Aufgebende fortan mit einem Hemd schmücken, auf dem „Finisher“ steht. Wer ein paar Dutzend Marathons gelaufen ist, hat sich meist auch ein paar Dutzend Hemden erlaufen. Braucht der Mensch soviel? Meistens erhält man ein billiges Baumwollhemd, das man möglicherweise niemals mehr trägt. Ökologischer Unsinn, Hemden für den Kleiderschrank zu produzieren. Auch ist es nicht jedermanns Geschmack, für irgendwelche örtlichen Unternehmungen Reklame zu laufen. Um an ein Spezialhemd für besondere Gelegenheiten zu kommen, insbesondere eines mit einem langen Arm, muß man schon Jahrzehnte lang Marathon laufen.

Das Finisherhemd sollte man kaufen müssen. Dann werden allein Funktionshemden verlangt werden, und die unphysiologischen Baumwollhemden, die man selbst zum Training nicht gern trägt, verschwinden. Es gibt freilich auch Hemden mit Kultstatus. Dazu muß es sich jedoch um einen exklusiven Lauf handeln; sicherlich wird man vom Honolulu-Marathon keinen Hemdenstapel im Schrank haben. Beim Swiss Alpine sind die Hemden nach der Laufstrecke differenziert. Da viele an den Lauf noch einige Tage anhängen, werden die Hemden zum Wandern getragen, und es ist schon erfreulich, wenn man dann unterwegs sofort Teilnehmer am Swiss Alpine ausmachen kann. Doch muß man von jedem Bieler Lauf oder jeder Rennsteiglaufteilnahme ein Hemd haben? Auch in Berlin reicht es, wenn man sich einmal ein Hemd kauft, das kann man bei weiteren neun Berliner Marathons tragen. Danach braucht man es nicht mehr, denn dann ist man im Jubilee-Club und wird zum Berlin-Marathon nie mehr ein anderes Hemd anziehen als das dunkelgrüne vom Jubilee-Club.

Medaillen? Erstmals in der fünfzigjährigen Geschichte von Biel erhält man im Jahr 2009 als Teilnehmer des 100-km-Laufs und anderer Läufe der Bieler Lauftage keine Medaille mehr, es sei denn man habe sie vorher gekauft. Ja, da wird die Problematik deutlich. Für den Veranstalter ist es eine pragmatische Lösung, wenn man die Medaille vorher bestellen muß. Es kann dann nicht mehr wie im Jubiläumsjahr 2008 vorkommen, daß die Medaillen ausgehen. Der Veranstalter bestellt so viele Medaillen, wie Teilnehmer gemeldet sind. Wer nachmeldet, muß halt warten, bis die Serie für die Nachmelder fertig ist. Doch irgendwie fühle ich mich nicht wohl bei diesem Gedanken. Der Idee des Volkslaufs ist immanent, daß jeder Teilnehmer, der innerhalb der Zielschlußzeit ankommt, ausgezeichnet wird. Für Otto Hosse und seine Freunde war dies einer der Grundgedanken des Volkslaufs. Andererseits: Muß man von jedem Wald-und-Wiesen-Marathon, den man nie mehr besuchen wird, eine Medaille haben?

Doch wie ist das in Biel? Franz Reist hat immer wieder betont, daß keine Läufer durch Siegprämien „gekauft“ würden. Niemand erhalte eine andere Prämie als diese Medaille, allenfalls, wenn denn ein besonderer Anlaß bestehe, dazu noch einen Blumenstrauß. Die Medaille in Biel hat einen hohen Stellenwert. Jahrelang konnte man die erfolgreiche Teilnahme an den 100 Kilometern allein durch die Medaille dokumentieren. Wer eine Urkunde haben wollte, mußte sie für einen Schweizer Franken kaufen. Genügt es 100-Kilometer-Läufern wirklich, sich als Finisher nur im Internet wiederzufinden? Kann man leichten Herzens darauf verzichten, am Ziel zwar routiniert, aber sichtbar ausgezeichnet zu werden? Fällt es einem leicht, sich im Zielgelände ohne Medaille zu bewegen, weil man sie eingespart hat, und alle Naselang darauf angesprochen zu werden, weshalb es denn diesmal schief gegangen sei? Dem Mißverständnis wird Tür und Tor geöffnet. Dem Drittel Erstteilnehmer in Biel ist ohnehin zu empfehlen, lieber nicht von dem Angebot, zum alten Preis zu starten und auf die Medaille zu verzichten, Gebrauch zu machen; die Motivation unterwegs würde darunter leiden, denn die Medaille bedeutet Visualisierung des Ziels. Für die Teilnahme in Biel wendet man indirekt soviel Kosten auf, daß 7 Euro mehr oder weniger den Kohl auch nicht mehr fett machen.

Ich habe den Eindruck, daß man im Organisationskomitee zu oberflächlich gedacht hat: Die Höhe des Startgeldes konnte gehalten werden – scheinbar, nämlich ohne Medaille. Was nun andere Veranstalter wie den des Zermatt-Marathons dazu bewegt, in ihrer Ausschreibung beim Startgeld eigens anzugeben: mit Medaille. Für das Bieler OK mag die neue Regelung praktisch sein: Man bleibt den Finishern künftig die Auszeichnung nicht mehr schuldig. Doch im Blick auf die Idee des Volkslaufs und im Blick auf einen Grundgedanken des Bieler 100-km-Laufs stellt sich bei mir Unbehagen ein. Ich spare gern irgendwo 7 Euro ein, aber ich werde bei der Anmeldung die Medaille mitbestellen, obwohl oder gerade weil ich schon 33 habe. Leider muß ich sie blind buchen. Obwohl die Medaille nun verkauft wird, sucht man eine Abbildung der Medaille fürs Jahr 2009 in der Ausschreibung vergeblich. Wenn man sie schon kaufen muß, will man auch wissen, wie sie aussieht.

Auf einen Kostenfaktor haben weder der Veranstalter noch wir Teilnehmer einen Einfluß: die Steuer. Selbst die reinen Amateurläufe der Bieler Lauftage werden besteuert, allerdings nur mit 2,4 Prozent des Startgeldes. So war es in der Ausschreibung für 2008 zu lesen. In der neuen Ausschreibung fehlt der Hinweis auf die Mehrwertsteuer. Vielleicht befürchtet man, Ausländer könnten zu Recht 1,60 Euro zurückfordern. In München dagegen entfallen von den 55 Euro Startgeld (bei frühzeitiger Anmeldung) nicht weniger als 10,45 Euro auf die Mehrwertsteuer. Welcher Mehrwert wird bei einem Marathon produziert? Der Marathon natürlich. Und von wem? Allein von uns. Nach der Logik der Steuereintreiber müßte demnach auch die beim Automobilkauf fällige Mehrwertsteuer von den Beschäftigten des Automobilwerks gezahlt werden. Auf Bücher wird wie auf Lebensmittel der ermäßigte Steuersatz von 7 Prozent erhoben, denn der Staat möchte über das Buch die Kulturtechnik des Lesens fördern. Bis auf wenige Profi-Läufer betreiben die meisten Marathon-Teilnehmer ihr Training der Gesundheit wegen. Gesundheit jedoch erscheint anders als das Lesen nicht förderungswürdig. Der ermäßigte Steuersatz findet beim Laufen keine Anwendung. Politikverdrossenheit hat noch einen anderen Namen: Steuerverdrossenheit.

Wir sollten endlich aufhören, einander vor dem Laufen „Viel Spaß!“ zu wünschen. Sonst könnten die Kommunen auf die Idee kommen, auf Laufveranstaltungen Vergnügungssteuer zu erheben.

Eintragung vom 22. Dezember 08

Mag ja sein, daß sich die Finanzkrise nicht auf die Weihnachtseinkäufe ausgewirkt hat. Doch jeder Logik würde es widersprechen, wenn die Mehrzahl von uns so weiterleben könnte wie vor der Krise, sei es, daß Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit das Familien-Einkommen schmälern, sei es, daß zumindest ein Teil der Ersparnisse auf dem Anlagenmarkt verloren ist, sei es, daß die Ausgaben, insbesondere auf dem Gesundheitssektor, steigen; wir Rentner erleben ja seit Jahren, daß unsere Rente von Jahr zu Jahr spürbar weniger wert ist.

Sicher, Grundbedürfnisse werden erfüllt. Für manche zählt die Urlaubsreise dazu. Bei uns sind es die Ausgaben fürs Laufen, bei denen wir wohl die wenigsten Abstriche machen. Möglicherweise ist es auch die soziale Schichtung, die sich dabei auswirkt. Läuferinnen und Läufer sind – man wird es so sagen dürfen – sozial besser gestellt. Dennoch, im Einzelfall ist das zu hinterfragen. Es gibt auch arbeitslose Akademiker, und es gibt auch – wie hieß doch gleich der Vorbestrafte? ach ja, Hartz-IV-Empfänger, die laufen. Einen habe ich in Biel kennengelernt, er war als Anhalter nach Biel gereist, und er lief die 100 km ohne Startnummer. Auch wenn dies die Organisatoren nicht gern hören werden, – ich gönne ihm, daß er die offiziellen Verpflegungsstände in Anspruch nahm. Wenn das allerdings Schule machte, sähe es anders aus. Also, ich bin mir sicher, daß es auch unter Läuferinnen und Läufer eine Anzahl gibt, die sparen müssen und vielleicht sogar bei den Ausgaben fürs Laufen sparen, und zwar heute mehr denn früher.

Schlage ich die Laufzeitschriften auf, so finde ich in sozialer Hinsicht eine heile Läuferwelt vor. Nach wie vor erscheinen – zum Glück für die Redaktionen – ganzseitige Anzeigen, die erkennen lassen: Geld spielt für die Klientel der Schuhhersteller keine Rolle. Schuhtests beschränken sich auf die Produkte weniger Markenhersteller. Die hochgelobten Spitzenmodelle sind fast immer auch die teuersten. Allenfalls wird gelegentlich einmal auf ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis hingewiesen. Das besagt doch wohl nichts anderes als: bei anderen ist dies nicht der Fall.

Wenn ich zurückdenke: Waren denn die Schuhe vor zwanzig, dreißig Jahren wirklich so schlecht? Gewiß, ich will nicht leugnen, daß Verbesserungen immer möglich sind. Doch ist es gerechtfertigt, in jedem Jahr Dutzende neuer Modelle auf den Markt zu werfen, nur um Kaufreize zu setzen? Die Erfahrung lehrt, daß manche Verbesserung mehr oder weniger nur aus einem Gag besteht; ich erinnere an den Adidas-Schuh aus Kängeruh-Leder, in den ein Elektronik-Element, nach Carl-Jürgen Diem ein Pfennig-Artikel, integriert war und der damals mit über 300 Mark die Spitze der Preispyramide bildete. Oder an den Reebok DMX mit den Luftkammern auf der Sohle. Wäre die Innovation wirklich so bedeutend, hätten alle Schuhe dieses Dämpfungssystem. Oder an den Ersatz der Schnürung durch aufblasbare Luftkammern.

Vor dreißig Jahren wurde die Lebensdauer eines Schuhs auf 3000 Kilometer veranschlagt. In Stuttgart hatte sich ein laufender Schuhmacher darauf spezialisiert, abgewetzte Sohlen von Laufschuhen zu erneuern. Beim Brütting Lydiard war das gegangen. Die späteren Dämpfungssysteme konnte jedoch auch der geschickteste Schuhmacher nicht erneuern. Die veranschlagte Lebensdauer ist in der Fachliteratur immer mehr reduziert worden. Seit einiger Zeit mißt man einem Laufschuh nur noch 800 bis 900 Kilometer zu. Ein ambitionierter Läufer würde demnach drei bis vier Paar Schuhe im Jahr verschleißen, das wäre dann also eine Ausgabe von ungefähr 400 bis 800 Euro im Jahr, zu Zeiten der D-Mark – denn die Europreise lassen den Maßstab vergessen – 800 bis über 1500 Mark. Welcher Rentner hätte es sich leisten können, eine Monatsrente für das Schuhwerk, und sei es noch so gutes, aufzuwenden! An dieser Rechnung ändert sich dadurch nichts, daß kein Läufer ein- und denselben Schuh ein Vierteljahr lang trägt. Der Wechsel von mehreren Paar Laufschuhen verschleiert nur die kurze Lebensdauer.

Vor dreißig Jahren haben wir in unseren Büchern oder Artikeln davor gewarnt, andere als Markenschuhe zu benützen. Möglicherweise war damals die Warnung berechtigt; denn die Markenhersteller haben schließlich in ihren Instituten erhebliche Grundlagenforschung betrieben. Doch ob nicht die Billigschuhfabrikanten inzwischen dazugelernt haben? Da auch Markenschuhe in China produziert werden, wo man bekanntermaßen hemmungslos abkupfert, müßte es doch ein leichtes sein, No-name-Schuhe mit Qualitätsanspruch zu fertigen! Entschieden wende ich mich gegen Betrug, nämlich dagegen, daß Billigschuhe mit dem Logo von Nike auf dem grauen Markt vertrieben werden. Mit meiner Frage will ich provozieren: Hat denn jemand schon ausprobiert, ob die No-name-Schuhe vom Wühltisch wirklich die Gelenke schädigen? Auch bei Markenschuhen konnte man früher in dieser Hinsicht nicht sicher sein. Als ich in der dritten Woche des Deutschlandlaufes 1981 Kniebeschwerden bekam, lag das nicht an meiner bis dahin zivilisatorischen Ernährung, auch nicht an Überlastung – wir legten ja nur 55 bis 60 km am Tag zurück –, sondern an dem viel zu weichen Nike, den ich mir, weil ich mir etwas Gutes tun wollte, aus Amerika mitgebracht, gehörig eingelaufen und dabei jedoch abgelaufen hatte. Die Dämpfung war anfangs hervorragend, aber dann waren die Schuhe einseitig niedergetreten und führten zu Kniebeschwerden.

Wir haben inzwischen Billig-Autos aus Ländern, die den Autobau erst lernen mußten. Sicher gibt es darunter Schrott, aber doch nicht nur. Ich würde mir von Schuhtests wünschen, daß auch Billigschuhe einbezogen werden. Das Risiko von Gelenkbeschwerden scheint mir nicht größer zu sein als bei der Wahl eines für den jeweiligen Käufer ungeeigneten Markenschuhs. Braucht, wer 30 Kilometer in der Woche läuft, wirklich einen Schuh für 150 bis 200 Euro? Ich fordere dazu auf, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Wir wissen ja inzwischen, daß die Herstellung von Markenschuhen in Billiglohnländern umgerechnet ein bis zwei Euro je Paar kostet. Alles andere verschlingen die Gemeinkosten, worunter die Entwicklungskosten sicher nicht der höchste Kostenfaktor sind, das Marketing vor allem, obwohl man damit nur dem Konkurrenten potentielle Käufer abspenstig machen, aber nicht die Zahl der Läufer erhöhen kann, der Transport, die Handelsspanne. Allein No-name-Artikel können der Verteuerung, die durch die Technik nicht zu rechtfertigen ist, Paroli bieten. Auf anderen Gebieten haben wir längst ein solches Konkurrenz-Verhältnis. Warum nicht bei Laufschuhen, dem größten zwangsläufigen Unkostenfaktor unseres Sportes?

Das Thema Sparen bei den Laufausgaben scheint mir damit noch nicht ausgeschöpft. Ich werde noch darauf zurückkommen, schon weil ich mit meinen Betrachtungen Widerspruch ernten werde. Man kann freilich die Ansicht vertreten, auch in der Finanzkrise und ihren Folgen seien solche Betrachtungen überhaupt nicht relevant, weil Läufer nicht aus Kostengründen aufhören zu laufen. Schon versichern die Reiseunternehmer, die Finanzkrise habe sich überhaupt nicht ausgewirkt. Ja, jetzt noch nicht; die meisten Urlaubsreisen werden langfristig geplant. Wer hätte vor zehn Jahren, als der Trend zu immer stärker motorisierten, immer besser ausgestatteten Fahrzeugen ungebrochen zu sein schien, eine Krise der Autoindustrie vorhergesehen? Durchaus möglich, daß auch Läufer ans Sparen denken, tut es doch bereits die nicht gerade arme Formel 1.

Sparen scheint mir kein schlechtes Weihnachtsthema zu sein. Das Kind in der Krippe, auf Heu und auf Stroh, primitiv, aber ökologisch hervorragend, ganz ohne Pampers. Das Licht rührte von nachwachsender Energie, die Ausbeutung der Erdressourcen hatte noch nicht begonnen.

Eintragung vom 15. Dezember 08

Wir sind entdeckt, wir, die Alten.

Kinder sind als Zielgruppe bei Laufveranstaltungen längst integriert. Die Veranstalter können sich damit brüsten, Kinder zum Laufen oder überhaupt zum Erlebnissport zu motivieren. Und nebenbei, so mancher Marathon schmückt sich mit einem Kinderlauf, weil er im Nu die Zahl der Veranstaltungsteilnehmer in die Höhe treibt. Obendrein tut man ein pädagogisch wohlgefälliges Werk. Wie sieht es bei uns Alten aus?

Wer nur alt genug wird, erlebt das Gefühl, als lästig wahrgenommen zu werden. Das muß nicht stimmen, aber das Gefühl stellt sich ein. Wir sind Fossilien des Laufens, irgendwie übrig geblieben. Man rechnet nicht mit uns. Ich habe es doch verschiedentlich erlebt, daß ich als Fünfundsiebzigjähriger der Altersklasse M 70 zugeschoben wurde. Dabei ist die Fünfjahr-Abstufung in keinem Lebensalter so wichtig wie von sechzig Jahren an. Eine M 80 ist wie schon die W 75 die Ausnahme. Vielleicht beruft man sich zu Recht darauf, daß eine Altersklasse aus mindestens drei Teilnehmern zu bestehen hat. Als ob wir schuld daran wären, daß die Altersgenossen weggestorben sind oder der interessierte Sportfreund einen Schnupfen bekommen hat. Veranstalter und Verbände stellen die Struktur höher als das Individuum. Frauen haben es in den Altersklassen noch schwerer, weil ihr Anteil am Wettkampfsport insgesamt weit geringer als bei Männern ist.

Gewiß, offiziell werden wir geehrt und womöglich ausgezeichnet; doch wie sieht es in der Praxis des Wettbewerb-Ablaufs aus? Da traben oder gehen wir eine Stunde hinter dem Feld her, den Besenwagen im Nacken, beäugt mit dem forschenden Blick: Der schafft doch den Zielschluß nicht mehr... Selbst wenn wir das ertragen, weil unsere Nerven durch ungezählte Wettkampfteilnahmen gestählt sind, geraten wir irgendwann in Konflikt mit dem Reglement. Wir verpassen eine Durchgangszeit oder es wird offensichtlich, daß wir es bis zu dem in der Ausschreibung (im ganz klein Gedruckten) angegebenen Zielschluß nicht schaffen werden. Falls wir dann nicht selber aufgeben, macht uns das jemand an der Strecke unmißverständlich klar und nimmt uns aus dem Wettbewerb, ob wir wollen oder nicht.

Nun kann man fragen – ja, man muß es –, welchen Sinn es mache, im Alter von sagen wir: achtzig Jahren und älter an einem Wettkampf teilzunehmen. Welchen Sinn macht es, sich auf der Berliner Marathonstrecke in fünf oder sechs Stunden durchzuschlagen, wenn doch die Spitze unter 2:10 Stunden läuft? Richtig, schon im Mittelfeld findet kein Wettbewerb mehr statt, sondern es geht der Masse der Teilnehmer allein darum, die Herausforderung der Strecke zu bestehen. Sicher, man kann als Hochaltriger nicht jede Sportart mehr betreiben, aber hat man uns nicht in jüngeren Jahren gesagt, Laufen sei ein Life-Time-Sport? Zum Sport, gerade zum Laufsport, gehört der Wettbewerb, das gesellige Miteinander, auch wenn man auf der Strecke nichts mehr davon merkt.

Es ist nicht so, daß wir nicht loslassen könnten. Wenn uns Gelenkbeschwerden dazu zwingen, hören wir von allein auf. Wenn wir von vornherein die Aussichtslosigkeit eines Unternehmens erkennen, beim Berglauf, bei extremen Läufen, auf „schnellen Strecken“, starten wir nicht. Doch wenn alle Systeme funktionieren, weshalb sollten wir uns verabschieden, nur weil uns die Schnelligkeit abhanden gekommen ist? Ausdauer haben wir ja noch. Wir sehen ein: In vielen Wettbewerben setzen die Umstände Grenzen. Beim K 78 des Swiss Alpine gebietet die Fürsorgepflicht des Veranstalters, an der Keschhütte ein Limit zu setzen.

Die Rücksicht auf die Helfer? Es gibt Veranstaltungen, bei denen immer noch ein weiterer Wettbewerb hinzugenommen worden ist; jeder zusätzliche Wettbewerb vergrößert die Anforderungen an die Helfer. Es ist eine Frage der Organisation, ob man die Verpflegungs- und Sanitätsposten nicht gegebenenfalls im Schichtbetrieb besetzt; vielleicht kann man auch im letzten Zeitviertel die Infrastruktur ausdünnen.

Auch der Sport ist im Wandel. Die demographischen Veränderungen dürfen nicht nur ein Problem der Rentenversicherung sein. Wir, auch die Hochaltrigen, sind eine neue Zielgruppe, doch wiederum so neu auch wieder nicht. Ernst van Aaken, der Laufpionier, und seine Freunde haben bereits in den sechziger Jahren die Perspektiven gesehen und die Interessengemeinschaft älterer Langstreckenläufer gegründet. Ihr Vorsitzender, Arthur Lambert, war eine Galionsfigur der Altersläufer. Es gab den „Opalauf“ in Bad Brückenau und die Altersläufe in Bad Grönenbach. Es gab Altersläufer, die wie Erich Haußner Altersgenossen um sich scharten. Im Vergleich zu den damaligen spezifischen Aktivitäten ist eine Nivellierung der Programme eingetreten; nicht Zielgruppen stehen im Blickfeld, sondern immer extremere Herausforderungen. Wer da nicht mithalten kann, bleibt draußen vor oder muß sich mit Veranstaltungen, die ehemalige Leistungsläufer unterfordern, abspeisen lassen. Dies in einer Zeit, in der das Potential für Alterswettbewerbe zusehends wächst.

Doch es ist möglich, daß sich vom nächsten Jahr an etwas ändert, nämlich eine Entwicklung hin zu geeigneten Laufwettbewerben für Senioren angeschoben wird.

  Andrea Tuffli, der Begründer und Cheforganisator des Swiss Alpine, der schon so vieles angeschoben hat, will einen der Wettbewerbe speziell für Senioren ausweisen; er will die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß Altersläufer hier eine Chance erhalten. Nicht, daß er eine neue, lächerliche 5-km-Runde dazu nähme, wie das einst in der Zeit der „Opa-Läufe“ Usus war. Nein, der C 42, ein echter anspruchsvoller Marathon, soll uns, auch uns Hochaltrigen, geöffnet werden. Das Ziel an der stimmungsvollen karolingischen Kirche St. Peter in Mistail hinter Tiefencastel soll neun Stunden geöffnet bleiben.

Für diejenigen, die darob den Kopf schütteln: Bereits die Umstellung auf das Laufen in der Höhe fällt uns Alten weit schwerer als Jüngeren. Zwar senkt sich die Strecke um 1080 Höhenmeter, aber das erste Viertel verläuft in 1700 Metern Höhe, dazu kommt der Anstieg nach Monstein. Das Gefälle kann die Anforderung dieses hochgelegenen Streckenabschnitts nicht kompensieren, zumal da der Abstieg auf dem Pfad von Filisur ins Landwassertal schon aus Vorsicht von uns nicht in flottem Trab bewältigt werden kann. Wenn wir Alten einem halb so alten Wanderer ohne Lauftraining die Aufgabe stellen würden, mit einem Durchschnitt von knapp 5 Kilometern in der Stunde 42 Kilometer zurückzulegen, würde er sehr bald merken, daß es in diesem Gelände durchaus eine sportliche Herausforderung ist, auch nur das Wandertempo durchzuhalten. Wer den Spartathlon in 35 Stunden besteht – und die Teilnahme ist immerhin ein Ausweis, zur Langläufer-Elite zu gehören –, hat auch nur einen Durchschnitt von 7 Kilometern in der Stunde.

Der C 42 eignet sich deshalb unter den Strecken des Swiss Alpine als Seniorenstrecke und als Erlebnisstrecke für Marathon-Einsteiger, weil er ohnehin als Kulturmarathon, als ein Marathon zum Schauen und Genießen, ausgewiesen ist. Nicht nur dieser Wettbewerb, sondern auch die Woche vor der Veranstaltung soll das Laufen im Alter in den Blickpunkt rücken. Andrea Tuffli hat mit seiner Initiative wieder einmal einen Nerv der Laufszene getroffen.

  LaufReport ist nicht ganz unbeteiligt daran. In meiner Eintragung vom 29. Juli 2008 hatte ich nach meiner in Filisur wegen Zeitüberschreitung gescheiterten Teilnahme am C 42 über den Mangel an Ausdauer-Alterswettbewerben geklagt. Ich habe dabei auch Andrea Tuffli angegriffen, weil ich den Eindruck hatte, uns Alten würde der Abschied vom Swiss Alpine, der nach der nächsten Veranstaltung in sein 25. Jahr geht, nahegelegt. „Für den Swiss Alpine“, so hatte ich geschrieben, „wünsche ich mir eine wirkliche Langstrecke, die in freiem Stil, nämlich laufend oder gehend, auch von der M 80 bewältigt werden kann.

Dies ist nicht der Wunsch eines einzelnen Herrn, dem es nicht gelang, den C 42 zu beenden. Dies ist das Bemühen um eine Perspektive – sowohl für Läufer als auch für Veranstalter.“ Andrea Tuffli war ob meiner kritischen Bemerkungen, auch in der Eintragung vom 8. August, nicht eingeschnappt. Er hat positiv reagiert und auch damit Format bewiesen. Ob nun auch wirtschaftliche Gründe dahinter stecken – wir Alten halten uns eher einige Tage oder gar einen ganzen Urlaub lang in der Region Davos auf –, mag uns gleich sein. Wirtschaftliche Motive sind ja nicht unehrenhaft.

Die Vorgeschichte des Senioren-C 42 zeigt ein weiteres: Es gibt auch im Laufsport einen investigativen Journalismus, einen Journalismus, der sich nicht auf den puren Gebrauchswert von Texten beschränkt – wie werde ich schneller, wie werde ich besser und wer waren neulich die Schnellsten? –, sondern der nachspürt und reflektiert, um notwendige Veränderungen zu bewirken. Großartig, wenn sich dabei Kritiker und Veranstalter die Hand reichen.

Freuen wir uns also auf den nächsten Swiss Alpine! Jetzt liegt an uns, den Altersläufern, daß wir das Angebot wahrnehmen.

Eintragung vom 5. Dezember 08

Geschichte muß nicht Selbstzweck sein, auch Vereinsgeschichte nicht. Ein Blick zurück kann durchaus Impulse für den Blick voraus vermitteln. Dies um so mehr, wenn ein Verband für die Öffentlichkeit nicht mehr existent ist. Die Rede ist vom DVLÄ, dem Deutschen Verband langlaufender Ärzte und Apotheker e. V.

  Vor dreißig Jahren war der Verband mit einem hohen Anspruch angetreten: „Zukünftig wird es nicht mehr in erster Linie darauf ankommen, eine Krankheit zu heilen, was gewissermaßen selbstverständlich sein wird, sondern vielmehr darauf, das Auftreten einer Erkrankung zu verhüten. Durch die Verschiebung der Aufgaben des Arztes von der Behandlung des Kranken auf die Pflege und Erhaltung der Gesundheit ergeben sich für die Ärzte ganz neue Aufgaben und Pflichten: Er muß den Gesunden wie den Kranken aktivieren, zur allgemeinen Gesundung und Gesunderhaltung selbst und in eigener Verantwortung beizutragen.“ Deshalb ist der Deutsche Verband langlaufender Ärzte gegründet worden. Seine Mitglieder sollten sich als Gesundheitsberater verstehen, durch eigenes Ausüben des Langlaufes beispielgebend sein und die positiven gesundheitlichen Wirkungen des Ausdauersportes demonstrieren. Eine Zielsetzung, die an Aktualität eher noch gewonnen hat.

Vorbild des DVLÄ war die American Medical Jogging Association (AMJA). Als sie Dr. med. Ernst van Aaken 1978 besuchte, zählte sie 5000 Mitglieder. Van Aaken war von der Zielsetzung dieses Verbandes so angetan, daß ihm eine solche Gründung auch für die damalige Bundesrepublik vorschwebte, entsprach sie doch seinen eigenen Vorstellungen von Prävention durch Laufen. Er besprach sich in Bad Grönenbach, wo der deutsche Seniorenlauf stattfand, mit dem Präsidenten des Bayerischen Sportärzteverbandes, Dr. med. Eugen Gossner. Dieser wiederum fragte seinen Kollegen, Dr. med. Hans-Henning Borchers, der bei ihm als Assistenzarzt praktizierte, ob er nicht einen solchen Verband ins Leben rufen wolle. Auf diese Weise kam es am 2. Dezember 1978 am Zentralinstitut für Sportwissenschaft in München, wo ein sportmedizinischer Kongreß stattfand, zur Gründung des Deutschen Verbandes langlaufender Ärzte, dessen Name später auf die Apotheker erweitert wurde. Dr. Borchers wurde zum Vorsitzenden gewählt. Er versah dieses Amt fünfzehn Jahre lang.

Zwar entfaltete sich durchaus ein Verbandsleben, aber der Hauptteil der Vorstandsarbeit lastete auf ihm. Dr. Borchers ist die Herausgabe einer Schriftenreihe über Ausdauersport zu danken ebenso wie die Verleihung eines Van-Aaken-Preises für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet des Ausdauersports. Bereits am Tag nach der Gründung wurde im Olympiagelände der erste Ärztelauf veranstaltet.

  Zwar war ich, ebenso wie Manfred Steffny, Zeitzeuge jener Gründungsveranstaltung; aber die Erinnerung wäre längst verblaßt, wenn nicht der Gründungsvorsitzende selbst, Dr. Borchers, nun eine Dokumentation jener ersten fünfzehn Jahre zusammengestellt hätte. Die 104seitige Schrift will weder berichten noch kommentieren; sie führt einfach die Fakten auf: Wie es zur Gründung kam, die Zielsetzung des Verbandes, die Veranstaltungen, die wichtigsten Beschlüsse und eine Anzahl Personalia. Gerade die zahlreichen Veranstaltungen, die Aktivitäten in Grönenbach, die Einbindung in die Ausdauersportwoche in Arolsen, die Seminare, Ärzteläufe und DVLÄ-Meisterschaften, haben dem Verband in der Öffentlichkeit Präsenz verschafft. Hinzu kamen die Beratungen von Läufern; denn damals war es noch nicht so einfach, am Wohnort einen laufenden Arzt zu finden.

Wer immer sich einst mit der Geschichte der Breitensportbewegung Laufen befassen wird, er wird für diese übersichtliche Dokumentation, die durch etliche Bilder angereichert ist, dankbar sein. Dr. Borchers, dessen Tätigkeit als Erster Vorsitzender des DVLÄ nach fünfzehn Jahren unter wenig schönen Umständen endete, hat sich aus gutem Grund und in nobler Zurückhaltung auf die Zeit seiner Amtsführung beschränkt. Nicht nur, daß das Ziel seines Nachfolgers, die Mitgliederzahl auf 1000 zu erhöhen, nicht erreicht worden ist, es folgte später ein Stadium, in dem der Verband nur noch auf dem Papier stand. Infolge der personellen Veränderungen vor einigen Jahren, die zu einem neuen Anlauf führten, hat sich der Schwerpunkt der Veranstaltungen des DVLÄ auf die östlichen Bundesländer verlagert. Als nun Außenstehender habe ich den Eindruck, daß der DVLÄ zu einem berufsständischen Läuferverband geworden ist (im Internet jedenfalls stößt man allenfalls auf Ergebnislisten von Ärzteläufen). Doch selbst auf diesem seinem Kerngebiet hat er es nicht vermocht, die Tausende von Läuferinnen und Läufern aus medizinischen Berufen zu erreichen.

Ich kann mir vorstellen, daß die Dokumentation von fünfzehn Jahren der Aktivität unter Dr. Borchers die heute im DVLÄ Aktiven zur Nachdenklichkeit veranlaßt. Nach wie vor hätte der Verband eine Aufgabe, auch wenn inzwischen die Rennärzte der großen Marathons in laufmedizinischen Fragen die stärkere Kompetenz beanspruchen dürfen.

Eintragung vom 26. November 08

Knapp fünf Wochen ist es her, daß ich in nur einem Satz die Manipulation mit dem Cross- Border-Leasing erwähnt und mich gefragt habe, wie man sich jetzt wohl in den Rathäusern fühle. Nun wissen wir es: bescheiden. Wenn irgendwo etwas Abwiegelndes verlautet, dann klingt es wie das nächtliche Pfeifen im Walde. Wahrscheinlich schlottern die Knie. Nicht nur in den Rathäusern. Der heutige Aufmacher in meiner Zeitung lautet: „Cross Border Leasing macht Wasser teurer“.

Wir beziehen das Wasser von der Bodenseewasserversorgung, andere von der Landeswasserversorgung. Den wenigsten unter uns sieben Millionen Wasserverbrauchern ist klar gewesen, daß vielleicht nicht gerade das Wasser aus den Hähnen amerikanischen Firmen gehört, sehr wohl aber Wasserwerke und Leitungen. Beide Zweckverbände haben ihre Anlagen verkauft. Die Versorgung mit einem lebenswichtigen Gut, dem wichtigsten, ist in die Hände amerikanischer Investoren gelegt worden, die damit ihrem Staat Steuern vorenthalten konnten und bei ihrer Steuer-Manipulation durch finanzielle Beteiligung deutsche Beamte zu Spießgesellen machten. Ich kann das nicht anders als Skandal bezeichnen.

Für die Öffentlichkeit war Cross-Border-Leasing kein Thema. Ich kann mich nicht erinnern, im Jahr 2002 etwas über den Verkauf von Wasserwerken und Wasserleitungen in Baden-Württemberg gelesen zu haben. Wem ist schon klar gewesen, daß die Aachener Müllverbrennungsanlage nicht mehr der Stadt gehört, die Stadtbahn in Dortmund nicht mehr den Dortmunder Stadtwerken, die Dresdener Straßenbahnen nicht mehr der Stadt Dresden? Ebenso sind in Magdeburg und in Nürnberg die Straßenbahnen nur noch gemietet, und auch wir in der Stuttgarter Gegend sitzen in 137 Stadtbahnwagen, die nur geleast sind. Etwa 200 Städte oder Zweckverbände in der Bundesrepublik sollen solche CBL-Verträge geschlossen haben. Nur in seltenen Fällen wie in Bergisch Gladbach wehrten sich die Bürger; eine Bürgerinitiative bewirkte einen Bürgerentscheid, der mit 96,5 Prozent den geplanten Verkauf des Abwasserwerks samt Kanalnetz verhinderte.

Was hätte ich vor sechs Jahren tun können? Eine Bürgerinitiative hätte alle Bürgermeister und Stadtkämmerer, die in den Zweckverbänden für den CBL-Vertrag gestimmt haben, mit Anzeigen wegen Verdachts der Untreue und mit Einstweiligen Verfügungen überziehen müssen. Doch bis es bei sieben Millionen zu einer funktionierenden Bürgerinitiative gekommen wäre, wäre der Deal längst vollzogen worden. Abgesehen davon, daß keiner weiß, wer wie gestimmt hat. Die Aufsichtsbehörden haben sich herausgehalten. Die Mittelinstanz, das Regierungspräsidium, wird zum Beispiel dann angerufen, wenn der Bürger X sein Haus durch einen Anbau erheblich verändern möchte, dies die Kommune aber nicht genehmigen will. Ob dagegen die Menschen in sieben Millionen Haushalten Baden-Württembergs damit einverstanden sind, daß ihre Wasserversorgung und andere öffentliche Werte von anonymen Besitzern in den USA abhängig sind, hat keine Aufsichtsbehörde gekümmert. Die Verlogenheit unserer Politiker: Sie wettern gegen Steueroasen, aber sie selbst haben zugelassen, daß Kommunen und Kommunalverbände in der Bundesrepublik, die für US-Investoren ein Steuerschlupfloch gewesen ist, von den Steuertricks anderer profitiert haben.

Der 25. November war für die beiden Wasserzweckverbände der Tag des Katzenjammers. Da kamen die Vertreter von etwa 300 angeschlossenen Gemeinden und Verbänden zusammen. Was war geschehen? Wie auch andere Finanzinstitute, die an Cross-Border-Leasing-Geschäften beteiligt waren, ist eine der an den CBL-Verträgen mit der Wasserversorgung beteiligten Banken in Schieflage geraten. Nun haben all die scheinbar so cleveren Bürgermeister und Kämmerer offenbar kalte Füße bekommen. Sie möchten aus dem Vertrag aussteigen. Doch das geht erst nach insgesamt 30 Jahren. Der US-Investor stellt sich quer. Wie ich meinen Quellen entnehme – Wikipedia, „Reutlinger Generalanzeiger“ und „Eßlinger Zeitung“ –, umfassen die Verträge bei jedem Objekt etwa 1500 Seiten, die größtenteils nicht übersetzt worden sind. Selbst wer gut Englisch kann, ist damit noch nicht des juristischen Amerikanisch mächtig. Es darf füglich bezweifelt werden, daß all die Cleverle überhaupt verstanden haben, was sie da unterzeichnet haben.

Da der überwiegende Teil der Steuerersparnis von US-Investoren beim Cross-Border-Leasing für die Einschaltung von Finanzinstituten, Vermittlern und Rechtsanwälten drauf geht, schmilzt infolge der ausfallenden Bank der Ertrag bei der Landeswasserversorgung von 30,7 Millionen Euro auf 7,7 Millionen, bei der Bodenseewasserversorgung um 27,5 Millionen. Daraufhin ist am Dienstag der Abgabepreis des Wassers erhöht worden. In der Pressemitteilung der Landeswasserversorgung wird – wen wundert’s! – die Erhöhung prompt relativiert. Der Vorsitzende, der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU), weist darauf hin, daß damit nur ein Wasserpreis verlangt werde, den man ohne die Subventionierung aus dem Cross-Border-Leasing bereits vor einigen Jahren hätte erheben müssen. Fällt jemandem etwas auf? Für einen schon vor sechs Jahren um 2,2 Cent je Kubikmeter erhöhten Wasserpreis würden uns die Leitungen und die Wasserwerke noch gehören.

Eintragung vom 17. November 08

Mit der digitalen Technik erleben wir die gleiche Entwicklung wie beim Auto. Wer in der Frühzeit des Automobils selber Autofahren wollte, mußte die Kenntnis eines Automechanikers haben. Nicht umsonst waren bei Autorennen zwei an Bord: einer, der nur schnell fahren konnte, der andere neben ihm war ein Mechaniker. Zwar gab es immer mehr Automodelle, die für Selbstfahrer konzipiert waren, zum Beispiel den „Doktorwagen“, der so hieß, weil er von Landärzten bevorzugt wurde; aber ich erinnere mich, daß noch unsere Hausärztin ihre Hausbesuche mit einem von einem Chauffeur gelenkten Auto machte. Da dies sogar noch 1936 der Fall war, bringt mich das allerdings heute auf den frivolen Gedanken, ob nicht vielleicht der Chauffeur und nicht das Auto der Grund für diese Art der Hausbesuche in einer immerhin überschaubaren Mittelstadt war.

Sei es, wie es wolle, wer in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Auto besaß, mußte zwangsläufig mit ihm umgehen können, nämlich Durchblick haben und sich zu helfen wissen. Er konnte nicht nur Rad wechseln oder Ketten auflegen, sondern auch die Zündung verstellen. Auch in populären Handbüchern der fünfziger und sechziger Jahre, zu Beginn der Massenmotorisierung, war noch der Ratschlag zu lesen, falls unterwegs der Keilriemen risse, könne man ihn durch einen Damen-Nylonstrumpf ersetzen. Ein Freund hat das sogar viel später noch bei einem Lada praktiziert. Als im Jahr 1994 bei meinem Audi das Stirnrad mit dem vorher erneuerten Zahnriemen in den Keller stürzte, hätten auch Nylonstrümpfe als Ersatz nicht geholfen; der ganze Motor war im Eimer. Ich erkannte, das nächste Stadium der technischen Entwicklung war erreicht.

Versteht sich, daß sich Autobesitzer in der DDR selbst helfen mußten. Von einem Schulfreund weiß ich, daß es zum Alltag gehörte, an kalten Tagen die Batterie auszubauen und im Wohnzimmer überleben zu lassen.

Dieses Stadium, in dem viele Autobesitzer kleine und selbst nicht so kleine Reparaturen selbst ausführten, scheint unwiderruflich zu Ende gegangen zu sein. Das ist mir bewußt geworden, als mich auf meiner Laufrunde eine mit einem BMW liegengebliebene Amerikanerin ansprach: Ob ich wisse, wie man die Motorhaube öffne? Ich wußte es auch nicht. Auch bei meinem Modell ist der Hebel versteckt. Längst lasse ich defekte Lampen in der Werkstatt auswechseln. Als ich mein erstes voll digitalisiertes Auto fuhr, wußte ich mir bei der Umstellung auf die Winterzeit nicht anders zu helfen, als mir in der Werkstatt Rat zu holen, wie man die Uhr umstelle. Ich sei nicht der erste, erwiderte man mir auf meine verschämte Bitte. Inzwischen kann auch ich es.

Computer, mit denen ich erstmals 1976 Berührung hatte, waren ursprünglich eine Sache von Fachleuten. Wenn in der Redaktion das System zusammenbrach – das war an der Tagesordnung –, mußten Spezialisten der Computerfirma geholt werden, notfalls aus dem Freibad oder aus dem Schlafzimmer. Längst schon ist der Computer ein Gebrauchsgegenstand, der in den meisten Haushalten zu finden ist. In meiner Anfängerzeit halfen mir mein Sohn, später ein Enkel. Inzwischen sind Programme entwickelt, mit denen auch unsereiner zurecht kommt. Doch so, wie heutzutage jedermann ein hochkomplexes, digitalisiertes Auto zwar bedienen kann, aber ohne zu wissen, wie die digitalen Systeme funktionieren, sitzen die meisten von uns vor dem Rechner, ohne wirklich durchzublicken. Das ist wohl auch den Software-Anbietern klar.

Die Einrichtung und Betreuung einer Website hatten mich vor eine unüberwindbare Mauer gestellt. Nach langem Zögern habe ich mich, als immer wieder gebranntes Kind, jetzt einem Programm anvertraut, und siehe da, ich habe es auf Anhieb geschafft. Seit voriger Woche steht meine Website www.laufen-und-leben.de im Netz. Auf ihr mache ich Reklame für meine Bücher. Es war nicht Eitelkeit, eine eigene Website zu haben. Es haben mich immer wieder Anfragen erreicht – oder eben nicht erreicht. Der Buchhandel konnte allenfalls mit Bekanntgabe meiner Telefonnummer helfen. Nun, denke ich, kann man wohl die meisten Informationen meiner Website entnehmen. Deren Namen kann man vielleicht sogar im Gedächtnis behalten. Im Zweifelsfall hilft Google. Mißtrauische freilich können darin die Stasi des Internets sehen. Der Fortschritt, der uns das Leben angeblich leichter macht, schafft Probleme, die es ohne diesen Fortschritt nicht gäbe (um eines der zahlreichen Bonmots von Karl Kraus abzuwandeln).

In der Nachrichtensendung wurden Aufnahmen vom Parteitag der Grünen gezeigt. Das Motto: „Mehr bewegen!“ Was soll man dazu sagen? Daran erinnern, daß die ganz frühen Grünen ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Sport hatten? „Mehr bewegen“ wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, obwohl sie doch etwas bewegen wollten. „Mehr bewegen“ schien allzu sehr nur ein Anspruch an das Individuum zu sein. Ist der ärztliche Rat „Mehr bewegen“ inzwischen so sehr Allgemeingut, daß man aus ihm sogar eine politische Maxime schöpfen kann? Haben wir mit der Laufbewegung auch geistig etwas bewegt? Die Entdeckung der Bewegung als Therapie, als Lebensstil, als kreatives Mittel hin zu geistiger Beweglichkeit?

Eintragung vom 9. November 08

Kein Tagebuch, das die Zeiten spiegelt – und sei es primär unter dem Aspekt des Laufens –, kann über das Ereignis hinwegsehen: Die USA bekommen einen neuen Präsidenten. Kommentare sind genug geschrieben, daher nur Bemerkungen: Schlimm, daß jeder Kandidat, jede Kandidatin im Weißen Haus besser wäre als der jetzige Präsident. Ganz Nordamerika – ja, vielleicht die ganze Welt – empfindet das Wahlergebnis als Erlösung. Wieso eigentlich hat die Mehrzahl der Amerikaner, die sich jetzt so viel auf das Funktionieren ihrer Demokratie einbildet, nicht schon nach vier Jahren gemerkt, was sie an Bush hat? Wir haben es doch auch. Die Fehler der zweiten Amtszeit waren doch schon in der ersten vorhanden. Nach den ethischen Normen der Nürnberger Prozesse nach dem zweiten Weltkrieg ist Bush ein Kriegsverbrecher. Wieso mußte eine deutsche Ministerin zurücktreten, weil sie Bush in die Nähe Hitlers gerückt hat? Man kann im Grunde die Politik der USA nicht kritisieren, ohne nicht zugleich den deutschen Opportunismus gegenüber den USA zu kritisieren. Und dabei stolpert man doch auf wohl jedem Gebiet über die Hegemonial-Ansprüche der USA. Ob sich da, in der Haltung zu den USA, einmal etwas ändert? Die Dankbarkeit für Rosinenbomber in Tempelhof kann schließlich nicht auf ewig die politische Linie der Bundesregierung bestimmen.

Obama wird schon jetzt in die Geschichte eingehen als der erste farbige Präsident, obwohl er ja eigentlich, um Berlusconi zu bemühen, nur ein gebräunter Präsident ist. Ich kann die Tränen in den Augen der Millionen Farbiger verstehen. Ich hätte sie auch. Obama wird als Erlösung empfunden, aber er ist kein Erlöser, kann es nicht sein. Ich fürchte, er wird den Druck, unter dem er steht, an Europa weitergeben.

Wird man Obama, den Krawattenträger im Wahlkampf, laufen sehen? Ich fürchte, er muß es. Das klingt an dieser Stelle schrecklich. Doch Laufen erhöht die Popularität. Das hat schließlich schon ein schlitzohriger Dr. h. c. Joschka Fischer gemerkt, und die Medien haben es ihm gedankt. Wenn man’s nicht mehr braucht, kann man’s ja lassen. Obama braucht es dringend. Laufen ist der life style der Erfolgreichen. Seine Vorgänger taten es, auch wenn sie fast kollabierten.

9. November – der deutsche Tag der Scham. Ich war zwölf Jahre alt, als ich auf dem Weg zur Schule am Obermarkt in Görlitz, wo ich meinen Banknachbarn, einen katholischen Buchhändlersohn, abholen wollte, in Scherben trat. Die Schaufensterscheiben des Schuhgeschäftes Bata waren zertrümmert. Wir waren aufgewühlt, weil wir mit einer Gewalttat konfrontiert waren. Über den politischen Hintergrund waren wir uns nicht im mindesten im klaren. Das bekamen wir erst später mit. In Görlitz spürte ich – jedenfalls in meinem Umkreis – Betroffenheit. Die Synagoge ging nicht in Flammen auf; die Görlitzer Berufsfeuerwehr löschte den auch hier gelegten Brand ohne Wenn und Aber. Die Görlitzer Synagoge ist die einzige von den 70 Synagogen im jetzigen Sachsen, die unzerstört erhalten geblieben ist. Es ist schon kurios, daß man sich jetzt darüber zankt. Die Stadt hat das Haus bereits in den sechziger Jahren der jüdischen Religionsgemeinschaft abgekauft. Nun wollte die jüdische Gemeinde eine Gedenkfeier darin abhalten; doch die Stadt als Besitzerin wollte bei der Veranstaltung mitreden. Das wollte die jüdische Gemeinde nicht. Es ist aber auch wieder tröstlich, daß man sich mit Juden zanken darf, ohne des Antisemitismus geziehen zu werden. Denn beide, Stadt und jüdische Gemeinde, wollten dasselbe: die Opfer der Pogrome ehren.

Habe ich schon einmal erzählt, daß meine Mutter eine geborene Deutsch war? Der Name Deutsch, so bestätigte mir später ein deutschstämmiger israelischer Staatsbeamter, der einschlägige Forschungen betrieben hat, deute auf jüdische Herkunft hin. Sie war bei uns zum Glück nicht nachweisbar. Mein Onkel Hans Deutsch hatte nicht aus Überzeugung, sondern aus Existenznot Ahnenforschung betrieben. Er machte zwar in Ostpreußen einen Analphabeten aus – auf einer Urkunde hatte einer der Vorfahren mit drei Kreuzen unterzeichnet –, aber bis ins 18. Jahrhundert hinein keinen Vorfahren mosaischen Glaubens. Das genügte, Onkel Hans konnte daraufhin in Schmiedeberg im Riesengebirge Standesbeamter werden. Wenn ich mich recht erinnere, jedoch nicht ohne den Eintritt in die NSDAP. Er ist 1945 auf den Seelower Höhen gefallen. Deutsches Schicksal. Hätte er zufällig einen jüdischen Vorfahren entdeckt, hätte er ein anderes Schicksal gehabt. Eine Ahnung, wirklich nur den Hauch einer Ahnung, bekam ich in der Fischmarktschule, der katholischen Volksschule in Görlitz. Eines Tages stand vor der Klasse vertretungsweise ein oberschlesischer Lehrer, an der Mundart erkennbar, in SA-Uniform. Eine seiner ersten Lehrtätigkeiten war, jeden einzelnen Schüler nach dem Geburtsnamen der Mutter zu fragen. In aller Harmlosigkeit antwortete ich: Deutsch. Wieso ich noch hier sei? fragte er, ich sei doch Jude. Nein, nein, erwiderten meine Mitschüler wie im Chor. Er glaubte es nicht und bemerkte drohend, ich würde schon sehen. Zu Hause fragte ich ziemlich verängstigt meine Mutter; nein, wir seien keine Juden. Da war ich beruhigt. Die Gefahren für die wirklichen Juden in unserer Stadt sahen wir damals nicht. Dabei war ums Jahr 1934 die Hälfte schon ausgewandert. Doch da es sich um wohlhabende Bürger handelte, bekamen wir Kleinbürger das nicht mit. Wahrscheinlich ist diese Haltung typisch gewesen: Die meisten billigten die Repressalien nicht, aber sie waren heilfroh, nicht selbst betroffen zu sein.

Herr von Bülow, einer der wenigen Herren unter unserer Prominenz, begeht dieser Tage seinen 85. Geburtstag. Ausgerechnet dieser Herr, der sich Loriot nennt, ist zu einem unserer bedeutendsten Humoristen geworden, ein profilierter Zeichner, der sich als Autodidakt zum profilierten Komödianten entwickelte und doch intellektuell immer über seinen Späßen stand, statt im Klamauk unterzugehen. Zu seinem Geburtstag sei jedoch daran erinnert, daß er zwar den einfältigen Satz „Wo laufen sie denn?“ mit einem Zeichentrickfilm 1970 zum auch in der Laufszene geflügelten Wort gemacht hat (eine Anthologie von Laufgeschichten trägt diesen Titel); aber das Original stammt von dem Schauspieler und Kabarettisten Wilhelm Bendow (1884 - 1950), der in einem Rundfunk-Sketch den Einfaltspinsel auf der Rennbahn spielt. Ich höre ihn noch, den komischen Ausruf: „Ach, ist der Rasen schön grün!“ Und dann, als die in akustischer Mauerschau gespielte Menschenmasse offenbar in Spannung brodelt, weil die Pferde herangaloppieren: „Ja, wo laufen sie denn? Wo laufen sie denn?“ Ach, hätten wir so etwas doch im Fußball, einen Sketch, der professioneller Wichtigtuerei in Management und Sportjournalismus mit Komik begegnete!

Eintragung vom 30. Oktober 08

Nicht daß ich etwas gegen eine Partnerschaft von Lauf- und Weinkultur hätte, aber ich frage mich, wie es wohl dazu gekommen sein mag. Man könnte doch eher so argumentieren: Ziel eines Laufwettbewerbs ist es, schneller als andere zu sein. Also müßte eine gewisse Affinität zum Motorsport vorhanden sein. Gewiß, es gibt einige Läufer, die in ihrem früheren Leben Rennen gefahren sind oder ihre motorsportliche Neigung auf dem Motorrad ausgelebt haben oder noch ausleben. Doch das sind Ausnahmen; man kann eine Affinität zum Fußball auch nicht deshalb unterstellen, weil einige Läufer früher begeistert Fußball gespielt haben. Der Nürburgring-Lauf ist keineswegs ein Beispiel für eine Verbindung von Laufen und Motorsport. Er verdankt seine Entstehung ja eher einer Protesthaltung; er war der Versuch einer symbolischen Umwidmung der Rennstrecke. Das Engagement von Automobil-Herstellern im Laufsport ist äußerst bescheiden geblieben. Fußball, Motorsport, Tennis, Golf scheinen in dieser Hinsicht attraktiver zu sein. Der Führungs-Mercedes beim New York Marathon und ein bißchen Smart beim Berlin-Marathon waren eher Randerscheinungen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Wieso ist es gerade zu Weinmarathons gekommen? Es wird ja viel mehr Bier getrunken, doch ich weiß nur von einem einzigen Bier-Marathon, dem im thüringischen Orlatal. Sicher, die Weinwirtschaft dürfte beträchtlichen Anteil an der Initiierung von Weinmarathons haben; sie hat sich bei den Läufern eingekauft. Aber weshalb hat sie gemeint, daß Marathonläufe für den Wein werben? Laßt uns nachdenken!

Laufen ist ein Lebensstil geworden, eine Alltagskultur. Der Wein hat ebenfalls und zwar seit Jahrtausenden – in deutschen Landen dank den Römern – unsere Kultur geprägt. Weingenuß setzt wie das Lauftraining voraus, daß man sich zu seinem persönlichen Stil bekennt und nicht dem Geschmack und der Bequemlichkeit der Masse folgt. Die Masse trinkt nach wie vor Coca Cola und bewegt sich nicht. Der soziologische Aspekt wäre, daß Menschen, die zum Laufen gefunden haben, eher der besser gebildeten und einkommensstärkeren Schicht angehören. Mag auch das Bier nach dem Marathon fast schon üblich sein, – die Schichten, die das Potential der Marathonläufer stellen, eignen sich zumindest zum Teil als Zielgruppe der Weinwirtschaft.

Interessanter als der soziologische und wirtschaftliche Aspekt scheint mir die psychologische Reflexion zu sein. Laufen kann in Euphorie versetzen, nicht anders als der Wein. Der Mensch hat offenbar schon immer ein Bedürfnis nach Ekstase gehabt; bei den Bacchus-Festen der antiken Griechen war es ganz offensichtlich. Ekstase hat auch die Religionsausübung durchdrungen, insbesondere im Mittelalter. Beim Laufen wird man nicht von Ekstase sprechen, sondern von Hochgefühl. In platter Alltagssprache wird Runner’s High, werden die Endorphin-Ausschüttungen als Ursprung einer Sucht erklärt. Bei Mißbrauch des Alkohols ist der Suchtcharakter eindeutig. Beim Laufen ist eine solche Zuordnung zwar sehr differenziert zu betrachten, aber auch im Laufsport kann es zu suchtartigen Erscheinungen, wenn auch nicht in klinischem Sinne, kommen; sie drücken sich in der Vernachlässigung anderer Lebensbereiche aus, vor allem der Familie, und in der Verengung des geistigen Horizonts. Das wäre die negative Seite, die Laufen und Alkoholgenuß gemeinsam haben. Weingenießer sind von der Suchtgefahr ebenso entfernt wie die Mehrzahl der Läufer. Alkoholiker, so hat sich gezeigt, kann man von ihrer Sucht umpolen aufs Laufen. Kritiker werden bemerken, von einer Sucht auf die andere. Leider gilt dies auch in der Gegenrichtung. Es gibt den einen oder anderen Fall, daß Läufer, die ihre Laufkarriere beenden mußten, dem Alkohol verfielen. Frauen, die nicht mehr laufen, geraten nach meiner Beobachtung offenbar eher in die Gefahr, sich einem sektenartigen Spiritualismus zuzuwenden.

Einen weiteren Aspekt der Gemeinsamkeit von Laufen und Weingenuß möchte ich den topographischen nennen. Genußläufer bevorzugen Landschaftsläufe. Dafür eignen sich hervorragend unsere Weinlandschaften. Häufig sind, zum Kummer von Landschaftspflegern, die beschwerlichen Steillagen aufgegeben worden, und durch die Rebanlagen führen bequeme asphaltierte Wirtschaftswege, die zum Laufen geradezu einladen. Wanderwege in Weingebieten sind als Weinwanderwege ausgewiesen worden.

Ein Weinmarathon hat allemal einen hohen Erlebnischarakter. Doch verstehen wir denn unter Weinmarathon immer dasselbe? Es gibt Weinmarathons, die mit dem Laufen überhaupt nichts zu tun haben, zum Beispiel den Maikammer-Weinmarathon. Die Weinwirtschaft hat uns schlicht den Begriff Marathon geklaut. Wer immer den Begriff Marathonlauf erfunden hat, – er hat es versäumt, „Marathon“ zum Gebrauchsmusterschutz anzumelden. Unsere Startgelder könnten erheblich niedriger sein, wenn jeder, der den Begriff Marathon verwendet, lizenzpflichtig wäre. Ein Weinmarathon, bei dem nicht gelaufen wird, ist nichts weiter als eine Verkostung, die sich in die Länge zieht, eine 24stündige Weinmesse. Wir können nur froh sein, daß die Weinwirtschaft nicht uns die Verwendung des Begriffs Weinmarathon streitig macht.

Ich weiß es nicht genau, aber es scheint so zu sein, daß der Marathon du Médoc, erstmals 1984 veranstaltet, der Vater des Weinmarathons ist. Bedenkt man, daß sowohl der Marathonlauf als auch der Weinmarathon in Frankreich erfunden worden sind, haben wir in Deutschland Anlaß, uns nur als Epigonen, wenn auch als gelehrige, zu fühlen.

In Pauillac, dem Start- und Zielort des Médoc-Marathons, ist bereits zu Beginn die Brücke zwischen Wein und Gesundheit geschlagen worden. Diese Verbindung hat Tradition. Wein galt in früheren Zeiten als Medizin. Ich kann mir das psychologisch gut, wenn auch auf simple Weise, erklären. Wein entspannt. Und sind nicht Verspannungen, insbesondere psychische, häufig die Ursache von Erkrankungen? Die moderne Medizin hat sich naturwissenschaftlich mit den Wirkungen des Weins befaßt. Das Glas Wein (eines!) am Tag hat eine protektive Wirkung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Prof. Dr. Klaus Jung, bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Sportmedizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, hat keinen Widerspruch darin gesehen, einerseits ein Buch über den 100-Kilometer-Lauf und zahlreiche andere Studien über das Laufen zu publizieren, andererseits 1994 ein Buch mit dem Titel „Wein: Genuß und Gesundheit“ erscheinen zu lassen.

Alljährlich wird in Pauillac zum Marathon ein medizinisches Colloquium veranstaltet. Um daran teilzunehmen, muß man nicht nur des Französischen mächtig sein, sondern auch einen Heilberuf ausüben. Der Marathon du Médoc begeht im Jahr 2009 sein 25-Jahr-Jubiläum. Da die Zahl der Interessenten regelmäßig weit höher liegt als die auf 8500 limitierte Zahl der Teilnehmer, tut man gut daran, bereits im Februar mit der Anmeldung in den Startlöchern zu stehen. Wer es bis zum 12. September 2009 nicht erwarten kann, hat die Möglichkeit, an einer kombinierten Wertung teilzunehmen, nämlich schon am 9. Mai den Marathon des Premières Côtes de Blaye zu laufen.

Der Marathon du Médoc hat etliche Läufer auf den Geschmack gebracht. Ähnlich wie die 100 Kilometer von Biel hat auch der Weinmarathon im Médoc Nachahmungen gefunden, zumal im eigenen Land. Die „Beaujolais Runners“ gründeten einen eigenen Weinmarathon, der immer am Ausgabetag des neuen Beaujolais stattfindet, am dritten Donnerstag im November. Der Marathon du Beaujolais wird in dem Weindorf Fleuri gestartet. Im Elsaß gibt es im Juni den Marathon du Vignoble d’Alsace, im Gegensatz zum Médoc auch mit Halbmarathon und 10 Kilometern, in der Nähe von Toulouse den Marathon du Cahore et le gastronomie und sicher auch noch einige andere.

In Deutschland etablierte sich 1998 als erster Weinmarathon der Marathon Deutsche Weinstraße. Er findet im Jahr 2010 zwar erst zum siebenten Male statt, aber er ist vornherein für einen Zweijahr-Rhythmus konzipiert worden. In diesem Jahr ist er sogar, wie sonst nur ein City-Marathon, zum Schauplatz eines Kriminalromans geworden („Weinstraßenmord“ von Markus Guthmann). Beim Médoc-Marathon warb Heilbronn seinerzeit, vor etwa zehn Jahren, für den Heilbronner Trollinger-Marathon, der am 17. Mai 2009 zum neuntenmal veranstaltet werden wird. Nicht weit davon, in Großbottwar, ist am 19. Oktober der 5. Bottwartal-Marathon ausgetragen worden. Im nächsten Jahr soll auch wieder der in diesem Jahr ausgefallene Kaiserstuhl-Weinmarathon, der aus dem Peter-Lauf hervorgegangen ist, stattfinden, der es bisher allerdings mit den anderen Weinmarathonen nicht im entferntesten aufnehmen kann. Ob es den Thüringer Weinmarathon, erstmals im Jahr 2000, noch gibt, habe ich im Internet nicht eruieren können. Reizvoll ist ganz sicher der Welschlauf in der Südsteiermark, dem Anbaugebiet des Schilchers. Er wird am 2. Mai 2009 auf der Südsteirischen Weinstraße ausgetragen. Andere Marathone, wie der in Lausanne oder in der Wachau, sind nicht als Weinmarathon ausgewiesen, führen aber durch Weinbaugebiete. Zu erinnern ist dabei insbesondere auch an den einstigen Meraner Frühlingsmarathon, der durch eine eigene Weinabfüllung die Verbindung zum Weinbau betont hat.

 

Versteht sich, daß bei Weinmarathonen meistens auch die Gewächse ihrer Strecken in entsprechend etikettierten Flaschen angeboten werden. Nicht nur bei Weinmarathonen – seit Jahr und Tag kann man am Souvenirstand der Bieler Lauftage zwei Spezialitäten vom Bieler See kaufen. Sogar der Zermatt-Marathon ziert das Etikett zweier Walliser Weine. Wo sonst in den Läuferbeuteln Prospekte und einige Warenproben zu finden sind, kommt man vom Weinmarathon nicht ohne eine Flasche Wein nach Hause. Selbst der Zeiler Waldmarathon erinnert durch ein Weingeschenk daran, daß er in einer Weinregion, nämlich der Frankenweine, stattfindet.

Der Marathon-Wein, den die Teilnehmer des Marathons Deutsche Weinstraße im April dieses Jahres erhielten, ist, wie der Veranstalter mitteilt, von der Zeitschrift „Savoir vivre“ mit der Note Sehr gut beurteilt worden, ein 2007er Kindenheimer Sonnenberg Dornfelder Rotwein QbA trocken.

Auf diese Weise, als Souvenirs von Marathonläufen in Weingebieten, ist in meinem Keller eine kleine Sammlung von Weinen, die ich erlaufen habe, zustande gekommen. Die Médoc-Weine freilich sind längst getrunken, beim Trollinger-Marathon hat man wohl erst später eigene Wein-Souvenirs angeboten oder verteilt. Beim Blick auf die Flaschen, auch die leeren, werden Erinnerungen lebendig. Da stehen der Schafiser und der Twanner vom Bieler See mit dem Etikett der Bieler Lauftage, die schön gestalteten Flaschen vom Bottwartal-Marathon, der Pfälzer Wein vom Startort Bockenheim, der Frankenwein aus Zeil, die Zermatt-Marathon-Abfüllung; ein Wein aus der Wachau, ein Grüner Veltliner, ist auch dabei, zwar trägt er kein Marathon-Etikett, aber als Marathon- oder Ultramarathon-Teilnehmer konnte man ihn im städtischen Weingut von Krems mit Rabatt kaufen. Die Sammlung wäre weit größer, wenn ich all die Weine dazugestellt hätte, die mir persönlich für Marathon-Erfolge geschenkt worden sind. Auf einer Magnum-Sektflasche hat ein Sportfreund sogar meine Bieler Zeit vermerkt. Die Flasche wird im Container verschwinden; doch das Etikett werde ich vorher ablösen.

Selbst dieses Tagebuch hat einen direkten Bezug zum Weinmarathon. Nicht daß ich meine Eintragungen im Suff machte, doch beim Marathon Deutsche Weinstraße im Jahr 2002 bin ich angesprochen worden, ob ich am LaufReport mitarbeiten wolle.

Eintragung vom 20. Oktober 08

Eine Stadt nach der anderen beeilt sich zu versichern, die Gelder, die sie bei einer insolventen Bank angelegt habe, seien nicht verloren, sondern über den Einlagensicherungsfonds der deutschen Banken gesichert. Dennoch, ich kann nur den Kopf schütteln. Es mag ja sein, daß die Kommunen gehalten sind, nicht benötigte Gelder möglichst ertragbringend anzulegen. Aber jeder weiß doch, dort wo die höchsten Erträge winken, ist auch das Risiko am höchsten. Der jeweilige Stadtkämmerer weiß das nicht? Da gibt es enge personelle Verflechtungen zwischen Kommunen und dem örtlichen Bankgewerbe, und doch werden die Gelder nicht an die Volksbank neben dem Rathaus gegeben, sondern an undurchsichtige ausländische Banken. Mag ja sein, daß den deutschen Kommunen aus den Verlusten durch die amerikanischen Zocker kein Nachteil erwächst; doch der Ersatz durch den Einlagensicherungsfonds muß ja irgendwie bezahlt werden. Entweder durch die Kunden und Geschäftspartner der Banken oder schließlich durch die Steuerzahler.

Ob den Verantwortlichen im Rathaus nun endlich klar wird, welches gefährliche Spiel sie spielen, wenn sie das von den Steuerzahlern finanzierte Vermögen in Gestalt kommunaler Versorgungseinrichtungen ins Ausland verscherbeln und die Einrichtungen mieten? Die Aufsichtsbehörden haben dem kommunalen Monopoly tatenlos zugesehen.

In welcher staatlichen Ordnung leben wir? Einst war der Staat seinen Bürgern täglich gegenwärtig. Und zwar absichtlich sehr eindrucksvoll. Auf alten Ansichtspostkarten prunken Kaiserliche Postämter. Andere repräsentative Abbildungsobjekte waren die Bahnhöfe. Erst hat der Staat, das Deutsche Reich, die Postrechte und die Landeseisenbahnen gegen Widerstand an sich gerissen. Nun hat sich einer der Nachfolgestaaten aus immer mehr Aufgaben zurückgezogen. Der Bürger, der einst die Stufen zum Kaiserlichen Postamt wie zu einem Kirchenportal empor schritt, zwängt sich nun in einer Postagentur zwischen allerlei Stellagen in die Warteschlange. Aus dem repräsentativen Kaiserlichen Postamt ist eine Rumpelkammer geworden. Wann sie geöffnet ist, hängt von ihrem Besitzer ab.

Vom Telefonnetz kann man nichts anderes sagen, als daß es auf den Hund gekommen ist. Der Traum von der Volksaktie, den die Telekom genährt hat, hat Millionen um einen Teil ihrer Ersparnisse gebracht. Der Staat, der auf den Markt vertraute, hat weggeschaut. Oder mußte er nur gerade dorthin schauen, wo seine Soldaten zwecks Landesverteidigung marschieren und sterben?

Die bisherigen Erfahrungen mit der Privatisierung staatlicher Einrichtungen lassen befürchten, daß es um die Deutsche Bahn nicht besser bestellt sein wird, wenn sie nach dem – aus gutem Grund verschobenen – Börsengang den Shareholdern überantwortet werden wird. Ob sich nochmals dumme Privatanleger finden werden, die eines Tages mit Bahnaktien ihr Geld verzocken werden?

Vor Jahrzehnten schon sind die Kontrolleure in den Schienenfahrzeugen wegrationalisiert worden; dafür wird das eingesparte Geld ausgegeben für die Beseitigung von Beschädigungen – man muß sich nur die Berliner S-Bahn-Züge ansehen! – und für die Aufsicht durch privates Wachpersonal. Da dieses vorwiegend nur eine Alibifunktion hat, sind Fahrgäste, die sich gegenüber Randalierern und Gesetzesbrechern Zivilcourage bewahrt haben, die Dummen. Gelegentlich wird davon gefaselt, Gefängnisse durch private Unternehmen betreiben zu lassen. Andererseits jedoch haben wir einen hohen Verbeamtungsgrad, vom städtischen Schwimmeister, der in den Vorruhestand geht, bis zum soundsovielten Staatssekretär mit Parteibuch, den man nur durch den einstweiligen, jedoch lebenslang währenden Ruhestand wieder los werden kann.

So verhängnisvoll es gewesen ist: Auch über die schimmernde Wehr Wilhelm II. konnten sich die Bürger mit ihrem Staat identifizieren. Aus den uniformierten Repräsentanten staatlicher Stärke ist mittlerweile eine Söldnertruppe geworden. Paraden finden nicht mehr statt; was in anderen Ländern an der Tagesordnung ist, wäre bei uns Rückfall in den Militarismus.

Am ehesten können sich die Bundesbürger noch über den Sport mit ihrer Nation identifizieren. Was macht es schon, daß die wichtigen Leistungsträger von Sportmanagern aus ärmeren Ländern zusammengekauft oder, wenn die Sportler das wollen, eingebürgert worden sind! Hauptsache, sie tragen das Nationaltrikot. An irgendwas muß sich der Mensch ja halten. Respekt vor Haile Gebrselassie, der seine Siege nicht als Eintrittskarte für ein Wohlstandsland verwendet, sondern seine Prämien in sein ärmliches Heimatland Äthiopien investiert.

Eintragung vom 12. Oktober 08

Zwar habe ich schon an allen möglichen Orten trainiert, an der Moskwa und an der Neiße, auf den Lofoten, als das Hurtig-Ruten-Schiff für drei Stunden anlegte, und auf der „Finnjet“, in den kanadischen Rocky Mountains und in der Puszta, im Anden-Vorland und im schottischen Hochland, auf dem Teїde und am See Genezareth, aber daheim habe ich seit Jahrzehnten fast immer dieselbe Trainingsstrecke, da bin ich konservativ. Ich weiß, daß man wechseln sollte. Es ist die Macht der Gewohnheit, außerdem mag ich mich nicht ins Auto setzen, um zum Laufen zu fahren. Neulich jedoch habe ich das getan. Die Neugier ließ mich aus der Gewohnheit ausbrechen. In meinem Landkreis ist im April ein „Nordic-Walking-Park“ eröffnet worden, der erste im Kreis Esslingen. Wo man walken kann, kann man auch laufen.

Nach meiner Erinnerung war die Strecke des Schwarzwald-Marathons die erste bekannte in der Bundesrepublik, die ganzjährig markiert war, so daß man seither in Bräunlingen bei Donaueschingen die 42 Kilometer im Training zurücklegen kann. Beim Jungfrau-Marathon perfektionierte man die Markierung in Form von dauerhaften Metall-Wegweisern, für die Strecken des Swiss Alpine wurde diese Idee übernommen. In Arolsen, als der Twiste-Stausee 1977 geflutet worden war, hatte man mehrere Laufrunden ausgewiesen, darunter auch eine Marathon-Strecke. Im Januar 2006 entdeckte ich beim Vollmond-Marathon in Hersbruck Schilder einer Walkingstrecke.

 

Nun also schmückt sich die kleine Stadt Wernau an Neckar und Fils mit einem „Nordic-Walking-Park“. Das ist ein Waldgebiet, das man vom Sportplatz Kehlenberg erreichen kann. Dort sind drei Strecken, über 4,5, 7 und 10 Kilometer ausgewiesen. Das ist der Initiative von drei Mitgliedern des örtlichen TSV zu danken; die Namen mag ich nicht nennen, weil mich ein Name auf eine Idee gebracht hat, der ich durch Internet-Recherche nachgehen möchte. Zwei Firmen unterstützten die Aktion, und so gibt es denn außer einer Fils-Runde eine Bosch-BKK-Runde und eine Junkers-Runde. Helfer gruben Löcher, in die der städtische Bauhof dann Pfosten betonierte.

Man sieht, das Ganze ist sehr solide gemacht. Während die Baummarkierungen in Bad Arolsen etwas unübersichtlich sind – kein Wunder, denn Laufsport in Bad Arolsen darf nach wie vor nichts kosten –, kann man in Wernau auch als flotter Läufer die Richtungspfeile mit unterschiedlichen Farben schon von weitem wahrnehmen.

Ich bin kein flotter Läufer, jedenfalls nicht mehr, und also wurde ich auf einer langen Steigung der 7-Kilometer-Strecke ebenfalls zum Walker. Grundsätzlich jedoch: Das Angebot der drei Nordic-Walking-Runden auf befestigten Waldwegen wird, wie nicht anders zu erwarten, auch von Läufern wahrgenommen. Und, als ich hier lief und walkte (oder doch lieber: walked?), auch von Reitern. Nur den Kehlenberg-Sportplatz fand mein Navigationssystem nicht gleich.

Welchen Tagebuch-Leser interessieren Laufstrecken, die er wahrscheinlich niemals im Leben betreten wird? Ich halte die Aktion in Wernau für ein nachahmenswertes Beispiel. Bereits in den siebziger Jahren habe ich mich dafür ausgesprochen, die Gemeinden sollten Rundwege für Läufer einrichten. Im Idealfall sollten sie beleuchtet sein. Diesen Vorschlag habe ich in einer Stellungnahme zum Sportentwicklungsplan im Internet-Forum unserer Stadt wiederholt. Möglichst vielen Menschen sollte Gelegenheit gegeben werden, von der Haustür weg eine Runde – und sei es nur eine halbstündige – zu laufen oder zu walken. Da hinter mir kein Institut und kein Verein steht, ist die Reaktion eingetreten, die ich nach früherer Erfahrung erwartet habe: keine.

Meine Eintragung habe ich unterbrochen, weil ich noch die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises sehen wollte. Marcel Reich-Ranicki war nicht der einzige, der dabei auf die Uhr geblickt hat. Ich war kein Fan des Literaturkritikers, als er noch seine Vorstellungen gab. Am Sonntagabend dagegen empfand ich Sympathie für ihn, als er die Annahme des Ehrenpreises der Stifter verweigerte. So etwas hat man in dieser Form noch nicht erlebt. Die harsche Kritik an der seichten Gala vor den Augen und Ohren der Intendanten hat mir gut getan. Seine Einschränkung, in Arte und zum Teil auch in Sat 3 bekomme man gute Sendungen zu sehen, teile ich. Für die öffentlich-rechtlichen Anstalten war die Kritik eine Ohrfeige.

Eintragung vom 1. Oktober 08

So schön Landschaftsmarathons auch sind, – entweder unsereiner erreicht das Ziel wegen Überschreitung des Zeitlimits nicht mehr oder man trottet mutterseelenallein dahin. In den höheren Altersklassen oder auch wenn man sein Leistungsvermögen noch nicht kennt, muß man einfach dorthin, wo viele Menschen sind. Je mehr, desto besser. Der Berlin-Marathon am letzten Sonntag hat nicht nur den Weltrekord gebracht – wieder einmal –, sondern sich auch als der nach der Zahl der Teilnehmer zweitstärkste Marathon der Welt profiliert. Die Spitze bildet New York mit im vorigen Jahr 38.607 Teilnehmern im Ziel; den Boston-Marathon 1996 mit 36.868 Teilnehmern im Ziel kann man nicht rechnen, weil es der Marathon zum 100-Jahr-Jubiläum war. Im vorigen Jahr überquerten in Berlin genau 32.600 Finisher die Matten am Ziel, den mexikanischen Betrüger abgerechnet. Am letzten Sonntag waren wir 35.913 Läufer und Walker, die wir das Brandenburger Tor passierten. Sie zusammen zu zählen, ist völlig gerecht. Wer die acht Stunden in New York ausschöpft, erreicht den Central Park auf jeden Fall als Walker. In Berlin durchmischt sich’s. Zurückfallende Läufer müssen schauen, daß sie flotte Walker nicht allzu sehr aus den Augen verlieren. Da die Nordic-Stöcke nicht gestattet sind, ist die Durchmischung überhaupt kein Problem. Deshalb kann ich hochaltrigen Läuferinnen und Läufern den Berlin-Marathon mehr als andere City-Marathon-Strecken empfehlen. Und nicht nur diesen – ein Einbruch muß hier nicht gleich den Abbruch bedeuten.

 

Wenn ich von meinem elften Berlin-Marathon am Sonntag berichte, muß ich in der Wortwahl vorsichtig sein; ich kann nicht behaupten, ich sei diesen Marathon gelaufen. Das war im vorigen Jahr noch der Fall, und es keimte sogar die Illusion, ich könne beim nächstenmal vielleicht eine Minute gutmachen und damit unter 5:30 Stunden bleiben. Doch am Sonntag merkte ich schon, unter 8 Minuten für den Kilometer geht es auf der Marathonstrecke nicht mehr. Vor drei Jahren noch konnte ich den Marathon aus dem Stand heraus bewältigen, ich brauchte kein gezieltes Training dafür. Heute reicht es nur noch bis zum Halbmarathon.

Bis zur Halbmarathon-Marke konnte ich gleichmäßig traben, dann zunächst nur noch im Wechsel mit Gehpausen, die sich immer mehr verlängerten. Es kostete auf einmal unsägliche Mühe, trabend mit Walkern Schritt zu halten. Als ich das merkte, war es um die Laufmotivation geschehen. Ich verwandelte mich in einen Walker und war bis zum Ziel nur darum bemüht, nicht zum Wanderer zu werden. Wenn ich die Zwischenzeiten vergleiche, nehme ich mit Erstaunen wahr, daß ich auf den Fünf-Kilometer-Abschnitten, die ich gegangen bin, nur jeweils fünf Minuten langsamer war als auf Lauf-Abschnitten, ausgenommen die letzten sieben Kilometer. Dafür aber handelte ich mir ein Wohlgefühl ein. Als mir Horst Milde im Zielgelände begegnete, zeigte er sich verwundert: Mir sei gar keine Anstrengung anzumerken. Kunststück... Ich war ja drei Stunden lang kaum gelaufen.

Der Preis für diesen Wohlfühl-Marathon: 6:17:17 Stunden. Ich reflektiere: Weshalb konnte ich nicht mehr unter 8 Minuten den Kilometer laufen? Ich meine nicht, daß es an fehlendem Tempotraining liegt. In diesem Alter nicht. Weshalb habe ich nur noch die Halbmarathonstrecke im Griff? Gewiß, mir fehlen die langen Trainingseinheiten. Die letzte war der – nicht beendete – C42 des Swiss Alpine. Doch die langen Strecken strapazieren spürbar die Gelenke. Obwohl ich – entgegen düsteren Prognosen nichtlaufender Mediziner – keine Arthrose entwickelt habe, sind die Gelenke eindeutig empfindlicher geworden.

Marathon in M 80 ist eine Gratwanderung geworden. Doch Gratwanderungen sind besonders interessant. Sie erfordern Konzentration und exakte Wahrnehmung. Mut gehört dazu, auch Mut, vor der Realität nicht zu kneifen.

6:17 Stunden und damit ein beträchtlicher Abstand zu meinen beiden Altersgenossen in der M 80, denen ich im vorigen Jahr noch voran geeilt wäre, sind schmerzlich, aber kein Debakel. Ich bin dankbar, daß ich noch ein Marathon-Erlebnis haben konnte, ohne mich laufend und Herz-Symptome riskierend über die Marathon-Strecke quälen zu müssen. Berlin hat mir das passende Umfeld geboten. Weder war ich der letzte – das hat sich offenbar Michel Descombes in den Kopf gesetzt gehabt – noch war ich jemals allein. Die Infrastruktur der Organisation war, auch wenn mit dem Abbau begonnen worden war, perfekt bis in den Zielbereich. Fast auf der gesamten Strecke waren die Musikgruppen noch aktiv. Erstaunlich das Publikum, das ausharrte, obwohl es niemanden mehr als uns Schrittgeher zu Gesicht bekam, und uns ohne dumme Sprüche ermutigte. Der Berlin-Marathon erweist sich als ein Marathon nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität, dies eben nicht nur an der Spitze.

Es sind gerade die guten Marathon-Läufe, in denen sich Entwicklungsprozesse vollziehen. Nicht immer sind sie optimal. Die Verlagerung der Marathonmesse Vital von den Messehallen in das ehemalige Siemens-Kabelwerk in Tegel halte ich nicht für glücklich. Den Zelten haftet bei einem sonst so professionellen Marathon etwas Provisorisches an, und die Industriearchitektur nimmt man über den bunten Ständen nicht wahr. Das Industriegelände als – kostenpflichtiges – Parkgelände birgt in der Dunkelheit Tücken, abgesehen davon, daß man sich den Standplatz seines Autos gut merken sollte. Am Samstag soll es Autofahrer gegeben haben, die, weil alles voll war, entnervt weiterfuhren und dann mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß die Messe erreichten. Besucher beschreiben die Abwicklung am Samstag in der Halle als chaotisch. Ich habe niemanden getroffen, der mit der Verlegung der Messe in das Kabelwerk zufrieden war.

Wie die ARD mit einem Ereignis umgeht, auf dem durch Haile Gebrslassie ein neuer Weltrekord, der siebente Marathon-Weltrekord in Berlin, aufgestellt worden ist, Irina Mikitenko mit 2:19:18 Stunden eine Frauen-Spitzenleistung erbracht und Falk Cierpinski die düstere deutsche Hochleistungs-Laufszene mit 2:13:30 illuminiert hat, das ist ein anderes Kapitel. Es wirft die Frage auf, wofür öffentlich-rechtliche Anstalten, wenn sie denn doch lieber im Mediensumpf fischen gehen möchten, Gebühren kassieren oder gar Gebührenerhöhungen in Anspruch nehmen wollen. Als ich im Zweiten, in dem man, wie bekannt, besser sieht, um 19 Uhr die Nachrichten sah und hörte, begann der Sportteil mit einem gefilmten Unfall, als ein Rennwagen startete, während der Kraftstoffschlauch noch im Stutzen steckte, dann wurden zwei Boxer gezeigt; erst an dritter Stelle wurde über den Lauf-Weltrekord in Berlin berichtet. Nach zwei nachrichtlichen Belanglosigkeiten also schaffte es der größte Marathon in Europa mit wahrscheinlich wieder einer Million Menschen an der Strecke auf den dritten Platz. Das bedeutet: Der Nachrichtenwert bemißt sich für Redakteure des ZDF nach dem Unterhaltungswert. Der Fachbegriff lautet: Infotainment.

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