15.11.15 - 35. Maratón Valencia Trinidad AlfonsoEuropäischer Spitzenmarathon der Extraklasse Zwei Streckenbestzeiten und mit über 14.000 Finishern Rekordbeteiligung Sabrina Mockenhaupt verfehlt als fünfte Olympianorm |
von Michael Schardt |
Es ist gerade einmal fünf Jahre her, als Kollege Ralf Klink für LaufReport ausführlich vom Valencia Marathon berichtete. Das war 2010. Was er seinerzeit über die Stadt, die Region und die Bewohner mitteilte, dürfte auch heute noch uneingeschränkt Gültigkeit haben. Jedoch seine Ausführungen zur Marathonveranstaltung sind nur noch als historisch einzustufen, zu sehr hat sich das Event verändert, hat geradezu rasant Fahrt aufgenommen und sich innerhalb von nur einer halben Dekade von einer passablen regionalen Anstrengung zu einem Marathon europäischen Formats entwickelt.
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Abgesehen von der Streckenlänge ist heute fast nichts mehr so wie zur Zeit von Ralf Klinks Bericht. Die sicherlich gravierendste Veränderung und damit auch der Hauptgrund des beispiellosen Aufstiegs von Valencia zur anerkannten Marathonmetropole war die Verlegung des Laufs von Februar in den November. Schon Klink hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich die größten spanischen Marathons innerhalb von nur wenigen Wochen im Frühjahr einen beispiellosen Konkurrenzkampf lieferten. Denn die vier teilnehmerstärksten Läufe von Madrid, Barcelona, Valencia und Sevilla fielen im Jahr 2010 in diesen Zeitraum.
Valencia hat dann etwas sehr Sinnvolles getan und seine Veranstaltung in den späten Herbst verlegt und damit einheimischen Läufern die Möglichkeit eröffnet, in der zweiten Hälfte des Jahres einen weiteren Marathon zu laufen, nachdem sie vielleicht schon in einer der anderen spanischen Großstädte gelaufen waren. Außerdem wurde mit der Verlegung Valencia auch für Läufer anderer europäischer Länder als Startplatz interessant, die zum Jahresende noch einmal einen guten Abschlussmarathon in günstiger Witterung hinlegen wollten.
Die Plaza de la Virgen mit der Kathedrale und dem Turm El Micalet ist beliebter Ausgehtreffpunkt am Abend | Einer der schönsten Plätze der Stadt: Ayuntamiento |
War der Valencia Marathon im Februar oft von Nässe und Kälte heimgesucht worden, sind die klimatischen Bedingungen im November in der Regel weitaus günstiger.
Hatte der Valencia Marathon 2010 erstmals knapp die Marke von 3000 Finishern überschritten, und das hauptsächlich nur wegen des Jubiläumsbonus', denn man feierte die dreißigste Veranstaltung, dann ist der Aufschwung seither nicht anders als atemberaubend zu nennen. Bei der nun 35. Auflage wurden 16.705 Anmeldungen allein für Marathon registriert, dazu noch weitere 8500 Läufer für das 10-km-Rennen, rund 2000 Läufer für den Frühstückslauf am Vortag und nach mal die gleiche Anzahl für die fünf Kinder- und Jugendläufe - zusammen also rund 30.000 Teilnehmer. Interessanter aber ist, dass die Finisherzahl des Marathons 2015 die Marke von 14.000 deutlich überstieg, ein Teilnehmerrekord, der Valencia in die Regionen von Rom, Hamburg oder Stockholm katapultiert und den Vorsprung von Barcelona und Madrid nahezu egalisiert.
Jugendstilbahnhof und Stierkampfarena liegen gleich nebeneinander | Hier liegt der Riese Gulliver aus Jonathan Swifts berühmtem Roman als Kletterspielplatz für Kinder |
Läufer aus rund neunzig Ländern waren darunter, vor allem aus Italien (1400), Belgien (516) und Frankreich (490), während aus Deutschland nur bescheidene 143 Marathonis und 37 Läufer über 10 km dabei waren. Valencia konnte sich damit zum zweiten Mal in Folge unter den Top-Ten in Europa platzieren, und der Aufstieg dürfte längst noch nicht zu Ende sein, zumal die Königsdisziplin bisher fast nur bei den spanischen Männern angekommen zu sein scheint. Denn der Frauenanteil bleibt beim Marathon mit nur zwölf Prozent deutlich unter dem europäischen Standard, während die Verteilung beim Zehner zeigt, dass die Spanierin das Laufen durchaus für sich entdeckt hat, aber noch etwa Aufmunterung für die Langdistanz braucht. Beim Zehner immerhin liegt die Beteiligung des weiblichen Geschlechts bei stattlichen 46 Prozent.
International bekannt sind nur der Marathon von Valencia und der sehr schnelle Halbmarathon, der einige Wochen früher veranstaltet wird. Aber dass Valencia eine Läuferstadt schlechthin sei, darauf verweist der Veranstalter nicht ohne Stolz im Programmheft. Demnach gebe es 51 Laufevents im Jahr mit durchschnittlich über 4000 Teilnehmern, also jede Woche eines. Manche davon kämen sogar auf bis zu 15.000 Starter. Insgesamt würden über 210.000 Teilnehmer jährlich zusammenkommen, die auf 430 offiziell akkreditierten Streckenabschnitten über 90 Millionen Kilometer laufen. Dazu kämen wöchentlich 50.000 Hobbyläufer, die auf der ausgewiesenen Strecke im Flussbett ihre Runden drehen würden - Valencia also ein wahres Läuferparadies.
Musste Ralf Klink noch vom Marathon der weiten Wege sprechen, weil Startnummernausgabe, Start-Ziel-Gebiet, Pasta Party, Expo und andere Orte der Logistik weit über das gesamte Gebiet der 800.000 Einwohner zählenden Mittelmeermetropole verstreut lagen, so darf man heute vom Marathon der kurzen Wege sprechen. Denn man hat nun das gesamte Zentrum des Marathons auf das weitläufige Areal der "Stadt der Künste und der Wissenschaften" (Ciutat de les Arts i les Ciències) verlegt, jenes futuristische Gebäudeensemble des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava im trockengelegten Flussbett des Riu Turía, das schon wenige Jahre nach der Fertigstellung das moderne Wahrzeichen Valencias und seine Hauptsehenswürdigkeit geworden ist.
Viel Platz bei der Startnummernausgabe | Ja, wo stehe ich denn? Alle Marathonis sind auf diesem Plakat abgedruckt. Ein beliebtes Spiel ist die eigene Namenssuche |
Hier steht nicht nur Platz für eine doppelte Anzahl von Läufern, als sie jetzt zu bewältigen war, zur Verfügung, sondern die außergewöhnlichen Gebäude - ein arg profaner Begriff für die faszinierende Architektonik - bieten auch eine hervorragende Kulisse für den gleichzeitig für 10-km-Läufer und Marathonis durchgeführten Massenstart sowie einen wunderbaren Zieleinlauf auf blauem Teppich zwischen dem neuen Opernhaus, das einem riesigen Insekt gleicht, dem mit eleganten Bögen überspannten "Schattenhaus" und dem Wissenschaftsmuseum, das an das Skelett eines riesigen Tieres erinnert. Besonders reizvoll am Zieleinlauf zudem ist, dass man fast das Gefühl hat, auf Wasser zu laufen. Denn rechts und links strahlen Wasserflächen in hellem Blau, und auf einem gleichfarbigen Teppich sind die letzten Meter vor aufgebauten Tribünen zu absolvieren.
Mittlerweile hat man die Startzeit des Marathons auf die in vielen Städten üblich Zeit von neun Uhr nachverlegt. Man kann also etwas länger Schlafen als noch 2010. Auch vom eher bescheidenen Preisgeld, das es damals zu gewinnen gab, hat man sich längst verabschiedet. Schließlich will man nicht nur durch Größe punkten, sondern auch den sportlichen Wert der Veranstaltung deutlich erhöhen. Klotzen statt Kleckern heißt jetzt auch hier die erfolgsversprechende Devise.
Das Anrichten der Paella durch einen stadtbekannten Spitzenkoch wurde zelebriert und auf Leinwand übertragen ... | ... die richtige Einstimmung für die Paellaparty unter freiem Himmel |
Neben alldem bietet der Valencia Marathon für ein durchschnittliches Startgeld von rund sechzig Euro eine ganze Menge. Die Paella-Party am Vortag ist im Preis inbegriffen und bietet außer einer Reispfanne noch Getränke und einen Verpflegungsbeutel an. Dann ist ein schönes, diesmal knallorangenes Finishershirt enthalten, wofür man andernorts oft zwanzig bis dreißig Euro extra berappen. Ferner erhält man eine avantgardistisch anmutende, schwere Finishermedaille, die einem Gebäude der Wissenschaftsstadt nachempfunden ist. Nach dem Zieleinlauf überrascht der Veranstalter mit einem weiteren Verpflegungsbeutel, gefüllt mit Gebäck und frischem Obst. Dafür ist die Verpflegung auf der Strecke zumindest bezüglich fester Nahrung etwas bescheiden, denn außer Rosinen und "Oranjes", einem sehr süßen Fruchtgummi, und Gel gibt es nichts, aber Flüssiges, stilles Wasser in Flaschen und Isogetränke, um so mehr.
Und im Preis ist noch die Teilnahme am Breakfast-Run enthalten, der am Samstagmorgen vor dem Marathon stattfindet und den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Um neun Uhr treffen sich alle Laufwilligen in der Nähe der "Brücke des neunten Oktobers". Hier liegt im ehemaligen Flussbett des Turía-Rivers der Startpunkt einer vielgenutzten Joggingstrecke, die exakt vermessen ist und alle einhundert Meter auf einem Streckenschild die bereits gelaufene Distanz angibt. Diese Joggingstrecke gehört zu einem Naherholungsgebiet und mustergültigen Landschaftspark, der komplett im alten Flussbett liegt und erst gebaut werden konnte, als sich herausstellte, dass die ursprünglich geplante Stadtautobahn zu teuer werden würde. Grund für die Parkanlage, die deutlich unter dem üblichen Straßenniveau liegt und von zahlreichen schönen und historischen Brücken überquert wird, war eine Notsituation. In den fünfziger Jahren war es mehrfach zu dramatischen Hochwassersituationen gekommen, welche zahlreiche Menschenleben forderten und großen Schaden in der Stadt anrichteten. Man entschied, den Fluss weiträumig südlich um die Stadt herumzuführen, was viele Jahre dauern sollte und erst Ende der sechziger Jahre vollendet wurde.
Wohl einmalig: den unzähligen Absperrgittern des Valencia Marathons wurde der Veranstaltungstitel "eingraviert" | Neunzig Nationen waren am Start, bei den Gästen ganz vorne: die Italiener |
Heute gilt dieser Grüngürtel in einer Stadt, die ansonsten damals kaum Park- oder Rasenflächen hatte, auch im europäischen Vergleich als vorbildlich, auf den Landschaftsarchitekten und Städteplaner gerne verweisen, wenn ähnliche Pläne in der eigenen Stadt zu scheitern drohen. Noch mehr hat diese Umsetzung bei der Bevölkerung Valencias bewirkt, nämlich eine höhere Sensibilität gegenüber der Natur, der Umwelt, für Nachhaltigkeit und historische Werte. Denn immer öfters erheben sich Stimmen gegen den Abriss geschichtsträchtiger Gebäude oder Verschandelung der Umgegend.
Außer der Joggingstrecke, die mit gelenkschonenden Materialien gebaut wurde und von 50.000 Joggern wöchentlich belaufen wird, wurden auch ein Fahrradweg, ein Spazierweg und eine ganze Reihe von Sportplätzen angelegt. Dazu Trimmgeräteanlagen, Verweilareale und Kinderspielplätze, darunter auch der Gulliverpark, wo der berühmte Riese aus Jonathan Swifts Roman im Gelände liegt und als Kletterrefugium für die kleinsten Besucher dient.
Zum Frühstückslauf ist eine vorherige Registrierung erforderlich; man kann sich aber auch noch am Startplatz kurz vor Laufbeginn anmelden. Eigentlich sollte man dafür einen Kostenbeitrag von einem Euro beibringen, doch stellte sich bei der Anmeldung heraus, dass man von dieser eher symbolisch zu verstehenden Geste Abstand genommen hatte. Gegen neun Uhr fanden sich dann rund 1500 Läufer und Läuferinnen ein, die sich gleich mit dem Startschuss auf die Strecke begeben wollten, obwohl die Ausschreibung ein Zeitfenster von zwei Stunden vorsieht. Weitere 500 bis 1000 Teilnehmer nutzen dann wohl auch die spätere Möglichkeit des Teilnahme, denn viele Läufergruppen bewegten sich noch in Richtung Start, als der Haupttross schon auf der Strecke war.
Man sollte sich den Breakfast-Run nicht als kleine Nebensache vorstellen wie andernorts, bei dem die Läufer zwar eine Startnummer tragen, aber ansonsten mehr ein Privatläufchen in der Gruppe machen. Schon am Start sind Lautsprecheranlagen aufgebaut, wo kräftige Rockklänge aus den Boxen dröhnen oder der Moderator sein Animierprogramm fährt. Auch ein Startbogen ist aufgezogen, bevor ein kleines Feuerwerk zum Start abgebrannt wird. Unterwegs trommeln auf den amtlich vermessenen fünf Kilometern nicht weniger als fünf Sambagruppen, was das Zeug hält, bevor man das Ziel etwa 1000 Meter nördlich von der Wissenschaftsstadt erreicht, natürlich angefeuert von einem weiteren Moderator. Hier, auf einer Wiese, ist das Frühstücksbüfett aufgebaut, bestehend aus Kaffee, Orangensaft und süßen Gebäckstangen. Eine insgesamt sehr empfehlenswerte Angelegenheit als läuferischer und atmosphärischer Aufgalopp für den Marathontag, der erfreulicherweise auf Laufzeitmessung und damit Wettkampfcharakter verzichtet.
Viele Frühstücksläufer, die ihre Wechselkleidung über die kurze Strecke in einem Rucksack mitführten oder ihren Kleiderbeutel vorab an einer Aufbewahrungsstelle am Ziel abgegeben hatten (ja, auch das gab es beim Breakfast-Run), begaben sich anschließend in die nahe Wissenschaftsstadt, um die in den letzten Jahren sehr gewachsene Expo zu besuchen und sich ihre Startunterlagen abzuholen bzw. Carbo-Loading bei der Paellaspeisung zu betreiben.
Hatten die Frühstücksläufer bereits so etwas wie Partystimmung beim Frühsport erlebt, setzte sich diese Feierstimmung dann auch auf dem Expogelände fort, wo eine einheimische Rockformation auf einer ins Wasser gebauten Bühne für fetzige Rhythmen sorgte oder ein Starkoch aus Valencia auf offener Empore des Spaniers Leibspeise anrichtete: die Paella, die von hier aus vor Jahrhunderten ihren landesweiten Siegeszug antrat. Das Ganze von Fernsehkameras hautnah eingefangen, fachlich kommentiert und für jeden sichtbar auf eine riesige Leinwand transformiert. Die richtige Einstimmung für die Paellaparty unter freiem Himmel.
Überhaupt kann man sagen, dass die Marathonläufer an den beiden Vortagen des Marathons eine heitere und entspannte Atmosphäre vorfanden und es an den Ausgabeschaltern der Startunterlagen, der Kleiderbeutelausgabe oder im Expogelände keinerlei Gedränge gab und alles sehr zügig ablief. Und wenn es doch einmal hakte, was selten vorkam, dann waren die vielen Volontäre schnell bei der Hand und lösten die Nicklichkeiten auf schnelle und unkomplizierte Weise. Im Gegensatz zu großen Teilen der sonstigen Bevölkerung und sogar vielen Beschäftigten in der Gastronomie konnte der internationale Besucher mit guten Englischkenntnissen der Helfer rechnen.
Mit zur prächtigen Stimmung an den Vortagen und am Marathontag trug nicht unerheblich das gute, frühlingshafte Wetter bei. Bei immer strahlend blauem Himmel betrug die Tagestemperatur im Mittel wohl achtzehn Grad, zur Mittagszeit konnte sie auch schon mal deutlich über die Zwanzig-Grad-Marke steigen. Bei mäßiger Luftfeuchtigkeit war es am Laufwochenende trotz der Küstennähe nahezu windstill. Ideale Bedingungen für die über 25.000 "normalen" Läufer und Läuferinnen, die sich auf die Strecken von zehn bzw. zweiundvierzig Kilometer begeben wollten. Ideale Bedingungen aber auch für die vier Dutzend Spitzenläufer und Pacemaker, die so genannten Independents, die von den Organisatoren um Veranstaltungschef Paco Borao nach Valencia eingeladen worden waren, um vielleicht etwas an der Streckenbestzeit zu drehen. Darunter vor allem Schwarzafrikaner und Schwarzafrikanerinnen, aber auch der ein oder andere Läufer aus Marokko oder aus Osteuropa.
Punkt neun Uhr setzt sich das Feld mit 25.000 Läufern in Bewegung. Die Strecken von 10 km und Marathon trennen sich nach zwei Kilometern |
Mit dabei auch die deutsche Spitzenläuferin Sabrina Mockenhaupt, deren Saisonverlauf, geprägt durch eine Sprunggelenksoperation im Mai, einen ernsthaften Start in Berlin oder Köln als zu früh hatte erscheinen lassen. Als beste Option, die beim Start in Hamburg noch verpasste Norm für Olympia in Rio doch noch 2015 zu erfüllen, musste für sie Valencia gelten. Spät im Herbst gelegen, passte ihr das wohl in den Terminkalender. Außerdem war bekannt, dass Valencia über eine sehr schnelle Strecke verfügt, wie die letzten Ergebnislisten zeigen. Schon allein, dass hier beim Halbmarathon 2014 und 2015 bei den Männern jeweils die schnellste Zeit des Jahres gelaufen war, sprach für Valencia.
Freilich war Mockenhaupt in Valencia auf Eigenorganisation angewiesen. Denn dass ihr ein Rennen auf den Leib geschneidert werden würde wie noch Gabius in Frankfurt, das war bestenfalls bei einem heimischen Marathon zu erwarten. Bei der offiziellen Nennung der Favoriten im Programmheft oder der Homepage tauchte sie erst gar nicht auf, obwohl sie von der in diesem Jahr gelaufenen Zeit hätte dort erwähnt werden müssen, von ihrer Bestzeit her, der Maßstab für die Nennung, allemal. Aber Sabrina Mockenhaupt, angereist am Donnerstag, abgereist noch am Marathontag, war nicht allein nach Valencia kommen. Julian Flügel, in der Ergebnisliste als Julian Flugen registriert, hatte sie als persönlicher Pacemaker mit in die spanische Metropole begleitet.
Bei km 3 wird eine Edelherberge am Mittelmeerhafen passiert | Zwischen km 4 und 8 gibt es ein Pendelstück. Die Läufer links sind schon ein Stück weiter |
Es war für "Mocki" also keinesfalls ein Rennen wie jedes andere, auch wenn sie im Vorfeld nicht so offensiv aufgetreten war wie Gabius, der die Erreichung des deutschen Rekords (und sogar eine 2:07h-Endzeit) offen angekündigt hatte. Mockenhaupt wollte keinen persönlichen Druck durch die Öffentlichkeit aufgebaut sehen und sich ungestört auf das Rennen vorbereiten. Interviewanfragen und Fotowünsche hatte sie aus nachvollziehbaren Gründen für den Zeitpunkt nach dem Rennen erbeten. Auf ihrer Homepage war vom vollzogenen Abschluss ihres Trainings zu lesen und dass sie noch nie so viele lange Läufe in der Vorbereitung gelaufen sei. Darunter war ja auch der Frankfurt Marathon und der Bottwartal Marathon als Volldistanzvorbereitung. Letzteren gewann sie als Trainingslauf sogar in Streckenbestzeit.
Die Marathonstrecke von Valencia war lange Zeit ein Experimentierfeld, denn fast jährlich wurde eine neue Route präsentiert, die oft genug aus Teilstücken früherer Abschnitte neu zusammengesetzt war. Das ist allerdings Geschichte, seit der Lauf an der Stadt der Wissenschaften und Künste beginnt und endet - und wird wohl auch so bleiben, wenn nicht aktuelle Baumaßnahmen zur Umdisponierung zwingen sollten. Die jetzige, wohl endgültige Streckenführung ist einem Hauptgedanken untergeordnet, dem nämlich der Schnelligkeit. Man lässt die Marathonis ausschließlich auf den breiten und flachen Hauptautostraßen laufen und keinesfalls durch die engen Gassen der verwinkelten, orientalisch anmutenden Altstadt, wo zwar einige Sehenswürdigkeiten liegen und viele Menschen (und damit Zuschauer) wohnen, aber wo die Straßen gepflastert und teilweise uneben sind. Nein, man sperrt einige der großen Ausfallstraßen vollständig ab, was bei den autobegeisterten Einwohnern sicher nicht leicht verständlich gemacht werden kann und wohl kaum auf uneingeschränkte Gegenliebe stoßen dürfte.
Insgesamt haben es die Streckenplaner geschafft, eine optimal schnelle Strecke anzubieten, die zudem auch sehr schön ist und wichtige Sehenswürdigkeiten passiert. Jedwede Ecke, die noch 2013 zur Route gehörte, und sogar zwei Tunnel wurden eliminiert zugunsten des Tempos. Dabei wird die Altstadt nicht völlig links liegen gelassen, sondern man läuft dort durch sie hindurch, wo die Straßen und Plätze breit genug sind für das große Feld. Dort, wo man nahe an oder mitten in der historischen Altstadt ist, herrschen dann auch der stärkste Publikumsandrang und die größte Begeisterung.
Überhaupt sind das große Zuschaueraufkommen an fast der gesamten Strecke und die tolle Stimmung des Valencia Marathons positiv zu vermerken. Rund vierzig Musikgruppen, meist Sambatrommler, heizen den Läufern kräftig ein, viele Moderatoren halten das Publikum bei Laune, und die Einwohner, deren Leben sich viel mehr auf der Straße abspielt als in Mittel- oder Westeuropa, lassen sich gerne aus den Häusern locken, genießen die heitere Partystimmung, tanzen und klatschen und verbreiten pure Lebensfreude. Und all das bleibt nicht nur den schnellen Läufer vorbehalten, sondern können selbst noch jene genießen, die fünf Stunden und länger brauchen. Auch das Publikum beweist also hervorragende Ausdauerfähigkeit.
Zwei Kilometern nach dem Start erreicht das Feld den Hafen von Valencia und läuft dann in einigen hundert Metern Entfernung vom Mittelmeer an der Küste vorbei. Man muss schon aufmerksam sein, um hier das Meer zu sehen. Nach sechs Kilometern wird die Hauptuniversität passiert, an der etwa die Hälfte von zusammen 80.000 Studenten eingeschrieben ist. Zwischen km 5 und 8 kommen sich die Läufer nun auf einem Pendelstück entgegen, wie später noch öfters. Ab km 9 bis km 12 können die langsameren Läufer die ihnen entgegenkommende Männerspitze bewundern, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits der HM-Marke nähert. Das zweite Viertel der Strecke, das Richtung Norden führt, führt an zwei Fußballstadien vorbei, dem von Valencia C. F. und dem von Lavante U. D. Spektakulär wird dann der Durchlauf durch die Paseo Alameda und die Avenida Blasco Ibánez, wo die Stimmung hochgekocht ist. Kurz später ist Halbzeit.
Bei km 24 erreicht man wieder die Wissenschaftsstadt und kann das Ziel schon sehen, doch die Strecke führt nun rechtsseitig des ehemaligen Flussbettes Richtung Norden hin zum Torres de Serrano, eines von mehreren historischen, noch erhaltenen Stadttoren. Nun ist km 27 erreicht, und der schönste Streckenabschnitt beginnt. Es geht über die Einkaufsstraße Calle de la Paz zum Rathausplatz Ayuntamiento, von dort zur Stierkampfarena und zum benachbarten, verschnörkelten Jugendstilbahnhof Estación del Norte sowie über die Calle Guillem de Castro zum Monument "Dama de Elche". Bei km 35 ist der östlichste Punkt erreicht, und es geht dem Ziel entgegen. Noch einmal kommen der Nordbahnhof und die Stierkampfarena ins Blickfeld. Doch schon ist die Calle Colón und der Grüngürtel erreicht, und die Wissenschaftsstadt und der Zielkanal sind in Sichtweite.
Der gemeinsame Start von über 8.000 10-km-Läufern und knapp 17.000 Marathonläufern, die aus einem 90-Grad-Winkel zusammenkommen, ergibt, aus der Höhe eines der Gebäude fotografiert, ein gigantisches Bild, das nach Meinung des Veranstalters zu den meistpublizierten in der Marathonwelt gehören soll. Man lässt die Zehner gemeinsam mit jenen Marathonläufern starten, die voraussichtlich unter 3:30h bleiben werden, während die anderen Marathonis sechs Minuten später auf die Strecke geschickt werden. Ob der gemeinsame Start eine gute Idee ist oder in der Anfangsphase des Rennens Probleme macht, lässt sich nicht sagen. Eine sonst übliche zeitliche Entzerrung würde aber wohl kaum schaden, da es doch leichtes Gedränge und vereinzelte Irritationen beim Zugang zu den Startplätzen gab.
Vor dem Start gab es - wie schon am Vortag beim Frühstückslauf - eine Schweigeminute für die Opfer der Pariser Anschläge vom Wochenende. Dann durften die Akteure auf die Strecke. Verläuft der Start für beide Felder zunächst über die Brücke zwischen dem neuen Opernhaus und dem Hemisféric-Palast, auf der am Vortag auch die Jugendläufe stattgefunden haben, und dann Richtung Hafen, so trennen sich ihre Wege noch vor Kilometer zwei. Der Zieleinlauf, sprich die letzten 1000 Meter, sind dann für Marathonis und 10-km-Läufer wieder gleich, finden freilich zu unterschiedlichen Zeiten statt.
Über zehn Kilometer gab es gute, aber keine international überragenden Siegzeiten. Bei den Frauen gewann Vitalyne Bikil, eine eingeladene Läuferin, in 33:44 Minuten mit exakt vierzig Sekunden Vorsprung vor Laura Mendez Esquer in 34:24min und Isabel Checa Porgel in 35:10min - Bei den Männer betrug die Siegzeit von Michel Bett exakt 29 Minuten. Dahinter sicherten sich zwei weitere Läufer, die unter dreißig Minuten blieben, die Podestplätze. Joauad Touvane wurde in 29:28min zweiter vor Quais Zitane in 29:59min.
Die aktuellen Streckenrekorde von Valencia waren beide im Jahr 2013 aufgestellt worden. Felix Keny aus Kenia war 2:07:14h gelaufen, während die Äthiopierin Azalech Woldeselasse in 2:27:01h gesiegt hatte. Für das Rennen 2015 hatte nicht nur Rekordhalter Keny erneut sein Kommen angekündigt, sondern weitere sechs Läufer, die in ihrer Karriere dessen Bestwert wenigstens einmal unterboten hatten, darunter auch der 2:05h-Läufer Dawit Shami Abdulahi aus Äthiopien. Bei den Frauen hatten drei Läuferinnen eine schnellere Zeit stehen als der aktuelle Streckenrekord, dazu eine vierte, nämlich Sabrina Mockenhaupt. Als schnellste war Koren Jelala Yal aus Äthiopien (2:22:43h) gemeldet, die noch Ende Oktober 3. in Frankfurt geworden war, dazu die Titelverteidigerin Beata Naigambo aus Namibia.
Im Frauenrennen hatte sich schon früh eine kleine Spitzengruppe um die Vorjahressiegerin gebildet, geführt von nur wenigen männlichen Pacemakern, die die Halbmarathonmarke nach 1:13:15h passierte, ein recht hohes Durchgangstempo, das die Möglichkeit anzeigte, den Streckenrekord zu unterbieten. Die zweite Hälfte sollte mit 1:13:42h zwar etwas langsamer werden, aber der Streckenrekord wurde von der Siegerin Beata Naigambo dennoch knapp unterboten - um genau vier Sekunden: 2:26:57h, was gleichzeitig eine persönliche Bestzeit für die 35jährige Läuferin aus Namibia war. Sie hatte sich wenige Kilometer vor dem Ziel als treibende Kraft eines Trios gezeigt, aus dem zunächst die Marokkanerin Malika Asahssah zurückfiel, die in 2:28:01h schließlich 3. wurde. Dann erwischte es auch die Kenianerin Nancy Kiprop, die zwei Kilometer vor dem Ziel Naigambo ziehen lassen musste. Sie wurde Vizemeisterin in 2:27:34h. Mitfavoritin Janet Rono aus Kenia enttäuschte etwas und musste mit dem 4. Rang in 2:29:21h vorlieb nehmen.
Bestes Wetter und viel Platz für 16.000 Marathonis |
Und Sabrina Mockenhaupt? Die war ja ohne angekündigtes Ziel und ohne Zielzeit hier angetreten, dürfte aber im Hinterkopf gehabt haben, doch vielleicht die Olympianorm zu knacken. Darauf deutet ja nicht nur hin, dass sie sich Valencia als schnellen Startplatz gezielt aussuchte, sondern auch, dass sie mit persönlichem Tempomacher Julian Flügel anreiste, was ja auch finanziert sein will. Auch die ersten Zwischenzeiten von 17:33min für 5km und 35:06min für 10km deuteten auf dieses Vorhaben hin, denn hochgerechnet ergäbe sich eine Zeit von unter 2:28:30h. Ob diese Pace bis zum Schluss zu halten sein würde, das wusste die Läuferin nicht. Aber sie ließ es drauf ankommen, vielleicht das Beispiel Lisa Hahner vor Augen, die gleichfalls nach schwerer Verletzung in Frankfurt angetreten war und sogar eine deutliche Steigerung des Hausrekordes erreicht hatte. Ein Versuch musste es für die mutige Sabrina Mockenhaupt alle mal Wert sein, ein Verstecken kam nicht in Frage, auch auf die Gefahr hin, dass einige Kritiker anschließend wieder alles besser wissen würden.
Km 28: Der "Rathausplatz" | Am Nordbahnhof, der kurioserweise im Süden der Stadt liegt, kommen die Marathonis in der zweiten Streckenhälfte gleich zwei Mal vorbei |
Bei Halbzeit war das Gespann Flügel/Mockenhaupt allerdings dann doch fünfzehn Sekunden hinter dem Plan zurück, aber noch nicht aussichtslos: 1:14:31h lautet die HM-Zwischenzeit. Es musste also eine zweite Hälfte von unter 1:14h her. Das allerdings war fünf Monate nach der Operation und dem aktuellen Trainingsstand dann doch noch nicht zu schaffen. Bei der Zwischenmarke von 30 km war die Norm außer Reichweite. Mocki soll kurz an Aufgabe gedacht haben, wurde kolportiert, sich aber dann doch nach Rücksprache mit Flügel zur Fortsetzung des Rennens entschieden haben. Was dann für Mockenhaupt dabei zu erfahren war, mag sportlich und psychologisch wertvoller sein als die Norm selbst. Sie drehte zum Ende noch einmal richtig auf, verbesserte sich ab km 35 noch von Rang 9 auf Rang 5 und ließ ganz nebenbei auch Mitfavoritin Emely Ngetich aus Kenia hinter sich. Mockenhaupts Endzeit immerhin deutlich besser als noch im Frühjahr in Hamburg: 2:30:44h. Damit beste Nichtafrikanerin in Valencia.
Eine weitere sportliche Aufwertung erfuhr der Valencia Marathon durch die neue Streckenbestzeit des wie entfesselt laufenden Kenianers John Mwangangi, der nur mit der neuntbesten Zeit angereist war, aber international auf sich aufmerksam gemacht hatte, als er 2012 die Bronzemedaille bei der HM-WM gewann. Mit seiner jetzigen Gewinnerzeit von 2:06:13h verbesserte er nicht nur den bisherigen Streckenrekord um mehr als eine Minute, sondern auch seine persönliche Bestzeit, die bisher bei 2:07:28h stand. Bemerkenswert zudem der negative Split, den der 25jährige Kenianer hinlegte. Der ersten Hälfte in 1:03:18h stehen 1:02:55h der zweiten gegenüber. Nie zuvor wurde auf spanischem Terrain ein Marathon schneller zurückgelegt, nicht beim Marathon in Madrid und nicht bei dem in Barcelona. Sportlich ist Valencia also in Spanien obenauf, auch wenn Barcelona bei den Frauen noch den besseren Wert aufweist.
Keine Kraft mehr? Kein Problem. Dieser "Druckknopf" bringt verbrauchte Energie sofort zurück | Bei km 41 macht dieses insektartige Gebäude niemandem mehr Angst |
Noch bei km 18 lief eine mehr als zehn Läufer umfassende, rein schwarzafrikanische Spitzengruppe der Halbmarathonmarke entgegen, gefolgt in deutlichem Abstand von ein paar Einzelläufern und Duos. Nach und nach verabschiedeten sich die Pacemaker aus der Gruppe, und andere Läufer fielen zurück. Mwangangi aber fühlte sich zu Höherem berufen, verschärfte fünf Kilometer vor dem Ziel das Tempo, auch angespornt vom möglichen neuen Rekord, und schüttelte auch den letzten Widersacher ab, zuletzt seinen Landsmann Matthew Kisorio, der schon mal eine zweijährige Sperre abgesessen hatte und in 2:06:33h die Silbermedaille gewann. Er konnte seine Bestzeit um fast fünf Minuten (!) verbessern. Glücklicher dritter wurde Felix Kendie (Kenia) in 2:07:07h, der seine PB ebenfalls steigerte um 1:25min.
Himmelblauer Zieleinlauf | Hier kommt der 13.561te Läufer ins Ziel. Jeder Finisher erhöht die Sponsorensumme (oben links) um einen Euro |
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Auf einem guten 11. Platz landete der in Deutschland gut bekannte Ukrainer Ivan Barbaryka, der nach 2:14:02h ins Ziel kam. Schnellster Deutscher wurde Mockis Tempomacher Julian Flügel, der wie sein Schützling 2:30:44h stehen hat und damit als 49. Mann rubriziert ist.
Hatte Valencia von 2013 auf 2014 die größte Finishersteigerung (von gut 9000 auf gut 11.000) unter den 30 führenden Marathons mit einer Quote von 17,4 Prozent und damit Rang 10 im kontinentalen Vergleich erreicht, so ist die neuerliche Steigerung von 11.000 auf über 14.000 sogar größer als ein Fünftel. Man dürfte bei Jahresabschluss Platz 8 oder gar 7 erklommen haben. Sollte es in den folgenden zwei Jahren so gut weitergehen, erscheint eine Prognose nicht verwegen, Valencia dann auf Rang vier in Europa wiederzufinden, hinter den Platzhirschen London, Paris und Berlin.
Bericht und Fotos von Michael Schardt Ergebnisse www.valenciaciudaddelrunning.com Zu aktuellen Inhalten im LaufReport HIER |
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