Laufen, Schauen, Denken

Sonntags Tagebuch

Eintragung vom 27. Juni 17

Man muß gewiß nicht jede Erfindung übernehmen. Laufen kann man ohne Pulsmesser und GPS. Insofern bin ich für überlegte Nutzung technischen Fortschritts. Ich habe, obwohl ich selbst gern Auto fahre, Verständnis für Menschen, die auf ein eigenes Auto verzichten. Dagegen geht mir Verständnis für Läufer ab, die das Internet nicht nutzen. In diesem Augenblick fällt mir ein, daß ich ja in eigener Sache schreibe. Daher versichere ich, auch wenn ich nicht für ein Internet-Magazin schriebe, bliebe ich bei meiner Ansicht.

Die digitale Welt ist so vielfältig, daß man sie selektiv nutzen kann. Für mich zum Beispiel existiert die Schublade „Games“ (Spiele) nicht. Auch auf Kommunikation mittels Facebook verzichte ich.

Doch den Rechner völlig in Acht und Bann zu tun, wäre vergleichbar mit dem Entschluß vor etwa fünfhundert Jahren, den Buchdruck abzulehnen und bei der handgeschriebenen Bibel zu bleiben. Ein neues Medium bedeutet – bei allen Mißhelligkeiten, die wir mit Computern erlebt haben – riesige Chancen. Ich kann nicht verstehen, daß einige Läufer – meistens im Rentenalter – die Vorzüge der digitalen Organisation von Veranstaltungen, der raschen und unmißverständlichen Kommunikation, der Anmeldung und der Auswertung nicht erkennen. An der Investition von einigen hundert Euro in die Computer-Ausstattung kann es doch wohl nicht liegen. Doch ich will hier keine Reklame betreiben; diejenigen, die es angeht, können sie ja doch nicht lesen.

Ich bin auf das Thema gekommen, weil eben auch die Laufbewegung durch und durch digitalisiert worden ist. Information und Gedankenaustausch vollziehen sich zum großen Teil über das Netz. Viele von uns haben eine eigene Website – weil wir uns mitteilen möchten, aus Lust am Laufen und am Schreiben. Erst recht manifestiert sich in Websites das Profil von Organisationen; Veranstaltern, Institutionen. Nach meiner Erinnerung vor etwa dreißig Jahren gab es einmal ein kleines Taschenbuch, in dem sämtliche Websites, das Laufen betreffend, verzeichnet waren. Schon damals hatte es den Mangel, daß es nicht fortlaufend aktualisiert worden ist. Heute wäre ein solches Verzeichnis gar nicht mehr möglich; die Websites sind nicht mehr überschaubar.

Einige Websites jedoch haben sich eingeprägt; sie sind in den Köpfen präsent. Dazu zählt nach meiner Meinung, die ich vor langer Zeit schon an dieser Stelle geäußert habe, die GRR-Website, die Seite von German Road Races, der Interessengemeinschaft der großen deutschen Läufe. Am 24. Juni hat die von Horst Milde betreute Seite selbst ihr Profil dargestellt. Ein Kernsatz lautet: „Die Website www.germanroadraces.de – die Stimme des Laufsports und der Leichtathletik in Deutschland – hat sich von Jahr zu Jahr stärker als Informationsmedium erster Güte für die Läufer, Läuferinnen, die Medien und die interessierte Öffentlichkeit im In- und Ausland entwickelt.“ Die Nutzer, schreibt Horst Milde, hätten inzwischen Zugriff auf über 50.000 Artikel (deutsch oder englisch). 74.500 Bilder und 20.300 Links zu ausgewählten Beiträgen der nationalen und internationalen Presselandschaft.“ Das überwiegende Interesse der Leserschaft gelte Themen des Trainings, der Sportmedizin, der Prävention und zu Aussagen und Statements, die nicht der offiziellen Verbandspolitik entsprechen. „Die zähe Auseinandersetzung über die geplante ,Laufmaut‘ und die Rücknahme seitens des Verbandes war ein nicht erwarteter Erfolg der Aktivität der GRR-Website und ihrer Macher.“

Gegenwärtig sei eines der Hauptthemen, den Umbau des Olympiastadions in Berlin zu einem Fußball-Stadion zu verhindern.

Eintragung vom 20. Juni 17

In der Frühzeit der modernen Laufbewegung konnte man in fast jedem positiven Beitrag über das Laufen lesen, wie nützlich doch das Lauftraining für die Gesundheit sei – Prophylaxe gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor allem, gegen dies oder jenes, ja, selbst eine Vorbeugung gegen Krebs sei es, wenn wir an Ernst van Aaken denken. Bei alledem, was ich da las, vermißte ich jedoch eines, den Hinweis auf die psychischen Wirkungen des Laufens. Diese jedoch hielt ich am auffälligsten. Die Vermeidung eines Herzinfarkts kann man nicht spüren. Psychische Wirkungen des Laufens jedoch zeigen sich deutlich, und zwar bei fast jedem, der mit dem Laufen begonnen hat.

  Damals wunderte ich mich sehr, daß ein solches Phänomen in der Psychologie nicht behandelt worden ist. Laufen müsse doch, meinte ich, therapeutisch genutzt werden können. In der Tat lagen in den siebziger Jahren einschlägige Untersuchungen in den USA vor. Als ich 1978 in der „Zeit“ schrieb: „Immer mehr zeigt sich: Die Therapie muß auch die Psyche einbeziehen“, ahnte ich nicht, daß es inzwischen in der Bundesrepublik einen Psychologen gab, der sich mit dem Laufen als Therapie befaßte. Ich kannte ihn, Professor Dr. Alexander Weber, jedoch allein als Schuhtester. Wie Eugen Brütting, der Laufschuhfabrikant, und Carl-Jürgen Diem, der langjährige Volkslaufwart, vertrat er entgegen der Laufschuhindustrie, insbesondere der amerikanischen, die Auffassung, daß Laufschuhe die natürlichen Funktionen des Fußes unterstützen sollten und die damals praktizierte Dämpfung von Übel sei.

Beide gehörten wir dem Deutschen Verband langlaufender Ärzte an. Läufer, die den Doktortitel trugen, waren von Dr. Ernst van Aaken in eine Liste eingetragen worden, die ihm als Grundlage für die Mitgliedschaft im DVLÄ, gegründet 1978, diente. Mir hingegen hatte Dr. Borchers, der Gründungs- und langjährige Vorsitzende des DVLÄ, die Aufnahme angeboten, weil er Journalisten für nützlich hielt. Alexander Weber, von 1983 bis 1987 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats, erkannte jedoch, daß der DVLÄ der Psychologie keine Heimstatt bieten konnte. Er begann seinen eigenen Weg.

Nachdem er eigene Lauferfahrungen mit Gruppen erworben hatte – er gründete ein „Lauf-Encounter“ – , befaßte er sich damit, das Laufen wissenschaftlich als Therapie zu definieren. 1988 gründete er das Zentrum für Lauftherapie. Seit dem April 1991 werden dort Lauftherapeuten und Laufpädagogen ausgebildet. Das Laufen hat damit ein außerhalb des Sports verankertes Profil bekommen.

Das alles ist nachzulesen, insbesondere in „Hilf dir selbst: Laufe! Das Paderborner Modell der Lauftherapie und andere Modelle des Laufens“ (Hrsg. Alexander Weber). Es gibt einen Anlaß zu dieser Betrachtung. Professor Dr. rer. nat. Alexander Weber, Diplom-Psychologe, wird am 25. Juni 80 Jahre alt. Seine Aktivitäten als Autor, in der Aus- und Weiterbildung zeigen, daß der Emeritus keineswegs ein Rentnerleben führt.

Eine Bestandsaufnahme, die seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Lauftherapie nachzeichnet, wird demnächst im Verlag tredition erscheinen: „Lebensschule Laufen. Grundlegende Texte Alexander Webers zur Lauftherapie“. Diese Festschrift, herausgegeben von Klaus Richter, Raphael Richter, Wolfgang W. Schüler, wird ganz sicher ein Dokument der Entwicklung des Laufens vom Sport zu einer Lebensauffassung darstellen. Alexander Weber ist derjenige, der diesen Prozeß in Deutschland wissenschaftlich in Gang gesetzt hat.

Photo: Sonntag

Anm.d.Red.: Beitrag im LaufReport "Das Deutsche Lauftherapiezentrum (DLZ) - Kompetenzzentrum für Gesundheit förderndes Laufen - feiert im April 2018 sein 30-jähriges Bestehen" HIER

Eintragung vom 13. Juni 17

Aus der Rückschau kann ich bestätigen: Der 75. Geburtstag ist ein besonderer Geburtstag, gerade für uns Läufer. Wenn das Schicksal nichts dagegen hat, sind wir mit Fünfundsiebzig zwar alt, aber noch immer dabei, selbst bei hohen Anforderungen. Eine Gewähr dafür gibt es jedoch nicht. Dies hat auch Helmut Urbach bei seinem „Geburtstagslauf“ erfahren müssen. Er ist am 9. Juni zum 34. Mal (wenn ich richtig gezählt habe) in Biel zu den 100 Kilometern gestartet, hat den Lauf jedoch in Kirchberg beenden müssen. Immerhin, es war ein symbolträchtiger Geburtstagslauf. Am 17. Juni wird Helmut Urbach 75 Jahre alt. Wie schön, einen solchen Tag nicht im Lehnstuhl, sondern aktiv zu feiern und damit ein aktives Leben zu krönen!

Es ist mir ein Vergnügen zu erwähnen, daß der spätere Elite-Läufer in der Schulzeit einmal die Zeugnisnote Sechs in Leibesübungen oder Sport oder wie das Fach gerade hieß, bekommen hat. Zum Laufen fand die sportliche Niete als Achtzehnjähriger. Bei einem Dekanatssportfest war er als Läufer über 3000 und 800 Meter eingesprungen und hatte beide Rennen gewonnen. Da blieb er beim Laufen.

 

Nun etwas Persönliches: Ich bin in der Laufszene häufig mit den 100 Kilometern in Biel in Verbindung gebracht worden. Das hat der literarische Ausflug „Irgendwann mußt du nach Biel“ (1978) bewirkt. In der Tat hat so mancher versichert, das Büchlein habe ihn veranlaßt, in Biel zu starten. Solche Bekundungen sind mir eher peinlich gewesen, denn die sportliche Pionierleistung in der Frühzeit der Laufbewegung hat Helmut Urbach vollbracht. Er ist derjenige, der wohl als erster den Bieler 100-Kilometer-Lauf in der Bundesrepublik bekanntgemacht hat.

Das hat so angefangen: 1966 – der deutsche „Volkslauf“ war noch keine drei Jahre alt – las Helmut Urbach, daß es in der Schweiz, in Biel, einen 100-Kilometer-Lauf gebe. „Nachts in einer Schnapslaune“, so erzählte Helmut dem Mitarbeiter des „Kölner Stadt-Anzeigers“, habe er sich entschlossen, in Biel zu starten. Die längste Strecke, die er vor dem Start zurücklegte, betrug gerade einmal 25 Kilometer.

Dennoch belegte Helmut beim Finish in 9:27 Stunden den vierten Platz. Nach drei weiteren Starts in Biel war er 1969 der erste Mensch, der die 100 Kilometer in unter 8 Stunden rannte (7:55). Im Jahr 1971 war er der erste auf der Welt, der die 7 Stunden knackte (6:57:55 in Unna). Siebenmal hat er 100 Kilometer von Biel gewonnen. 1971 stellte er in Unna mit 6:57:55 Stunden die inoffizielle Weltbestzeit über 100 Kilometer auf. 1974 erreichte er in Turin 6:41:12 Stunden und belegte damit Platz acht der deutschen Bestenliste. Seine Liste in der DUV-Statistik – vom Passatore 1975 (Streckenrekord!) bis zum Spartathlon 1997 – ist fünf Seiten lang. Die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung hat ihn später, 2002, zum Ehrenmitglied ernannt.

Wer ihn kennengelernt hat, wird mir beipflichten: Er ist eines der wenigen Läufer-Originale, mit seinem Kölschen Profil nicht auf den Mund gefallen und dennoch ein Mensch, der nichts von sich her macht. Er ist einer der nicht allzu vielen Spitzenläufer, die nach ihren Erfolgen die Laufschuhe nicht beiseite gestellt haben. Dazu trug sicher auch seine Frau Ingeborg bei, mit der er in Biel lief, ohne sich um eine Placierung zu kümmern. Es gehört zu den tragischen Ereignissen, daß ein solches harmonisches Läuferpaar vor vier Jahren durch den frühen Tod Ingeborgs getrennt worden ist.

Ein Leben lang hat Helmut Urbach sich nicht darauf beschränkt, seine eigene Erfolgskarriere zu fördern, sondern hat auch durch seine organisatorische Aktivität das Laufgeschehen insgesamt beeinflußt. Für den GSV Porz hat er über 180 Laufveranstaltungen organisiert. Was spielt es da für eine Rolle, im Alter von 75 Jahren in Kirchberg auszusteigen!

Helmut Urbach ist ein Kriegskind. Seinen Vater hat er nicht kennengelernt; er fiel in Rußland. Seine Kindheit verbrachte er im Waisenhaus. Dennoch ist aus dem Kriegskind ein fröhlicher Mensch geworden, den Menschen zugetan, aber auch unbekümmert darum, wie andere ihn einschätzen. Um Trainingsfeinheiten, Ernährungsempfehlungen und Strategie hat sich Helmut nie gekümmert. Er ist gelaufen – von einem Spitzenplatz zum nächsten. Wollte man zu seinem 75. Geburtstag ein Album mit Erinnerungen an seine Glanzzeit anlegen, könnte der Titel lauten: Ein pralles Läuferleben… Herzlichen Glückwunsch, Helmut!

Photo: LaufReport

Eintragung vom 30. Mai 17

Ein Marathon mit 122 Teilnehmern – das scheint nicht für sonderliche Attraktivität zu sprechen. Doch diese Laufveranstaltung hat ihr Profil. Das hervorstechendste Merkmal: Die Staatsgrenze wird überquert. Solche Strecken gibt es nicht allzu viele, zumal im Osten. Wir sprechen vom Europamarathon.

Das ist ein Lauf, der über die Neiße führt und bei dem etwa ein Viertel im polnischen Zgorzelec zurückgelegt wird. Das ist der ehemals östliche Teil von Görlitz. Wenn man sich die geschichtliche Entwicklung vor Augen hält, dann ist der Europamarathon ein großartiges Dokument der Vergangenheitsbewältigung.

Man muß sich die Situation nach dem von Hitler entfesselten zweiten Weltkrieg vorstellen. Die Stadt, etwas über 100 Kilometer von dem im Februar 1945 zerstörten Dresden entfernt, war mit einem blauen Auge davongekommen. Die Kriegszerstörungen beschränkten sich auf einzelne Punkte, so daß Journalisten mehrere Jahrzehnte später behaupten konnten, Görlitz habe den Krieg unzerstört überstanden. Das Drama, das sich 1945 ereignete, traf elementare menschliche Bedürfnisse. Die Bewohner der Oststadt jenseits der Neiße wurden vertrieben – es war keine Umsiedlung, als die dieser Prozeß offiziell gern dargestellt wurde; es war eine Vertreibung. Die Menschen aus der Oststadt hatten nur den Vorzug, daß ihr Fluchtweg kurz war und ihnen die Plünderung ihrer Koffer und Rucksäcke erspart blieb. Die überwiegende Zahl der Görlitz-Vertriebenen blieb im Westteil von Görlitz, einesteils vager Hoffnungen auf Rückkehr wegen, andernteils weil dies die bequemste Lösung war. Die Stadt war vollgestopft mit Flüchtlingen – nicht nur denen aus der Oststadt, sondern auch von anderen schlesischen Vertriebenen, die nicht weiterziehen mochten. Sehr zum Unwillen der Verwaltung suchten sie hier eine Existenzbasis. Doch die gab es nicht. In der Stadt herrschte Hungersnot. Monate lang aßen die Görlitzer Brot, das mit Sand oder Mörtel durchsetzt war. Die Bäcker verwendeten Mehl aus zerstörten Silos. Die Versorgung der Stadt mit über 100.000 Einwohnern war in jeder Hinsicht katastrophal. Ein simpler Beinbruch zum Beispiel konnte in einem Todesfall enden. Ob Bürgermeister (Alfred Fehler) oder angesehener Archivar (Prof. Richard Jecht) – der Stand bewahrte die Menschen nicht vor dem vorzeitigen Tod.

Stunden vor dem Kriegsende am 9. Mai sprengte die deutsche Wehrmacht sämtliche Neißebrücken. An Stelle der Reichenberger Brücke errichtete die Rote Armee eine Behelfsbrücke, die von Sowjet-Soldaten bewacht wurde. Entgegen propagandistischen Beteuerungen gab es keine Kontakte über die Neißegrenze. Manche Vertriebene aus der Oststadt konnten bis zu ihren Häusern, zum Beispiel auf dem Rabenberg, blicken. Das bedeutete, das Verhältnis zu Polen war emotional stark getrübt.

Erst nach der Wende 1989 änderte sich alles. Die Verwaltungen von Görlitz und von Zgorzelec begannen, sich als Partner zu verstehen, ja, mehr als das, nämlich die beiden Städte diesseits und jenseits der Neiße als europäische Doppelstadt mit ungewöhnlichen Chancen.

Als der Mediziner Dr. Rolf Weidle aus dem nahen Bautzen, Gründer und Vorsitzender einer kommunalen Vereinigung, die Veranstaltung eines binationalen Marathons anregte, war der Name „Europamarathon“ keineswegs weit hergeholt. Dort, wo Rolf und Dr. Ingeborg Weidle ihre Praxis haben, grüßen sie mit einem Hinweis: Noch 195 Meter bis zum Ziel. Im Verlauf von fünfzehn Jahren hat sich, wie der Organisationsleiter, Detlef Lübeck, berichten kann, eine echte Zusammenarbeit entwickelt. Es versteht sich, daß an den Läufen des Europamarathons eine Anzahl Polen und auch Angehörige anderer Nationen teilnehmen. Den Frauenrekord der Strecke erzielte am 28. Mai die Russin Evgeniia Zhgir, die in Prag lebt, in 3:10:01 Stunden (W35). Der Thüringer Micha Bähr (M40) gewann den 14. Europamarathon in 2:47:09 Stunden. Er und der spätere Zweite, der Lausitzer Daniel Seher (2:48:42), hatten sich früh schon abgesetzt.

Täusche ich mich? Wird der Lauf auch von Läufern anderer Regionen entdeckt? Die Prominenteste war die 76jährige Sigrid Eichner aus Berlin (6:04:22). Ebenfalls aus der alten Garde kam Rainer Schädlich aus Berlin (5:50:40).

In einer Stadt wie Görlitz hätte es nahegelegen, die Strecke durch die Altstadt zu führen; doch hier sind die Straßen historisch getreu mit Katzenkopf-Pflasterung befestigt. Vom Start in der Elisabeth-Straße, an der einst die im 19. Jahrhundert abgerissene Stadtmauer stand, geht der verkehrsgesperrte Kurs am Stadtpark entlang, an der Stadthalle vorbei über die Neiße nach Zgorzelec. Auf diesem Teil wird schon bald der wellige Charakter der Marathonstrecke deutlich. Der polnische Teil kann seine Herkunft aus einer Vorstadt nicht leugnen. Nach etwa 13 Kilometern geht es wieder westwärts über die dem polnischen Papst Johannes Paul II. gewidmete Brücke, vormals Reichenberger Brücke, an der Landeskrone vorbei, dem Hausberg der Görlitzer, der auch der Görlitzer Laufgruppe den Namen gegeben hat. Von der Route über die Landstraßen hier hat man einen schönen Blick auf den 428 Meter hohen Berg. Über den Vorort Weinhübel nähert man sich wieder dem Kerngebiet von Görlitz. Über die Kahlbaum-Allee geht es in die Joliot-Curie-Straße, von der schließlich die Elisabeth-Straße abzweigt. Wer noch einen Blick für die Umgebung hat, kann zu Beginn der Joliot-Curie-Straße links durch die Grünanlagen die Synagoge wahrnehmen – in Deutschland ein seltener Anblick. Auch diese Synagoge war im November 1938 von den Nazis in Brand gesteckt worden. Doch die Görlitzer Berufsfeuerwehr tat ihre Pflicht und löschte alsbald den Brand. Auf diese Weise ist sie erhalten geblieben. Die Orgel war Anfang der dreißiger Jahre an die Katholische Kirche verkauft worden und steht seither in der Bonifatiuskirche an der Dabrowskiego in Zgorzelec; der Marathon-Kurs führt daran vorbei. Der Pfarrer Dr. Franz Scholz hatte hier wie zuvor in Breslau polnische Saisonarbeiter und Gefangene betreut; dazu hatte er eigens die polnische Sprache erlernt. In Anbetracht dieser Verdienste durfte er nach der Abtrennung weiterhin in der Bonifatiuskirche Messe lesen. Als die im heutigen Zgorzelec verbliebenen Deutschen die polnische Staatsangehörigkeit erwerben sollten, verließ er die Stadt (Franz Scholz: „Görlitzer Tagebuch“). Von 1949 an übernahm er Lehrtätigkeiten in der Bundesrepublik. Professor Franz Scholz ist Ehrenbürger von Görlitz. Unweit der Bonifatiuskirche führt die Maratonska zum Stadion.

Der Görlitzer Marathon-Kurs ist wegen der vielen Steigungen und Gefällestrecken, auf denen es die Skater mit Geschwindigkeiten von 60 km/h rollen lassen können, als eher anspruchsvoll zu bezeichnen. Die Temperatur am Sonntag sorgte auf der ziemlich schattenlosen Strecke für eine weitere Erschwernis. Die Zuschauer sind zwar ausgesprochen freundlich; aber es gibt nicht viele.

Die geringe Zahl von Marathon-Läufern fällt Passanten im Grunde gar nicht so sehr auf, weil sie ständig, wenn auch nur in Einzelexemplaren, Läufer zu sehen bekommen. Jede Disziplin hat ihre eigene Strecke – Halbmarathon, 10 km, 5 km (beliebt), 2 km, dazu Walker-Gruppen, Skater, erstmals auch Einrad-Fahrer. Auf diese Weise kommt die Zahl von über 2000 Teilnehmern zustande.

Das Urteil der Beteiligten ist durchweg positiv: „Wie immer hervorragend organisiert.“ „Alles sehr gut vorbereitet.“ „Es war wieder eine fantastische Sportveranstaltung in der Europastadt Görlitz, welche durch die tolle organisatorische Leistung der Veranstalter mit ihren vielen ehrenamtlichen Helfern und Einsatzkräften glänzte.“ Preiswert ist es auch, wenn man frühzeitig meldet. Vor allem aber sollte man, auch als Marathonläufer, Görlitz kennenlernen; zumindest für einen Rundgang durch die Altstadt sollte man sich Zeit lassen.

Und wo eine Haustür offensteht, sollte man eintreten; vielleicht gewinnt man einen Eindruck von den Hallenhäusern der Tuchmacherstadt. Vielleicht hat mancher, ohne daß er es wußte, Görlitz in einem Film gesehen. Über 80 Filme sind bisher in Görlitz, zumindest einzelne Szenen, gedreht worden. Kulissen muß man hier nicht mühsam zusammenzimmern; die etwa 4000 denkmalgeschützten Häuser stehen das ganze Jahr da.

Photos: Sonntag

Eintragung vom 23. Mai 17

Als ich Ende des vorigen Jahres Hubert Karl zur Vorstellung seines Buches „Lebensprinzip Bewegung“ besuchte, fiel mir eine Schrift in die Hände, die den Titel trägt: „Laufparadies. Haßberge, Maintal, Steigerwald“. Ich habe jetzt wieder darin geblättert, wenngleich ich mit Sicherheit keine der 68 ausgewählten Laufstrecken mit einer Gesamtlänge von 845 Kilometern laufen oder begehen werde. Doch solche Laufführer interessieren mich, hielt ich doch, als wir noch ganz im Print-Zeitalter lebten, derartige Streckenführer für dringend erforderlich.

Wer in der vordigitalen Zeit verreiste, beispielsweise eine Tagung oder ein Seminar besuchte, hatte es, wenn er an einem ihm unbekannten Ort laufen wollte, ziemlich schwer. Man sprach andere Läufer an, um sich eine Route empfehlen zu lassen, oder richtete sich nach den Wegweisern auf einem Wanderparkplatz und den Wegmarkierungen. Ich erinnere mich jedoch auch, daß ich in den USA Hotels fand, die an der Rezeption Routenvorschläge für Läufer bereithielten; einen solchen Handzettel mit einer Faustskizze konnte man mitnehmen und sich damit unterwegs orientieren. In der Bundesrepublik war eine solche Information die seltene Ausnahme; nach meinem Eindruck konnte man derartige Vorschläge für Laufrouten am ehesten in Häusern erwarten, die einer in den USA beheimateten Kette angehören. Auch in Berlin hat man es als Gast leicht gehabt, eine Laufstrecke zu finden. Im allgemeinen jedoch mußte man sich in den siebziger Jahren als auswärtiger Läufer allein durchschlagen. Mehrfach bin ich einst auf meiner Laufrunde von fremden Läufern angesprochen worden, die eine Laufstrecke suchten. Es waren Absolventen der Technischen Akademie, die an meiner damaligen Laufstrecke liegt.

Daher beschloß ich, einen Laufroutenführer zu schreiben. Der geeignete Verlag dafür war damals gerade gegründet worden, der Deutsche Wanderverlag Dr. Mair & Schnabel & Co, und zwar genau an meinem Wohnort. Mit dem Initiator, Rudolf Schnabel, kam ich ins Gespräch. Er redete mir den Laufführer zwar nicht aus, aber er wollte nicht zu Beginn damit einsteigen. Stattdessen überzeugte er mich mit der Idee, ich möge doch erst einmal einen Wanderführer für Stuttgart und den Schönbuch schreiben. Fortan wurden aus meinen Lauftrainingsstrecken Entdeckungstouren. 1979 erschien „Wanderregion Stuttgart mit Schönbuch“. Wahrscheinlich ist dies der einzige Wanderführer, dessen Rund- und Streckenwanderungen vom Autor größtenteils nicht erwandert, sondern erlaufen worden sind.

Der Laufführer jedoch blieb ungeschrieben. Der Verlag, der ein großer Wurf werden sollte, stellte seine Tätigkeit ein. Infolge der Digitalisierung der Informationen ging das Print-Konzept nicht auf. Auch der eine oder andere bescheidene Versuch eines Laufführers wurde nicht weitergeführt. Wer in einer unbekannten Stadt laufen möchte, klickt Google an.

Dennoch halte ich Print-Medien auch auf diesem Gebiet nicht für überholt. Nach wie vor wäre es praktisch, wenn man an der Rezeption seines Hotels oder seines Seminars ein Faltblatt bekommen könnte, auf dem Laufrouten vorgeschlagen werden. Ein solcher Zettel, den der Beherbergungsbetrieb vielleicht sogar mit dem Computer selber basteln und ausdrucken könnte, wäre die billigste Lösung.

Eine gebundene farbige und illustrierte Broschüre, 144 Seiten stark, wie „Laufparadies. Haßberge, Maintal, Steigerwald“ mit instruktiver Karte, Höhenprofil und ausführlicher Beschreibung ist freilich ungleich attraktiver. Die Beschreibungen machen Lust, die Vorschläge auszuprobieren, wenn man in der Gegend ist. Vielleicht sogar regen sie an, das Gebiet eigens deshalb zu besuchen – dies nicht nur zum Zeiler Waldmarathon (in diesem Jahr am 11. November).

Es gibt jedoch noch einen anderen Aspekt für die Herausgabe regionaler Laufführer. Ich denke an Verdichtungsgebiete wie die Region Stuttgart, die einen hohen Anteil an neu Zugezogenen und Flüchtlingen hat. In meinem Wohnort (38.000 Einwohner) leben, so habe ich gelesen, Menschen aus 110 Ländern. Ebenso gibt es eine große Zahl von Studierenden, die ein erhebliches Läuferpotential darstellen. Schließlich erzeugt das engmaschige Wirtschaftsgebiet einen beträchtlichen Reiseverkehr, und zwar eben auch von Menschen, die Laufschuhe im Koffer haben. Auch in diesem Verdichtungsgebiet kann man hervorragend laufen – in Stuttgart von der 4-Kilometer-Runde in Halbhöhenlage bis zur Ultrastrecke auf einem Rundweg rings um den Stadtkern, meistens mit sehr guter Verkehrsanbindung. Dies ließe sich sehr gut in einem Streckenführer darstellen. Das Problem wäre die Finanzierung. Wenig Sinn machte es, wenn eine vom Württembergischen Leichtathletik-Verband erarbeitete und finanzierte Broschüre in der WLV-Geschäftsstelle liegen bliebe. Dahin verirren sich keine Bildungs- und Geschäftsreisenden.

Mir ist auch klar: Was ich mir wünsche, bleibt eine Utopie. Für einen Laufstreckenführer wird sich niemand zuständig erklären. Wenn schon eine starke Wirtschaftsregion ein solches Projekt nicht zuwege bringen kann, wie dann erst wirtschaftlich weniger gut ausgestattete Gebiete! Die Broschüre „Laufparadies“ ist dank dem bayerischen Landwirtschaftsministerium und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) zustandegekommen. In einer Industrie- und Gewerberegion einschließlich eines hohen Dienstleistungssektors ist jedoch kein „ländlicher Raum“ zu entwickeln.

Bleibt also nur die Hoffnung auf private Initiativen, auf die Mildtätigkeit einiger Hotels vielleicht oder einen Läufer wie Frank Pachura; er hat im Jahr 2010 einen Führer „Laufend durchs Revier“ herausgebracht.

Eintragung vom 16. Mai 17

Vor einem halben Jahrhundert schon, als eine Dorfschule nach der anderen durch den Neubau in einem Zentralort ersetzt worden ist, war uns, den Eltern, das Problem klar. Die Kinder erhielten zwar ein voll ausgebautes Lehrsystem, aber vielfach verlängerten sich die Schulwege.

In der Zeit der Motorisierung, fürchtete ich, würde man kein Kind mehr zu einem ein- bis zweistündigen Schulweg, wie das in früheren Generationen auf dem Lande durchaus vorgekommen ist, bewegen können. Der Schulweg ist zur Schulfahrt geworden; Autobusse mußten für die Beförderung sorgen. Dabei blieb es nicht. Die fortschreitende Motorisierung schuf das „Mama-Taxi“; überwiegend wohl Mütter bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule und fahren sie wieder heim. Nach einer Verkehrsstatistik wird jedes fünfte Schulkind in Deutschland mit dem privaten Auto in die Schule gebracht. Schulzentren werden auf diese Weise zu temporären Verkehrsknotenpunkten, die wiederum Gefährdungen heraufbeschwören.

Vor über zwanzig Jahren jedoch machte man eine überraschende Entdeckung; man fand, es sei nützlich, wenn Kinder den Schulweg zu Fuß zurücklegten. Überraschend ist diese Erkenntnis deshalb, weil sie bei der Schaffung neuer Schulstrukturen in den sechziger und siebziger Jahren von Pädagogik- und von Verkehrsexperten offenbar nicht diskutiert worden war. Erst im Jahr 1994 wurde der Slogan „Zu Fuß zur Schule“ publiziert. Was 1994 mit Aktionstagen begonnen hatte, ist zu einer bundesweiten Bewegung geworden. Im vorigen Jahr haben sich etwa 85.000 Kinder aus über 3000 Schulklassen an den Aktionstagen beteiligt. Allerdings, die Zahlen besagen auch: Die Aktion ist noch ausbaufähig.

 

In diesem Jahr sind die Aktionstage für die Zeit vom 18. bis zum 29. September ausgerufen. Den teilnehmenden Schulklassen ist es überlassen, Ideen zu entwickeln, die geeignet erscheinen, die Schüler dazu zu veranlassen, auf das „Mama-Taxi“ zu verzichten und den Weg zur Schule mit eigener Kraft zurückzulegen. An meinem Wohnort mit 38.000 Einwohnern gibt es nur eine einzige Schule, die sich in diesem Jahr an der Aktion beteiligt. Das Ziel ist, bis zum 24. Mai sollen die Kinder eines neuen Stadtteils möglichst oft an siebzehn Tagen ihre Schule zu Fuß, mit dem Roller oder dem Fahrrad erreichen. Dafür können sie für ihre Klasse Punkte sammeln; die Klasse mit den meisten Punkten erhält einen Preis.

Getragen wird die Aktion „Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten“ vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) und vom Deutschen Kinderhilfswerk; unterstützt wird sie unter anderem von Radio Teddy, einem Sender in Potsdam, der auch in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz gehört wird. Der 22. September wird international als „walk to school day“ begangen, denn die Bestrebungen, Kinder selbständig zur Schule gehen zu lassen, werden auch in anderen hochindustrialisierten Ländern mit ähnlicher Problematik wie in Deutschland praktiziert.

Eine der Ideen, mit denen Schülern der Fußweg zur Schule schmackhaft gemacht werden soll, ist der „walking bus“. Das bedeutet: Kinder sammeln sich zu einer Kolonne, den Bus-Insassen; zwei Erwachsene, vielleicht ein täglich wechselndes Elternpaar, setzen sich an die Spitze – das sind die Autobus-Chauffeure. Zwei weitere Erwachsene oder ältere Schüler bilden den Schluß; das sind die „Schaffner“ (sofern Kinder mit diesem Begriff überhaupt noch etwas anfangen können). Wem dieses Spiel denn doch zu albern vorkommt, – ich erinnere mich, daß ich als Kleinkind bei einigen Familienausflügen „Autobus“ spielen wollte. Die Erwachsenen – ich war das einzige Kind der Gruppe – sollten sich bitte in Zweierreihen gruppieren und sich so als ein „Autobus“ fortbewegen. Die Erwachsenen taten mir nicht den Gefallen; sie wollten sich unterhalten, vielleicht auch haben sie meinen Wunsch gar nicht verstanden. Mit dieser Erinnerung will ich nur bekräftigen, daß es durchaus kindgerecht ist, den Fußweg zu einem Rollenspiel zu machen.

Für den Fußweg zur und von der Schule werden – man höre und staune – physiologische Gründe angeführt. Die Kinder seien im Unterricht fitter. Unter den Ursachen, weshalb zum Beispiel kenianische Läufer so erfolgreich seien, wird von Kennern immer wieder vor allem genannt, die Läuferinnen und Läufer seien von Kindheit an durch lange Schulwege intensiv trainiert.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als habe der Sport das pädagogische, didaktische und sportpolitische Potential der Aktion „Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten“ noch nicht so recht erkannt.

Eintragung vom 9. Mai 17

Im Grunde hätte ich die Newsletter von Peter Greif nicht lesen müssen, denn ich wollte ja nicht schneller werden – die quantitative Steigerung von Ausdauerleistungen war mir wichtiger. Und jetzt? Im 85. Lebensjahr bin ich meinen letzten Marathon gelaufen – na ja, wohl eher gegangen. Dennoch interessiert mich mehr denn je Peter Greifs Meinung. War ich früher ein eher distanzierter Leser seines Newsletters, lernte ich später Greifs Überlegungen schätzen.

Von Zeit zu Zeit habe ich gar eine Überraschung erlebt; ich entdeckte in unseren Ansichten Gemeinsamkeiten. Und dies, obwohl ich mich nicht im entferntesten so sehr mit der Theorie auseinandergesetzt habe wie der erfahrene Trainer und Laufratgeber Greif. Meine Ansichten haben sich primär aus meiner Laufpraxis ergeben. Erst später habe ich sie mit Lektüre von Fachliteratur unterfüttert.

Im letzten Newsletter hat Peter Greif zum wiederholten Mal das Allerweltsthema Trinken angeschnitten; seine Reflexionen darüber haben meine grundsätzliche Haltung bestätigt. Zeit meines Läuferlebens bin ich nämlich ein sparsamer Trinker gewesen. Im Grunde hatte ich es schon immer so gehalten, wie ich es später, Mitte der achtziger Jahre, bei Dr. med. Max Otto Bruker gelernt habe: Trinken, wenn man Durst hat!

Als ich 1966 mit dem Lauftraining begann, war die Zeit noch nicht lange vorüber, in der die Lauftrainer „Trockendiät“ empfahlen. Läufer müßten lernen, mit wenig Flüssigkeit auszukommen. Ich lief also, ohne einen Gedanken an Flüssigkeitszufuhr zu verschwenden, außer daß ich eine halbe Stunde vor langen Trainingseinheiten – das waren 30 bis 40 Kilometer – ein Glas Wasser trank. Das mußte reichen, und es reichte auch. Nach meiner Erinnerung habe ich zu keinem Lauf, ob Training oder Wettkampf, ein Getränk mitgenommen. Wenn ich heute die Lauf-Anleitungen lese, wonach man erst bei einer Laufdauer von mehr als einer Stunde Flüssigkeit aufnehmen müsse, kann ich mir das Lachen nicht ersparen.

Ich erinnere mich, daß ich ein einziges Mal hätte trinken wollen und nichts zu trinken hatte. Das war, als bei einem frühen Schwäbische-Alb-Marathon an der ersten Verpflegungsstelle das Wasser ausgegangen war. Auch bei den Bieler 100-Kilometer-Läufen vor Jahrzehnten hielt ich die erste Trinkstation nach etwa 25 Kilometern für zu spät angesetzt, wenn auch nicht für mich. Doch weder auf der Schwäbischen Alb noch auf der Bieler Strecke sind damals Läufer umgefallen oder verdurstet.

Auch in der Zeit der Trinkhysterie war ich mit der Getränkeaufnahme sparsam, nicht aus Trotz, sondern aus Gewohnheit. Beim Marathon griff ich frühestens etwa bei Kilometer 20 zum Trinkbecher. Spätestens bei Kilometer 35 hörte ich auf zu trinken. Es gab Marathons, bei denen ich unterwegs nur ein einziges Mal trank. Während meiner Ausbildung zum Gesundheitsberater (GGB) lernte ich einen laufenden Arzt kennen, der mir versicherte, während eines Marathons trinke er gar nichts. Auch ich bin dann später probeweise einen Marathon gelaufen – ohne ein Getränk.

Versteht sich, daß ich aus der zurückhaltenden Flüssigkeitsaufnahme kein Prinzip gemacht habe. Bei meinen sieben Spartathlon-Starts zum Beispiel habe ich jede Gelegenheit zu trinken genützt. Wäre ich zum Marathon des Sables angetreten, hätte ich die Anweisung zum Mitführen einer gefüllten Wasserflasche unbedingt ernst genommen.

Ich gestehe allerdings, daß mich beim Swiss Alpine der dringende Appell am Start, den Dr. Beat Villiger über Lautsprecher verkündete: „Trinken, trinken, trinken!“ von meiner Trinkgewohnheit abgebracht hat, allerdings nur beim erstenmal. Ich trank vor dem Start im Eisstadion, wo auf ärztlichen Rat eigens eine Getränkestation eingerichtet worden war, und hatte dann das Erlebnis, wie es während des Laufens im Magen gluckerte. Bei den späteren Teilnahmen in Davos aber habe ich – ärztlicher Rat hin oder her – ganz nach Gutdünken getrunken. Gutdünken bedeutete: Wenn die Topographie gestattete, gehend zu trinken, habe ich diese Gelegenheit genützt. Nur in Ausnahmefällen habe ich zu einem sogenannten Sportgetränk gegriffen.

Inzwischen hat sich wohl eine kritische Haltung zu Sportgetränken verbreitet. Das hätte ich gern noch gefördert gesehen. Über einen Autor habe ich versucht, einen wissenschaftlichen Verlag dafür zu gewinnen, das 2012 erschienene Buch von Tim Noakes „Waterlogged. The Serious Problem of Overhydration in Endurance Sports“ in deutscher Übersetzung herauszubringen. Ich bin überzeugt, eine Übersetzung würde deutschsprachigen Läufern das Problem der Hyponatriämie, der Ausschwemmung des Natriums durch zuviel Flüssigkeitsaufnahme, bewußt machen. Nicht Dehydration, sondern Hyponatriämie hat zu Todesfällen geführt. In der deutschsprachigen Literatur ist das Problem von Dieter Kleinmann in „Laufnebenwirkungen“ (2. Auflage, 2009) behandelt worden.

Eintragung vom 2. Mai 17

Der Club 261 Fearless, den Kathrine Switzer gegründet hat, ist für mich sehr anregend. Er ist Anlaß gewesen, darüber nachzudenken, welche inneren Entwicklungen sich doch in der Laufbewegung vollzogen haben.

Ich denke zurück an die Zeit, als ich vor etwa fünfzig Jahren in den Turn- und Sportverein eingetreten war und erlebt hatte, wie unsere Laufaktivität bewertet wurde. Obenan stand die Leistung. Es gab in der Gruppe eine soziale Rangordnung; sie bemaß sich an der Marathonzeit. Mit einer Ausnahme: Die Frau des Gruppenleiters lief 800 Meter. Im wöchentlichen Mitteilungsblatt konnte man regelmäßig lesen, wen sie diesmal in ihrer Altersklasse geschlagen hatte. Die Marathon-Zeiten wurden aufgelistet, wenn sie respektabel waren. Meine waren es erst später, als ich dem Verein nicht mehr angehörte. Es versteht sich, daß nur die bemerkenswerten sportlichen Leistungen von Vereinsmitgliedern publiziert wurden. Es versteht sich ebenfalls, daß allein die vom DLV gepflegten Disziplinen genannt wurden; der 100-Kilometer-Lauf zählte also nicht dazu.

Ein Journalist ist weit davon entfernt, lokale Veröffentlichungen, die ein paar Dutzend Leute, bestenfalls einige hundert Leser interessieren, zu überschätzen. Mir geht es darum, meine Verwunderung darüber auszudrücken, in der Frühzeit einer Bewegung, der Laufbewegung, Interesse mit der Bekanntgabe von Leistungen wecken zu wollen. Als ob man Menschen zum Marathon oder auch nur zum Laufen führen könnte, wenn man ihnen vor Augen stellt, daß im selben Wohnort die Herren Müller und Schulz einen Marathon in 3:30 Stunden beendet hätten!

Erst nach Jahren ist mir klar geworden, wo die Ursachen des – zumindest in Europa – geringen Frauenanteils am Marathon liegen, und auch, weshalb eine ganze Anzahl Frauen, aber auch Männer, bei 100-Kilometer-Läufen gestartet ist, ohne jemals zuvor einen Marathon gelaufen zu sein. Sie haben die echte Herausforderung gesucht, aber nicht den Vergleich mit den Herren Müller und Schulz. Ganz sicher, so meine ich, hätten wir auch in Deutschland einen ähnlich hohen Frauenanteil beim Marathon wie in den USA, wenn sich die Hinführung zum Marathon einer gewissen Didaktik erfreut hätte.

Daher hat es mich nicht überrascht, daß Marathon-Veranstaltungen kaum noch Zuwachsraten, sondern im Gegenteil häufig Rückgänge haben. Marathons, die man nur deshalb läuft, weil man eine persönliche Bestzeit anstrebt, sind nicht mehr attraktiv. Wer die Herausforderung abseits der Zielzeit sucht, wendet sich anderen Herausforderungen zu, dem Berglauf, dem Ultramarathon, dem Triathlon, dem Hindernislauf. Der Slogan auf der DUV-Website „Wir sind Freunde, niemals Konkurrenten“ spricht viele an.

Die Orientierung der Laufbewegung an der Leichtathletik und ihrem Verband ist auch in dieser Hinsicht nicht hilfreich gewesen. Ich habe später erst erkannt, daß die Einbindung in die Turnerschaft ideologisch sinnvoller gewesen wäre, wenngleich mich an der Turnerschaft die verstaubte Tradition gestört hat.

Grundsätzlich sind nach meiner Ansicht Vereinigungen wie der Club 261 Fearless sehr zu begrüßen„ der nicht zur Leistungssteigerung motivieren, sondern allein die Freude am Laufen vermitteln will. Das bedeutet absolut keine Absage an das Erzielen von Leistungen, sondern nur ein Hinweis darauf, daß es dem einzelnen überlassen bleiben muß, ob er an Wettkämpfen teilnehmen möchte. Ein Fehler ist es, den Leistungsgedanken an den Anfang zu stellen oder gar zur vermeintlichen Motivation zu benützen.

Eintragung vom 25. April 17

Die Nummer 261 ist am 17. April in Boston in 4:44:31 über die Ziellinie gelaufen. Inzwischen wissen wohl alle zumindest ambitionierten Läufer: Mit der Startnummer 261 ist die Amerikanerin Kathrine Switzer 1967 in Boston als erste Frau mit Startnummer Marathon gelaufen. Zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum dieses Tages hat die nun Siebzigjährige ihre Leistung wieder mit der Startnummer 261 wiederholt. Jock Semple, der stellvertretende Renndirektor des Boston-Marathons, der ihr 1967 die Startnummer hatte abreißen wollen, einige Jahre danach der Läuferin jedoch einen Kuß gegeben hatte, hat diesen Tag leider nicht mehr erleben können.

Kathrine Switzer ist längst nicht mehr die einzige mit der Nummer 261 auf der Sportkleidung. Vor über zehn Jahren hat sie zusammen mit einer Österreicherin den Club 261 Fearless gegründet, eine Non-Profit-Organisation, die Läuferinnen und Walkerinnen offensteht. Eine der Bedingungen ist einzigartig: Aufgenommen werden allein Nichtraucherinnen. Wer einen Club leiten will, muß eine Ausbildung als 261-Trainerin aufweisen.

Etwa 100 Mitglieder des Clubs 261 Fearless (furchtlos, zuweilen auch mit mutig übersetzt) sind wie Kathrine Switzer den Boston-Marathon gelaufen. Der Club verfolgt jedoch keine sportlichen Ziele. Die Teilnahme am 121. Boston-Marathon war eine Demonstration, eine Solidaritätsbekundung. Die beiden letzten Läuferinnen, die gehend das Ziel erreichten, gehören dem 261 Fearless Club an. Erklärtes Ziel dieses Frauen-Clubs ist es, die Freude am Laufen zu fördern.

Solche Gruppen bilden sich auch in Deutschland. Seit dem letzten Herbst gibt es einen Club 261 Fearless in Berlin-Reinickendorf (Christiane Voigt); Kathrine Switzer sebst hat ihn aus der Taufe gehoben. In Dresden hat die Therapeutin Christine Behrens, nachdem sie in „Running“ über den Club gelesen hatte, einen Trainer-Kurs absolviert und eine Zertifizierung als Trainerin erhalten. Seit Oktober laufen die furchtlosen Frauen auch in Dresden. Christine Behrens vertritt die Ansicht: „ Zudem möchte ich auch aufzeigen, daß Laufen nicht nur Schneller-werden bedeutet. Es ist eine Lebenseinstellung, bei der es ums Miteinander geht und nicht darum, andere zu besiegen und sich mit anderen zu vergleichen.“

Eine weitere Initiative entfaltet sich in Hamburg, und in Frankfurt am Main will eine Amerikanerin einen Club 261 Fearless gründen. Ein früher europäischer Konzentrationspunkt mit mehreren Gruppen hat sich in Österreich gebildet. Das ist „Running Zuschi“ zu verdanken, der Unternehmensberaterin und Sportjournalistin Edith Zuschmann in Klagenfurt, die im Jahr 2005 Kathrine Switzer bei einem Frauenlauf in Klagenfurt betreut hatte und danach an der Gründung des Clubs 261 beteiligt war. Edith Zuschmann ist ebenfalls den Boston-Marathon am 17. April gelaufen.

Edith Zuschmanns Website bedient auch die Interessen deutscher und schweizerischer Läuferinnen. Tanja Bucher leitet den Club 261 in Fricktal. Wer sich für das Trainingsprogramm interessiert, wählt die Seite http://www.261fearless.org/join-261r/261r-train-the-trainer-program (englischsprachig). 261-Fearless-Clubs bestehen außer in den USA und den genannten Ländern auch in Kanada, Brasilien, Großbritannien, Malta, demnächst Albanien. „261 war gerade einmal eine Zahl, fünfzig Jahre später ist es eine Bewegung“, formulierte die Journalistin Switzer.

Eintragung vom 18. April 17

Wenn von Läufern und Hunden die Rede ist, kann man davon ausgehen, daß Probleme diskutiert werden, die von Hunden, besser: von deren Haltern bereitet werden. Gewiß doch, auch ich könnte erzählen, wie ich dreimal von Hunden gebissen worden bin. Doch das ändert nichts, ebensowenig wenn ich über unblutige, aber unangenehme Begegnungen mit Hunden klagen würde. Hundehalter lesen das hier ohnehin nicht. Hunde von Läufern hingegen, zumal wenn sie in Wettkämpfen mitlaufen, verursachen nach meiner Überzeugung keine Probleme.

Gehen wir das Thema Laufen und Hunde einmal anders an, und zwar, wie ich hoffe, konstruktiv. Ein solcher Beitrag hatte mir gefehlt, als ich selbst mit Hunden gelaufen bin. Ich habe nie Tiere gehalten, außer als Kind Goldfische im Aquarium. Aber ich bin im Urlaub mit einem Hund gelaufen. Ende der sechziger und in den siebziger Jahren verbrachten wir den Urlaub bei einem Schulleiter im Land Salzburg, der auch die Jagd betrieb. Nicht daß ich eine Affinität zu Jägern gehabt hätte. Nicht erst seit Horst Stern habe ich eher eine Distanz zur Jagd. Zur Familie unser Urlaubswirte gehörte ein Cocker Spaniel Namens Elko. „Der Cocker Spaniel ist ein temperamentvoller, fröhlicher, anhänglicher und sensibler, aber zuweilen etwas eigensinniger Haushund“, sagt Wikipedia über diese Rasse.  

In der Tat, Elko akzeptierte uns – ebenso wie andere Urlaubsgäste – ohne weiteres als Hausgäste und freundete sich mit uns an. Da Cocker Spaniels regelmäßige und ausgiebige Beschäftigung brauchen und ich im Urlaub das Lauftraining fortsetzte – zu einer Zeit, als in den Alpen kaum jemand lief, weil der Trail noch nicht erfunden war –, lag es nahe, daß wir beide, Elko und ich, es mit dem gemeinsamen Laufen versuchten. Wenn ich nicht irre, hatte das der Hundehalter vorgeschlagen. Außer Elko an die Leine zu nehmen, hatte ich jedoch keine Verhaltensregeln erhalten. Wozu auch, mochte sich der Halter gedacht haben, war Elko doch ein gutmütiger Hund.

So liefen wir also los. Doch Elko blieb alsbald stehen; er mußte den Wegesrand mit der Nase erkunden. Ich zog an der Leine, Elko tat ein paar Schritte, blieb stehen und schnüffelte. So ging das vielleicht einen Kilometer lang. Doch ich blieb hartnäckig und zog stärker, Elkos Widerstand wurde schwächer. Aber wenn ich nicht aufpaßte, blieb er stehen und führte seiner feinen Nase die Gerüche zu.

Es war warm. Ich dachte mir nichts dabei. Allenfalls daß ich annahm, ein Jagdhund und Hund eines Jägers sei robust genug, mich eine Stunde im Dauerlauf zu begleiten. Elko hielt auch wirklich durch. Doch als wir dann wieder daheim waren, ließ er sich auf eine Stufe der Holztreppe fallen. Ich hatte noch nie ein Tier sich so ungehemmt hinlegen sehen. Plumps. Da erst erkannte ich, daß ich Elkos Leistungsvermögen offenbar zu stark herausgefordert hatte.

 

Erst sehr viel später sah ich ein, daß ich gegen die Natur des Tieres gehandelt hatte. Ich hatte mehrere Fehler begangen. Schon als ich die Strecke wählte, hätte ich auf die Natur des Hundes und nicht so sehr auf meine eigenen Bedürfnisse achten sollen: Mehr weichen Waldboden, weniger Asphalt! Doch damals war die Zeit, da wir primär eine glatte Strecke bevorzugten, waren doch auch die Wettkampfstrecken so geartet. Ich erinnere mich, daß vor einem Berglauf auf der Schwäbischen Alb Sträucher, die in den Weg ragten, vor dem Lauf schlicht abgemäht worden waren.

 

Vor allem aber hätte ich auf die Wißbegier des Jagdhundes Rücksicht nehmen müssen. Ich bin dann später mit zwei Huskys gelaufen. Hier war die Situation so, daß mich die beiden Hunde zogen. Grundsätzlich jedoch nehmen Hunde ihre Umwelt vor allem mit dem Geruchssinn wahr. Insbesondere ist dies wohl bei Jagdhunden der Fall. Ich hätte mich von der Absicht zu laufen verabschieden müssen, als ich mit Elko das Haus verließ. Ich hätte ihm Gelegenheit geben müssen sich allmählich anzupassen. Voraussetzung wäre gewesen, daß zunächst einmal ich mich an die Natur der Hunderasse hätte anpassen müssen.

Zehn Kilometer auf einen Sitz – das war zuviel, vor allem bei dem warmen Wetter. An eine Wasserquelle habe ich auch nicht gedacht. Der Hundehalter hatte als Jäger keine Ahnung vom Laufen; ich hatte keine Ahnung von Hundebedürfnissen. Daher der Rat: Wir, Hund und Mensch, müssen uns einander anpassen. Das erfordert seine Zeit und einiges Training, das mit Sicherheit zu Lasten des Läufers geht.

Mit Elko habe ich nicht trainieren können. Im folgenden Jahr habe ich ihn nicht wiedergesehen. Monate nach unseren Laufversuchen sprang er über die Hecke der Grundstückseinfriedung und zwar genau vor eines der wenigen Autos, die hier lang fuhren. Das Temperament des Hundes hat tödliche Folgen gehabt. Die angebliche Intelligenz des Menschen konnte seiner Natur nicht helfen.

Photos und Bildtexte von LaufReport

Eintragung vom 11. April 17

LaufReport könnte ein Preisausschreiben veranstalten – mit Fragen wie dieser: Wer läuft wo am 17. April 2017 Marathon mit der Startnummer 261? Diese Frage zu beantworten, ist logische Überlegung notwendig. Der 17. April ist der Ostermontag. Ein Marathon zu Ostern? Bestimmt nicht in Deutschland. Ein Marathon am Montag? Da gibt es wohl nur einen, den Boston-Marathon am Patriots‘ Day, einem Feiertag im US-Staat Massachusetts. Er erinnert an den 19. April 1775, den Tag der für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung entscheidenden Schlachten von Concord und Lexington. Auf diesen Feiertag, der jeweils am dritten Montag im April begangen wird, hat man 1897 in voller Absicht den Boston-Marathon gelegt, spielten doch die Minutemen, die laufenden Soldaten der amerikanischen Patrioten, die eine Meile in 8 bis 12 Minuten (etwa 5 – 8 Minuten für einen Kilometer) zurücklegten, die kriegsentscheidende Rolle.

Der Boston-Marathon gehört zu der Welle der Marathons, die nach dem Marathon der ersten Olympischen Spiele 1896 eingesetzt hatte. Von ihnen existiert nur noch der eine, der in Boston. Er ist damit der älteste Marathon, der seither mit Ausnahme eines Kriegsjahrs ununterbrochen jährlich veranstaltet worden ist.

Am 17. April ist ein Jubiläum zu begehen: Vor fünfzig Jahren lief hier die erste Frau regulär, nämlich mit Startnummer, Marathon. Karl Lennartz hat im dritten Band seiner Trilogie über die Geschichte des Marathonlaufs detailliert den Marathonlauf der Frauen und dessen Wurzeln behandelt. In Boston lief Roberta Gibb 1966 erstmals den Marathon, und zwar in 3:21:40 Stunden. Da ihre Anmeldung jedoch hatte abgewiesen werden müssen, hatte sie sich nach dem Männerfeld in den Büschen positioniert und startete illegal. Bis zum Ziel überholte sie 290 der 415 teilnehmenden Männer. Diesen heimlichen Start wiederholte sie im folgenden Jahr und erreichte 3:27:17 Stunden.

Aufsehen erregte jedoch eine andere Frau, Kathrine Switzer. Die Story ist bekannt: Sie hatte 1967 als K. V. Switzer gemeldet und erhielt eine Startnummer. Da es ziemlich kühl war und alle Läufer sich gegen den Schneeregen schützten, fiel sie im Trainingsanzug und mit Mütze als Frau nicht auf. Begleitet wurde sie von ihrem Freund und späteren ersten Ehemann Tom Miller und ihrem Trainer, Arnie Briggs. Nach einigen Kilometern kam es zu jenem Zwischenfall, der diesen Lauf zu einer Zäsur des Regelwerks, ja, zu einem sportgeschichtlichen Datum werden ließ. Dem Läuferfeld in Hopkinton war der Pressebus mit dem Renndirektor, Will Cloney, und seinem Stellvertreter, Jock Semple, gefolgt, der nun seinen Weg über die Laufstrecke nahm. Nach einer halben Meile, so schildert Jock Semple in seinem Buch „Just call me Jock“ (1982), rief einer der Journalisten, da sei eine Frau. Doch als der Bus stoppte, stellte sich heraus, es war ein Läufer mit langen Haaren. Nach einer Weile, etwa zwei Meilen nach dem Start, abermals ein Ruf. Jock Semple schaute im Programm nach, da stand hinter der Startnummer 261 der Name K. V. Switzer. Die Presseleute hatten ihren Spaß. „Hey Jock, dieser Freund K. schaut aber gut aus!“ „Wie mag ihre Mutter sie gerufen haben? Karl?“ Im Jahr zuvor hatte Jock Semple sehr wohl Roberta Gibb auf der Laufstrecke gesehen; aber sie trug keine Startnummer. Hier lag der Fall anders. Der Bus hielt, der Renndirektor sprang heraus und versuchte, K. Switzer einzuholen. Da ihm das nicht gelang, rannte Jock Semple, der im Boston-Marathon 1930 immerhin den siebenten Platz erzielt hatte, der Läuferin nach und versuchte, ihr die Startnummer abzureißen. Das aber duldete ihr Begleiter nicht, ein stämmiger ehemaliger Football-Spieler und Hammerwerfer. Er stieß den Angreifer beiseite. „K. Switzer“ konnte ihren Lauf fortsetzen und in 4:20 Stunden beenden. Die Journalisten hatten ihre Geschichte, zumal da ein Fotoreporter von dem Vorfall eine ganze Bildserie schießen konnte.

 

Kathrine Switzer wurde zwar aus dem amerikanischen Amateur-Athletik-Verband ausgeschlossen, aber die Nachricht von dem Marathonlauf einer Frau mit offizieller Zeitnahme verbreitete sich. Die Meinungen darüber waren geteilt. Ernst van Aaken hatte ein ähnliches zwiespältiges Echo auf seine Initiativen, den Langlauf für Frauen zu öffnen, erlebt. Kathrine Switzers Bostoner Lauf und die Diskussion darüber haben auf jeden Fall die Entwicklung um Jahre beschleunigt. Es fanden sich Veranstalter, die Frauen den Marathon-Start freistellten. Der erste Schwarzwald-Marathon 1968, der Frauen den Start ermöglichte, hat einen Markstein gesetzt, auch wenn dies in den USA kein Gesprächsthema war. Im Jahr 1972 öffnete sich der Boston-Marathon ganz offiziell den Läuferinnen. Kathrine Switzer war wie 1971, nun mit offizieller Billigung, ebenfalls am Start. Als Jock Semple ihr begegnete, gab er ihr demonstrativ einen Kuß, und Kathrine Switzer schrieb ihm später einen langen Brief.

Der denkwürdige Tag, der den Durchbruch zum Frauen-Marathon brachte, jährt sich nun am Ostermontag zum fünfzigsten Mal. Das großartige Ereignis dabei: Kathrine Switzer, die am 5. Januar siebzig Jahre alt geworden ist, wird in Boston starten. Ihre Startnummer lautet: 261, die Nummer, die sie vor fünfzig Jahren getragen hatte.

Auf mehrfache Weise ist Kathrine Switzer mit Deutschland verbunden. Ihre Familie ist 1727 aus dem Schwarzwald gekommen. Sie selbst ist in Amberg in der Oberpfalz geboren. Ihre Mutter war 1946 noch während der Schwangerschaft mit dem Schiff nach Europa gereist, um ihrem Mann, der als Major der US-Streitkräfte in Amberg ein Lager für displaced persons leitete, nahe zu sein. Aus den USA in das zerstörte Deutschland zu kommen, dazu gehörte einiger Pioniergeist, den Kathrine offenbar geerbt hat. 1949 kehrte die Familie in die Vereinigten Staaten zurück.

Mit zwölf Jahren, so lesen wir bei Wikipedia, begann sie, jeden Tag eine Meile zu laufen, um als Hockey-Spielerin Kondition zu bekommen. Als Journalistik-Studentin an der Syracuse-University trainierte sie mit dem männlichen Leichtathletik-Team. Das Crosslauf-Team leitete Arnie Briggs, der fünfzehnmal am Boston-Marathon teilgenommen hatte. Das führte dann zu der Idee, daß Kathrine Switzer 1967 in Hopkinton bei Boston starten wollte. Beim Boston-Marathon 1975 erreichte sie ihre persönliche Bestzeit mit 2:51:37 Stunden.

Beruflich engagierte sich Kathrine Switzer bei der Kosmetikfirma Avon und schuf eine internationale Frauenlaufserie. Dazu, daß der Frauenmarathon 1984 in das olympische Programm aufgenommen worden ist, hat sie wesentlich, wenn nicht entscheidend beigetragen. Im Jahr 2011 lief sie den Berlin-Marathon.

Auch wenn sie in Boston nicht die erste Frau war, die dort den Marathon lief, hat sie durch ihr Leben, ihre journalistischen Beiträge, ihre Bücher und ihr Management den Frauenlauf wie kaum eine andere gefördert. Als Zwanzigjährige ist sie dank dem Eingreifen von Jock Semple zu einer Person der Zeitgeschichte, der Laufzeitgeschichte, geworden. Darüber sollte jedoch nicht übersehen werden, daß sie danach selbst Laufgeschichte geschrieben hat.

Bildserie um die Nummer 261 im Jahr 1967 in der Presse-Info im LaufReport HIER

Photo: “Just call me Jock” von Werner Sonntag

Eintragung vom 4. April 17

Diese Eintragung wird er nicht lesen. Denn dem Internet hat er sich verschlossen. Gratulieren werde ich mit einer Glückwunschkarte. Am 6. April hat er seinen 85. Geburtstag – Günter Herburger.

 

Eine Würdigung Herburgers ist von jeher problematisch gewesen. Und sei es nur, weil sich hier wieder einmal der scheinbare Gegensatz von Literatur und Sport auftut. Literaturkritiker konnten – jedenfalls seinerzeit – die Entdeckung des Laufens durch einen eigenwilligen Schriftsteller nicht so recht nachvollziehen.

Günter Herburger hat seine Lauf-Feuilletons in drei Bänden gesammelt, die 1988, 1994 und 2004 erschienen sind. Und die Läufer? „Auch einen Siebzigjährigen, der sich am Abend vorher provozierend vorgestellt hatte, er kenne kein einziges Buch von mir, was die Regel war und mich unbelastet anonym ließ, sah ich nur noch von hinten“ (Aus „Bad Füssing“ in „Schlaf und Strecke“). Die drei Laufbücher habe ich jetzt wieder zum großen Teil gelesen. Meine Definition lautet: Literatur ist, wenn man sie auch nach zwanzig, dreißig Jahren mit Gewinn lesen kann.

Nicht, daß ich sie den damals Siebzigjährigen ans Herz legen möchte. Aber ich habe die Hoffnung, daß die Vielzahl der Menschen, die seither zum Laufen gefunden haben, aufgeschlossen genug sind, auch Bücher zu lesen, die vor ihrer aktiven Zeit erschienen sind. Ich gestehe, diesen Vorschlag würde ich nicht auf Herburgers Thuja-Trilogie (1977 – 1991) beziehen. Aber wer seine Lauf-Lektüre nicht auf Laufanleitungen beschränkt, sollte Herburgers Laufbücher kennen, zumal da sich der Autor nicht in technischen und sich immer wieder ändernden Details ergeht, sondern Assoziationen und Reflexionen mit den Läufen verbindet, an denen er teilgenommen hat.

Nun hat Günter Herburger die Altersklasse erreicht, in der endgültig vom Laufen Abschied zu nehmen ist, es sei denn man macht es wie ich und blickt als Beobachter über den Zaun. Das würde ich Günter Herburger, den Veranstaltern und uns allen zu seinem 85. Geburtstag wünschen. Es ist ja keineswegs so, daß sich der Schriftsteller Herburger aufs Altenteil zurückgezogen hätte. Vor einem Jahr ist „Wildnis, singende“ erschienen, angeblich aus der Gattung des Heimatromans, der sich Herburger neu zugewandt hat.  

 

Meine Kenntnis beziehe ich aus einer längeren Leseprobe, die uns der 2011 gegründete Hanani-Verlag darbietet, und zwar im Internet. Dem Netz entnehme ich auch, was Rezensenten namhafter Blätter über diese Neuerscheinung geschrieben haben (Rezensionsnotizen entnommen dem „Perlentaucher.de“): „Roman Bucheli (Anm.: „Neue Zürcher Zeitung“) ist hellauf begeistert. Günter Herburger ist für ihn ein Meister des fantastischen Erzählens. Motive von großer poetischer Kraft und eine surreale Welt voll menschelnder Tiere und tierhafter Menschen verzaubern den Rezensenten.“ In der Rezensionsnotiz zur „Zeit“ lese ich: „Man muß sich erst an den merkwürdigen Stil Günter Herburgers gewöhnen, bevor man seinen Roman ,Wildnis, singend‘ genießen kann, warnt Rezensent Stephan Wackwitz. Aber es ist die Mühe definitiv wert, versichert er. …Für ihn ist Herburger eine frische Brise in der deutschen Literatur, die endlich Abwechslung von dem ewigen Realismus verspricht.“

Das sind Worte, die mich überraschen. Denn es gab eine Zeit, in der es um Herburger still war. Ich sehe nun, das hat nichts zu bedeuten, ebensowenig wie die Zahl der Leser. Literatur läßt sich nicht messen.

Photos: Sonntag (2), Hanani-Verlag (1)

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