23.10.16 - 31. Venedig Marathon

Beste Bedingungen beim Marathon in der Lagunenstadt

Über vierzehn Brücken musst Du laufen

Priscah Cherono mit Bestzeit - Julius Rotich wiederholt Vorjahressieg

von Michael Schardt

"Wer mag, der kann bei der ersten Brücke, die zu überlaufen ist, ein stilles Herunterzählen beginnen", sagte ein Organisationssprecher bei der den technischen Details gewidmeten Pressekonferenz am Vorabend des Marathons augenzwinkernd. Insgesamt seien es vierzehn Brücken, die sich den Läufern in den Weg stellen würden. Die erste bei Kilometer 19, die meisten aber auf den letzten fünf Kilometern, wenn die Marathonis die Altstadt von Venedig erreichen.

Prognose und Realität

Von daher wurde den Pacemakern eine besondere Order auferlegt, nämlich vom Start weg pro Kilometer ein, zwei Sekunden unter der avisierten Pace für einen neuen Streckenrekord zu bleiben, um ein kleines Polster herauszulaufen. Denn die Erfahrung aus den letzten Jahren sei gewesen, dass auch die Eliteläufer gegen Ende wegen der Brücken etwas langsamer und ihr Ziel verpassen würden. Dass trotz dieser Vorwarnung und der gewählten Taktik des etwas schnelleren Beginns auch 2016 genau dies beim Männerrennen eintreffen würde, ist so etwas wie die Ironie des Schicksals.

Der Venedig Marathon hat nur teilweise den Charakter eines Citylaufs. Über die Hälfte der Strecke führt durch idyllisch-liebliche Landschaften, vor allem am Fluss Brenta entlang Der Charitygedanke wird in Venedig groß geschrieben. Hier ist in dichtem Teilnehmerfeld in gelb eine (von mehreren) Inklusionsgruppe gut zu erkennen, in der gesunde Läufer behinderte Menschen im Rollstuhl über die 42 km schieben
Ausführliche und einladend präsentierte Laufankündigungen im LaufReport HIER

Jedenfalls verkündete der Sprecher am Ziel fortwährend, dass der führende Kenianer und Vorjahressieger Julius Chepkwony Rotich gut unterwegs sei und möglicherweise sogar den Streckenrekord seines Landsmanns John Komen in Gefahr bringen könne, den dieser 2009 auf für die Strecke sehr gute 2:08:13h geschraubt hatte. Doch ab km 37 wurde der inzwischen allein laufende Rotich stetig langsamer und fiel in der hochgerechneten Prognose hinter den angepeilten Bestwert zurück. An seinem klaren Sieg in 2:10:22h änderte das zwar nichts, jedoch verpasste er den größten Batzen des Preisgeldes. Denn für den Sieg gab es 5000 Euro und für eine Zeit unter 2:12h zusätzlich 3000 Euro. Für einen neuen Streckenrekord indes hätte es einen Extrabonus von 10.000 Euro gegeben. Doch dazu, zum Rennverlauf und zum Frauenrennen weiter unten mehr.

Besondere Stadt

Venedig gehört zu den berühmtesten Städten der Welt und den meistbesuchten in Europa. Einer Statistik zu Folge sollen jährlich vier Mal so viele Menschen Venedig besuchen als die italienische Hauptstadt Rom. Den hohen Bekanntheitsgrad und den Status eines Touristenmagnets verdankt die Lagunenstadt sicher auch ihrer einzigartigen Lage, hauptsächlich jedoch, dass sie auf Millionen von Holzpfählen errichtet wurde und von zahlreichen Kanälen durchzogen ist. Millionen von Menschen kennen Venezia, wie die Einheimischen die Stadt nennen, aus eigener Anschauung. Aber auch diejenigen, die nie selbst dort waren, wissen, was es mit Venedig auf sich hat, kennen die Stadt von Fotos, aus Reisereportagen und Filmen, aus Berichten von Freunden, Autobiographien (Casanova) oder aus Dramen (Shakespeare) und Romanen (Thomas Mann).

Am Marathonwochenende präsentierte sich die Lagunenstadt von ihrer schönsten Seite. Bei strahlend blauem Himmel ist links der mittelalterlich-orientalische Turm der Markuskirche zu sehen, rechts daneben der Dogenpalast Die Hauptverkehrsader von Venedig: der Canal Grande. 1968 romantisch besungen von der amerikanisch-deutschen Schlagersängerin Peggy March

Es ist also weder möglich, dem geneigten LaufReport-Leser etwas Neues, Unbekanntes oder Unbeachtetes über Venedig mitzuteilen, was er nicht schon aus eigenem Erleben kennt oder über das er nicht schon etwas gehört, gelesen, gesehen hätte, noch sinnvoll, Bekanntes zu wiederholen (siehe auch Venedig Marathon 2010 im LaufReport HIER). Daher sollen sich die "touristischen" Ausführungen, die man in der LaufReport-Rubrik "Reisen und Laufen" gemeinhin erwartet, etwas zurückgeschraubt und im Wesentlichen auf den Marathonlauf bezogen erscheinen. Ein nicht unwesentlicher Aspekt dabei ist, dass der Marathonkurs nur wenige Kilometer durch das "bekannte" Venedig verläuft, also durch die auf der Hauptinsel gelegene Altstadt, die einzig das Image der Metropole seit Jahrhunderten prägte und prägt. Der weitaus größere Teil der Strecke liegt auf dem Festland und etwa die Hälfte sogar außerhalb des venezianischen Stadtgebiets.

Dezentrale Infrastruktur

Bevor die Marathonläufer in dem weit draußen gelegenen historischen Städtchen Stra an den Start gehen, haben sie in der Regel schon einiges von Venedig gesehen. Denn sie reisen meist schon ein, zwei Tage vor dem Lauf an und quartieren sich in einem Hotel auf der Insel oder im zu Venedig zählenden Mestre ein, das auf dem Festland liegt. Dies ist vor allem für weit angereiste Läufer unumgänglich, da sie nur an einem der beiden Vortage vor dem Marathon in den Besitz ihrer Startunterlagen kommen können. Vor der Anfahrt zum Start, die mit Bussen durchgeführt wird, beziehungsweise im Startbereich selbst gibt es keine Startunterlagenausgabe mehr.

Eine der berühmtesten Brücken der Welt und die bekannteste von Venedig: Ponte di Rialto Rund 450 Brücken soll Venedig haben, am Marathontag ist es eine mehr. Denn diese Brücke über den Canal Grande, die 24 Stunden vor dem Lauf noch nicht fertig ist, wird nur für die Läufer gebaut und danach gleich wieder abgerissen

Wer eine Unterkunft in der Altstadt von Venedig genommen hat und vielleicht sogar im östlichen Stadtteil Castello, der der ursprünglichste von Venedig sein soll und Veranstaltungsort der berühmten Biennale ist, eine Trainingsrunde an der Uferpromenade oder durch die Via Garibaldi gedreht hat, der wird beobachtet haben, dass die Aufbauarbeiten für die Zielankunft des Marathons in vollem Gange sind. Er wird möglicherweise auch gesehen haben, dass eine schwimmende Pontonbrücke über das südliche Ende des Canal Grande in der Entstehung begriffen, aber längst noch nicht fertiggestellt ist. Es ist jene Brücke über den großen Kanal, die eigens für die Marathonläufer hochgezogen wurde und sofort nach dem Lauf wieder abgebaut wird.

Das Ziel des Venedig Marathons liegt also tatsächlich in der engen Altstadt, nicht aber das eigentliche logistische Zentrum. Das nämlich hat man auf das Festland, konkret in den Park San Giuliano, verlegt, die angeblich größte Grünanlage Europas. Im Park stehen riesige Zelte, in denen sich die Expo und die Startunterlagenausgabe befinden, gleich daneben das Athletenhotel mit Pressebüro, in dem auch die vorabendliche (im Startgeld nicht inbegriffene) Pastaparty stattfindet. Wer auf der Insel untergebracht ist, hat einen romantischen, aber auch etwas aufwendigen Weg anzutreten, um an seine Startnummer zu gelangen.

"Wenn Gondeln Trauer tragen", hieß ein bekannter, in Venedig angesiedelter Horrorfilm aus den siebziger Jahren. Für gewöhnlich "tragen" Gondeln Liebespaare über die Gewässer. Den Beruf eines Gondoliere kann man nur mit einer Lizenz ausüben (Foto Peter Steckel) Der Spruch über einer Pizzeria am Canal Grande ist eindeutig: "Keine Mafia. Venedig ist heilig" Nicht immer leicht ist der Alttag in der Lagunenstadt zu bewältigen. Es gibt keine Autos oder Fahrräder, weshalb alles mit der Handkarre oder dem Boot transportiert werden muss. Bei besonders engen Kehren und niedrigen Brücken helfen sich die Bootsfahrer gegenseitig

Rahmenprogramm

Er wählt entweder den etwa einstündigen Fußweg, um von der Inselmitte zum Bahnhof von Venedig zu kommen, wo er mit dem Bus oder der Straßenbahn über die Brücke der Freiheit zum San-Giuliano-Park weiterfahren kann, oder er entscheidet sich für eine Bootsfahrt mit dem öffentlichen Inseltaxi (Linie 1) durch den Canal Grande, das gleichfalls den Bahnhof ansteuert. Tritt der Läufer auf gleichem Weg die Rückfahrt ins Hotel an, hat er einen gut gefüllten Kleiderbeutel zu transportieren mit Getränken, Obst, kleinen Geschenken und einem schmucken, langärmeligen Finishershirt.

Wer auf dem Festland Quartier genommen, vielleicht sogar das Sonderangebot des Athletenhotels gebucht hat, hat am Samstagmorgen die Gelegenheit, am vier Kilometer langen, sehr beliebten Familyrun durch den San-Giuliano-Park teilzunehmen, eine Art Frühstückslauf ohne Zeitmessung, von denen es im Vorfeld des Hauptlaufs im Wochen-Abstand noch zwei weitere gibt. Durch den Park werden am Sonntag auch die Marathonis eine Runde drehen und den dreißigsten Kilometer passieren. Zuvor, nämlich um 8:30 Uhr, wird der 10-km-Lauf angeschossen, der erst seit 2014 im Programm ist und über die letzten zehn Kilometer der Marathonstrecke verläuft.

Venedig besteht aus mehreren Inseln und doch sind zwei Drittel der Bewohner angesiedelt auf dem Festland. Einen schönen Blick aus der Vogelperspektive erhascht derjenige, der den Glockenturm von San Giorgio Maggiore, einer kleinen Nebeninsel, besteigt (Foto Peter Steckel) Der Park San Giuliano liegt auf dem Festland und ist die größte Grünanlage Europas. Hier steht das Athletenhotel der Marathonveranstaltung sowie in Zelten die Expo mit Startnummernausgabe. Samstags wird hier der Familyrun durchgeführt und Sonntags, noch vor dem Marathon, der Zehner gestartet

Zehn Kilometer

Als man vor zwei Jahren diesen Lauf ins Programm nahm, war die Resonanz überragend. Der Veranstalter weiß auch den Grund, wie der Homepage zu entnehmen ist: "The race course is one of the nicest and most picturesque tracks in the world, thanks to the unique bridge on the Grand Canal built for the race, the marvelous lap in St Mark's Sq. and the finish line between people cheering them on in Riva Sette Martiri." Über 2100 Läufer nahmen bei der Erstaustragung teil, obwohl es noch keine Zeitmessung gab; über 4100 Läufer waren es dann 2015, als man als Läufer wählen konnte, ob man den Lauf als Wettkampf bestreiten wollte oder zum Spaß. In diesem Jahr war das Rennen schon lange vor Start ausgebucht (Limit 5000 Läufer) und spürbar an seiner Kapazitätsgrenze anbelangt.

Seit drei Jahren gibt es als Unterdistanz in Venedig auch einen Zehner, der über die letzten 10 km des Marathons geht, aber deutlich früher gestartet wird. Er war mit 5000 Anmeldungen ausgebucht. Daher das Gedränge hinterm Ziel In Venedig ist wegen der besonderen Verkehrssituation kein Citymarathon möglich. Gestartet wird auf dem Festland im historischen Städtchen Stra, östlich von Padua gelegen Vor der Villa Pisanti in Stra geben die Marathonis ihre Kleiderbeutel ab, machen sich warm und nehmen Startaufstellung

Die beiden italienischen Gewinner von 2015, Diego Avon und Natascia Meneghini, konnten ihren Titel in 34:52min bzw. 41:43min verteidigen, waren aber etwas langsamer als vor einem Jahr. Auffällig ist, dass die Siegzeiten für einen Lauf dieser Klasse äußerst mäßig sind und sich die Frage stellt, ob er vielleicht nicht doch länger ist als angegeben. Darauf deuten auch die in der Siegerliste angegebenen Kilometerzeiten beispielsweise der Pacemaker für fünfzig Minuten hin, die zwar die vorgesehene Pace von 4:58min pro km gelaufen sein sollen, aber eine Gesamtzeit von fast genau 55 Minuten aufweisen. Das ergäbe sich bei einer Gesamtlänge von ca. elf Kilometern. Deutsche Läufer waren auch einige am Start, von denen Frederic Sels in 48:40min (172. Mann, ohne Verein) und Reinhard Jacobs in 54:16min (6. M65, DSC Oldenburg) die flottesten waren.

Auf dem Weg zur Startbox sind auch die beiden Deutschen Luca Heil und Nadja Rothweiler. Nadja sollte in 3:21h schnellste deutsche Läuferin und 9. in der Hauptklasse werden; Luca brauchte gut zwanzig Minuten länger Pünktlich um 9:40 Uhr werden rund 5000 Läufer und Läuferinnen auf die Strecke geschickt Der Fluss Brenta (bzw. der daraus entstandene Kanal), der ursprünglich bei Venedig in die Adria floss, begleitet die Läufer auf ihren ersten 21 Kilometern. Im 16. Jahrhundert wurde der Fluss nach Süden umgeleitet und der alte Wasserlauf begradigt

Marathonstart in Stra

Welch riesige logistische Herausforderung die Marathonmacher von Venedig zu bewältigen haben, vielleicht die größte überhaupt, mag beispielgebend folgendes verdeutlichen: Sie haben innerhalb kürzester Frist rund 5000 Kleiderbeutel der 10-km-Läufer auf Lastwagen zu verladen, diese über eine bereits einseitig gesperrte Brücke nach Tronchetto, dem Hafen von Venedig, zu bringen, dort auf Schiffe zu verfrachten, welche sie zum Ziel am anderen Ende der Insel transportieren. Dort müssen die Beutel flugs entladen und per Hand in den Zielbereich gebracht werden, noch bevor die Schar der Läufer ankommt.

Die Strecke ist größtenteils asphaltiert und bis auf die Brücken vollkommen flach. Kopfsteinpflaster gibt es nur hier in Mestre und später in Venedigcity Über insgesamt 14 Brücken müssen die Marathonteilnehmer laufen, aber nur durch einen Tunnel

Hernach ist dafür zu sorgen, dass die Läufer mittels Schiff zurück zum Hafen gelangen, von wo sie mit Bussen in den San-Giuliano-Park gefahren werden. Das Gleiche muss für über 5000 Marathonis geleistet werden, nur mit dem Mehraufwand, dass die Läufer per Bus zuvor noch zum dreißig Kilometer entfernten Startpunkt nach Stra zu bringen sind. Ein kleines Wunder ist es angesichts dieses Aufwands, dass die Startgebühren recht moderat sind und den Rahmen anderer europäischer Citymarathons nicht übersteigen.

In Stra angekommen, haben die Läufer vom Bus aus noch etwa einen Kilometer zum Startplatz vor der pittoresken Villa Pisani, der herausragenden Sehenswürdigkeit des knapp 8000 Einwohner zählenden Städtchens, zu gehen. Der historische Ort liegt zwischen Venedig und der alten Universitätsstadt Padua, jedoch deutlich näher an Padua. Auf der Wiese vor der zum Museum umfunktionierten Villa oder im dahinterliegenden Park können sich die Läufer warmmachen oder in den Zelten warmhalten, denn man ist aufgrund der besonderen logistischen Situation sehr früh hier angekommen, und es ist mit acht Grad doch recht frisch.

So ziemlich der einzige etwas langweilige Streckenabschnitt kommt etwa bei Halbzeit und ist nur sehr kurz Etwa bei km 24 steht diese Brücke über Eisenbahngeleise im Weg

Fluss als Begleiter

Gegen 9:15 Uhr füllt sich langsam das Startareal auf der Nationalstraße 11, die hier Via Doge Pisani heißt und sich eng an den Fluss Brenta schmiegt. In italienischer, englischer und deutscher Sprache werden die Teilnehmer immer dringlicher aufgefordert, ihre Startbox aufzusuchen. Eine knappe halbe Stunde später fällt für gut 5000 Läufer der Startschuss, begleitet von den Klängen einer Alpenblaskapelle. Vor den Läufern liegen zunächst nun gut zwanzig vollkommen flache Kilometer auf der besagten Via nationale, immer in Sichtweite der idyllisch gelegenen, mäandernden Brenta.

Zwei Drittel sind um, wenn die Marathonis den San-Giuliano-Park erreichen, den sie rund vier Kilometer durchkurven ... ... bevor sie die Brücke der Freiheit erreichen, die einzige, vier km lange Landverbindung des Festlands hinüber zu Venedigs Altstadt

Die Strecke führt durch eine liebliche, von den Organisatoren als "magic" beschriebenen Landschaft und viele hübsche Dörfer und historische Ortschaften. Während in den Gemeinden die Glocken läuten und die Menschen in die Kirche gerufen werden, locken die Klänge zahlreicher Rockbands Zuschauer an die Strecke. An diesen dörflichen Hotspots herrscht eine fröhliche Stimmung und ist richtig was los; dazwischen aber wird es ruhig, ja fast besinnlich. Große Teile des Venedig Marathons haben Landschaftscharakter.

Auf der Hauptinsel wird zunächst das Hafengebiet angelaufen und die erste innerstädtische Brücke genommen Für Rollstuhlfahrer sind die Brücken kein Leichtes

Fiesso D'Artico, Dolo, Miro, Oriago und Malcontenta heißen diese schmucken Dörfer, und schneller als man denkt nähert man sich auf dem sehr gut zu belaufenden Kurs der Halbmarathonmarke. Bei Kilometer 19 allerdings gibt es einen ersten Wachrüttler, eine recht hohe Straßenbrücke stellt sich in den Weg. Danach werden die zum Gebiet Venedigs gehörenden Stadtteile Marghera und Mestre durchlaufen. Es wird für die nächsten knapp zehn Kilometer städtischer, belebter, lauter, noch kurzweiliger. Da tut es der feinen Atmosphäre auch keinen Abbruch, dass eine kurze Passage durch ein Gewerbegebiet führt. Hat das Feld die Altstadt von Mestre passiert, kann der Brückencountdown weiter heruntergezählt werden, denn eine Fußgängerüberführung muss genommen werden, um bei km 28 in den San-Giuliano-Park zu gelangen.

Großes Finale

Inzwischen hat sich das Feld deutlich auseinandergezogen. Man kurvt nun für drei Kilometer durch die Grünanlage, bevor die "Brücke der Freiheit" erreicht wird, die das Festland mit Venedig verbindet. Der Ponte della Libertà, für Autos, Fußgänger und Eisenbahn angelegt, zieht sich schnurstracks über vier Kilometer durch die Lagune, scheint manchem Läufer endlos und erfordert eine besondere mentale Disposition. Mit einem Rechtsschwenk kurz vor km 38 werden dann die Insel und der Hafen erreicht. Jetzt beginnt das schwerste Stück des Marathons. Noch rund zehn Brücken von meist geringer. Höhe, die zuweilen kaum hundert Meter auseinanderliegen, müssen überlaufen werden.

Normalerweise führen Treppen über die Brücken; für die Marathonis werden Holzplanken gelegt, die die Strecke minimal verlängern. Einige kenianische Spitzenläufer wählten daher den Weg über die Treppen Fünf km vor dem Ziel genießen die Läufer auf der Uferpromenade den Blick über die Lagune

Eigentlich wäre Treppensteigen angesagt, aber eigens für die Läufer hat man Holzrampen aufgestellt, die ein (einigermaßen) flüssiges Laufen möglich machen. Über diese Rampen freuen sich in den Tagen des Marathons nicht nur die Läufer, sondern auch die Kofferträger und Händler, die ihr Transportgut per Handkarre einfacher von einem zum anderen Kanalufer bringen können. (Weniger erfreut dürften die Besitzer von Transportbooten sein, denen manch ein Auftrag dadurch entgehen könnte.)

Das große Finale erwartet die Marathonis an der zuschauergesäumten Uferpromenade mit Blick über die Lagune und auf die Nachbarinseln Guidecca und San Giorgio Maggiore, mit der Querung des Canal Grande sowie mit dem Lauf über den Markusplatz. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Organisatoren hier, bei km 41, im Herzen der Stadt, einen Wendepunkt angelegt haben und die Läufer sich länger in dem Applaus des Publikums sonnen können. Ein intensiver, emotionaler Moment.

Angekündigte Bestzeit von Priscah Cherono

Mit diesem Motivationsschub sind die letzten drei Brücken bis zum Ziel ein Leichtes. Insgesamt, so kann zusammengefasst werden, stellen die Brücken bei einer ansonsten vollkommen flachen Strecke eine gar nicht so große Schwierigkeit dar als man vermuten würde. Dass man hier einige Sekunden verlieren könnte, mag für den ein oder anderen - nach Bestzeiten strebenden - Eliteläufer ärgerlich sein, für die große Masse indes ist es unerheblich.

Der Höhepunkt des Venedig Marathons ist zweifellos die kurze Wendeschleife vorbei am weltberühmten Dogenpalast (rechts) und ... ... bei km 41 der Lauf über den San Marco Platz, das Herz der Stadt

Dass es auch für Eliteläufer längst nicht ausgemacht ist, dass Venedig kein Bestzeitenkurs sei, konnte im aktuellen Rennen die bereits 36 Lenze zählende Kenianerin Priscah Jepleting Cherono beweisen. Sie war bei ihrem Sieg in Florenz 2015 eine Zeit von 2:31:34h gelaufen, die sie im April 2016 in Enschede auf 2:29:08h (2. Rang) steigern konnte. Da sie vor Venedig gut trainieren konnte und unverletzt geblieben war, kündigte sie wenige Tage vor dem Start an, die Zeit von Enschede noch einmal, und zwar um ein bedeutendes Maß, steigern zu wollen.

Den starken Worten ließ Cherono starke Taten folgen. Zusammen mit Landsfrau Ester Macharia bildete sie bis Kilometer zehn ein Führungsduo. Danach setzte sich Cherono von der sieben Jahre Jüngeren ab und lief bis zur HM-Marke (1:13:41h) knapp sechzig Sekunden Vorsprung heraus. Das Tempo konnte sie (im Gegensatz zu ihrem männlichen Kollegen Julius Rotich) weiter hochhalten. Im Ziel hatte Cherono über sieben Minuten Vorsprung vor Macharia (2:35:15h) und in 2:27:41h eine um anderthalb Minuten schnellere persönliche Bestzeit als bisher. Ihre Leistung ist die viertbeste einer Frau in Venedig. Der Streckenrekord wird von Helena Kiprop in 2:23:37h (2011) gehalten.

Wiederholte seinen Vorjahressieg: der Kenianer Julius Chepkwony Rotich Sieg mit angekündigter persönlicher Bestzeit: Priscah Jepeting Cherono (KEN)

Ein starkes Rennen lief die 43jährige Italienerin Ivana Iozzia, die in 2:37:04h das Podium vervollständigte. Vierte wurde die Kasachin Irina Smolnikowa in 2:41:04h. Die schnellsten deutschen Frauen waren Nadja Rothweiler als 39. in der Gesamtwertung und 9. in der weiblichen Hauptklasse in 3:21:44h und Andrea Adam Moore als 103. in 3:42:21h. Neun Läuferinnen blieben unter drei Stunden. 916 Frauen konnten den Lauf finishen, was einem Anteil von rund neunzehn Prozent entspricht.

Titelverteidiger souverän

Zwei Marathonläufe hat Julius Rotich bisher gewonnen: 2016 in Genf und 2015 in Venedig. Seine Bestzeit von exakt 2:09h stellte er im koreanischen Daegu 2014 auf. Insofern hingen die Trauben für einen neuen Streckenrekord in Venedig doch einigermaßen hoch, denn der steht bei 2:08:13h. So mag es nicht allein den Brücken geschuldet sein, wie eingangs vermutet, dass er auf den Schlusskilometern hinter dieses Ziel zurückfiel. Mit einer Siegzeit von 2:10:22h konnte er seine Leistung von 2015 (2:11:08h) jedoch steigern.

Schnellste Europäerin: Ivana Iozzia aus Italien Bester Europäer: Massim Strappato aus Italien

Schnell war das Männerrennen angegangen worden. Für die ersten zehn Kilometer hatte man 30:26min gebraucht. Das Führungsquartett mit Rotich in der Mitte passierte die HM-Marke nach 1:04:19h und war damit nur knapp über Streckenrekordniveau. Bis km 30 war aus der Vierergruppe ein Duo geworden. Nur Rotichs Landsmann Titus Masai konnte noch mithalten, fiel aber später ebenfalls zurück. Eine starke Schlussphase hatte der junge Äthiopier Adugna Bekele, 2015 Vizemeister beim Hannover Marathon mit seiner Bestzeit von 2:09:42h, der Masai noch einfing und in 2:13:51h zweiter wurde. Hinter Masai (2:15:34h) belegten die Kenianer Francis Maina Ngare (2:16:08h) und Richard Kiprono Bett (2:20:30h) Rang vier und fünf. Schnellster Europäer war der Italiener Massim Strappato in 2:26:31h. Von den vielen deutschen Teilnehmern war Henrik Höfner als 119. in 2:56:58h der flotteste vor Matthias Rathmann (3:06:27h, Rang 234).

Marathon mit Obergrenze

Einstmals, in der Anfangszeit, war der Marathon von Venedig der größte in Italien. Später wurde er von Rom, dann von Florenz überholt, behauptet sich aber erfolgreich gegen Mailand. Die Strecke dort allerdings ist die schnellste des Landes. Aus Kapazitätsgründen ist der Marathon von Venedig (genau wie der Zehner) ohnehin mit einer Teilnehmerobergrenze versehen. Mehr als 6000 Meldungen werden in der Regel nicht angenommen. Ausnahmen bildeten nur die Jubiläumsjahre 1995 (10jähriges), 2010 (25jähriges) und 2015 (30jähriges), als es jeweils mehr als 6000 Klassierte gab. Das Rekordjahr war 1995, als 6495 Läufer und Läuferinnen den Marathon erfolgreich bestritten. Demgegenüber erscheint die Finisherzahl dieses Jahres ungewöhnlich niedrig, denn nur 4616 Finisher wurden gezählt - der kleinste Wert seit knapp zwanzig Jahren.

Hart sind die letzten drei km mit acht Brücken. Im Vordergrund ist eine davon zu sehen, eine weitere ganz hinten Das Ziel liegt im Stadtbezirk Castello, von dem gesagt wird, es wäre das ursprünglichste Viertel der Metropole, wo noch der alte venezianische Dialekt zu hören sei
Ausführliche und einladend präsentierte Laufankündigungen im LaufReport HIER

An den Witterungsbedingungen kann es 2016 keinesfalls gelegen haben, dass so viele angemeldete Läufer nicht antraten oder nicht ins Ziel kamen. Denn diese hätten läuferfreundlicher nicht sein können. Es war zwar anfangs mit etwa zehn Grad noch etwa kühl und der Himmel wolkenverhangen, aber im Laufe des Vormittags erwärmte sich die Luft auf angenehme achtzehn Grad bei nahezu Windstille. Später, bei Sonnenschein und strahlend blauem Himmel, kletterte das Quecksilber sogar auf knapp über zwanzig Grad. Entsprechend hoch war auch das Publikumsaufkommen und heiter die Atmosphäre.

Noch besser gestaltete sich das Wetter an den Tagen vor dem Marathon, was für die zahlreichen Marathontouristen und deren Begleiter besonders erfreulich gewesen sein dürfte, schließlich verweilen die meisten von Ferne angereisten Teilnehmer zwischen vier Tagen und einer Woche in der Lagunenstadt. Wer nicht selbst vor Ort sein konnte, hat (zumindest für dieses Mal) einen der schönsten europäischen Marathonläufe verpasst. Ihn am Fernsehen mitzuverfolgen, war zwar auch möglich, denn er wurde mit großem medialem Aufwand via Television in die Welt hinaus getragen, aber eine Reportage kann ein eigenes Erleben nur so bedingt ersetzen wie ein Roman den Besuch Venedigs ...

Michael Schardt

Bericht von Michael Schardt
Fotos Reinhard Jacobs; weitere Fotos Peter Steckel

Informationen und Ergebnisse www.venicemarathon.it

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Reinhard Jacobs

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