6.-8.9.19 - 31. Tallinn Marathon (Estland)

Ambitioniertes Unterfangen meldet Interesse am IAAF-Bronze-Label an

Drei Streckenrekorde markieren sportliche Aufwertung

Viele deutsche Starter laufen vor prächtiger Altstadtkulisse

von Michael Schardt 

Reval hieß Tallinn bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Nicht nur im früheren Namen ist deutsches Erbe zu erblicken, sondern auch in vielen Straßennamen, Hausbezeichnungen, Platznennungen. Auch architektonisch sind Stile deutscher Bauherren unverkennbar, so wie etwa auch in Riga. Eine der ältesten deutschsprachigen Bildungseinrichtungen ist hier beheimatet: die estnische Ritter- und Domschule zu Reval. Sie wird erstmals bereits 1319 erwähnt und existierte bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Ob es nun die deutsche Tradition ist, oder schlichtweg die Schönheit der Metropole, die alljährlich mehrere hundert deutsche Läufer zum Tallinn Marathon zieht. Eine Reise, egal mit oder ohne sportliche Betätigung, ist die rund 430.000 Einwohner zählende Hauptstadt Estlands allemal wert.

Der Marathon in der estnischen Hauptstadt Tallinn ist ein Drei-Tage-Event mit Rennen über alle klassischen Distanzen
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Im Grunde ist die Veranstaltung ein vier Tage andauerndes Event, das mit großem Engagement durchgeführt wird. Schon donnerstags öffnen auf dem Freiheitsplatz, das so etwas wie das moderne Gegenstück zum mittelalterlichen Rathausplatz darstellt, nahe der Nikolaikirche die Organisationsbüros, um ersten Besuchern ihre Startnummern auszuhändigen. Gleichzeitig wird auf dem Areal die Expo, untergebracht in Zelten, aufgebaut. Dazu gehören Bühnen (auch für die Siegerehrung, aber vornehmlich fürs musikalische Rahmenprogramm) und Tribünen für die Zuschauer. Denn hier liegt auch Start und Ziel des ersten Rennens, des Fünfers, welcher Freitagabend angeschossen wird, sowie des samstäglichen Zehners, der hier gestartet wird, aber in der Innenstadt endet.

Mit annähernd 22.000 Anmeldungen ist die Veranstaltung eine der größten im Baltikum, die besonders auch bei deutschen Läufen sehr beliebt ist Direkt an der Ostsee gelegen, entfaltet die Tallinner Altstadt mit Unter- und Oberstadt ihren Zauber. Bis 1918 war der deutsche Name Reval die offizielle Bezeichnung für die Metropole

Programm und Zahlen

Ab Samstagmorgen, 11 Uhr, gehört den Youngstern im benachbarten Hirvepark die volle Aufmerksamkeit. Alles was Beine hat und laufen kann (inklusive derer, die noch zu jung zum Laufen sind) ist auf dieser wenige hundert Meter langen Strecke in sechs unterschiedlichen Altersklassen unterwegs. Der Sonntag schließlich gehört den Marathonis und Halbmarathonis, die am Eingang zur Altstadt starten und finishen.

Insgesamt kam der Tallinn Marathon 2019 auf 21.267 Anmeldungen zuzüglich erheblich vielen Nachmeldungen. Recht genau 21.500 Läufer und Läuferinnen konnten ihr Rennen erfolgreich gestalteten mit 3741 Finishern über 5km, 7776 Läufer und Walker über 10km, 4430 Kindern, 3388 Halbmarathonis und 2159 Finishern im Marathon.

Eine große Anzahl von Teilnehmern garantiert aber längst noch kein Bronzelabel, was die Esten anstreben. Dafür sind bekanntlich andere Kriterien maßgeblich: internationale Elite, Vollabsperrung der Strecke, einwandfreier medizinischer Dienst, mediale Präsens etc. All das wurde erreicht und zusätzlich neue sportliche Bestmarken gesetzt im Marathon der Frauen sowie im Halbmarathon der Frauen und Männer. Weniger bedeutend, aber dennoch erwähnenswert auch die Bestmarken beim Zehner und die Sieg-Ergebnisse über 5 km, über die keine Streckenrekordwerte geführt werden.

Eine Besonderheit ist das Estonia-Theater, das zur einen Seite einen Konzertsaal bietet, zur anderen eine Opernbühne Skulptur im Tammsaare-Park, der grünen Lunge mitten in der City Bürgerhäuser in der Altstadt. Viele Straßen und Viertel merkt man ihre deutsche Herkunft vom Namen her an, etwa Kreutzwaldi- oder Faehlmanni

All das klingt freilich etwas fakten- und datenversessen trocken, aber für die Veranstalter ist es um so wichtiger, wie die recht kurzen Pressetexte verraten. Wir wollen an dieser Stelle auch nicht weiter verweilen, sondern uns aus Sicht des Sportreisenden die Stadt anschauen und die Läufe als Ereignis erleben. Was wäre da zu Beginn geeigneter als ein Spaziergang durch den historischen Kern der estnischen Metropole.

Ober- und Unterstadt

Tallinn ist das unumstrittene kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zentrum Estlands. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass hier ein Drittel aller Menschen des ganzen Landes wohnt. Mit nur gut 1,3 Millionen Einwohnern ist Estland nicht gerade bevölkerungsreich - 430.000 davon leben in der Hauptstadt. Wenig schmeichelhaft scheint auf den ersten Blick ein Eintrag in einer Informationsbroschüre für Touristen zu sein. Da heißt es, "Tallinn hinkt". Wie dann zu erfahren ist, meint dies, dass Tallinn im Volksbewusstsein ein langes und ein kurzes Bein habe, sprich die Altstadt sich in eine Ober- und eine Unterstadt unterteilen lässt. Die einzigen zwei Verbindungsgänge werden auf Estnisch Pikk jalg und Lühike jalg genannt, was kurzes und langes Bein heißt. Einer dieser beiden Wege sollte auch der erste sein, den der Besucher hinauf zum Domberg in Angriff nimmt, wo der vielleicht schönste Stadtteil auf ihn wartet, auf jeden Fall aber der schönste Ausblick auf Alt- und Neustadt und die zum Greifen nahe Ostsee.

Hier oben auf bescheidenen siebzig Metern Höhe kann man die Domkirche besichtigen, das Schloss, die Alexander-Newski-Kathedrale, weitere Kirchen, schöne Bürgerhäuser, das Parlamentsgebäude, Gärten etc. Man wird in der Saison vielen Touristengruppen begegnen, die die Souvenirläden stürmen, die zahlreichen Restaurants und Cafés. Dass Tallinn einer der meistbesuchten Städte im europäischen Norden ist, ist hier am ehesten zu spüren. Nicht weniger voll ist es in der unteren Altstadt, wo inmitten einer pittoresken Szenerie, die vom alten Reichtum der Metropole Zeugnis abliefert, auf dem zentralen Rathausplatz auch die wichtigste Sehenswürdigkeit zu bewundern ist: das mittelalterliche Rathaus. Auf und um den Rathausplatz haben sich internationale und Spezialrestaurants angesiedelt, die Besonderes bieten, allerdings auch zu besonderen Preisen. Überhaupt sind die Kosten für Übernachtung, Speisen und Getränke und sonstige Dienstleistungen keinesfalls märchenhaft günstig, sondern entsprechen weitgehend dem westlichen Niveau.

Gepflegte Gemütlichkeit mit musikalischer Unterhaltung, das findet man bei gutem Wetter immer in der Altstadt

Hipp und Chic

Jünger, hipper, schicker, aber auch geschäftiger geht es außerhalb der Altstadt, der Innenstadt zu, vor allem in der City rund um das Einkaufszentrum "Viru keskus", wo auch das schon zu Sowjetzeiten legendäre Soko Hotel Viru steht, welches zur Marathonzeit als Athletenhotel dient und im 23. Stock das Museum des sowjetischen Geheimdienstes KGB beherbergt. Hier, in der Innenstadt, ist das neue Selbstbewusstsein des Baltenstaates am besten sichtbar. Verspiegelte Wolkenkratzer versprühen einen Hauch Manhattan, riesige Einkaufszentren locken Tausende kauffreudige Konsumenten an. Skandinavische Banken haben sich hier mittig angesiedelt und Computer- und Technikfirmen. Überhaupt: E-stonia macht Werbung mit seiner Kompetenz im E-lektronikbereich. Das "E" ist fast zu einem Markenzeichen des aufstrebend-modernen Landes geworden.

Gleich neben dem Hotel Viru findet der Besucher eine Oase der Ruhe, den Tammsaare-Park. Lange hatte man hier im 19. Jahrhundert den städtischen Markt untergebracht. Das hatte zur Folge, dass bald Theater- und Kinovorführungen stattfanden. Nach politischen Wirren um 1905, bei denen viele Menschen verletzt oder getötet wurden, wurde der Tammsaare-Park angelegt, benannt nach einem bekannten Schriftsteller: Anton Hansen Tammsaare. Ihm ist in der Mitte ebenso ein Denkmal gesetzt wie den Verstorbenen in der russischen Revolution.

Der Rathausplatz als Zentrum in der Altstadt Die Stiege hoch zum Domplatz ist nur einer von zwei Zugängen. In alter Zeit konnte man das Areal sichern wie eine Burg

Der Marathonläufer passiert auf seinem fünfminütigen Weg vom Marathonhotel zum Freiheitsplatz, wo die Expo und die Startnummernausgabe angesiedelt ist, diesen Park und auch das staatliche Opern- und Konzerthaus, bevor er hinter der mächtigen Nikolaikirche den Freiheitsplatz findet.

Originell und innovativ

Wie vielschichtig das Stadtbild Tallinns tatsächlich ist, erschließt sich erst, wenn man sich in die Kreativviertel begibt, etwa ins Rotermann. Nur 300 Meter vom Viru-Hotel entfernt bildet das Rotermannviertel ein glänzendes Beispiel, wie man brachliegende Fabrikgebäude in hochwertige Industriekultur verwandeln kann mit schicken Designerläden, origineller Gastronomie, hübschen Wohnanlagen und einem lebendigen künstlerisch-kulturellen Zusammenwirken. Das Rotermannviertel wurde auch als Filmkulisse des bedrückenden Kinoklassikers "Stalker" von Andrei Tarkowski bekannt.

Anders, aber sehr angesagt, ist der Stadtteil Kalamaja, der gleichfalls Künstler, Jungunternehmer, Start-up-Firmen und alternative Leute anzieht. Der Charme besteht hier aus der Mischung von alten Holzhäusern, großen leerstehenden Industriegebäuden und alten Villen, die genügend Raum für "unmögliche" Projekte bieten. Prophezeiungen zufolge soll Kalamaja, das alte Wohngebiet der Fischer und ärmeren Leute, bald nicht mehr erschwinglich sein und den üblichen Weg der "Ökonomisierung" gehen müssen.

Hier, im Präsidentenpalast, wohnt das estnische Staatsoberhaupt Ein echter Hingucker: die Alexander-Newski-Kathedrale auf dem Domberg

Wer in Tallinn weilt und etwas mehr Zeit mitbringt, sollte es nicht versäumen, Abstecher in die nähere Umgebung zu machen. Etwa nach Lauluväljak, zur Sängerfestwiese. Hier, auf einer riesigen Freifläche mit kühner Bühnenkonstruktion, findet alle fünf Jahre eines der weltweit größten Sängerfeste statt. Allein 30.000 davon finden auf der Bühne Platz, dazu mehrere hunderttausend Menschen davor. Das Sängerfest ist eine der größten Attraktionen für die Einwohner und immer mehr für internationale Gäste. Mit dem Leihfahrrad kann man auch einen Ausflug zum Seebad Pirita machen, wenn man nicht mit Bus oder Straßenbahn hinfahren möchte. Man befährt dann auf sieben Kilometern Länge gleich drei hier sich vereinende Europaradwege, u. a. der, der von Lissabon nach St. Petersburg führt und jener, der sich von Athen nach Stockholm erstreckt. Pirita bietet verstreut einige hochrangige Sehenswürdigkeiten, aber auch Ruhe am schönen Sandstrand für jene, die sich vom Großstadttrubel mal für einen Nachmittag erholen möchten.

Berühmt ist Tallinn für die gut erhaltene Stadtmauer mit den vielen Türmen. Die 10-km-Läufer können sich zudem über Folkloregruppen freuen

Was in diesem Rahmen nur angedeutet werden kann, ist, dass Tallinn allein schon eine Reise wert ist. Für Läufer zudem aus sportlichen Gründen noch viel mehr. Das haben auch deutsche Marathonreiseveranstalter schon vor Jahren erkannt, denn gleich mehrere davon bieten Gruppenreisen in die estnische Hauptstadt an - selbstverständlich mit Beiprogramm. Sehr gut lässt sich aber auch eine individuelle Planung für Einzelne oder eine Vereinsgruppe durchführen, denn sehr günstige Flüge lassen sich von vielen deutschen Flughäfen buchen, die Flugzeit dauert unter zwei Stunden, Hotels stehen in Tallinn sehr viele zu Verfügung und die Wege dort, auch bezüglich der Wettkämpfe, sind sehr kurz. Deutlich über 200 deutsche Teilnehmer zeugen davon, dass Tallinn für sie ein Lieblingsort ist.

Vom Flughafen in die Innenstadt kommt man mit der Straßenbahn in wenigen Minuten, denn die liegt nur vier Kilometer entfernt. Günstig für deutsche Läufer ist auch, dass die Veranstalter-Homepage nicht nur in englischer, sondern auch deutscher Sprache verfügbar ist, dass viele Esten zumindest etwas Deutsch, aber allemal hervorragend Englisch sprechen und die Stadt über eine vorbildliche touristische Infrastruktur verfügt. So können deutschsprachige Stadtführungen leicht gebucht werden, zuweilen sogar kostenfrei.

Der Tallinn Marathon ist 31 Jahre alt und startet schon am Donnerstag mit der Startnummernausgabe am Freiheitsplatz. Am Freiheitsplatz startet auch am Freitag das erste Rennen: der Fünfer mit fast 4000 Teilnehmern. Das Besondere: man darf nicht älter als 29 Jahre sein, um mitmachen zu dürfen Flotte Zeiten erreichten die Sieger des Fünfers: Olavi Allase (14:54min) und Laura Maasik (17:34min)

Viel und schnell (5km)

Sportlich gesehen nimmt der Tallinn Marathon schon am Freitagabend um 19 Uhr richtig Fahrt auf, wenn Tausende von Läufern und Zuschauern sich aufmachen zum Freiheitsplatz, wo der 5-km-Lauf (offiziell: We run TLN 5) auf einem Altstadtkurs angeschossen wird. Da sich die Rennen in Tallinn über drei Tage erstrecken (freitags 5km, samstags 10 km, sonntags HM und M) besteht für die Teilnehmer die Möglichkeit, gleich drei Mal zu starten - theoretisch jedenfalls. Denn als der Laufreporter sich für den Fünfer nachmelden wollte und schon alles in den Computer gehackt hatte, wurde ihm ein "Geht nicht" beschieden. Er sei zu alt. Hintergrund: der Fünfer ist nur ausgeschrieben für Läuferinnen und Läufer von 13 bis unter dreißig Jahren. Dass unter den vielen und schnellen Läufern später einige zu entdecken waren, die gut und gerne in seinem Alter waren, ließ ihn fragen, wie die ihre wahren Lenze hatten verbergen können ...

Ob die Ananas das zuschauergesäumte Ziel ohne Fall erreicht hat, ist nicht bekannt geworden

Im unisono schwarzen Trikot machten sich knapp 4000 Läuferinnen und Läufer auf die kopfsteinpflasterlastige und leicht hügelige, aber auch vermessenen Strecke von fünf Kilometern. Bei günstigen Bedingungen gewannen mit Olavi Allase und Laura Maasik zwei Einheimische in guten Zeiten von 14:55min und 17:36min. Von den deutschen Startern waren Günther Vogel aus Altötting und die Laufbloggerin Marina Andresen aus München die flottesten.

Die nächste Laufperformance nach dem Fünfer wird am Samstagmorgen von rund 3000 Kindern und Schülern in etwa zehn Rennen abgeliefert. Die jüngsten unter ihnen, zuweilen kaum mehr als 12 Monate alt, werden elterlich tapfer getragen Start des Zehners, der mit 8500 Teilnehmern das größte Rennen ist

Schön und flach (10km)

Ganz fraglos stellt der Zehner in Tallinn für alle jene eine geglückte Alternative dar, die sich am Sonntag keiner der langen Strecken widmen wollen. Gestartet wird er um 17 Uhr am Samstag am Freiheitsplatz, endet aber, im Gegensatz zum Fünfer, nicht dort, sondern am mittelalterlichen Tor zur Altstadt. Zusammen mit rund 1300 Walkern und den Gruppen, die an der Militärmeisterschaft teilnehmen, sowie solchen, die keine Zeitwertung möchten, beläuft sich die Zahl der Anmeldung auf knapp 9000, das größte Feld überhaupt. Diese große Masse wird spielerisch und ohne Wellenstarts problemlos bewältigt, denn die Straßen sind breit genug, sie aufzunehmen. Trotz einiger Schauer an mehreren Tagen der Reise können die Witterungsverhältnisse als läuferfreundlich bezeichnet werden. Auch am Tag des Zehners. Mit 18 Grad und vollkommener Windstille hatte die Stadt am finnischen Meerbusen, nur 50 km von Helsinki entfernt, Glück. Entsprechend fröhlich war die Stimmung in der Läuferschaft.

Die einen laufen nach rechts (Marathonis), die anderen nach links (10km), wie es der Streckenplan vorsieht. Dass die Läufer den Straßenpfeilen zu folgen scheinen, ist dabei nichts als Zufall

Die schöne und flache Strecke führt zunächst leicht abwärts Richtung Ziel und schlägt dann einen großen Bogen um die Stadtteile Kalamaja und Karjamaa, zunächst nahe der Schienen und des Bahnhofs, später direkt an der Ostsee und dem Hafenareal. Historische Holzhäuser liegen auf dem Weg, Villenviertel und Bootshäuser. Bei km acht etwa durchläuft man eine Industriehalle mit Musikbeschallung und Lichteffekten, bevor es auf Kopfsteinpflaster auf der zuschauergesäumten Geraden zum Ziel und zu den schönen Medaillen geht.

Breite Straßen und flaches Profil lassen auch bei einer so großen Zahl von Aktiven keine Staus aufkommen

Wird der Fünfer sportlich von den Organisatoren nicht so ernst genommen, betonen sie den Stellenwert des Zehners auch dadurch, dass die Favoriten auf einem Vorab-Papier vorgestellt werden. Das Niveau war auch dieses Jahr ordentlich, an die Streckenrekorde von David Kogei, dem Kenianer (29:02min), und der Weißrussin Jelena Prokopcuka (33:18min) war nicht heranzukommen. Gewonnen haben der Ukrainer Vasyl Koval in 30:10min und die Estin Liina Tsernov in 34:20min. Schnellste der vielen deutschen Teilnehmer waren Yannik Eder aus Bayern in 41:08min und Doppelstarterin Marina Andresen (54:19min), die, gekleidet in Flügel- und Flatterkostüm, Spaß hatte. Die 25-Jährige hatte schon beim Hamburg Marathon für Aufmerksamkeit gesorgt, als sie im Bikini die Königsdistanz bewältigte und Spenden sammelte.

Der Hauptlauftag ist der Sonntag. Um 9 Uhr startet der Marathon, um 10:15 Uhr der Halbe, zusammen knapp 7000 Aktive

Voll- und Halbmarathon

Eine riesige Diskrepanz, wie sie in Deutschland bezüglich der Teilnehmerzahlen besteht, wenn Halb- und Vollmarathon zum Programm gehören, war in Tallinn nicht zu beobachten. 2160 Marathonis konnten ihr Rennen finishen, 3388 den Halben. Mit der Zahl der Marathonis läge Tallinn im deutschen Ranking irgendwo auf Platz sieben oder acht. Der Frauenanteil im Hauptrennen betrug dieses Jahr gut 23 Prozent, im Halbmarathon über 40 Prozent.

Die beiden Rennen werden in einem Abstand von 75 Minuten angeschossen. Um neun Uhr gehört den Marathonis die volle Aufmerksamkeit, um 10:15 Uhr den Halben. Diese Zeitdisposition zieht nach sich, dass sich die Felder später vermischen, dann ab km 27 treffen die Marathonis wieder auf die Halben und laufen die letzten 15 km auf der gleichen Strecke zum Ziel. Nicht ungewöhnlich ist dann, dass die schnellsten aus beiden Läufen zur gleichen Zeit dort eintreffen und für die Zuschauer nicht ersichtlich ist, wer den halben und wer den vollen Marathon hinter sich gebracht hat. Denn die Startnummern bieten kein Unterscheidungsmerkmal. Da zudem alle Nummern zweimal vergeben wurden, kann es passieren, dass plötzlich zwei kenianische Läufer mit der gleichen Startnummer über die Zielgerade sausen.

Gegen Ende hin vermischen sich das HM- und das Marathonfeld. Da die Startnummer gleich designt sind und die Nummern - etwa die 3 - doppelt vergeben ist, kann man nicht wissen, in welchem Rennen der einzelne unterwegs ist. Das hohe Hotel im Hintergrund ist das Athletenquartier, das im obersten Stock ein Museum des sowjetischen Geheimdienstes KGB beherbergt

Marathonis haben es an anderer Stelle auch nicht leicht, dort nämlich, wo sie auf das langgezogene Feld der Halben treffen, die an dieser Stelle viel langsamer sind als die flotten Marathonis. Die einen haben schon 27 km gelaufen, die anderen erst 6. Nun beginnt für die Marathonläufer, darunter die schnellsten Frauen, der mühsame Schlängelweg durch das Halbmarathonfeld. Die einen haben Glück, weil sie vom Fahrrad geführt werden, die meisten müssen sich den Weg aber freirufen. Denn wir befinden uns hier an einer zwar sehr schönen, strategisch aber neuralgischen Stelle, wo in einem Park auf schmalen Fahrradwegen auf einer Länge von vier Kilometern hin und her gelaufen wird (wie auf einigen der Fotos zu sehen ist).

Insgesamt handelt es sich bei den Strecken mehr um Landschafts- als um Cityläufe, denn man ist viel im Grünen oder in der Nähe des Strandes. Die Altstadt wird dabei vollkommen gemieden, denn das würde Zeit und Kraft kosten.

Die weibliche und männliche Spitze im Halbmarathon kurz nach dem Start

Drei und eins

Von vier Möglichkeiten, neue Streckenrekorde aufzustellen, wurden drei genutzt. Die Frauen-Marathon-Bestzeit fiel ebenso wie beide HM-Rekorde. Im HM-Männerrennen waren unter den Top ten acht verschiedene Nationalitäten vertreten, vorne, wie nicht anders zu erwarten, ein Kenianer. Evans Cheruiyot gewann in der starken Zeit von 1:00:29h vor dem Israeli Maru Teferi (1:00:52h) und einem Mann aus Burundi, Olivier Irabaruta (1:02:12h). Der alte Streckenrekord hatte bei 1:03:23h gestanden, aufgestellt 2000 vom Esten Pavel Loskutov. Bei den Frauen konnte Janet Gichumbi aus Kenia die alte Marke der Weißrussin Jelena Prokopcuka (1:12:28h) mit 1:10:19h deutlich auslöschen. Hinter der Äthiopierin Addisalem Tegegn (1:12:17h) konnte die Belgierin Nina Lauwaert in 1:12:23h einen guten dritten Platz erreichen und auch noch unter dem alten Streckenrekord bleiben.

Im Trikot von RunCzech läuft der Kenianer Evans Cheruiyot im HM in Streckenrekordzeit zum Sieg (1:00:29h) Bester Este wird Roman Fosti (orangenes Trikot) in einer Zeit von knapp 65 Minuten

Eigentlich wollte Lauwaert, wie sie in der Pre-Pressekonferenz verlauten ließ, im Bereich ihrer Bestzeit von 1:11h Stunden bleiben. Sie sah den Tallinn Halbmarathon als Generalprobe für den Marathon in Berlin an, wo sie die Olympianorm von 2:29h knacken will. Sie habe zuvor schon am Riga Marathon teilgenommen, sagte die frohgelaunte Läuferin und habe gemerkt, dass ihr die Region liege. Daher auch der Start in Tallinn. Die schnellste Deutsche war Claire Petit von den Adidasrunnern Hamburg in 1:43:17h sowie John Volkenandt. Der 25-Jährige kam gleich hinter der Belgierin Lauwaert als Gesamt-19. ins Ziel und brauchte 1:13:03h.

Einziger Sieger ohne Streckenrekord war der kenianische Marathonmann Josphat Leting Aus Kenia kommen die ersten sechs Männer im Marathon. Auch der Zweite Bernard Cheruiyot Sang. Zufall ist, dass der Mann mit der Nummer 2 hier nur noch 2 km bis zum Ziel hat. Die ersten und letzten 2 km sind identisch, werden nur umgekehrt gelaufen Rang 3 für Joseph Kyengo Munywoki

Das Marathonrennen der Männer verlief unspektakulär. Sechs gekaufte Kenianer belegten die ersten sechs Plätze. Josphat Leting war von ihnen in mäßigen 2:12:42h der schnellste. Das ist zwar eine andere Hausnummer als 2018, als der Lokalmatador Roman Fosti in 2:24h Sieg und Meisterschaft davontrug, aber auch weit entfernt vom Streckenrekord des Kenianers Kiprotich Kiriu aus 2017 (2:09:22h).

Mit neuem Streckenrekord gewinnt die Kenianerin Janet Ruguru Gichumbi den HM (1:10:19h) ... ... vor der Äthiopierin Addisalem Belay Tegegn und der ... ... Belgierin Nina Lauwaert, die in Berlin die Olympianorm im Marathon (2:29h) schaffen will. Für sie war Tallinn reine Vorbereitung darauf

Auch bei den Frauen belegten Kenianerinnen die ersten vier Ränge. Eng wurde es beim Kampf um den Sieg. Da konnte sich zuletzt Pamela Rotich in 2:32:16h durchsetzen gegen Rebecca Korir (2:32:25h), womit beide unter der alten Streckenbestzeit der Äthiopierin Alemu Balch (2:34:14h) blieben. Von den deutschen Teilnehmern kam Carmen Birkle aus Freiburg in etwas mehr als vier Stunden auf Rang 162. Der schnellste Mann war Maximilian Walter von den Adidasrunnern in 2:54:50h und Rang 62.

Kurz vor dem Ziel

Abspann und Fazit

Schöne Stadt, tolle Leute, prima Marathon, so könnte man ein pointiertes kurzes Fazit ziehen über den 31. Marathon von Tallinn. Die Organisatoren werden wohl ihr Bronzelabel nach dieser mustergültigen Veranstaltung erhalten, bei der keinerlei strukturellen oder thematischen Probleme zu bemerken waren. Ein ambitioniertes Team sorgt für größtmögliche Professionalität und im Gesamten für eine Wohlfühloase der Läufer.

Die letzten hundert Meter verlaufen über Kopfsteinpflaster ... designet... damit das Ziel genau durch das mittelalterliche Stadttor führt
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Und als Besucher, da kann man kaum etwas falsch machen, außer: Man soll die Esten nicht Balten nennen, denn das Nationalbewusstsein ist groß, nicht erst seit die Republik 2018 hundert Jahre alt wurde. Und man soll sich nicht laut die Nase putzen oder Manieren einer Bussy-Bussy-Gesellschaft praktizieren. Das mögen die Leute dort nicht, und eine zu schnelle Vertrautheit in den zwischenmenschlichen Gesten schon gar nicht.

Und lernen kann man auch noch was, nämlich dass die Zählung von Stockwerken nicht - wie bei uns - mit null oder gar minus eins anfängt, sondern immer mit "1". Das sollte nicht nur in E-stonia logisch sein.

Michael Schardt

Bericht von Michael Schardt
Fotos von Peter Strauß & Michael Schardt

Ergebnisse www.jooks.ee/de/tallinn-marathon

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Peter Strauß

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