Running forever

Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden

 

Zwei Dutzend Läuferinnen haben für das im Frühjahr 2021 erschienene Buch "Running forever. Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden" (Arete Verlag, Hildesheim) ihre Lauf-Lebens-Geschichte niedergeschrieben. - Es wurde im LaufReport besprochen.

Die Herausgeber:innen des Buches interessierte, wie die Betreffenden sich die Freude am Laufen bewahrt haben und zu welchen "Konzepten" lebenslanger Ausübung sie gekommen sind.

Prof. Dr. Detlef Kuhlmann schrieb nach der Lektüre: "Alle Texte blühen beim Lesen so herrlich auf, weil sie etwas von jenen identitätsstiftenden Momenten erzählen bzw. wie und warum das regelmäßige Laufen diesen Frauen zu neuer Stabilität im Leben verholfen hat."

Im LaufReport werden drei der 24 Beiträge vorgestellt.

Eine späte Liebe fürs Leben

von Dr. Martina Münch 

Aller Anfang ist …

 

Niemals hätte ich geglaubt, dass aus mir eine Läuferin werden würde - zumal ich in meiner Jugend das Lauftraining im Rahmen des Wintertrainings für das Rudern am wenigsten mochte - dann lieber in der Kälte stundenlang auf dem Wasser sein oder im Kraftraum schwitzen. Aber Laufen? Ich empfand die 5 oder 10 km-Strecken zur Steigerung der Ausdauer quälend und langweilig, ich lief viel zu schnell, schwitzte schrecklich und war immer heilfroh, wenn das Training vorbei war.

Viel später versuchte mein Mann, der schon immer gerne gelaufen war, mich zu motivieren, mit ihm eine Runde im Wald oder um die Berliner Seen zu laufen - ich hatte keine guten Schuhe und unpassende Kleidung und kam mir vor wie ein kleiner Elefant, der stampfend und ächzend und ohne Lust vorangetrieben wurde.

Dr. Martina Münch beim Boston Marathon 2016

Es sollte noch eine Reihe von Jahren dauern, bis ich das Laufen für mich entdeckte. Nach sieben Schwangerschaften, langen Stillzeiten und zahllosen durchwachten Nächten, anstrengenden Tagen und mit mittlerweile über 40 hatte ich das Gefühl, etwas für meinen Körper und auch meine Seele tun zu müssen - etwas für mich alleine, das nicht durch die Familie motiviert war.

Ich machte einen Kurs in Nordic Walking, was mir ein Gefühl für meinen Körper, für Bewegung und Harmonie und auch die Freude am Bewegen in der Natur wiedergab. Schnell wurde mir Nordic Walking zu langsam und zu langweilig, und ich fing an - wieder unterstützt von meinem Mann, der mittlerweile als Einzelkämpfer Marathonläufer geworden war - mit einem sanften, langsamen, an meine Fähigkeiten angepassten Lauftraining samt Laufschuhen, Laufuhr und einem guten Lauf-BH.

Und so begann langsam aber beständig eine neue große Liebe zu wachsen - die Liebe zum Laufsport.

Der Appetit kommt...

… tatsächlich beim Laufen. Waren es zunächst nur wenige Kilometer, etwa eine Runde durch den abendlichen Branitzer Park in Cottbus nach einem langen Arbeitstag, langsam und entspannt, so wuchs allmählich die Lust auf mehr. Ich spürte, dass ich nach jedem Lauf, auch wenn es kalt, nass oder windig war, und auch wenn ich müde Beine hatte und eigentlich nur noch aufs Sofa wollte, mich deutlich besser fühlte als vor dem Lauf. Der Kopf frei, die Laune gebessert, entspannt. Das geht mir bis heute so, und ich war bald überzeugt davon, dass das Laufen eine echte Wohltat für mich wäre.

Etwa ein halbes Jahr nachdem ich regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche meistens abends kürzere Strecken gelaufen war, meldeten wir uns zu einem 10 km-Lauf an. Ich war ziemlich aufgeregt, zumal ich seit meinem Rudertraining in meiner Jugend nie mehr 10 km gelaufen war. Ich lief gemeinsam mit meinem Mann, und es machte richtig Spaß - ich lief strahlend ins Ziel und wusste, dass das nicht mein letzter Wettkampf gewesen sein sollte. Ein halbes Jahr später meldeten wir uns für den Halbmarathon im Spreewald an - ich hatte riesengroßen Respekt vor der Verdopplung der Distanz und trainierte zum ersten Mal den ganzen Winter über nach einem Trainingsplan.

 

Zum Trainieren nach Plan gibt es unterschiedliche Ansichten. Wenn ich in meinem Leben etwas erreichen möchte, gehe ich nach Möglichkeit strukturiert an mein Ziel heran und versuche mich bestmöglich auf die neue Herausforderung vorzubereiten. Deshalb empfand und empfinde ich Trainingspläne bis heute als sehr hilfreich - auch wenn die Motivation manchmal angesichts anderer Belastungen schwankt.

Der erste Spreewald-Halbmarathon im Frühling war ein sehr schönes Erlebnis, und spätestens danach war für mich klar, dass es nicht dabei bleiben sollte, dass ich auch die Königsdisziplin der Läufer, nämlich einen Marathon laufen wollte, und dass ich zudem auch schneller werden wollte.

Dr. Martina Münch mit ihrem Ehemann beim Spreewald-Marathon 2014

Den ersten Marathon lief ich - gut mit Plan vorbereitet - ein Jahr später in Ulm, weil es terminlich mit dem Berlin-Marathon nicht klappte. Glücklich und erschöpft lief ich Hand in Hand mit meinem Mann ins Ziel und erlebte das wunderbare Gefühl, total erschöpft und gleichzeitig ganz erfüllt, stolz und glücklich zu sein. Natürlich machte dieses Erleben Lust auf mehr ... Im kommenden Jahr liefen wir den Berlin-Marathon, und dann hatte mein Mann die Idee, die Six Stars in Angriff zu nehmen. Six Stars - diesen Begriff kennt jeder Marathonläufer - es bedeutet, dass man in unterschiedlichen Ländern und Kontinenten an den großen Marathons teilnimmt und erfolgreich finished.

Es dauerte einige Jahre und kostete viel Zeit, Geld und Organisationsgeschick, aber wir haben es tatsächlich geschafft, alle Six Star-Marathons in Berlin, London, New York, Chicago, Boston und Tokio zu laufen. Diese Reisen in die sehr unterschiedlichen Städte, das Erleben von Land und Leuten, schließlich der Marathon, der in jeder Stadt anders war, bleiben unvergessliche Erlebnisse, für die ich froh und dankbar bin.

Im Jahr des letzten Six Star-Laufs in Tokio lief ich auch meinen zehnten Berlin-Marathon und bin damit Mitglied des Jubilee-Clubs des Berlin-Marathons. Damit hatte ich alle meine selbstgesteckten Laufziele erreicht. Seither laufe ich weniger ambitioniert aber mit viel Freude und Ausdauer, wo auch immer ich bin. Und wenn nicht wie in diesem Jahr durch Corona alles anders ist als sonst, reizt es mich immer noch, Ende September bei meist strahlendem Herbstwetter durch Berlin zu laufen und die Stimmung, die von den 100.000 Zuschauer am Rand ausgeht, zu genießen.

Hals- und Beinbruch

Wirklich schlimme sportliche Krisen hatte ich in all den Jahren, seit denen ich laufe, zum Glück nicht. Und unser Gedächtnis funktioniert ja zum Glück auch so, dass man im Rückblick schlimme Erlebnisse und Schmerzen relativiert und abschwächt und die positiven Erlebnisse verstärkt.

Ich hatte vor einigen Jahren einmal mit einer beginnenden Ermüdungsfraktur im Schienbein zu tun, was sich in hartnäckigen Schmerzen beim Laufen bemerkbar machte. Offenbar hatte ich die Trainingsumfänge in der Marathon-Vorbereitung zu schnell gesteigert.

Als Läufer kennt man ja durchaus unterschiedliche Schmerzzustände, die aber meistens beim Laufen wieder verschwinden. Und so wollte ich es auch mit meinen Schienbeinproblemen handhaben und unbedingt den geplanten Marathon absolvieren, was auch gelang. Im Nachgang zwangen mich die Schmerzen aber doch zum Arzt, der mir ein dreimonatiges Laufverbot anordnete. Diese drei Monate waren richtig schlimm für mich, und ich spürte, dass mein Körper mittlerweile das regelmäßige Laufen brauchte und ich geradezu mit körperlichen Entzugssymptomen reagierte. Es war wie eine Befreiung, als ich endlich wieder wenigstens auf den Hometrainer durfte und meinen Kreislauf in Schwung bringen konnte. Ansonsten hatte ich wie die meisten Läufer mit gelegentlichen Stürzen, aufgeschlagenen Knien und Platzwunden zu tun, die mich aber genauso wenig wie ein verstauchter Knöchel längere Zeit ausbremsen konnten. Wirklich hartnäckig erwiesen sich dagegen Rückenschmerzen, die bei längerem Laufen zunahmen und mir die Freude an Strecken über 10 Kilometer zunehmend raubten. Die Ursache sind diverse Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, und ich verdanke es klugen Sportmedizinern und Physiotherapeuten, die mir zeigten, wie man die Rumpfmuskulatur aufbaut und stabilisiert, um wieder weitgehend schmerzfrei zu werden.

Unbeschreiblich weiblich!

Die Muskulatur von Frauen ist eher auf ausdauernde Belastung angelegt und meistens weniger kräftig als die von Männern. Außerdem sind Frauen in der Regel kleiner und leichter als Männer. Daher sind Frauen von ihrem Organismus her besser für Ausdauersport wie Laufen ausgestattet. Auch evolutionär mussten die Menschen schon in Frühzeiten viel laufen, um zu überleben. Laufen ist bei uns Menschen daher buchstäblich in den Genen verankert, und Frauen sind aufgrund ihrer Biologie sogar noch besser dafür geeignet.

Bis heute frage ich mich deshalb, warum in der Regel bei den großen Läufen in Deutschland Frauen deutlich in der Unterzahl sind und warum ich bei meinen Trainingsläufen am Morgen oder am Wochenende überwiegend auf Männer treffe. Liegt es daran, dass Frauen sich von Trainingsübereifer und Ehrgeiz mancher Männer abschrecken lassen? Dass Laufschuhe und Zubehör meistens auf Männer zugeschnitten sind und es kaum einen Markt für spezielle Laufprodukte für Frauen wie gut sitzende Lauf-BHs, nicht scheuernde Wäsche oder eben entsprechende Schuhe gibt? Oder sorgen sich Frauen um ihren Beckenboden und ihre Figur, die vermeintlich beim Laufen in Mitleidenschaft gezogen werden? Oder liegt es daran, dass es in unserer auf Attraktivität und Perfektion ausgerichteten öffentlichen Wahrnehmung unattraktiv erscheint, sich als Frau verschwitzt und erschöpft zu zeigen? Wie auch immer - ich habe das nie so empfunden.

Und bei meinen Marathons in den USA, England oder auch Japan habe ich es sehr genossen, zusammen mit so vielen Frauen zu laufen, denn dort ist die Relation zwischen Läuferinnen und Läufern nahezu umgekehrt im Vergleich zu Deutschland.

Laufen hat etwas unglaublich Befreiendes und Entspannendes, es macht den Kopf frei, relativiert Sorgen und hilft auch über typisch weibliche körperliche Beschwerden wie Menstruationsschmerzen oder auch Wechseljahresbeschwerden hinweg.

Und zum Glück werden es langsam immer mehr Frauen, denen ich unterwegs begegne, die das Laufen für sich entdeckt haben, die ihren eigenen Stil entwickelt haben, die oft bewusst langsam laufen, denen die Blicke der anderen egal sind und die mir mit einem wissenden Lächeln begegnen, wenn wir uns als "Komplizinnen" grüßen.

... verleiht Flügel

Dass Laufen Flügel verleiht, erlebt man, wenn man die ersten Hürden erfolgreich gemeistert hat und dann immer wieder, manchmal auch ganz überraschend, wenn das sogenannte Runner´s High sich einstellt, etwa bei ganz langen Läufen, oder wenn einfach alles stimmt. Dann fühlt man sich eins mit sich und der Welt, genießt den Flow, die fließende Bewegung und wächst über sich hinaus. Das aber sind Sternstunden und gerade deshalb so besonders.

Oft ist es durchaus mühsam, sich aufzuraffen, die ersten Schritte loszulaufen, auch wenn man müde ist, einen das eine oder andere Zipperlein plagt oder man den Kopf nicht frei hat, oder wenn es einfach nicht gelingen will, ein gutes Laufgefühl zu entwickeln. Viel wichtiger ist mir aber, dass Laufen innerlich befreit, den Kopf durchlüftet und hilft, die Sorgen in den Hintergrund zu drängen und zu relativieren. Das habe ich in den vielen Jahren seitdem ich laufe, immer wieder erlebt, gerade auch in schweren Zeiten, wenn es im persönlichen oder beruflichen Bereich Schwierigkeiten und Probleme gab, und das waren nicht wenige.

 

Sieben Kinder großzuziehen und gleichzeitig eine politische Karriere mit großem Zeit- und Kraftaufwand zu betreiben, erfordert großen Einsatz, und es braucht Kraftquellen, um das alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen. Das Laufen ist eine meiner großen Kraftquellen, die mir im Lauf der Zeit immer wichtiger wurde. Bei jeder Dienstreise - wohin auch immer - waren die Laufschuhe im Gepäck, und meistens hatte ich schon vor dem Frühstück die Gegend laufend erkundet und konnte ausgeglichen und frisch in den langen Tag starten.

Dr. Martina Münch beim 100-km-Staffellauf in Kienbaum 2013

Meine Kinder haben bald gelernt, dass die Mutter bessere Laune hat, wenn sie erstmal eine Laufrunde gedreht hat. Aber auch wenn sich Schwierigkeiten türmten und Lösungen fern schienen, half es mir immer, regelmäßig zu laufen. Vor allem, wenn ich mich zu sehr in ein Problem verbissen hatte, gewann ich durch das Laufen oft Abstand und Gelassenheit und neue Kraft.

Das ist bis heute so, und deshalb verleiht Laufen Flügel - auch wenn sie manchmal gar nicht zu sehen sind. Und das bleibt hoffentlich noch ganz lange so.

Was ich noch zu sagen hätte ...

Wenn Nichtläufer kein Verständnis dafür haben, dass man mehrmals pro Woche läuft und das Laufen wirklich wichtig nimmt, fragen sie gelegentlich auch sehr tiefsinnig, wovor man denn eigentlich davonlaufe. Solche Einschätzungen sind nicht selten und gehören noch zu den anspruchsvolleren Vorurteilen gegen das Laufen. Und obwohl es nicht an Informationen über die positiven Auswirkungen des Laufens mangelt, gelingt es doch gerade denjenigen nicht, Laufen als selbstverständlichen Bestandteil in ihr Leben zu integrieren, die es vielleicht am nötigsten hätten.

Wer läuft, schützt sich in erheblichem Maß vor Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Diabetes und Übergewicht. Er sorgt für seine seelische Balance, Entspannung und beugt Stress und Burnout vor. Deshalb läuft der Ausdauerläufer ja auch nicht vor etwas davon, sondern zu etwas hin - zu einem ausgeglicheneren, gesünderen und glücklicheren Leben. Und er hat etwas, das ihm hilft, Lebenskrisen zu bewältigen.

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir Läufer all dies noch stärker in die Öffentlichkeit tragen - nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit einem überzeugten Lächeln.

Ich hoffe sehr, dass mich die Freude am Laufen bis in das hohe Alter begleiten wird, auch wenn die Strecken kürzer werden und das Tempo langsamer werden wird. Und ich wünsche mir, dass diese Freude immer mehr Menschen mit mir teilen werden.

Dr. Martina Münch, geb. 1961 in Heidelberg, verheiratet, 7 Kinder. Wohnort Cottbus
Von Beruf Ärztin, dann auf Umwegen in die Landespolitik geraten - von 2004-2019 Landtagsabgeordnete in Brandenburg, in dieser Zeit fast 9 Jahre Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 2010-2014 für Bildung, Jugend und Sport. Seit 2020 tätig für das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg..

Wenn Sie dieser Beitrag interessiert hat, empfehlen wir Ihnen das komplette Buch:

Beate Kommritz-Schüler, Bettina Richter u.a. (Hrsg.)
Running forever
Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden

Hildesheim: Arete-Verlag, 2021, 190 S.
ISBN: 978-3-96423-051-5

Zur Buchbesprechung von Dr. Arwed Bonnemann im LaufReport HIER

Einmal um die Welt laufen

von Dr. Andrea Löw 

Aller Anfang ist …

Wenn ich heute von meinen Ultraläufen überall auf der Welt erzähle, glaubt es mir mancher nicht, es stimmt aber: Ich fand Laufen viele Jahre meines Lebens blöd. In meiner Jugend habe ich Basketball gespielt, in der Saisonvorbereitung sollten wir Kondition aufbauen und unser Trainer hat uns dafür durch einen Wald in meiner Geburtsstadt Hagen gescheucht. Ich habe das so richtig gehasst. Darüber muss ich heute immer lachen, wenn ich meine Eltern besuche und durch denselben Wald wie damals laufe und es liebe.

Andrea Löw beim Rescheneelauf - Foto © Josef Rüter

Angefangen zu laufen habe ich, nachdem ich mit 30 Jahren zunächst die niederschmetternde Diagnose bekam, ich müsse an beiden Hüften operiert werden, und zwar sofort. Wenig später meinte ein zweiter Arzt, ich solle stattdessen unbedingt Muskulatur aufbauen: Kraft aufbauen, Krankengymnastik machen, vielleicht auch laufen. Ich bin von da an zwei, drei Mal die Woche gelaufen. Das tat mir gut und zusammen mit dem Krafttraining hat es nach einer Weile dazu geführt, dass die Schmerzen in den Hüften nachgelassen haben und irgendwann ganz verschwunden waren.

Der Appetit kommt beim …

Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal eine so leidenschaftliche Läuferin werden würde, wie ich es heute bin. Meine Umfänge haben sich im Laufe der Zeit immer mehr gesteigert. Ich habe zunächst begonnen, mich für kleinere Wettkämpfe anzumelden und 2008 in Berlin war es dann so weit: mein erster Marathon. Ich war 42,195 Kilometer lang und im Ziel erst recht einfach nur glücklich. Einige Jahre später bin ich nach München gezogen, und hier habe ich meine Liebe für das Laufen in der Natur entdeckt. Trails an der Isar, wenig später ging es mit Gleichgesinnten erstmals in die nahen Berge. Laufen durch traumhafte Landschaften, dabei immer konzentriert auf den unebenen Untergrund, mich fordern, aber so große Glücksmomente als Belohnung erleben zu dürfen - kaum etwas hilft mir so sehr dabei, den Kopf frei zu bekommen und glücklich zu sein.

Meine große Liebe zum Reisen habe ich rasch ebenfalls mit dem Laufen verbunden. Auf jeder Dienstreise habe ich meine Laufschuhe dabei, laufe vor Sitzungen oder Tagungen in Jerusalem, London, Washington oder Warschau. Ich erlaufe mir die Orte, an denen ich sonst vielleicht nur mit Kollegen in einem Konferenzsaal sitzen würde. Und inzwischen reise ich in ferne Länder, um sie mir zu erlaufen. Mehrtägige selbstversorgte Etappenrennen haben mich in den letzten Jahren u.a. nach Namibia, nach Mosambik, in die Mongolei und nach Australien geführt. Diese Rennen sind hart, wirklich hart: 250 Kilometer in sechs Etappen durch die Wüste mit einem fast zehn Kilogramm schweren Rucksack auf den Schultern, das ist kein Kindergeburtstag. Ich habe auf diesen Läufen manchmal sehr gelitten, habe aber auch Abenteuer und Glücksgefühle erlebt, die an Intensität kaum zu überbieten sind. Meist versuche ich, Reisen und Laufen zu verbinden. Dann bin ich glücklich. Denn das bin ich, genau das. eine laufende Reisende oder eine reisende Läuferin.

Hals- und Beinbruch!

Es läuft nicht alles immer so, wie ich mir das wünsche. Gerade bei einem Ultralauf ist ab einem gewissen Punkt sehr vieles Kopfsache. Der Körper will nicht mehr, er schreit dich an aufzuhören. Ultralaufen tut meistens irgendwann weh. Darüber trägt mich mein Kopf hinaus. Das Entscheidende ist es aber zu erkennen, wann der Punkt erreicht ist, an dem es besser ist, aufzuhören, um sich und seinem Körper nicht langfristig zu schaden. Manchmal ist weniger mehr, und zum Nachdenken über Ultraläufe gehört es auch zu erkennen, wo dann doch Grenzen sind.

Die Entscheidung, diese Grenzen zu respektieren, ist das Schwierige; sie tut weh, mitunter sogar mehr als das körperliche Problem, das zur Aufgabe geführt hat. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass solche Wettkämpfe oft mit starken Emotionen verbunden sind. Manchmal ist es vernünftig, auszusteigen, wenn es nicht mehr geht. Nein, das ist keine Schande, es kann mitunter die mutigste aller Entscheidungen sein. Im besten Fall lernt man viel daraus. Theodor Heuss hat einmal gesagt: "Es ist keine Schande, hinzufallen, aber es ist eine Schande, einfach liegen zu bleiben."

Andrea Löw erstürmt Berge - Foto © Andy Astfalck

Schon zweimal musste ich bei Wettkämpfen, die mir wirklich wichtig waren, in die ich körperlich und emotional viel investiert hatte, an einem späten Punkt die Segel streichen, und das tat in beiden Fällen richtig weh. 2014 stand ich erstmals beim Trans Alpine Run am Start, einem Rennen über die Alpen, bei dem im Zweierteam in sechs oder sieben Etappen etwa 250 Kilometer mit 15.000 Höhenmetern zu bewältigen sind. Ich war aufgeregt, ich war nervös, ich war voller Vorfreude, war aber vorher auch kurz verletzt, konnte mich nicht so vorbereiten, wie ich das wollte. Und so kam es, dass ich in der sechsten Etappe mit großen Schmerzen in den Schienbeinen ausscheiden musste. Ich habe geweint und geweint und geweint, es fühlte sich alles sehr schlimm an.

Jemand sagte mir danach: "Hinfallen, aufstehen, schütteln, weitermachen!" Wahrscheinlich ist das der Punkt. Ich habe mich eine Weile nach diesem Lauf geschüttelt, bin aber auch wieder aufgestanden. Das Folgejahr wurde grandios. 2015 habe ich auf Menorca meinen ersten 100-Kilometer-Lauf gefinisht, bin 125 Kilometer über dem Polarkreis gelaufen und genau an meinem 42. Geburtstag 42,195 Kilometer beim Jungfrau-Marathon. Im November habe ich mir einen großen Traum erfüllt und war beim New York Marathon am Start.

Und im Jahr darauf? Mein zweites "Did not finish" beim Trans Alpine Run. Ich wollte finishen, unbedingt, habe aber nur fünf von sieben Etappen geschafft. Was macht man mit solchen Situationen? Ich habe für mich damals daraus gelernt, dass ich wieder mehr in den Bergen sein und es einfach nur genießen will. Ich wollte nicht mehr durch meine geliebten Berge hetzen, gejagt von Cut Off-Zeiten. Ich bin so furchtbar gern in den Bergen, möchte dort stehen bleiben, in die Landschaft schauen, genießen und glücklich sein.

Ich habe mir damals sehr bald neue Ziele gesucht, mich einfach getraut, obwohl ich diese Niederlage beim Trans Alpine Run noch gar nicht so richtig verdaut hatte. Aber das ist genau der Punkt: Du kannst hinfallen, immer wieder, aber steh wieder auf! Im Jahr danach bin ich in Namibia 250 Kilometer in sechs Etappen durch die Wüste gelaufen. Und danach noch vieles mehr.

Noch ein Gedanke zu verletzungsbedingten Laufpausen: Ich musste mal wegen Schmerzen im Musculus Piriformis pausieren. Schon davor hatte ich immer mal wieder Yoga gemacht, es aber nie geschafft, regelmäßig dabei zu bleiben, obwohl ich wusste, wie gut das für mich wäre. Als ich nun wegen der Schmerzen nicht laufen konnte, bin ich öfter zum Yoga gegangen und ich bin sehr überzeugt davon, dass mir das sehr bei der Genesung geholfen hat. Ich habe aber auch, über diesen blöden Muskel im Hintern hinausgehend, gemerkt, wie gut mir das tut. Es ist genau der richtige Ausgleich für uns Läufer, wir kräftigen und stabilisieren alles, was wir beim Laufen vernachlässigen, wir dehnen uns und werden beweglicher, wir pflegen unsere Faszien. Mir tut Yoga nicht nur körperlich gut. Sehr oft hetze ich durchs Leben, eile von Dienstreise zu Dienstreise, halte hier einen Vortrag, muss dort auf einer Besprechung sein. Manchmal wird mir alles etwas zu viel, dann schlafe ich unruhig und werde dadurch noch müder. Auf der Yogamatte komme ich wunderbar zur Ruhe, außerdem muss ich mich so auf die Übungen konzentrieren, dass ich, während ich Yoga übe, nicht über irgendetwas nachdenken kann, was mich vielleicht kurz vorher noch belastet hat. Viele Asanas, also Yoga-Haltungen, kann ich nicht besonders gut, mir fehlt teilweise noch die Kraft, außerdem bin ich sehr unbeweglich. Aber das Tolle ist, dass das beim Yoga kein Thema ist. Das ist kein Wettbewerb, ich muss mich nicht daran orientieren, was die anderen auf ihren Matten machen. Ich bin auf meiner Matte und schaue, was mein Körper zulässt. Das tut mir sehr gut und ich bin dankbar, dass ich das durch die schmerzbedingte Pause für mich erkannt habe. Und so hat am Ende vieles einen Sinn. Während eines Yin Yoga-Workshops hat die Yogalehrerin, während ich auf meiner Matte lag, den schönen Satz gesagt: "Der Boden trägt Dich, egal was passiert." Das finde ich einen sehr schönen Gedanken, den ich mir in schwierigen Situationen vergegenwärtige.

Unbeschreiblich weiblich!

Wunderbare, spannende, liebenswerte und inspirierende Frauen durfte ich bei meinen Läufen überall auf der Welt schon kennenlernen. So war ich beim Ultra Africa Race in Mosambik mit der Japanerin Kazuko Kaihata am Start. Hier liefen wir viel durch Dörfer, und manchmal waren auch unsere Camps am Abend nah am Dorf. Dann kamen meist Frauen und Kinder und bestaunten uns, die weißen, verschwitzten Frauen und Männer, die aus unerfindlichen Gründen mit großen Rucksäcken durch die Gegend liefen. Wir haben zusammen gelacht und getanzt, immer mittendrin unsere wunderbare Kazuko: Über 60 Jahre alt, mit Erfahrungen im Ultralauf, die mich vor Ehrfurcht erstarren lassen, war sie immer sofort dabei, wenn Kinder da waren. Ich kannte Kazuko bereits aus dem Film "I Want to Run" über den Transeuropalauf. Derartige Läufe von weit über 1.000 Kilometern sind in ihrer Vita zuhauf zu finden. Nun lief sie also mit uns durch Mosambik und strahlte eine wahnsinnige Herzenswärme aus. Sie hat früher in einem Waisenheim für behinderte Kinder gearbeitet, und sobald Kinder in der Nähe waren, kam sie angerannt, egal, wie anstrengend die Etappe vorher war. Sie hat sogar zwei japanische elektronische Puppen in ihrem Rucksack mitgeschleppt, um abends den Kindern eine Freude zu machen.

Solche großartigen Frauen durfte ich schon treffen auf meinem Lebenslauf. Immer sind Frauen am Start bei diesen Rennen. Wann immer wir wollen, melden wir uns zu einem Rennen an. Doch durften Frauen nicht immer schon an der Startlinie stehen. Wie viel wir Frauen in dieser Hinsicht Kathrine Switzer und ihrer mutigen Entscheidung, nur mit ihren Initialen als K.V. Switzer angemeldet an den Start des Boston Marathons zu gehen und diesen zu finishen, verdanken, ist im Vorwort dieses Buches ausführlich zu lesen.

2014 und 2015 fand der von ihr initiierte 261 Women's Marathon auf Mallorca statt. Im zweiten Jahr war ich in Palma am Start. Ich hatte mich im Vorfeld dieses Laufs gefragt, ob ein Marathon nur für Frauen denn überhaupt sinnvoll ist. Brauchen "wir" so etwas? Die fünf Kilometer langen Frauenläufe, bei denen sich auch Damen an den Start trauen, die das sonst niemals wagen würden, klar. Aber einen Marathon? Auf dem mehrfach zu laufenden Rundkurs kamen sich die Läuferinnen immer wieder entgegen und im Laufe meiner 42,195 Kilometer habe ich derart oft erlebt, dass wir - doch eigentlich Konkurrentinnen - uns gegenseitig angefeuert und angelächelt, uns Mut zugesprochen haben, dass ich die Sinnfrage im Ziel mit einem ganz klaren "Ja" für mich beantworten konnte. Und vielleicht ist dies, natürlich gibt es hier in beide Richtungen Ausnahmen, etwas sehr Weibliches: Der Konkurrenzdruck, das ganz dringende Verlangen, die schnellere Pace zu laufen als die Mitläuferin, der ständige Wettbewerbsgedanke scheint mir unter Läuferinnen weniger ausgeprägt zu sein. Seit einigen Jahren veranstalte ich gemeinsam mit meiner Lauffreundin Sandra Mastropietro ein Trailrunning-Camp im wunderbaren Pitztal, und hier hat sich dieser Eindruck bestätigt: Es geht den Teilnehmerinnen um das Naturerlebnis, um gemeinsame Momente, um Spaß und Erholung, nicht darum, wer denn nun als Erste den Gipfel erreicht hat. Das schafft eine sehr angenehme Atmosphäre, die ich nicht missen möchte. Unbeschreiblich weiblich eben.

Andrea Löw im Pitztal - Foto © A. Löw

Zurück nach Palma. Es war ja am Ende trotz des feinen Miteinanders auch ein Wettkampf. Meinen Pokal für den zweiten Altersklassenplatz hat mir die beeindruckende Kathrine Switzer persönlich überreicht. Und wie hat sie am Rande des Events so passend gesagt: "Das Leben ist zum Teilnehmen da, nicht zum Zuschauen." Darum geht es: mitmachen, teilnehmen, sich trauen!

… verleiht Flügel!

Ich habe mich in den letzten Jahren durch das Laufen Dinge getraut, die ich früher nicht für möglich gehalten hätte. Wenn ich mich für einen Lauf anmelde, weiß ich vorher nicht, wie es wird, ob ich es schaffe. Viele Unwägbarkeiten sind involviert, nicht alles ist planbar. Aber inzwischen weiß ich, dass ich mich trauen muss, um herauszufinden, ob ich es kann. Und ich werde für meinen Mut belohnt, immer wieder. Auch wenn es zwischendurch hart ist, weh tut, ich manchmal an mir zweifle. Im Grunde ist doch das ganze Leben ein Ultratrail. Es gibt gute und schlechte Phasen, manchmal muss man sich durch etwas hindurchkämpfen, obwohl es wirklich anstrengend ist. 2019 bin ich bei einem Rennen namens "The Track" in neun Etappen 522 Kilometer durch das australische Outback gelaufen. Das war das härteste, was ich jemals gemacht habe. Manchmal dachte ich, dass dieses Rennen niemals beendet sein wird, dass ich immer weiterlaufen muss, aber einfach nicht mehr kann. Ich stand weinend und schreiend im Outback und wusste nicht mehr weiter. Aber ich habe es geschafft, sogar die letzte, 137 Kilometer lange Etappe, habe ich geschafft. Und ich war unendlich glücklich und stolz im Ziel. Seitdem sage ich mir immer, wenn ich vor einer großen Herausforderung stehe: "Denk daran, wie Du damals durch das australische Outback gelaufen bist!" Und dann weiß ich, dass ich es kann. Im Laufen und im Leben.

Was ich noch zu sagen hätte

Ich bin eine reisende Läuferin oder eine laufende Reisende. Ich laufe und ich reise, und fast immer, wenn ich das darf, bin ich glücklich. 2018 bin ich in der Mongolei beim Gobi March gestartet. Das Ziel war in Karakorum, und zwar mitten in einem Kloster. Als ich nach diesen sieben Tagen und 250 Kilometern durch das Ziel laufe - ohnehin ein sehr emotionaler Moment -, hängt mir ein buddhistischer Mönch meine Medaille um - ein noch größerer Moment. Und er schüttelt meine Hand. Das wird mir möglicherweise nie wieder passieren. Aber ich hoffe auf viele andere wunderbare Momente, die mir das Laufen noch bringen wird. Ich werde sie mir erkämpfen müssen, meistens. Aber ich werde einfach einen Schritt nach dem anderen machen. Bis ich am Ziel bin. Im nächsten Lauf, und im übernächsten auch. Das ist wie im Leben. Einen Schritt nach dem anderen, bis ich am Ziel bin. Das muss man sich manchmal klarmachen, wenn die Distanz zu lang oder die Arbeit zu viel ist: Es ist immer ein Schritt nach dem anderen.

Die Herausforderung anzunehmen, das muss überhaupt nicht bedeuten, extrem weit oder hoch oder wie auch immer zu laufen. Für viele wird das große Ziel etwas anderes sein, und auch das kann unglaublich beglückend sein. Meine Mama hat zum Beispiel mit 60 Jahren beim Frauenlauf in Berlin ihren ersten Wettkampf bestritten: Fünf Kilometer Walken standen für sie auf dem Programm. Sie war nervös und aufgeregt und dann kam sie nahezu ins Ziel geflogen und gegen ihr glückliches Strahlen hatte die Berliner Sonne keine Chance. Für manch einen kann das große Ziel eine Wanderung sein, sich auf einen Berg zu trauen, mit dem man schon länger liebäugelt. Egal was: Machen ist besser als wollen.

Wenn Sie dieser Beitrag interessiert hat, empfehlen wir Ihnen das komplette Buch:

Beate Kommritz-Schüler, Bettina Richter u.a. (Hrsg.)
Running forever
Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden

Hildesheim: Arete-Verlag, 2021, 190 S.
ISBN: 978-3-96423-051-5

Zur Buchbesprechung von Dr. Arwed Bonnemann im LaufReport HIER

Laufen ist Medizin und Lebensfreude pur

von Dr. Erdmute Nieke 

 

"Sie sind zu jung für Tabletten!"

Routine-Untersuchung bei meiner Hausärztin vor zehn Jahren: Diabetes, Typ II - auch Altersdiabetes genannt! Ich war gerade 40 geworden, wog 86 Kilogramm und kaufte meine Klamotten bei Ulla Popken. Ich war eine echte Couch-Potato. Dann die folgenschweren oder besser folgenguten Worte meiner Ärztin: "Sie sind zu jung für Tabletten! Ändern Sie Ihr Leben! Nehmen Sie ab! Ich schicke Sie zu einer Diabetiker-Schulung." Dort bekam ich erklärt, wie ich mich ernähren und dass ich mindestens zweimal in der Woche Sport machen sollte und zwar mindestens eine halbe Stunde mit Puls 140. Dazu wurden mir die Folgekrankheiten von Diabetes vorgeführt. Eine Brille, durch die ich nur ganz grisselig sah und einen Handschuh, mit dem ich nicht mal einen Apfel greifen konnte. Diese beiden Bilder brannten sich in mein Hirn ein und dadurch überwand ich eine - durch den DDR-Sportunterricht meiner Kindheit anerzogene - Abneigung gegen Sport. Laufen erschien mir, da wir am Rand des Tegeler Forstes in Berlin wohnen, als die einfachste Art von Ausdauersport. Jugendfreund Peter, der schon mehrere Marathons gelaufen war, gab mir den Tipp: "Pulsuhr und Laufschuhe anschaffen. Wenn der Puls zu hoch ist, einfach so lange gehen, bis er wieder runter ist."

Vor dem Marathon-Start im Olympiastadion München, 10.10.2021 (Foto: Erdmute Nieke)

Bereits sechs Wochen später, am 14. November 2010, lief ich einen ersten 5-km-Wettbewerb, den Schmalzstullenlauf im Tegeler Forst. Einen Werbezettel für diesen Lauf hatte ich kurz vorher an einem Waldbaum gefunden. Es folgte im Mai 2011 ein erster 10-km-AVON-Frauenlauf im Berliner Tiergarten. Hier begann das schöne Gefühl, das mich in den letzten zehn Jahren zum Wettkampf-Junkie gemacht hat: das gemeinsame Laufen, angefeuert zu werden, der Zieleinlauf, mich auszupowern, meinen Körper zu spüren, das Schwitzen, das Sich-Bewegen, die frische Luft in den Lungen. Inzwischen lief ich dreimal in der Woche, die Strecken wurden länger und mein Gewicht war innerhalb eines Jahres um 20 Kilogramm geschrumpft. Im Herbst 2011 wagte ich mich an einen Halbmarathon (HM) - eigentlich sollte es einer bleiben. Ich suchte mir den Müggelsee-HM aus. Es war so schön, dass ich nach Hause fuhr und sofort einen Startplatz für den Berliner HM buchte.

Alle Vierteljahre wurde mein Blut getestet und die Zuckerwerte verbesserten sich allmählich, sodass ich zunächst nur noch alle halben Jahre und inzwischen sogar nur noch jährlich getestet werde.

Und dann: Mit dem Lauftreff Bernd Hübner auf dem Weg zum Marathon

Eigentlich wollte ich ja nur gegen die Diabetes laufen und nie Mitglied in einem Sportverein werden. Als Lehrerin muss ich den ganzen Tag mit Menschen reden und das wollte ich nun nicht auch noch in meiner Freizeit. Doch es kam anders. "Lauf mal den BIG25 in Berlin, da darfst du beim Zieleinlauf ins Berliner Olympiastadion einlaufen." Gehört und angemeldet. 2014 laufe ich zum ersten mal 25 Kilometer ohne Pause. Nach dem Wettkampf reihe ich mich mit den schon beschriebenen Gefühlen in die Medaillen-Gravur-Schlange ein. Um mich herum stehen etliche Leute in roten T-Shirts mit schwarzem Namensaufdruck, diese Shirts waren mir bei allen Wettkämpfen schon aufgefallen. Ich spreche einen Roten an, seine Antwort: "Komm doch mal dienstags zum Wannsee-Löwen um 18 Uhr, da laufen wir gemeinsam. Ist ganz entspannt. Wir - das ist der Lauftreff Bernd Hübner. Wir sind die Hübis." Es dauert ein gutes Jahr und gemeinsam mit 50 Hübis laufe ich im September 2015 meinen ersten Marathon, als Berlinerin in Berlin und - ganz logisch - im roten T-Shirt mit dem schwarzen Namensaufdruck "Erdmute". Das gemeinsame Training macht einfach nur Spaß: die Anstrengung, die Gespräche, die gute Laune (die irgendwie fast alle Läufer:innen immer haben), die Tipps und liebevollen Hinweise der "alten Hasen": von Schuhen, Kleidung, Tempo, Essen, Trinken bis hin zu dem Rat, vor dem ersten Marathon unbedingt zum Kardiologen zu gehen. Ich gehe nicht zu irgendeinem Kardiologen; der ehemalige Berliner Marathonarzt Willi Heepe untersucht mich. Ich verlasse die Praxis mit einem genauen Trainingsplan über meine erlaubten Pulsfrequenzen und einer Prophezeiung der Zielzeit für meinem ersten Marathon von 5:10. Mein Ergebnis wird: 5:12:14! Allen Unkenrufen zum Trotz kann ich nach dem ersten Marathon ohne Probleme die Treppen zur S-Bahn hoch- und runter laufen und sogar noch zwei Kilometer Fahrrad nach Hause fahren. Eine Woche dauert der Endorphine-Rausch. Ich laufe vollkommen glücklich und strahlend durch die Gegend und beschließe ab sofort zwei Marathons im Jahr zu laufen. Bernd Hübner - unser Lauftreffgründer und -leiter, selbst weit über 100-facher Marathonläufer und Urgestein der Berliner Laufszene - rät mir, es nicht zu übertreiben. Doch zwei Marathons im Jahr seien vollkommen o.k. So laufe ich im Frühjahr 2016 Düsseldorf, 2017 Hamburg, 2018 Wien und 2019 Zürich. In Zürich bin ich bei sechs Grad und Regen gestartet, es wird mein schnellster Marathon mit 4:43:30.

Vom Krankenhaus nach Ravenna & Laufen trotz Corona

Rückschläge? Klar! Der fünfte Trainingssommer für den fünften Berlin-Marathon ist absolviert. Zwölf Sonntage sind wir Hübis gemeinsam durch den Berliner Grunewald die langen Strecken gelaufen, dann in der Woche vor dem Marathon hohes Fieber und üble Blasen- und Nierenschmerzen. Meine Hausärztin weist mich ins Krankenhaus ein. Vier Tage am Tropf und Bettruhe und kein Marathon! Da habe ich viele Taschentücher gebraucht. Doch schon im Krankenhaus kommt der Gedanke auf: Ein Ersatz-Marathon muss her. Meine Hausärztin unterschreibt mir bei der Nachuntersuchung die italienische Gesundheitsbescheinigung mit den Worten: "Im schlechtesten Fall müssen Sie abbrechen!" Am 10. November 2019 laufe ich erfolgreich bei zwölf Grad und unter absolut blauem Himmel und herrlichem Sonnenschein in Ravenna meinen neunten Marathon! Ein Lauf durch das UNESCO-Weltkulturerbe der spätantiken Hauptstadt des römischen Reiches.

Vor dem Marathon-Start am Brandenburger Tor in Berlin mit dem LT Bernd Hübner, 26.09.2021
(Foto: Thomas Wiede)

Der zweite Rückschlag im März 2020: Corona-Pandemie-Eindämmungsverordnung! Ich als Wettkampf-Junkie muss Absage um Absage von Laufveranstaltungen verkraften. Am meisten schmerzt es, dass ich vor meinem 50. Geburtstag nicht meinen zehnten Marathon laufen kann; ich wollte in Salzburg starten.

Was hilft? Zuerst, ich darf weiterlaufen! Die ersten Corona-Wochen im Homeoffice, ich muss die Schüler:innen beim Homelearning begleiten, da verlasse ich den Computer mindestens jeden zweiten Tag für zwei Stunden und renne durch den Forst. Erfreue mich an Wildschweinfrischlingen im Wildgehege und erlebe intensiv die Natur im Frühling. Außerdem kann ich beim Laufen den vollen Kopf entleeren und Probleme gedanklich lösen, den Gedanken einfach freien Lauf lassen.

Dann folgt erstes Laufen zu zweit. Beate und Dina sind abwechselnd meine Laufpartnerinnen, sonst trainieren wir alle gemeinsam bei den Hübis. Außerdem tauschen wir uns im Hübi-Laufforum im Internet aus und trösten uns gegenseitig und hoffen auf das Wettkampfjahr 2021.

Und: Ich gehöre zur Risikogruppe und erhalte von meiner Hausärztin ein Attest mit den folgenden Worten: "chronische Krankheit - hervorragende Disziplin - so gut eingestellt - kann arbeiten". An dieser Stelle einen herzlichen Dank an meine tolle Hausärztin Claudia Weyer; sie begleitet mich nun schon so lange und ermutigt mich immer wieder und ist begeistert von meiner Konsequenz, mit der ich laufe und laufe. Im Moment sind es wöchentlich zwischen 30 und 50 Kilometer. Dadurch kann ich immer noch die Medikamenten- oder gar Insulineinnahme verhindern. Möge es noch lange, lange so bleiben.

"Du kannst Minirock tragen mit diesen Beinen!"

Laufen als Frau - mein großes Idol ist die US-Amerikanerin Kathrine Switzer. Ihre Biographie "Marathon Woman - Die Frau, die den Laufsport revolutionierte" habe ich verschlungen. 1967 ist sie als erste Frau beim Marathon gestartet und ein Kampfrichter in Boston wollte sie aus dem Rennen holen. Man(n) glaubte, dass Frauen beim Marathon Laufen unfruchtbar werden oder ihre Gebärmutter verlieren könnten. Was geht es uns heute gut! Bei einem AVON-Frauenlauf habe ich Kathrine überholt, sie war eine Minute langsamer als ich. Der Unterschied, Kathrine ist 23 Jahre älter als ich und sie sah nach zehn Kilometern nicht so verschwitzt aus wie ich. Sie überreichte den Siegerinnen unmittelbar nach dem Lauf die Medaillen und wirkte, als wäre sie gerade aus dem Kosmetik-Studio und nicht von der Laufstrecke gekommen.

Das Laufen hat mein Äußeres total zum Guten verändert. Eine Verkäuferin in der Nach-Ulla-Popken-Mode-ab-Größe-42-Phase hat mir mal gesagt: "Du kannst Minirock tragen mit diesen Beinen!"

Menschen, die mich länger als zehn Jahre nicht gesehen haben, erkennen mich nicht wieder. Das ist mir inzwischen öfter passiert und mit mancher schönen Anekdote verbunden. Einmal bekam ich Besuch von einem Polizisten, der eine Personenfeststellung durchführen sollte. Mein Personalausweisfoto stimme nicht mit dem Blitzerfoto (passiert) überein. Unser Gespräch gipfelte in der Frage des (etwas übergewichtigen) Polizisten: "Wie haben Sie das geschafft - 20 Kilo?"

Die Bewegung an der frischen Luft das ganze Jahr hindurch hat inzwischen auch den Effekt, dass ich bereits im März braun gebrannt aussehe wie nach einem Drei-Wochen-Sommer-Urlaub und mein Friseur mir die Haare nur im Winter färbt, mit den Worten: "So viel, wie Du durch die Sonne rennst, macht die Sonne meine Arbeit."

Viel mehr gute Laune & Laufen ist mehr als nur Sport

Eine Nachbarin, die meine vielen Trainingsstunden mitbekommt, wenn ich das Haus in Laufklamotten verlasse und lange unterwegs bin, hat meinen Ehemann Thomas gefragt, ob er mich denn nicht vermisse. Seine Antwort wird in unserem Freundeskreis viel zitiert: "Seit Erdmute läuft, hat sie viel mehr gute Laune!" Zugegeben, mein Freundeskreis hat sich in den letzten zehn Jahren auch verändert. Nicht alle Freund:innen hatten Verständnis für meine neuen Prioritäten. Dafür sind neue Freund:innen dazugekommen. Gerade die Läufer:innen können das Läuferinnenleben gut verstehen. Wie es sich z. B. anfühlt, einen Marathon nicht laufen zu dürfen. Die Freund:innen waren da und haben meinen Wiedereinstieg ins Training begleitet.

Inzwischen wächst sogar eine Verbindung zwischen dem Laufen und meinem Beruf als Religionslehrerin und Theologin. Im Lauftreff veranstalten wir sogenannte Funläufe, das sind Läufe bei denen der oder die Langsamste das Tempo bestimmt und wir gemeinsam laufen und dabei eine besonders schöne Strecke auswählen. Da entstand mit Bernd Hübner die Idee, zu besonderen Tagen besondere Läufe anzubieten. Unterwegs legen wir kleine Stops ein und ich berichte kurz etwas über Religion, Kultur, Kunst oder Geschichte. 2017 gab es einen Reformationstagslauf. Inzwischen gibt es nun auch den Frauentagslauf für alle Geschlechter (denn der Frauentag ist seit 2019 in Berlin ein gesetzlicher Feiertag) und den Karfreitagslauf. Es bereitet mir große Freude, diese Läufe vorzubereiten und durchzuführen. Zur Bewegung kommt jedes mal ein guter Austausch über die vielen Dinge in der Welt, wir erinnern uns an Menschen, die Großes geleistet haben und treffen auf besondere Orte, über die wir beim Weiterlaufen weiter reden.

Ziel des virtuellen Flensburg-Marathons am Kanzleramt Berlin mit Lauffreund:innen aus dem LT Bernd Hübner, 06.06.2021 (Foto: Manfred Templin)

Ein Wettkampf, der ganz im Zeichen der Erinnerung steht, ist der Mauerweglauf oder die 100 Meilen von Berlin. Jedes Jahr im August laufen 400 Ultraläufer:innen und viele Staffelläufer:innen auf dem ehemaligen Mauerstreifen um Berlin. In jedem Jahr wird an ein anderes Maueropfer erinnert. Mit den Hübis bin ich nun schon fünfmal in einer Staffel mitgelaufen. Ich habe als junge Frau die Mauer von der Ostseite noch erlebt und finde diese Form der Erinnerung an die deutsche Teilung sehr gelungen und bin jedes Jahr wieder beeindruckt. Auch hier entstehen viele Gespräche mit anderen Läufer:innen über das Früher und das Heute.

Ein weiteres wichtiges Thema ist Laufen und Inklusion. Jedes Jahr zu Pfingsten veranstaltet das Johannesstift Berlin den Run of Spirit. Hier treffen sich Menschen mit und ohne Einschränkungen zum Laufen. Besonders beeindruckend ist für mich jedes Jahr wieder die Teilnahme von Henry Wanyoike, dem blinden Marathonsieger der Paralympics 2000. Letztes Jahr war er auch beim Zürich-Marathon am Start. Er war genau zwei Stunden schneller als ich.

Inzwischen ist es mir auch wichtig, nicht nur selbst zu laufen, sondern auch andere beim Laufen zu unterstützen. Das tue ich beim jährlichen 10-km-Lauf für Gefangene in der JVA Plötzensee. Es starten jedes Jahr ungefähr 50 Läufer:innen aus den Berliner und Brandenburger Haftanstalten. Der Organisator Horst Milde (Gründer des Berlin-Marathons) und JoAnna Zybon haben mich in die Startnummern- und Urkundenausgabe eingearbeitet. Ich erlebe mit, dass Menschen, die auf die persönliche Freiheit verzichten müssen, beim Laufen ein kleines Freiheitsgefühl entwickeln können: So viel strahlende Augen beim Überreichen der Urkunden.

Gefangene, Inklusion, Erinnerung, Geschichte, Kultur und Religion - Laufen ist viel mehr als nur Sport.

Laufen ist Lebensfreude pur

Vorhaben und Wünsche? Zum 50. Geburtstag hat mir meine Kollegin (und Sportlehrerin) Scarlet ein T-Shirt mit zwei Slogans geschenkt. Vorn: "Eigentlich wäre ich schon 10 Marathons gelaufen" und hinten: "Laufen = Lebensfreude pur".

Diese beiden Slogans passen perfekt zu meinem Läuferinnenleben. Der zehnte und noch viele, viele weitere Marathons mögen kommen. Mein Wunsch ist, auch im hohen Alter noch Marathon laufen zu können. Das Tempo ist mir egal. Übrigens laufe ich immer nach Puls und nie nach Tempo. "Fit bis in die Urne" - habe ich mal auf der Homepage von Willi Heepe gelesen, der ja auch mein Herz untersucht hat. Ich wünsche mir, dass ich auch zukünftig von Verletzungen oder ernsten Krankheiten, die mich am Laufen hindern könnten, verschont bleibe.

Bei meinem letzten (erfolgreichen) Bewerbungsgespräch wurde ich nach meinen Hobbies gefragt. Von einer Religionslehrerin wird wahrscheinlich so Verschiedenes erwartet. Das Wort "Marathon" hat verblüfft und dann im Gespräch auch kleine Freiräume für Wettkämpfe erschlossen.

Das Laufen hat meinem Leben eine ganz neue Struktur gegeben. Seit ich laufe, habe ich einfach viel mehr Lebensfreude. In meiner Schulseelsorgeausbildung haben wir uns mit der Bedeutung der Selbstfürsorge beschäftigt. Meine heißt eindeutig Laufen. Beim Laufen kann ich kreative Gedanken finden, ich entwickle die besten Ideen und kann Ärgerliches einfach weglaufen. Beim Laufen kann ich Elefanten in Mücken verwandeln.

Das Tolle am Laufsport ist, dass ich ihn (fast) immer und überall ausführen kann, ob in Rom am Tiber-Ufer oder auf der Klassenfahrt am frühen Morgen oder im Dunkeln am Abend auf der Blauen Bahn im Berliner Olympiapark. Frische Luft ist immer dabei. Kurzum: Laufen ist Lebensfreude pur und die perfekte Medizin!

Nachtrag Oktober 2021

Das gemeinsame Laufen läuft wieder! Meine Marathons zehn, elf und zwölf sind gelaufen: Im Juni 2021 der Flensburg-Marathon noch virtuell mit Freund:innen aus dem Lauftreff von Potsdam ins Kanzleramt in Berlin, im September mein fünfter Berlin-Marathon und am 10. Oktober mein erster München-Marathon. Nach der Corona-Wettkampf-Pause spüren wir die Lebensfreude beim gemeinsamen Laufen ganz besonders.

Wenn Sie dieser Beitrag interessiert hat, empfehlen wir Ihnen das komplette Buch:

Beate Kommritz-Schüler, Bettina Richter u.a. (Hrsg.)
Running forever
Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden

Hildesheim: Arete-Verlag, 2021, 190 S.
ISBN: 978-3-96423-051-5

Zur Buchbesprechung von Dr. Arwed Bonnemann im LaufReport HIER

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