Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 31. Dezember 04

Es scheint, als könnten wir die wahre Furchtbarkeit eines übermächtigen Ereignisses nicht auf einmal erfassen. Das liegt offenbar nicht an den zu diffusen Informationen. Im Falle des Seebebens im Indischen Ozean war dieser Vorgang, die Selektion der Wahrnehmung, deutlich zu beobachten. Es zeigt sich auch, daß es sinnlos sein kann, sich in der Berichterstattung an Fakten zu klammern, gar numerische. Was bedeuten einige Tote, die sich bestätigen lassen, gegen die Ahnung, daß es in Wahrheit die vieltausendfache Zahl ist!

Der Weg, den ich Tausende Mal entlang getrabt bin, war vergessen; ich wußte einen Augenblick nicht mehr, an welcher Stelle der Route ich mich befand. SCC-Running, die Berliner Lauforganisation des Sportclubs Charlottenburg, hat auf ihrer Website rasch reagiert. Bereits am 29. Dezember hatte sie ihre Beteiligung an der Spendenaktion des UNICEF-Kinderhilfswerks zugesagt. Für den Silvesterlauf und den Neujahrslauf ist das Motto verkündet: Laufen für die Flut-Opfer in Asien.

In dieser einen Woche hat der Winter stattgefunden, Bäume und Gartenzäune verschneit, bin ich über verharschten Schnee getrabt, gab es glatte Stellen auf dem  Asphalt, habe ich mir nasse Füße geholt, habe ich eine leuchtende Dämmerung erlebt. An dem nassen Tage, Mittwoch, thronte auf dem Wegweiser des  Radweges ein großer graubrauner Vogel, keine Taube, keine Krähe; es war ein ausgewachsener Bussard. War es jener, der mich vor einigen Jahren hier angegriffen hatte? Diesmal schien ich ihn nicht zu kümmern. Wahrscheinlich hatte er mich viel früher gesehen als ich ihn. Selbstbewußt blieb er sitzen, wahrscheinlich hatte er mich als erdgebunden und damit ungefährlich erkannt. Vielleicht hatte ihm auch die Nässe zugesetzt, und er wollte nichts  als sein Gefieder trocknen. Wir nahmen nicht weiter Notiz voneinander.

Über Eberhard hatten wir uns Gedanken gemacht. Am Tag vor Silvester traf seine Karikatur ein. Eberhard Holz ist Karikaturist und lebt – ja, wie lange schon? seit Jahrzehnten? – bei Nizza, seine Maxime lebend: bescheiden zwar, aber dort, wo es schön ist. Ich rechne zurück, wir kennen uns seit 51 Jahren. Wir stammen aus derselben Stadt, er kam ungefähr ein Jahr nach mir in die Bundesrepublik, was die Redaktion des Ostberliner „Eulenspiegel“ nicht hinderte, seine Karikaturen zu drucken.  Wir haben gemeinsam, daß wir gewissermaßen antifaschistische Kinder waren. Dies bewahrte ihn nicht davor, daß er und sein Vater, ein früherer SPD-Genosse, in Prag von Tschechen mißhandelt wurden.  An den Folgen der .Gewehrkolbenschläge auf den Kopf leidet er gelegentlich noch heute. Warum hat  man nicht die Aufarbeitung des Unrechts an der deutschen Bevölkerung zur Bedingung für den Eintritt in die Europäische Gemeinschaft gemacht?

In absehbarer Zeit werden alle Zeitzeugen gestorben sein, dann wird Geschichtsschreibung noch leichter gefälscht werden können. Eberhard und mich verband die Ablehnung der Aufrüstung in Deutschland-Ost und -West, und wir hielten Adenauer mit seiner Idee der Rheinrepublik für den Spalter Deutschlands, der in Wahrheit die Zoffjetzone abgeschrieben hatte. In den fünfziger Jahren erhielt ich von Eberhard regelmäßig offene Postkarten nach dem Muster der Montagen John Heartfields mit grimmigen Anprangerungen des deutschen Militarismus – es waren ja Hitlers Offiziere, die Adenauer in die Bundeswehr holte –  und  von Figuren der Adenauer-Zeit wie Globke. Gar so oft haben wir uns in den fünfzig Jahren nicht gesehen, aber es ist eine Briefsammlung entstanden voll wütender Übereinstimmung. An Eberhards Karikaturen schätze ich die Schärfe der Aussage und die Verbindlichkeit der Form. Wir mögen beide das Gesudel nicht, das in Redaktionen als „modern“  gilt. Eberhard ist ein Meister der Präzision, bei seinen Karikaturen kann man verweilen, weil sie durch Detailgenauigkeit fesseln. Da das Handwerkliche der Zeichnungen heute als altmodisch geringgeschätzt ist, wird er wohl in den Redaktionen vergessen sein. Ob er wohl die Neujahrs-Karikatur, die er uns wie seit Jahren um diese Zeit als privaten Gruß schickt, irgendwo verkaufen konnte? Was ich nun tue, darf ich nicht tun: Ich begehe eine Urheberrechtsverletzung und lasse die Karikatur, ohne ihn zu fragen, ins Netz stellen. In der besten Absicht, nämlich um ihm hier wenigstens Öffentlichkeit zu verschaffen.  Fragen kann ich ihn nicht, wir haben nur den Postweg. Als wir ihn in den sechziger Jahren an der Cote d’Azur besuchten, hatte er sich statt einer neuen Armbanduhr ein Fernrohr gekauft, mit dem las er die Uhrzeit am Kirchturm ab. Als seine beiden Kinder allerdings in den Kindergarten und die Schule mußten, kamen wieder Uhren in die Wohnung.  Doch dem Computer hat er sich verweigert. Dank Lektüre mehrerer deutscher Zeitungen ist er jedoch den Ereignissen so nahe, daß es mich immer wieder erstaunt. Worin wir nicht übereinstimmen: Als er vor Jahren Deutschland und damit auch uns besuchte, zerrte er mich auf der Straße am Jackenzipfel, ich solle nicht so eilig sein. Mein läuferischer Antipode.

Eintragung vom 23. Dezember: Mein Laufjahr 2004

Einen Rundbrief zu schreiben, ist nicht meine Idee, ich übernehme sie nur: nämlich den aus Neigung (andere bleiben ohnehin außer Betracht) zu schreibenden Weihnachts- und Neujahrsglückwunsch mit einem Rückblick zu verbinden, einem spezifisch läuferischen, denn meine Adressaten sind überwiegend Läufer. Und andere? Wer sich für mich interessiert, muß den Läufer in Kauf nehmen.

Rascher Entschluß im Januar, am 5. Elbtunnel-Marathon teilzunehmen. Christian Hottas ermöglichte es mir. Ich fürchte, es ist wie im Geschäftsleben: Wenn man weiß, der Partner ist Jäger, dann ladet man ihn zur Jagd ein und überläßt ihm einen Bock. Ein Privileg als Form der Bestechung? Nur, beim Elbtunnel-Marathon nützt Bestechung nichts. Ich durfte also starten, obwohl die Anmeldefrist überschritten war. Zudem erhielt ich die Startnummer 2. Üblicherweise gebührt sie Favoriten, und es muß dann schon merkwürdig berühren, wenn die Nr. 2 ganz am Ende des Feldes dahinschleicht. An solchen Bonus-Gesten wie der Erteilung einer niedrigen Startnummer, ohne daß sie durch eine Erwartung gerechtfertigt wäre, merkt man, daß man unweigerlich zu den Alten zählt. Ebenso rasch der Entschluß, nach Hamburg nicht das Auto zu nehmen, sondern mit der Bahn zu fahren. Bei den unterschiedlichen Fahrpreisen stellt sich heraus, daß die Billig-Angebote reine Lockvögel sind. Keine Chance, normaler Preis. Ich habe es wirklich geschafft, am Tag vor der Reise den Fahrausweis samt Platzkarte über Internet zu bestellen und auszudrucken. Der Schaffner hat mich dann auch dafür gelobt. Elbtunnel-Marathon – mit Routine zum drittenmal die 48 Runden gemeistert, aber als Verkehrshindernis kam ich mir denn doch vor. Ich sollte an solchen Veranstaltungen nicht ohne Not teilnehmen. Doch in dieser Jahreszeit ist die Auswahl nicht groß. Es sind dann ohnehin acht Wochen bis zum nächsten Marathon vergangen.

Freiburg-Marathon, die Premiere in Freiburg war lange geplant. Erstaunlicherweise habe ich hier auf den zwei Runden meine Jahresbestzeit erreicht: 5:04:20 Stunden (netto). Im Jahr 2005 ist der Lauf in den April hinein verschoben, er kommt daher diesmal nicht in Frage. Schade, denn diesmal wird es, wie ich vorgeschlagen habe, durch die Altstadt gehen.

Vier Wochen nach Freiburg der Ruhr-Marathon von Dortmund nach Essen. In Erinnerung bleibt der Flügel in der Gießhalle von Opel in Bochum. Nicht besonders gut gelaufen, aber ein Erlebnis. Ich möchte auf der neuen Variante mit den zwei Startorten im Jahr 2005 wieder dabei sein, nun den anderen Startort wählend.

GutsMuths Rennsteiglauf, die 72,7 Kilometer gewandert und gelaufen. Mit einem Polster innerhalb der 12 Stunden in Schmiedefeld. Mehr wollte ich nicht, mehr habe ich nicht zu wollen. Es reicht gerade, um guten Gewissens auch im Jahr 2005 in Eisenach zu starten. Ich freue mich. Wenn man keinen anderen Ehrgeiz hat, als in der Zeit anzukommen, ist die Freude unbeschwert.

Die 100 km von Biel sind der wichtigste Fixpunkt des Jahres. In diesem Jahr war es das 30. Mal. Unangenehm der Regen in der Nacht, und erstmals auf einer Marathon- oder Ultramarathonstrecke eine Blase, die mich zwang, eine Sanitätsstation aufzusuchen. Flüchtiger Gedanke: Im Jahr 2005 zum selben Termin der Mittelrhein-Marathon. Ich hätte liebend gern daran teilgenommen, aber nun mag ich keinen Bieler 100-km-Lauf auslassen.

Anfang Juli der Versuch in Zermatt. Ich war wirklich erbost, daß ich bei der Halbmarathonmarke wegen Zeitüberschreitung um 5 Minuten faktisch aus dem Rennen genommen wurde. Schon erstaunlich, daß hier zwei verschiedene Durchgangszeiten für Zermatt angegeben worden sind. Auf die Zeit 12.15 Uhr nach Halbmarathonlänge war ich eingerichtet. Der Hinweis auf 12 Uhr beim Passieren um 12.05 Uhr traf wie ein Keulenschlag. Und obwohl ich mich über die Anordnung hinweggesetzt habe und damit disqualifiziert gehört hätte, war dann auch die Luft heraus. Mit Verlaufen, der Suche nach Markierungen und der Rücksicht auf einen Leidensgefährten wurde eine Wanderung zur Riffelalp daraus. Erst jetzt waren die Organisatoren betroffen. Ich habe das Startgeld zurückerstattet bekommen, aber eine Chance, den Zermatt-Marathon zu bestehen, habe ich nun nicht mehr.

K 42 des Swiss Alpine – so zufriedenstellend, daß ich mir auch für das Jahr 2005 noch einmal den K 42 vorgenommen habe.

Am 5. September der Fränkische-Schweiz-Marathon. Heiß war’s, aber ich habe ihn in der besten Erinnerung. 14 Tage später der 2. Allgäuer Voralpenmarathon, eine Woche danach Berlin. Aus freien Stücken hätte ich’s nicht gemacht, doch nach Ebermannstadt sollte ich, um dort am Stand der Gesellschaft für Gesundheitsberatung die Brücke zu schlagen vom Sport zur Vollwertkost. Nach Kempten war ich schon im Jahr zuvor eingeladen worden, nun wollte ich nicht enttäuschen, und auf Berlin hatte ich mich zuvor schon festgelegt.

Am 17. Oktober die Premiere des Bottwartal-Marathons, am 13. November die des Zeiler Waldmarathons. Sechs neue Marathons habe ich in diesem Jahr kennengelernt, da bin ich sehr zufrieden.

Allerdings, ich fürchte, daß ich einen Preis zahlen mußte. Beim Bottwartal-Marathon das Gefühl, es reibe etwas am Unterbauch. Entgegen meiner Befürchtung war es nicht die Blase; die Kälte an diesem Tag hätte durchaus auf die Blase schlagen können. Vielmehr – diese Diagnose scheint zu stimmen – sind Adduktoren überstrapaziert worden. Später habe ich dann im „Spiegel“ gelesen, daß Fußballer leicht davon betroffen würden. Jetzt bin ich ganz vorsichtig und habe nach je 5 Tagen Trainingsrunde einen Ruhetag eingelegt, vielleicht halte ich es aus, eine Weile nur jeden zweiten Tag zu laufen. Zumindest in der Weihnachtswoche werde ich das wohl so halten.

Eine Beobachtung beim Rückblick: Die Klassierung mit fünf Jahrgängen ist zweckmäßig, aber in der M 75 scheint sie nicht mehr zu stimmen. Die im 75. Lebensjahr erbrachten Leistungen sind im 78. und 79. Lebensjahr offensichtlich zurückgegangen. Kein Trübsinn! Man muß sich mit seinem Alter identifizieren können. Demnächst werde ich mich mit dem Quatsch des „Anti-Aging“ befassen. Aus solchen Begriffen wird man ein Gesetz ableiten können: Sobald ein englischer Begriff gebraucht wird, ist Kommerz im Spiel.

Eintragung vom 16. Dezember 04

Meine Strecke hat in den letzten Tagen unterschiedliche Facetten gehabt. Die Filder-Hochebene lag im Nebel. Als ich dann im Körschtal war, erblickte ich in der weißen Watte ein Lichtband am Horizont – phantastisch. Es war nichts weiter, als daß sich auf dem Körschtalviadukt die Fahrzeuge stauten. Alles sonst war milchig, das Band der Scheinwerfer schien am Himmel zu schweben. Anderntags Bäume und Gräser durch Rauhreif filigranhaft in eine Feenlandschaft verwandelt. Auf dem Rückweg mußte ich aufpassen, es gab glatte Stellen. Lauf spätnachmittags – die Sonne schmolz im Westen zu einem roten Streifen, bevor die Dämmerung hereinbrach. Am Mittwoch ist es später geworden – die Mondsichel hat mich begleitet, zunehmender Mond. Wenn man aus dem Mond ein Z schreiben kann, nimmt der Mond zu. Doch das weiß man nur, wenn man Fraktur schreiben gelernt hat und mit einem Bogen zum deutschen Z ansetzt. Während des Laufens kann man denken, dichten. Könnte man doch malen unterwegs! Unter uns gibt es viele schreibende Läufer, aber ich finde so wenig Laufbilder. Halten sich die Bildenden Künstler bedeckt? Am ehesten lassen sich Stimmungen unterwegs wohl durch die Photographie wiedergeben. Dazu, die Stimmungen der Landschaft gemüthaft zu reflektieren, bedarf es malender Künstler. Ich habe ein Buch „Die Eisenbahn in der Malerei“. Wo ist das Buch „Laufen in der Malerei“? Alles muß man selber machen... Das stimmt natürlich nicht. Horst Milde hat vor Jahren schon Gemälde mit Motiven des Berlin-Marathons angekauft.

Im Bachbett der Körsch ist wieder ein Stück renaturiert worden. So sehr das zu begrüßen ist, hätten nicht ein paar Köpfe in den Rathäusern die Betonierung verhindern können? Erst haben Begradigung und Betonierung Geld gekostet, jetzt der Rückbau. Wir stünden wahrscheinlich alle besser da, wenn wir bescheidener geblieben wären. Doch wer wie ich vor dreißig Jahren den Kopf darüber geschüttelt hat, daß in unserer Region im Abstand von zwei bis sechs Kilometern jeweils ein Hallenbad gebaut worden ist, galt als rückschrittlich oder in diesem Fall als sportfeindlich. Das Wehklagen über zu teure Fußballstadien und ihre Folgelasten werden wahrscheinlich erst meine Enkel erleben. Gegenwärtig sind wir ja auf diesem Gebiet noch in der Bau-Hysterie.

Eintragung vom 8. Dezember 04

Da ich nun einmal gewöhnt bin, spätnachmittags zu laufen, komme ich am Ende in die Dunkelheit hinein. Kaum noch ein Haus, bei dem ich nicht mindestens an einem Fenster, auf einem Balkon oder vor dem Haus Lichterschmuck erblickte, leuchtende Sterne, Lichtergirlanden, bunte Kreisel. Der Doktor ein paar Häuser weiter hat einen beleuchteten Tannenbaum aufgestellt. Gegenüber ziehen sich Lichterketten durch den Garten. Der Aussiedlerhof unterwegs hat den Dachtrauf illuminiert. In einem Fenster gibt es ein Springlicht, es bildet sich eine Folge von geometrischen Figuren. Wenn an meiner Laufstrecke ein Puff wäre, mit roten Laternen an den Fenstern, er würde gar nicht mehr auffallen. Der Stern von Bethlehem erstrahlt nicht mehr erst am Heiligen Abend. Die ganze Adventszeit hindurch, die in Peter Roseggers Erinnerungen noch das archaische Dunkel vor der Geburt Jesu widerspiegelte, leuchtet es, strahlt es, flackert es. Ob Verkehrsampeln oder Adventssterne – auffällig muß es sein. Alte Bräuche sind ihres christlichen Inhaltes entkleidet; aber hatten nicht christliche Bräuche ihre Wurzeln oftmals in sogenannten heidnischen Überlieferungen? Manchmal habe ich als abtrünniger Christ mit meinen aufklärerischen Überzeugungen zu provozieren versucht. Das ist vorbei, nicht nur für mich. Über die Internetseite des Zeiler Waldmarathons bin ich auf die Seite einer uns beim Halb- und Ganzmarathon massenhaft fotografierenden Foto-Firma gestoßen. Die macht Reklame mit dem, was sie so in letzter Zeit gearbeitet hat. Darunter sind Aufnahmen vom 80. Geburtstag eines gewissen Karlheinz Deschner aus Haßfurt. Da bin ich neugierig geworden. Denn den Buch-Autor Dr. Deschner hatte ich – es muß Ende der sechziger Jahre gewesen sein – in Nürnberg vor Gericht kennengelernt. Wenn ich mich recht erinnere, war er wegen Gotteslästerung angeklagt, ein intellektueller Autor, ein „konventionsfeindlicher Essayist“, wie er in Kröners Lexikon der Weltliteratur genannt ist, den kirchliche Kreise ahnungslos vor Gericht gezerrt hatten. Der profiliert liberalen „Stuttgarter Zeitung“ war dies eine Gerichtsreportage wert. Und ich hatte sie zu schreiben. Jetzt, über 35 Jahre später, wurde Deschner zu Ehren ein städtischer Geburtstags-Empfang gegeben. Bayern, sofern man Franken dazu rechnet, ist offenbar auch nicht mehr das, woran wir uns mit Vergnügen reiben konnten. Schade, ich wäre gern in einer christlichen Gesellschaft Außenseiter geblieben und nicht Mitläufer der Kirchenkritik. Deschners Bücher gegen die christlichen Kirchen erregen keinen Anstoß mehr. Da bin ich froh, daß ich über Laufen schreiben darf. Das bewegt offenbar, wie ich manchmal erfahre, Leser wirklich noch – nicht nur in wörtlichem Sinne.

Ein lieber Mensch, einer von denen, die mich fast bedingungslos akzeptieren, dem ich einmal in einem Gespräch sagte, ich sei kein Christ, widersprach mir auf das Energischste, doch ich sei einer. Nein, sei ich nicht. Doch. Wenn er meine folgende Tagebuch-Eintragung liest, wird er sich bestätigt sehen. Ich rede von meinem Verhältnis zu Holger Meier. Der ist eine Fiktion, erdacht von einem, der Laufen zum Beruf gemacht hat, als Trainer und Händler. Der psychologische Einfall des Trainingsplanverkäufers war, seinen Lesern einen Gegenspieler vor Augen zu stellen, den es zu besiegen gelte, eben jenen Holger Meier, eine Art Spottgeburt aus Dreck und Feuer. Viele Läufer, die Wettkämpfe bestreiten, haben wohl jemanden, mit dem sie wetteifern. Aber doch wohl viel weniger, als der Erfinder Holger Meiers annimmt. Ich jedenfalls – und da halte ich mich nicht für eine Ausnahme – wollte nicht um jeden Preis besser sein als andere aus meinem Umfeld oder in meiner jeweiligen Altersklasse. In diesem Sinne war ich nie ein „Leistungsträger“. Erst recht geht mir dieses Konkurrenzdenken im Alter ab. Auch da, denke ich, bin ich wohl keine Ausnahme. Wir in den oberen Altersklassen kennen ungefähr unsere Plätze und wissen, daß sich daran wohl nichts ändern wird. Und nur dadurch einen Platz höher zu steigen, weil der andere verletzt oder krank oder gar weggestorben ist, – da bekäme ich einen schalen Geschmack im Mund. Ich bin im Grunde für mich gelaufen, habe mit der Strecke gekämpft, um die Erhaltung meines Standards; die Leistungen anderer waren mir Orientierung, vielleicht auch einmal Herausforderung. Aber allen, die besser waren oder sind als ich, habe ich das gegönnt. Meine Händedrücke waren ehrlich. In meiner Altersklasse ein Holger Meier auf dem Treppchen eine Stufe höher als ich – na und? Nun lese ich in dem Rundbrief, den ich auch jetzt nicht aus dem e-mail-Briefkasten verbannen werde, die Anleitung, wie man Holger Meier besiege. Nämlich bereits den Winter zum aufbauenden Training zu nutzen. Das dumme Gesicht, das Holger Meier dann machen werde, entschädige einen für Kälte, Dunkelheit, Regen, Schnee und Wind. Na schön, wer zur Motivation ohne einen Holger Meier nicht auskommen kann... ich laufe nicht fremdorientiert. Auch der Gedanke an einen Holger Meier vermag mich nicht in die Nässe hinaus zu treiben. Doch was mich wirklich empört, ist diese Formulierung: „Während die anderen sich im Sessel noch die Füße kratzen, bist du schon draußen und bereitest die sportliche Hinrichtung von Holger Meier vor.“ Kann sich jemand über eine Hinrichtung freuen, und sei es eine sportliche? Wenn dann unter dem Rundbrief steht: „Mit einem Lächeln...“ – das paßt wie die Faust aufs Auge.

Eintragung vom 29. November 04

Bei großen Stadtmarathons habe ich mich nun um bis zu einer halben Stunde verbessert. Nicht daß ich dank Präparaten schneller geworden wäre – diese Möglichkeit suggerieren uns nur Hersteller und Händler in ihrer Reklame –, vielmehr werde ich vom Jahr 2005 an gewissermaßen von Amts wegen mit den Zeiten registriert, die ich tatsächlich gelaufen bin. Denn für die offiziellen Statistiker begann mein Lauf mit dem Startschuß; doch zu dieser Zeit stand ich zum Beispiel im vorigen Jahr in München noch müßig herum – die Startlinie überquerte ich nach 32:16 Minuten. Vor Jahren – ich weiß nicht mehr, vor wieviel Jahren – hat der Straßenlauf-Ausschuß des Deutschen Leichtathletik-Verbandes beschlossen, daß in die offizielle Statistik allein die Bruttozeit, also die Zeit zwischen Startschuß und Zieleinlauf, einzugehen habe. Der Transponder am Schuh wurde gewissermaßen zur Privatsache erklärt. Im Grunde hat sich der Fachverband damals über einige Hunderttausend Halbmarathon- und Marathonläufer, denen der Chip zu einer gerechten Bewertung verhilft, hinweggesetzt, bloß um das Prinzip der Placierung – der zehnte an der Ziellinie darf auf der Liste nicht schneller sein als der achte und neunte – konsequent zu verfolgen. Das Prinzip rührt aus der läuferischen Steinzeit her, als bei einem Wettkampf die Champions alle miteinander noch in die erste Startlinie paßten. Das Unverständnis und der Verdruß über jenen Beschluß wären noch größer und der Protest noch stärker gewesen, wenn nicht die Veranstalter außer der Bruttozeit immer auch die echte gemessene Laufzeit in ihren Listen und auf den Urkunden angegeben hätten. Der Internet-Seite des Berlin-Marathons habe ich dieser Tage entnommen, daß der Bundesausschuß Wettkampforganisation des Deutschen Leichtathletik-Verbandes den Statistikern fortan gestatte, Netto-Zeiten aufzunehmen. Nichts hat sich an der Argumentation oder den Bestimmungen der IAAF geändert; nur der DLV hat seine Haltung geändert. Wenn man dazu eine Anzahl von Jahren braucht – selbst die Einsicht in die Widersinnigkeit der Rechtschreibreform hat sich um vieles rascher verbreitet –, dann dokumentiert man damit seine Inkompetenz im Hinblick auf die Massenstarts. Der Eindruck, daß der DLV der Interessenverband von Berufssportlern sei, läßt sich durch den nachhinkenden Beschluß wohl kaum verwischen.

Seinen ehrenden Nachruf, ahne ich, bereitet man wohl anders vor.

In der letzten Woche hatten wir Vollmond. In Vollmondnächten schlafe ich gewöhnlich schlecht. Diesmal ging’s. Doch ich dachte daran, was mir Martin Linek beim Zeiler Waldmarathon erzählt hat. An seinem ersten Vollmondmarathon hätte ich gern teilgenommen, einem Vegetarier-Marathon mit Verpflegung nach den Prinzipien der Vollwertkost. Dafür sei er beschimpft worden, klagte Martin – statt der Nudeln gab es Gemüse aus biologischem Anbau, gekocht nach der Rezeptur von Charly Doll. Wie in München wieder wird es beim nächsten Vollmondmarathon, am 20. August, ebenfalls Nudeln geben, da kostet die Portion keine 40 Cent statt fast 4 Euro, und gemäkelt wird auch nicht. Nicht nur der DLV braucht Zeit für neue Erkenntnisse. Umdenken in der Ernährung, das ist eine Generationenfrage. Erst müssen die Menschen durchs Tal, durch eine verfettete Jugend, durch Altersdiabetes im Alter von 4 Jahren, durch weitere Infarkte auf dem Spielfeld. Und dann werden sich diejenigen, die das überlebt haben, unter Läufern daran erinnern, da gab es doch einen, der hoch in den Siebzigern Marathon lief.... So wie ich mich an einige erinnere, die sich in meiner läuferischen Entwicklungszeit nach Waerland ernährten, und ich begnügte mich damals damit, davon nur Kenntnis zu nehmen. Es dauert eine Generation, vor allem an den Universitäten. Dort lernen angehende Ärzte weiterhin fast alles über Krankheiten und fast nichts über Gesundheit.

Eintragung vom 22. November 04

Frostiger Wintertag, wie auf Verabredung tragen wir alle, die wir unterwegs sind, warme Handschuhe. Es dauert länger, bis die Füße warm sind. Hinzu kommt: Nach einem Dutzend Marathons in diesem Jahr lasse ich mich in die regenerative Phase fallen, Laufen ohne Anstrengung, auch mal ein Stück Gehen. Entspannen. Eine Woche nach dem letzten Marathon ist der nächste diesmal noch nicht geplant.

Der Tafelwein aus Zeil in der Literflasche war gar nicht so übel, Tafelwein wird bei uns sonst nur zum Kochen und als Glühwein benützt. Doch der Tafelwein vom Main hat den unverkennbar erdigen Geschmack der Frankenweine gehabt. Gehabt... Zeil und sein Wein-Sponsor haben eine gute Visitenkarte abgegeben. Dafür hätte ich den Namen Hubert Karl richtig schreiben können, mit K statt mit C. Manchmal setzt sich im Kopf etwas fest, und man kommt gar nicht auf die Idee, etwas nachzulesen oder nachzuschlagen. Gelesen habe ich, beim Zieleinlauf habe es Probleme gegeben. Nicht alle seien ordnungsgemäß erfaßt worden. Wenigstens ein Vorteil: Bei uns am Schluß kann so etwas nicht passieren. Wir werden erwartet, alle sind froh, daß auch wir  da sind, nun kann man die Zelte abbrechen und die Tische zuklappen.  

Diese Woche werde ich nach Großbottwar fahren. Im Email-Briefkasten die Mitteilung, für mich stünden ein Pokal und ein Weinpräsent bereit, ich sei ja Altersklassensieger. Kunststück, wenn man der einzige ist. Wenn es irgend geht, wohne ich Siegerehrungen bei, das war auch früher schon so, als ich keine Chance hatte, unter den ersten drei zu sein. In Großbottwar habe ich etwas mißverstanden, ich war ja in der Halle. Dann trat der Sprecher vom Mikrophon weg, und die Kapelle verließ die Bühne. Da glaubte ich, die Veranstaltung sei zuende. Verstanden hatte ich nichts. In der Nachbarschaft, beim 1. Heilbronner Trollinger Marathon, war ich wie auch anderswo  der nächst niederen Altersklasse zugeschlagen worden, und da gab es verständlicherweise Schnellere.

Üblicherweise hat man, wenn man bei der Siegerehrung nicht anwesend ist, seinen Anspruch auf besondere Auszeichnung oder einen Sachpreis verwirkt. Wer redet von geizigen Schwaben? Großbottwar zeigt sich generös. Der Lauf wird, bei solcher Einstellung, seinen Weg machen. 

Die Tagebucheintragung durchgelesen. Na ja, es gibt Geistreicheres. Auch hier Entspannung. Hat es nicht selbst Thomas Mann in seinen Tagebüchern  keineswegs für unter seiner Würde gehalten zu erwähnen, daß er morgens „Chokolade“ getrunken habe? Erst recht blieb der Kaviar im Hause Mann nicht unerwähnt. Aber so etwas hätte ich doch auch zu bieten. Nicht Kaviar, aber Kartoffeln und Quark nach dem 1. Zeiler Waldmarathon.

Eintragung vom 14. November 04

Für diesen Marathon sprach einiges: Der Termin – im November wollte ich noch einen Marathon laufen, Mitte November könnten die Straßen noch frei sein –, ein Landschaftsmarathon, der so gut in die herbstliche Stimmung paßt, nicht mehr als zweieinhalb Stunden Autofahrt und dazu noch veranstaltet von Hubert Carl. Wir haben 1992 am Spartathlon teilgenommen und schliefen im selben Zimmer. Zuletzt haben wir uns im April vorigen Jahres in Bad Lippspringe im Lauftherapiezentrum gesehen. Vor einer Woche hat Hubert seine Ausbildung zum Lauftherapeuten erfolgreich abgeschlossen. Nun also trat er als Veranstalter des 1. Zeiler Waldmarathons auf. Zeil am Main liegt am Rande des Naturparks Haßberge, und durch ihn führte der Kurs der drei Laufstrecken, Marathon und Halbmarathon auf derselben Strecke, zwei Runden, die mich jedoch nicht störten. Der ganze Lauf vollzog sich nach meiner Mutmaßung in einem relativ engen Gebiet; ich empfand, es ist vielleicht psychologisch gar nicht so schlecht, sich nicht allzuweit vom Ziel zu bewegen. Und die Steigungen der zweiten Runde haben nichts Belastendes mehr, man hat sie ja auf der ersten Runde kennengelernt. Erstaunlich, daß 840 Höhenmeter zusammengekommen sind, 420 auf jeder Runde. Bereits vom Start weg beginnt der stärkste und längste Anstieg. Da mußte ich schon die Nerven behalten und ruhig gehen, selbst wenn die Walker an mir vorbei staksten. Keine Siedlung wird berührt, nur an einer Stelle verläßt man den Wald. Die Waldwege bis auf eine Stelle durchaus kommod.

Hubert Carl war mit seinen Erwartungen bescheiden, sie wurden um das Mehrfache übertroffen. Das bedeutete ziemliche Nervosität vorher. Doch tatsächlich, es klappte alles, die Verpflegungsstände bis zum Schluß gut belegt, Beförderung von der Startnummernausgabe zum Start und von dort zurück zum Hallenbad und zur Siegerehrung. Die freilich zog sich zum Verdruß mancher etwas hin, aber das ist bei solchen Läufen, wenn sie zum erstenmal veranstaltet werden, die Regel. Hubert hatte den Mut zu Neuem. Keine unsinnige Pastaparty, dafür am Ziel Pellkartoffeln und Quark. Einer wie ich, der sich über Ernährung, auch Wettkampfernährung Gedanken macht, freut sich darüber. Mäßiges Startgeld, 15 Euro, inbegriffen außer der Kohlenhydratzufuhr nach dem Lauf Medaille und eine Flasche Frankenwein, wenn auch der Kategorie Tafelwein. Auch die Preise am Büffet waren moderat.

Vorher hatte ich überlegt: Wie sollte ich meinen 300. Marathon feiern? Im November verreisen? Ich bin froh darüber, daß ich ihn in der Stille der Laufprovinz begangen habe.

Eintragung vom 7. November 04

Wie sich das alltägliche Szenario gewandelt hat! Die Umstellung auf die Winterzeit hat plötzlich den Lauf in den Abend hinein verschoben. Hierzulande sagt man: in die Nacht. Bedeutet aber nur, daß es halt finster ist. Erinnerung: Jahrelang mußte ich, wenn ich vom Dienst kam, im Dunkeln laufen. Heute klingt das heroisch, aber mir hat es gar nicht soviel ausgemacht. In diesen ersten Tagen nach der Uhrenumstellung hat sich die alltägliche Laufstrecke gewandelt. Dämmerung, wie beschreibt man sie, ohne von der Trivialität in die Maniriertheit zu gleiten? Nichts schwieriger, als einfache Dinge einfach zu beschreiben. Während eines einzigen Kilometers ist aus der Dämmerung Dunkelheit geworden, die Laufstrecke ist illuminiert durch die Lichter der Zivilisation. Am Schluß dann einige hundert Meter auf beleuchtetem Weg, Übergang zur Kunstwelt heimischer Zeitlosigkeit. Eine halbe Stunde Verschiebung des Laufbeginns hat zu neuen Begegnungen geführt. Offenbar starten die Nordic Walker früher, sie sind offenbar zeitlich ungebunden. Mir sind wieder mehr Läufer begegnet. Sie können sich nicht so leicht umstellen, sind an ihren Tagesrhythmus gebunden. Durch die Hintertür eine Bestätigung soziologischer Erkenntnis, Läufer gehören der Mittel- und höheren Schicht an. Da gibt es nicht so viele Arbeitslose. Läufer können also nicht laufen, wann sie wollen. Ich schon, aber die Gewohnheit ist stark. Ich muß mich umstellen und mich eine Stunde früher auf den Weg machen, wenn ich nicht in die Nacht laufen möchte.

Beim Laufen damit befaßt: Präsidentenwahl in den USA. Schon daran gedacht, eigene Kommentare auf eigener Website zu bringen. Nein, nicht das noch. Lieber ins Lauftagebuch einfließen lassen. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hat dem wiedergewählten amerikanischen Präsidenten gratuliert. Wohl so üblich. Aber hat nicht jener Präsident die Wiederwahl des deutschen Bundeskanzlers gegen jegliche Gepflogenheit ignoriert? Und dieser Bundeskanzler, der eine Ministerin wegen einer sachlich durchaus berechtigten amerikakritischen Äußerung gefeuert hat, gratuliert dem Nichtgratulanten. Der platte Opportunismus, der mich lebhaft an die Volksgenossen eines früheren deutschen Staates erinnert, ist weit fortgeschritten. Ich weiß, daß ich den falschen Beruf gewählt hatte, denn politischer Opportunismus wird nur von journalistischem Opportunismus übertroffen. Wäre ich nicht Rentner, könnte dies mein letztes öffentlich verbreitetes Wort gewesen sein. Ein Lehrer in der Görlitzer Annengasse, einer der wenigen, die nicht in der Partei waren, pflegte uns bei Turbulenzen in der Klasse zu ermahnen: „Wir wollen uns nicht unbeliebt machen!“ Doch, ich will es, so wie es jener Lehrer – Spitzname: Loki – für sich persönlich gewollt hat.

Eintragung vom 1. November 04

Der Moderator des Bayerischen Rundfunks, Studio Franken, fragte mich zum Schluß des kurzen Interviews auf der Consumenta in Nürnberg, was die Mannschaft – den Namen des Vereins habe ich vergessen – im Spiel gegen Schalke 04 essen müsse, um zu gewinnen. Eine jener Fragen, die nur des Effektes wegen gestellt werden. Was soll man schon antworten? Der Schaumball auf dem Mikro vor mir brachte auch keine Erleuchtung. Ich sagte: Am Tage vorher darüber nachzudenken, sei zu spät. Die Basisernährung müsse stimmen, vollwertige Ernährung also.

 

Humorlos, aber wenigstens eine Zusammenfassung dessen, was ich schon gesagt hatte. Ich hätte weiter daran erinnern müssen, daß der Trainer der österreichischen Skispringer, Professor Baldur Preiml, in den siebziger Jahren die Ernährung auf Vollwertkost nach Dr. Max-Otto Bruker umgestellt habe. Die Skispringer starteten zu einer Siegesserie.

Gelesen habe ich, daß sich der Ironman-Sieger Thomas Hellriegel ebenfalls nach den Prinzipien der Vollwertkost ernähre. Von Charlotte Teske weiß ich nichts mehr; vor vielen Jahren hatte auch sie ihre Ernährung umgestellt.

Gesundheitsberatung auf der Consumenta
(und der Kerl bleibt sitzen, während er mit
einer Dame spricht)

Die Lutherstadt Eisleben hat mir meine Frage, wie es denn zur Aufstellung der Statue „Der Marathonläufer“ 1926 auf dem Schlossplatz gekommen sei oder wo man darüber nachlesen könne, geantwortet, das Stadtarchiv verfüge über Unterlagen des Lehrerseminars, das damals die Skulptur gestiftet hat. Es könne durchaus sein, daß darin etwas über das Denkmal zu finden sei. Das Stadtarchiv, schrieb die Archivarin, sei bereit, für mich in dieser Angelegenheit zu recherchieren. Pro Suchstunde seien dafür 28 Euro zu zahlen.

Bei der Lektüre von Herburgers „Schlaf und Strecke“, das ich gleich auf der Lesung beim Berlin-Marathon gekauft habe. Konkreter als die beiden anderen Laufbücher. Ich sehe schon, um mich dazu zu äußern, muß ich es zumindest in Teilen nochmals lesen. Eine intellektuelle Herausforderung. Ich lasse mich gern herausfordern. Wahrscheinlich hat Thomas Mann den Nobelpreis für seine Nebensätze erhalten.

Mein Knie hat sich gebessert. Ich muß es durch heruntergelaufene Schuhe ruiniert haben. Jetzt habe ich allein zwischen neuwertigen Schuhen gewechselt. Statt eines Ruhetages habe ich nach den letzten Marathons zwei Tage ohne zu laufen eingelegt. Auch im Laufalltag muß ich mich, wenn schon das Wetter mich nicht hindert, gezielt zu einem lauffreien Tag zwingen. Mittlerweile wird die Lebensdauer eines Laufschuhs mit 1000 Kilometern angegeben, früher waren es einmal 3000, wie ich mich erinnere. Alle vier Monate also ein Paar Laufschuhe kaufen und alle vier Monate ein Paar wegwerfen? Wer sagt denn, daß Laufen ein billiger Sport sei. Ich halte Laufschuhe, die ohnehin aus Billiglohnländern kommen, bei weitem für überzahlt. Als Autokäufer habe ich heute einen weit besseren Stand, ich kann handeln, um Extras feilschen, wenn diese nicht schon von vornherein zur Grundausstattung gehören. Autos sind im Grunde billiger geworden. Den unverschämten Preisen von Laufschuhen könnte man nur durch Barfußlaufen begegnen. 300 Mark waren einmal das Nonplusultra, und da zahlte man noch zwei Gags mit, das Känguruhleder und den Chip. Heute sind 150 Euro schon Standard. Dem 100 Marathon Club vorschlagen, Rabatte für die Mitglieder, die ja überdurchschnittlich viel laufen, herauszuschinden. Mittlerweile hasse ich das geschwollene Werbedeutsch, das ohnehin meistens ein Werbedenglisch ist. Die Absicht wie bei anderen Gegenständen: Mit den Schuhen sollen nicht zurechtgeschnittene Stücke Kunststoff, sondern Lebensgefühl verkauft werden. Läufer von der gehobenen zur abgehobenen Klasse definiert.

Eintragung vom 25. Oktober 04

Tagungen. Am 15. Oktober in Stuttgart-Hohenheim, nicht weit von mir, die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Landesgruppe Baden-Württemberg, besucht, mich auf einen Vortrag beschränkend, den von Professor Klaus Bös. Seine Untersuchungen der Fitneß von Kindern haben mich interessiert. Was er sagte, war für mich nicht neu, aber nun erfuhr ich’s aus seinem Munde: Die Fitneß von Zehnjährigen hat von 1975 bis heute um 10 Prozent abgenommen, das haben seine vergleichenden Untersuchungen ergeben. Beim Laufen war es gar mehr. Vor fast dreißig Jahren legten Zehnjährige im Durchschnitt in sechs Minuten 1000 Meter zurück, heute sind es nur noch 800 Meter. Dafür wiegen die zehnjährigen Jungen bei einem Durchschnittsmaß von 1,63 Metern ein Kilogramm mehr als damals. Jedes zweite Schulkind heute klage über gesundheitliche Beschwerden. Der organisierte Sport nehme zu, der nicht organisierte nehme ab.

Gestern von Lahnstein heimgekommen, von der Herbsttagung der Gesellschaft für Gesundheitsberatung, der ich mich verbunden fühle. Dort stand ich am Freitag vor einer Arbeitsgruppe „Bewegungstraining und Ernährung“. Drei Stunden lang. Ich war mir vorher sehr unsicher. Ein Referat arbeitet man vorher aus und liest es notfalls ab. Aber ein Referat über drei Stunden? Das ist keinem zuzumuten. Ich habe mich vorbereitet, aber ich habe auf Spontanität gesetzt. Ich hatte ein Manuskript, aber ich griff nur einmal dazu, als ich ein Zitat suchte. Die drei Stunden erwiesen sich als zu kurz, manche Frage hätte ich noch angeschnitten, manche Frage noch ausführlicher behandelt. Immerhin, der erhoffte Dialog fand statt. Etwa hundert Gesundheitsberater, einige hatten abgewiesen werden müssen, weil der Raum nicht mehr Personen faßte. Unsicherheit? Es waren ja Geistesverwandte. Einige kannten mich von „Runner’s World“ her, wie sie sagten, andere von unserem Buch „Sport und Vollwerternährung“, das ich auch außerhalb der Arbeitsgruppe auf der Herbsttagung in manchen Händen sah. Meine Empfehlung am Schluß: Gesundheitsberater (GGB) mögen, zumal wenn sie selbst laufen, Kontakt zum Veranstalter von Volksläufen suchen und ihre Erkenntnis einbringen. Insbesondere sollten modellartig einzelne Stationen mit vollwertiger Wettkampfnahrung ausgestattet sein. Was könnte das sein? Diese Frage wollte ich in der Arbeitsgruppe stellen, doch reichte die Zeit dann nicht mehr. Ich denke: Geeignet wären außer der obligaten Banane gut aufnehmbare Frischkost wie Melone, Aprikose und anderes Obst, gut durchfeuchtete Vollkornbrotwürfel, Haferschleim – aber keinen aus dem Reformhaus, sondern aus geschrotetem Hafer und durch Obst gesüßt, nicht aus der Himbeersirup-Flasche. Vor allem aber sollte eine alternative Zielverpflegung angeboten werden – statt des üblichen Kuchenbüfetts und der stinkenden Grillstände Vollkornkuchen, Getreidekaffee, Obst und Gemüseeintopf, vegetabil gekocht, nicht in Fleischbrühe. Dieses Angebot könnte durchaus kommerziell sein, wiewohl es auch vereinzelt Veranstaltungen gibt, bei denen Kartoffel oder Gemüseeintopf am Tag vor dem Lauf oder nach dem Lauf ausgegeben werden. Leider hat der Münchner Medienmarathon einen Schritt zurück gemacht, von dem Gemüseeintopf im vorigen Jahr wieder zu den unsäglichen Weißmehl-Teigwaren.

Auf der Tagung in Lahnstein „Eine andere Welt ist möglich“ ist mir klar geworden: Mit der Ernährung ist es wie mit dem Laufen in den sechziger Jahren, während die Volksmotorisierung gerade in vollem Gange war: Wir waren die Außenseiter, Asketen gar, pfui Teufel. Eins, zwei, eins, zwei... Selbst die Minderheiten-Anwälte, die Literaten, selbst die Psychologen, die Fachleute für Menschliches, hatten das Laufen und die Narren, die es betrieben, ignoriert. Die Verfechter vitalstoffreicher Vollwertkost und Anhänger Dr. Max-Otto Brukers werden heute von der Wissenschaft und den Krankenversicherungsträgern ignoriert, ebenso von den Gesundheitspolitikern und natürlich von den Medien, die groteskerweise alles immer erst dann merken, wenn es ihre Leser schon gemerkt haben. Aber wir sind keine einsamen Rufer mehr. Über 4000 Gesundheitsberater hat die GGB ausgebildet, und jeder gibt seine Einsichten und Erkenntnisse weiter, und sei es zunächst nur in der Familie. Wir bilden eine Subkultur, genauso wie wir damals, als es mit dem Laufen begann.

Morgen fahre ich nach Nürnberg zur Consumenta. Eine Gesundheitsberaterin hat erreicht, daß ihr in der Halle Gesundheit wieder ein Stand zugestanden worden ist; sie möchte mich an diesem Stand sehen. Manches Buch hat für den Autor Folgen, das ist bei „Sport und Vollwerternährung“ offensichtlich der Fall.

Von Lahnstein einen Abstecher nach Köln gemacht. Im Sport- und Olympiamuseum ist seit 19. Oktober eine Ausstellung zu sehen, deren langer Titel in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Ausdehnung steht: „Bewegte Senioren: Fit in die Zukunft – sportlich & aktiv, keine Frage des Alters“.

Einer Tafel entnehme ich die häufigsten Sportarten der Älteren. An oberster Stelle steht mit 31 Prozent für beide Geschlechter das Wandern, danach mit 18/17 Prozent (F/M) Schwimmen, Gymnastik treiben 18 Prozent der Frauen, 5 Prozent der Männer, Radsport 8/10 Prozent, Tanzen 6/5 Prozent. Ganz zum Schluß Laufen/Joggen mit 2/6 Prozent (F/M).

Eintragung vom 18. Oktober 04

Die ohnehin farbenfrohe Herbstpalette für Marathon-Gemälde hat einen neuen Tupfer bekommen: den Bottwartal-Marathon. Ehrensache, daß ich ihn gelaufen bin – er ist ja nicht viel mehr als eine Marathon-Entfernung von zu Hause entfernt, nur daß ich diesen Marathon im Auto in 45 Minuten zurückgelegt habe. Ich bin sicher, die wenigsten außerhalb des Landes wissen mit der geographischen Bezeichnung etwas anzufangen. Wenn mich mein Eindruck nicht trügt, versammelten sich hier am Sonntag die Kenner; außer der Landessprache Schwäbisch habe ich kein anderes Idiom gehört. Mehr Händedrücke als sonst getauscht, und selbst Michael Sommer nahm sich 200 Meter vor dem Ziel noch die Zeit, mir zuzuwinken; da hatte ich freilich erst die Hälfte, den Halbmarathon, zurückgelegt. Nach dem Halbmarathon passierte man Start- und Ziel, ohne daß die beiden Marathonhälften jedoch identisch wären. Ob man sich beim Fränkische-Schweiz-Marathon etwas abgeguckt hat? Die Südschleife führt durch Steinheim an der Murr, richtig, 1933 Fundort des Homo steinheimensis, dem Vorzeitmenschen aus der Zeit vor wahrscheinlich 250000 Jahren. Wir laufen dort, wo dereinst also ums Leben gelaufen worden ist. Der Homo steinheimensis, eine junge Frau, ist gewaltsam ums Leben gekommen. Als ob der folgende Homo sapiens seither klüger geworden wäre!

Das Marketing-Konzept – denn das liegt auch hier zugrunde – könnte aufgehen. Ein wenn auch auf niedrigem Niveau signifikanter Anstieg der Wochenend-Übernachtungen ist ein Indiz. Die Bottwartal-Kellerei ist auf einmal, bei manchen im Sinne des Wortes, in aller Munde. Versteht sich, daß ich mir die Marathon-Edition, einen Riesling und Lemberger, gekauft habe; der Lemberger hat allerdings keine Jahrgangsbezeichnung auf dem Etikett. Jeder von uns fand ein Viertelliter-Fläschchen Riesling vom jüngsten und hervorragenden Jahrgang 2003 in seinem Läuferbeutel, sehr bemühtes Marketing „Riesliano schamlos“ frisch auf dem Etikett. Mir nebst anderen war angeboten worden, ein Funktionshemd der Bottwartal-Kellerei zu tragen, dafür Startgeld-Rückerstattung. Warum nicht? Jetzt wissen es alle: Ich bin bestechlich. Das wußte ich zwar, aber die Höhe war mir nicht bekannt. Sie kommt mir sehr niedrig vor. Ich schiebe nach: Für Coca Cola hätte ich es nicht getan, wirklich nicht. Auch nicht für Powerbar. Ich weiß, eine schwache Ausflucht. Aber mit Wein und einer Gegend, in der er wächst, kann ich mich gut identifizieren, auch mit dem draußen reichlich unbekannten Bottwartäler.

Es gab Überraschungen. Die erste für den Veranstalter: die Teilnehmerzahl. Mit den kurzen Läufen zusammen sollen es über 2500 gewesen sein. Beim Marathon waren wir 795, jedenfalls diejenigen, die im Ziel einliefen. Für einen Provinzlauf, den niemand kennt, eine ganze Menge. Der Neugier-Effekt wird freilich eine Rolle gespielt haben. Doch selbst wenn manche im nächsten Jahr wegbleiben werden, könnte das durch andere von weiter her ausgeglichen oder sogar übertroffen werden.

Marathonstrecken sind nicht immer so schön wie die Landschaft, durch die sie führen. Nach meinem Geschmack war zuviel Ortschaft dabei. Nun haben sich die Orte an der Bottwar tatsächlich ausgedehnt und ist bei der Streckenführung auf marathonspezifische Aspekte Rücksicht zu nehmen. Die Strecke soll marathontauglich sein, sofern sie nicht als Cross-Strecke konzipiert ist – also viel Asphalt und fester Belag. Publikum soll ran. Und es war da. Das war für uns die Überraschung. Nun ist der Lauf in die Kirbezeit gefallen, und an einigen Stellen kam man am Sonntagvormittag ohnehin zusammen. Für einen Landschaftslauf waren bemerkenswert viele Menschen auf den Beinen oder zumindest an den Fenstern. Selbst für uns hinten fiel noch viel Anfeuerung ab.

Die Strecke etwas unübersichtlich, doch durch Bänder und einweisende Posten ausreichend gekennzeichnet. Die langen Geraden durch die Felder konnte ich akzeptieren, dafür gab es verwunschene Winkel. Drei Flüsse: die Bottwar, der Neckar, die Murr. An drei Stellen, wenn ich mich recht erinnere, herrschte Begegnungsverkehr. Die mit dem ersten Stück identischen etwa 3 Kilometer vor dem Ziel waren mir, da vertraut, ausgesprochen willkommen, obwohl sie nicht die schönsten sind. Im nächsten Jahr soll die Strecke etwas geändert werden. Das dichte Gewusel an Start und Ziel auf dem engen Gelände der Bottwartal-Kellerei hatte man kurzerhand schon durch einen Blockstart zu entzerren versucht. Dennoch stauten wir uns gleich nach den Matten an einer Engstelle, der Block war noch zu dicht. Die große Halle der Kellerei empfing uns vorher und vor allem nachher gastlich. Noch nie habe ich nach einem Marathon zur Siegerehrung so viele Nichtläufer gesehen. Sie hatten die Gelegenheit genutzt, sich am Sonntagvormittag ihr Viertele und viel Ungesundes in Gesellschaft einzuverleiben. Ich denke, wir haben als Eindruck mitgenommen: herzliche Atmosphäre.

Als ich durchs Bottwartal lief und über Oberstenfeld die Burg Lichtenberg erblickte, wurde eine Erinnerung wach. Einer meiner ersten Termine, die ich für die „Stuttgarter Zeitung“, Baden-Württemberg-Redaktion, wahrnahm, fand auf Burg Lichtenberg statt. Mit Landeszuschüssen war die Burgkapelle, ein Kleinod, restauriert worden. Darüber erzählte mir Freiherr von Weiler, der Burgherr, der, versteht sich hier, einen vorzüglichen Wein anbietet. An dem Gespräch nahm auch die letzte seiner Gattinnen teil. Das dennoch nette Gespräch begann mit einer Rüge: den „Herrn von Weiler“ hatte er sich noch bieten lassen, aber dann, als ich die Landadelige bürgerlich anredete, wünschte er: „Frau Baronin, bitte“. Worauf diese dem Herrn Baron einen dankbaren Blick zuwarf. In der Tat wurden die adeligen Familien auch am Neckar und in Hohenlohe selbst von Bürgermeistern als Herr und Frau Baronin tituliert. Wenn man das weiß, weiß man, wie die Adenauer-Zeit beschaffen war.

Schwaben neigen dazu aufzublicken – genau bis zu jenem Tag, an dem sie es geschafft haben, daß man zu ihnen aufblickt. Hier herrscht Ordnung, auch vertikal. Ein Marathon hier muß zwangsläufig eine grundsolide Angelegenheit sein.

Eintragung vom 11. Oktober 04

Heute in der Zeitung gelesen: Paula Mairer hat am Sonntag den Weltrekord im Rückwärtslaufen aufgestellt, wahrscheinlich Weltrekord im Frauenlauf. Nicht ersichtlich war, ob der Halbmarathon, den sie in 2:49:48 Stunden gelaufen ist, nun die längste Rückwärtsstrecke überhaupt gewesen ist. Ich nehme mal an, es war die längste Strecke, denn über 100 Meter wird man wohl keinen Weltrekord versuchen. Auf jeden Fall: Paula Mairer, eine Fünfundvierzigjährige aus Österreich, will auch einen Marathon rückwärts laufen, wohl schon im November. Wie soll ich das kommentieren? Denn eine Meinung muß ich mir bilden, das bin ich mir schuldig. Ich fange mal so an: Mit Laufen allein kann man schon nicht mehr imponieren, es sei denn man gewinnt einen Stadtmarathon. Oder man ist ein ziemlich alter Mann. Beim Berlin-Marathon der dritte in einer Altersklasse, das hört sich für einen Lauf von 29000 Teilnehmern verdammt gut an. Doch wir waren in der M 75 nur zu siebent. Wieder kein Blumentopf. Und vorwärts gelaufen sind wir auch noch. Mit dem Rückwärtslaufen wird an die Zeit der Schau- und Kunstläufer im 19. Jahrhundert angeknüpft. Auch damals genügte für den Auftritt das schnelle Laufen nicht mehr, es mußte noch etwas dazu kommen, denn die Konkurrenz war groß geworden. Beliebt war der Lauf gegen ein Pferd. Wenn ich mir den physiologischen Vorgang des Laufens vorstelle, es müßte vom Bewegungsablauf her rückwärts genauso gehen wie vorwärts, nur daß man zum Vorfußläufer wird, ohne jedoch die Nachteile strapazierter Waden zu haben, denn zur Fußspitze wird ja die Ferse. Hinten hat man keine Augen, man weiß nicht, wo man hintritt, wie man die Richtung hält. Doch Paula Mairer, so verrät die Zeitungsmeldung, hatte drei Begleiterinnen. Sie mußte sich kein einziges Mal umdrehen, sagte sie. Na dann... Ich stelle mir vor, daß es ein blinder Mensch, auch wenn er durch eine kurze Schnur mit einem Begleiter verbunden ist, schwerer hat. Mit einem Marathon kommt ein Blinder zwar auch in die Zeitung, aber zu einem Rekord langt’s nicht. Und ein Rekord soll’s halt sein.

Jürgen Roscher – er schreibt in der „Laufzeit“ – hat mir neulich erzählt, er könne nun bald vom Laufen leben. Wie das? Ich kenne ja die Honorare, selbst die startgeldfreien Starts im Verlauf meines Läuferlebens kann ich noch nachzählen. Und so rasch mal 100000 Mark von der heutigen DaimlerChrysler zugeschoben zu bekommen wie der einstige Kohl-Regierungssprecher Peter Böhnisch von der „Bild-Zeitung“ – und die dann auch noch nicht zu versteuern –, das passiert unsereinem nicht mal im Traum. Jürgen Roscher sammelt auf seiner morgendlichen Laufrunde Pfanddosen auf und löst sie ein. Jürgen möge mir verzeihen, aber ich habe auch schon an diese Möglichkeit gedacht; ästhetische und ökologische Gründe gaben den Anstoß dazu. Der Umweltverschmutzer McDonald’s freilich wäre nicht berührt, die meisten Fundstücke meiner Strecke würden von dort stammen, denn in 200 Meter Entfernung zu meiner Laufrunde liegt eine als Arbeitsplatzbeschaffer in meinem Stadtdorf hochangesehene Filiale. Auf die Pappbecher und sonstige Schnellfutter-Emballagen wird ja kein Pfand erhoben. Was mich erstaunt, ist, daß offenbar genügend Leute noch Dosen und Flaschen wegwerfen, auf die sie Pfandgeld gezahlt haben. Ich befürchte, manchen Leuten geht es nur deshalb schlecht, weil sie mit Geld wegwerfend umgehen. In meiner Kindheit fanden die Sonntagsausflüge ohne Straßenbahn statt, und wenn wir noch so müde waren. Das Geld dafür wurde für Dringenderes benötigt. Vielleicht beruht ein Teil meiner Ausdauergrundlage darauf, daß wir die Straßenbahn nur dann benützten, wenn wir zu einer Reise zu meinen Großeltern einen Koffer zu transportieren hatten. Etwas, worauf Pfand erhoben worden war, nicht zurückzubringen – undenkbar. Trittin hat offenbar die Mentalität von Dosentrinkern – ex und hopp, koste es, was es wolle! – nicht berücksichtigt. Jürgen Roschers Laufrunde in Berlin dosenfrei? Er wird es nicht schaffen, seine Dosenpfandrente wenigstens kann als gesichert gelten. Ich wünsche ihm – wie den Zigarettenrauchern die nächste Erhöhung – die regelmäßige Dosenpfand-Anhebung (so sagt man ja wohl dazu).

Eintragung vom 4. Oktober 04

Aus dem Garten an einem Haus wieselte ein Eichhörnchen, überquerte den Asphaltweg, auf dem ich lief, und husch, husch kletterte es an einem Maschendrahtzaun empor und verbarg sich auf dem eingezäunten Baumgrundstück. Ich habe zum erstenmal ein Eichhörnchen einen Maschendrahtzaun überwinden sehen. Ganz routiniert, zielstrebig. Die Tiere leben mit uns, haben sich angepaßt. Wahrscheinlich würde es bei uns einige Eichhörnchen-Generationen dauern, bis sie so zutraulich sind wie in Davos am Wolfgangsee und an der Schatzalp. Dort stützte sich eines auf meiner Hand ab, die ich ausgestreckt hatte. Es war gemein von mir, ich hatte nichts in der Hand, ich wollte nur dem Tier näherkommen. Wenn ich wieder in Davos sein werde, muß ich daran denken, etwas für die Eichhörnchen mitzunehmen. Über solche Begegnungen freue ich mich.

Unterbrechung durch etwa halbstündigen Stromausfall. Erst der Gedanke an die Sicherung. Doch die ganze Straße war dunkel. Wo ist die Taschenlampe? Sie war am richtigen Ort. Himmel, ist der Computer abgestürzt? Zum Glück hatte ich keinen Beitrag, auch nicht das Tagebuch, in Arbeit. Nichts ist schlimmer, als etwas zum zweitenmal zu schreiben, es wird mit Sicherheit blässer. Doch ich hatte gerade auf ebay geklickt, als mich der Stromausfall überraschte. Bei ebay suche ich alte Postkarten über Marathon. Ich fand zwar keine, aber sonst Interessantes. Jemand verkauft die Startnummer zum Medien-Marathon München – aktuelles Gebot 23,32 Euro – , ein anderer einen Marathon-Startplatz in Chicago, weist aber darauf hin, man müsse unter dem Namen des Angemeldeten laufen (ein Gebot zum Ausrufepreis von 1 Euro). Der Berlin-Marathon wirft lange Schatten bei ebay. 16 Empfänger der gelben Windjacken für Helfer bieten ihre Jacke an. Natürlich, was soll man auch mit jährlich einer neuen Windjacke! Finishershirts, die Medaille, selbst der Aufkleber – alles zu haben.

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