Dieses Zitat von 1919 stammt aus den gesetzlichen Richtlinien zur Einführung der Frauen-Leichtathletik. Es steht stellvertretend für eine Entwicklung, in der Frauen jahrhundertlang von körperlichen Aktivitäten und ganz besonders vom ausdauernden Laufen ferngehalten wurden. In der heutigen Zeit des Fitness- und Laufbooms ist es kaum noch vorstellbar, dass man laufenden Frauen nachsagte, sie würden ihrer Gesundheit schaden, ihre Geburtsfähigkeit beeinträchtigen, männliche Gesichtszüge annehmen, die allgemeine Sitte der Frauenschönheit und Grazie verderben sowie der Moral von weiblichem Anstand und Wohlgefallen widersprechen. Diese zählebige Auffassung, die ganz offensichtlich überholt und konservativ anmutet, wurde jedoch noch bis in die 1980er Jahre hinein von einigen „Experten“ vertreten und zeigt ihre Auswirkungen sogar bis heute.
Mit der Kulturgeschichte des Frauenlaufes beschäftigt sich die Abschlussarbeit der Autorin, die selbst aktive Läuferin ist und ihre Erfahrungen bei vielen Laufveranstaltungen hinterfragte: Warum sind im Läuferfeld grundsätzlich nur etwa 10-15 Prozent Frauen? Aus welchen Gründen nimmt der Frauenanteil mit zunehmender Streckenlänge umso mehr ab? Wieso werden Frauen manchmal mit der sinngemäßen Bemerkung: „Hübsch seht ihr aus, aber könnt ihr auch gut kochen?“ auf dem Podium begrüßt, Männer dagegen mit dem Ausspruch „Hier sehen sie gestandene Männer, kräftig und schnell!“? Warum sind die Prämien in einigen wenigen Fällen noch immer ungleich, beispielsweise wenn der Sieger eine Reise zum London-Marathon bekommt, die Siegerin aber lediglich ein paar Tage Aufenthalt im Bayrischen Wald? Weshalb werden Frauen nach DLV-Regelung bei Crossläufen und auch Cup-Wertungen häufig nur auf den kürzeren Distanzen gewertet?
Um Fragen wie diese zu beantworten, muss ein Blick in die Kultur-, Sport- und Geschlechtergeschichte geleistet werden. Die Art und Weise, wie, wo und welche Sportarten Frauen ausüben konnten, welche Kleidung sie dabei trugen und welche Form von Bewegung praktiziert werden durfte war abhängig vom jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontext einer Epoche. So wurde die Geschlechterordnung aufgrund gravierender gesellschaftlicher Veränderungen im 18. und 19. Jahrhundert vorwiegend über den anatomischen Körperbau definiert. Dementsprechend schienen Männer eher auf Kraft, Aggressivität und Rationalität „angelegt“ zu sein, Frauen dagegen auf Schwäche, Passivität und Emotionalität. Diese „Ordnung“ wurde auf allen Gebieten des Zusammenlebens angewendet und überdauerte besonders diejenigen Bereiche, die körperliche Aktivität verlangten. Demzufolge entwickelte sich ein typisch weibliches wie auch typisch männliches Bewegungsverhalten, das bis heute Diskussionen hervorruft („Boxen für Frauen?“, „Aerobic für Männer?“). Auch der Lauf war in den Köpfen vieler als „Männersportart“ verankert und für Frauen negativ konnotiert. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde um jeden Meter Streckenverlängerung kontrovers debattiert, da hauptsächlich Ärzte, Sportfunktionäre und Pädagogen eine zunehmende Gesundheitsschädigung und „Vermännlichung“ mit steigender Kilometerzahl fürchteten. Die Mittelstrecke über 800m blieb lange Zeit das Höchstmaß zugelassener Distanz bei gleichzeitigen Vorschriften, die eine Wettkampfaktivität stark erschwerten. Die Teilnahme an Volksläufen war Frauen viele Jahre verboten. Nachdem sich einige mit spektakulären Aktionen, beispielsweise durch das Verkleiden als Mann, Zutritt zur Langstrecke verschafften, und sich die Argumentationen der Frauenlauf-Befürworter mehrten, kam es zu einer Lockerung der Laufbeschränkungen. Der Durchbruch gelang schließlich, als der Marathon für Frauen 1984 in das olympische Programm aufgenommen wurde.
Aktuelle Statistiken zeigen, dass sich der Frauenanteil im Sport insgesamt dem der Männer angleicht, im Marathon aber keine vergleichbaren Steigerungen stattgefunden haben. Dies ist als Indiz zu werten, dass die Auswirkungen der jahrelangen „Marathonsperre“ sowie geschlechtstypischer Sozialisation und Erwartung im Verhalten noch immer spürbar sind. Viele Fortschritte wurden dank verschiedener Kampagnen und Sportförderungsprojekte und nicht zuletzt durch die immer beliebter werdenden Frauenläufe erreicht. Wie die Erfahrung bei Laufveranstaltungen zeigt, kann von absoluter Gleichstellung jedoch noch keine Rede sein.
Teresa Brinkel
Essay zur kulturwissenschaftlichen Betrachtung des Frauenlaufsports. An der Gesamtarbeit „Von den Heräen bis zum Marathon“ Interessierte können sich direkt an Teresa Brinkel wenden. Email teresa_brinkel@web.de
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