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Standard Chartered Singapore Marathon (4.12.11)Im tropischen Winter der "fine city" |
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von Ralf Klink
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Ein Kleinstaat, der zu den am dichtesten bevölkerten überhaupt gehört. Mit gleich vier offiziellen Sprachen und drei vollkommen verschiedenen Schriften sowie einer enormen kulturellen und religiösen Vielfalt. Welches Land ist damit gemeint?
Ein Staat, in dem man einen der größten, wichtigsten und verkehrsreichsten Häfen und eines der bedeutendsten Finanzzentren weltweit findet. Noch immer keine Ahnung, wovon hier die Rede ist?
Erst wenn man erwähnt, dass dort für Dinge wie Kaugummikauen, Fallenlassen von Zigarettenkippen, Spucken auf die Straße oder auch Nichtbetätigen der Toilettenspülung hohe Geldstrafen fällig werden, fällt oft der Groschen. Die Rede ist von Singapur, jener Stadtrepublik in der südöstlichsten Ecke des asiatischen Kontinents, die als einer der sogenannten "Tigerstaaten" innerhalb nicht einmal fünfzig Jahren seit ihrer Unabhängigkeit vom Entwicklungs- zum Hochtechnologieland geworden ist.
Doch in Europa und Nordamerika ist die Fünf-Millionen-Metropole eben trotzdem hauptsächlich seiner drakonischen Strafen für diese kleinsten Vergehen bekannt. Selbstironisch werden dann auch in der Stadt zuhauf Souvenirs mit dem Aufdruck "Singapore is a fine city" angeboten, die geschickt mit der doppelten Bedeutung des englischen Wörtchens "fine" spielen. Denn neben "fein", "großartig", "herrlich" kann man es auch noch mit "Geldstrafe", "Bußgeld" ins Deutsche übersetzen.
Längst ist daraus so etwas wie ein inoffizielles Stadtmotto geworden. Und selbst wenn den Stadtoberen dieser Spruch vermutlich nicht wirklich gefällt und die Tourismusorganisation lieber auf den Werbeslogan "I love SG" setzt, haben sie - weil sich der Satz mit der "fine city" halt so wunderbar doppelt interpretieren lässt - kaum eine Möglichkeit, etwas gegen seine Verbreitung zu tun.
Tatsächlich sieht man überall in der Stadt zu allem Möglichen die jeweiligen Verbotsschilder - oft auch gleich noch mit dem bei Nichteinhaltung zu zahlenden Betrag versehen. Aber Singapur einzig und allein auf seinen drastischen Strafkatalog zu reduzieren, wird dieser Metropole eben trotzdem nicht im Geringsten gerecht.
Bezogen auf Einwohnerzahl, Bedeutung und Wirtschaftskraft bewegt man sich längst auf Weltstadtniveau, In Europa kaum wahrgenommen, landet Singapur in dieser Hinsicht inzwischen in praktisch allen der zu diesem Thema veröffentlichten Ranglisten mit schöner Regelmäßigkeit unter den ersten Zehn. Und nicht selten sortiert man Singapur dabei sogar direkt hinter New York, London, Tokio und Paris ein.
Wie fast nirgendwo sonst in Asien begegnen sich im Stadtstaat zudem verschiedenste, aus vollkommen unterschiedlichen Gegenden des Kontinents stammende Kulturen, Religionen und Sprachen auf engstem Raum. Zusammen mit dem kolonialen Erbe des einstigen britischen Empire ergibt sich ohnehin eine faszinierende Mischung, die durch das an vielen Stellen direkte Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne nur noch verstärkt wird.
Da ducken sich die zweistöckige Wohn- und Lagerhäuser eines mehr als hundert Jahre alten Viertels dann durchaus auch einmal direkt unterhalb der futuristischen Glaspaläste des boomenden Wirtschaftsstandortes Singapur. Da finden sich manchmal nur einen Straßenblock von riesigen, in westlichem Muster gestalteten Einkaufszentren noch kleine Krämerläden, in denen man auf engstem Raum allen möglichen Krimskrams erwerben kann. Auch das kulturelle Angebot der Metropole kann sich durchaus sehen lassen.
Mit dem New Yorker Broadway kann man natürlich nicht mithalten, doch zunehmend wird die Theater-Auswahl immer bunter. Und insbesondere die Museumslandschaft ist ohnehin ziemlich vielfältig. Überall spiegelt sich dabei in der Vermischung von asiatischen und europäischen Einflüssen die Rolle der Stadt als Brücke zwischen Ost und West wider.
Es ist ein Ort, in dem man als Europäer gleich mehrere asiatische Kulturen in Augenschein nehmen kann, ohne sich dabei völlig fremd zu fühlen. Dass Englisch eine der vier offiziellen Landessprachen ist und von den meisten Bewohnern dann auch mehr oder weniger gut beherrscht wird, dass praktisch alle Aufschriften auf Englisch zu lesen sind, erleichtert die Sache zusätzlich. Ohne Orientierungsprobleme kann man die Vielfalt dieser Stadt auf eigene Faust erkunden. Und zur Einreise benötigt man nichts als einen gültigen Pass. Singapur ist Asien für Einsteiger.
Dennoch hat sich Singapur als Reiseziel noch keinen wirklich überragenden Namen gemacht. Trotz inzwischen immerhin mehr als zehn Millionen Besuchern pro Jahr kann man dabei mit den schon genannten Metropolen New York, London, Paris und Tokio oder auch Rom nicht im Geringsten mithalten. Diese Städte spielen mit drei- bis fünffachen Zahlenwerten touristisch weiterhin in einer völlig anderen Liga.
Natürlich spielt dabei die geographische Lage Singapurs eine entscheidende Rolle. Denn bei der Suche nach dem Stadtstaat wird man auf der Karte erst am entferntesten Zipfel Südostasiens nur wenig nördlich des Äquators fündig. Von Europa aus muss man schon einen zehn- bis zwölfstündigen Flug über sich ergehen lassen, um überhaupt dorthin zu gelangen. Direkt um die Ecke ist das also ganz sicher nicht.
Wo die Malaiische Halbinsel - und damit das asiatische Festland - endet, dehnt sich direkt vor der Küste ein etwa vierzig Kilometer langes und fünfundzwanzig Kilometer breites Eiland aus, dem man ungefähr die Form einer Raute zugestehen könnte. Inzwischen wird sie meist nur noch als "Singapore Island" bezeichnet. Doch die Malaien nannten sie ursprünglich "Pulau Ujong", was ungefähr "Insel am Ende der Halbinsel" bedeutet. Sie bildet den größten Teil des Territoriums von Singapur, das ansonsten nur noch einige Dutzend vorgelagerte, kleine Inselchen umfasst.
Zwischen dem Stadtstaat, der damit gleichzeitig natürlich auch ein Inselstaat ist, und dem Nachbarland Malaysia erstreckt sich die an den schmalsten Stellen kaum eine Kilometer breite Meerenge der Straits of Johor. Bereits seit den Zwanzigerjahren führt allerdings ein künstlicher Damm über sie hinweg und stellt so eine feste Verbindung her. Eine Brücke, der sogenannte "Second Link" quert einige Kilometer entfernt seit 1998 ebenfalls die Johorstraße.
Keine zwanzig Kilometer südlich von Singapur beginnt mit den Riau-Inseln bereits die Inselwelt Indonesiens. Noch ein wenig weiter im Westen und Süden schiebt sich das langstreckte Sumatra dann wie ein Riegel zwischen das Südchinesische Meer und den Indischen Ozean. Zusammen mit der gegenüber liegenden, parallel verlaufenden Malaiischen Halbinsel bildet die Insel die Straße von Malakka.
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Am Marina Square gruppieren sich mehrere große Hotels um ein beinahe noch größeres Einkaufszentrum | Der Merlion, ein Mischwesen aus Löwe und Fisch ist das Wahrzeichen der Stadt Singapur |
Die südöstliche Einfahrt dieser zu den am stärksten befahrenen Seewegen der Welt gehörenden Meeresstraße befindet sich genau vor Singapur. Praktisch der gesamte Schiffsverkehr zwischen der asiatischen Ostküste auf der einen sowie Europa, Afrika, der Arabischen Halbinsel und dem Indischen Subkontinent auf der anderen Seite läuft also direkt am Stadtstaat vorbei. Da kann es eigentlich kaum noch verwundern, dass der Hafen Singapurs einer der wichtigsten Umschlagplätze weltweit ist.
Ähnlich günstig gelegen ist die Stadt für den Flugverkehr. Etwa auf halben Weg zwischen Europa und Australien oder Neuseeland hat sich der Changi Airport im letzten Jahrzehnt dann auch zu einem der wichtigsten internationalen Drehkreuze entwickelt. Ein großer Prozentsatz der Touristen, die auf dem Weg nach Ozeanien sind, steigt jedenfalls in Singapur um.
Und nicht wenige Besucher der Metropole - insbesondere die europäischen unter ihnen - machen in Wahrheit nur einen kurzen Zwischenstopp auf dem Weg zum eigentlichen Ziel der Urlaubsreise. Rund die Hälfte aller Touristen bleibt nicht länger als drei Tage. Allerdings gibt man sich im Stadtstaat viel Mühe, das zu ändern, versucht schon bestehende Feste aufzuwerten, neue Ereignisse zu kreieren und ständig zusätzliche Attraktionen zu schaffen.
Selbstverständlich gehört zu einer Metropole dieser Größenordnung auch ein bedeutender Marathon. Und seit einigen Jahren hat man den tatsächlich. Zwar wird in Singapur bereits seit Anfang der Achtziger über diese Distanz gelaufen. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist daraus eine echte Megaveranstaltung geworden. Seit dem Jahrtausendwechsel haben sich die Teilnehmerzahlen nämlich mehr als verzehnfacht.
Mit nun mehr als fünfzehntausend Marathonis gehört man inzwischen ohne Zweifel zu den zwanzig größten Rennen in dieser Kategorie überhaupt. Doch noch einmal genauso viele Starter beim Halbmarathon, zwölftausend beim Zehn-Kilometer-Lauf und dazu außerdem siebenhundert Ekiden-Staffeln mit jeweils sechs Mitgliedern lassen die Gesamtwerte beinahe schon ins Gigantische wachsen. Inklusive des Hobbylaufes über fünf Kilometer und mehreren Schülerläufen werden jedenfalls mehr als sechzigtausend Startnummern verteilt.
Dass davon hierzulande eher wenig bekannt ist und dem Marathon von Singapur kaum Aufmerksamkeit zu Teil wird, hat sicherlich mit der Entfernung zu tun, aber vermutlich auch damit, dass die dabei an der Spitze erzielten Ergebnisse der reinen Papierform nach kaum internationalen Ansprüchen genügen. Streckenrekorde von 2:11:25 und 2:31:55 reißen gerade angesichts der in letzter Zeit zu verzeichnenden Leistungsexplosion nicht unbedingt vom Hocker.
Doch wurden die zuletzt fast schon in Serie aufgestellten Bestmarken der anderen Großmarathons eben in den Frühjahrs- und Herbstmonaten der gemäßigten Zonen bei läuferfreundlichen fünf bis fünfzehn Grad erzielt. Und solche Temperaturen kennt man im tropischen Stadtstaat eigentlich nur vom Hörensagen.
Während anderswo die Klimadiagramme zwischen den verschiedenen Jahreszeiten ganz erhebliche Schwankungen zeigen, bewegen sich die Ausschläge für Singapur im Bereich weniger Quecksilberstriche. Fünfundzwanzig Grad sind es tagsüber eigentlich immer, dreißig werden es meistens. Und selbst nachts lassen sich nur in ganz seltenen Ausnahmefällen weniger als zwanzig Einheiten auf der Celsiusskala registrieren.
Zusammen mit einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit - achtzig bis neunzig Prozent sind das ganze Jahr über völlig normal - ergeben sich Bedingungen, die für eine sportliche Betätigung und insbesondere fürs Langstreckenlaufen alles andere als geeignet erscheinen. Man läuft trotzdem Marathon in Singapur. Und man hat sich mit dem Dezember dafür sogar tatsächlich den statistisch "kühlsten" Monat ausgesucht. Viel heißen will das natürlich nicht. Denn ob einunddreißig oder neunundzwanzig Grad Durchschnittstemperatur macht eigentlich kaum einen Unterschied.
Zumal außerdem genau die Monate, in denen weiter nördlich der Winter Einzug hält, in dieser Region besonders niederschlagsreich - und dadurch meist noch schwüler - ausfallen. Doch auch das stellt nur eine kleine Abweichung vom Jahresmittel dar. Mit einem tropischen Guss muss man ohnehin immer rechnen. Drei- bis viermal so viel Wasser wie in Mitteleuropa geht jährlich über der Stadt nieder. Es ist ziemlich exakt die Menge, die im norwegischen Bergen fällt. Und dieses gilt als das absolute Regenloch des europäischen Kontinents.
Allerdings zählt man umgekehrt in Singapur auch mindestens genauso viele Sonnenstunden wie in den meisten hiesigen Orten. Selbst während der eher feuchten Monate Oktober bis Januar steht das Zentralgestirn im Schnitt mehrere Stunden am Himmel. So eignet sich die südostasiatische Metropole - und damit auch ihr Marathon - dann auch zu dieser Jahreszeit durchaus als Reiseziel für europäische Läufer auf der Flucht vor der Winterdepression.
Ein wirkliches Schnäppchen ist ein solcher Trip natürlich nicht, schon alleine wegen des langen - und damit auch nicht unbedingt billigen - Fluges. Und das Preisniveau in Singapur liegt bei vielen Dingen nur noch wenig unterhalb des europäischen. Im vor einigen Jahren noch als extrem günstiges Einkaufsparadies gerühmten Stadtstaat geht es inzwischen doch ein wenig teurer zu.
Zumindest die Startgebühren für den Marathon bleiben mit fünfundsiebzig bis fünfundachtzig Singapur-Dollar - umgerechnet etwa fünfundvierzig und fünfzig Euro - in einem für eine solche Großveranstaltung eher niedrigen Rahmen. Zumal die Gegenleistungen durchaus beachtlich sind. Denn neben dem zusammen mit der Startnummer an alle Teilnehmer ausgegeben Laufhemd und der obligatorischen Medaille erhalten Marathonis im Ziel noch ein weiteres T-Shirt.
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Dutzende von hochmodernen Einkaufszentren laden nicht nur in der Vorweihnachtszeit zum Ladenbummel ein | Überall in der Stadt begegnet man bunt bemalten Elefanten aus einem Benefiz-Kunstprojekt |
Allerdings kommen nur die Langstreckler in den Genuss dieses zusätzlichen Geschenkes. Beim immerhin auch fünfundsechzig Dollar - also beinahe vierzig Euro - kostenden Halbmarathon und beim Zehner, für den stolze fünfundfünfzig singapurische Währungseinheiten zu berappen sind, bleibt es bei dem einen, bereits im Vorfeld verteilten Trikot.
Dass dieses in hellblau und grün gehalten ist, hat weder etwas mit Zufall noch mit der aktuellen Mode zu tun. Grund dafür ist vielmehr die als Hauptsponsor der Veranstaltung auftretende Standard Chartered Bank, die genau die gleichen Farben in ihrem Firmensymbol führt. Dieses zwar eigentlich britische, aber trotzdem hauptsächlich in Asien und Afrika tätige Geldinstitut gehört eindeutig zu den Unternehmen, denen man im Laufbereich am häufigsten begegnen kann.
Nicht nur in Singapur fördert man nämlich den Marathon mit erheblichen Beträgen. Auch in Hongkong und Dubai, im thailändischen Bangkok und im malaysischen Kuala Lumpur, in Nairobi im Läuferland Kenia sowie in Mumbai, jener indischen Millionenstadt, die man früher als Bombay in der Schule kennen gelernt hat, tritt die Bank als Namensgeber für die jeweiligen Veranstaltungen auf.
In einer Reihe mit all diesen Metropolen wirken Jersey und die Falklandinseln zwar ein wenig verloren und - obwohl gerade Jersey als Kanalinsel doch besonders nah ist - irgendwie recht exotisch. Und mit nicht einmal fünfzig Marathonis erscheint das Rennen im falkländischen Stanley verglichen mit der Veranstaltung von Singapur zudem absolut winzig. Doch auch dort ist die Standard Chartered Bank jeweils als Sponsor dabei.
Neben den Lauftrikots ist - wie bei Rennen dieser Größe international längst üblich - selbstverständlich auch das Logo der Veranstaltung in den Farben des Geldgebers gehalten. In Singapur zeigt es unter anderem eine der neuesten Sehenswürdigkeiten der Stadt, das Marina Bay Sands Resort. Der riesige Komplex stellt eine Mischung aus Hotel, Einkaufspalast, Spielcasino, Veranstaltungs- und Konferenzzentrum dar.
Aber keineswegs seine enormen Ausmaße haben dieses Bauwerk zu einer absoluten Touristenattraktion gemacht. Es ist eine futuristische und absolut unverwechselbare Architektur, durch die Marina Bay Sands schon wenige Monate nach seiner Eröffnung zu einem neuen Wahrzeichen Singapurs geworden ist.
Das Shopping-Center ist zwar extrem großräumig und spektakulär angelegt und besitzt im Untergeschoss sogar einen kleinen Kanal, auf dem man mit dem Boot fast wie in Venedig unter einigen Brücken hindurch fahren kann. Das ist zwar für sich alleine schon recht faszinierend, aber genauso wenig einzigartig wie mehrere ungewöhnlich geformte, in die namensgebende Wasserfläche der Marina Bay hinaus gebaute Glas-Pavillons.
Im echten Wortsinne der Mund steht dem Singapur-Besucher vielmehr wegen der
unterirdisch mit dem Einkaufszentrum verbundenen Hoteltürme offen. Die
drei mehr als hundertachtzig Meter hohen Wolkenkratzer bieten auf ihren jeweils
fünfundfünfzig Stockwerken zahlungskräftigen Gästen insgesamt
rund zweieinhalbtausend Zimmer.
Auf ihrer schmaleren Seite verjüngen sie sich deutlich nach oben, während sie dagegen auf den über die Bucht hinweg sichtbaren Hauptfronten eher massiv wirken. Aus jedem Blickwinkel bekommen die zudem in einem ganz leichten Bogen zueinander stehenden Gebäude dadurch ein vollkommen anderes Aussehen.
Das Sensationellste ist allerdings die Plattform, die alle drei Türme oben abschließt und in luftiger Höhe wieder miteinander verbindet. An einem Ende steht sie sogar weit über und schwebt so regelrecht im freien Raum. In manchen Momenten hat man den Eindruck, fast zweihundert Meter über der Stadt sei da von einer gigantischen Welle irgendwie ein Schiff angeschwemmt worden. Doch man kann sich auch des Gefühls nicht erwehren, so etwas schon einmal in einen Science-Fiction-Film gesehen zu haben. "Beam me up, Scotty".
Die über dreihundert Meter lange Dachterrasse, auf der sogar Bäume gepflanzt wurden, ist nicht nur den Hotelgästen vorbehalten, ein Teil davon ist auch der Öffentlichkeit zugänglich. Für nicht unbedingt bescheidene zwanzig Singapur-Dollar kann man sich vom sogenannten SkyPark einen der sicherlich besten Blicke über die Stadt sichern. Um diese Aussicht auch aus dem ebenfalls vorhandenen und sich beinahe über die halbe Länge erstreckenden Pool genießen zu dürfen, muss man allerdings dann doch weiter unten ein Zimmer angemietet haben.
Das boomende Wirtschaftszentrum Singapur ist wahrlich nicht arm an ungewöhnlichen modernen Bauten, doch Marina Bay Sands gehört nicht nur wegen seiner Höhe definitiv zu den herausragendsten unter ihnen. Und von den Teilnehmern am Marathon sowie seinen Nebenstrecken kommt niemand daran vorbei, denn die Startnummernausgabe befindet sich in einem der Ausstellungsräume im Kellergeschoss.
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Manchmal erinnert die futuristische Architektur Singapurs beinahe schon an Science Fiction Filme |
Um mehr als sechzigtausend davon an die Läuferschaft zu verteilen, benötigt es natürlich sowohl einiges an Platz als auch an Zeit. Und so beginnt man schon donnerstags mit der "Race Entry Pack Collection" oder kurz mit der "REPC". Denn auch in Singapur sind vermeintlich unglaublich wichtig klingende Abkürzungen ziemlich beliebt. Aus dem "Standard Chartered Singapore Marathon" wird da schnell auch einmal ein "SCSM".
Genauer gesagt ist am ersten Tag sogar eine "closed RECP" angesetzt, zu der man sich vorher anmelden muss, um dann in einem ganz bestimmten Zeitfenster an die Reihe zu kommen. Ob das wirklich schneller ist als die offene Ausgabe an den beiden Folgetagen, kann man allerdings durchaus in Frage stellen. Denn die dabei zu beobachtenden Abläufe sind ein recht beeindruckendes Beispiel für asiatisches Organisationsvermögen.
In einer fußballfeldgroßen Halle hat man auf einer der Längsseiten eine lange Reihe von Schaltern aufgebaut. Doch steuert man diese keineswegs direkt an. Schon direkt nach dem Eintreten werden die unterschiedlichen Distanzen nämlich an einem extra dafür aufgebauten Tor von einigen freundlichen Helfern auseinander sortiert und in mit zusätzlicher Kennzeichnung versehene Spuren geleitet.
Dahinter zieht sich quer durch den gesamten Raum ein Netz von hölzernen Absperrzäunen, das die Teilnehmer zu dem jeweils für sie zuständigen Bereich führt und die Warteschlangen gegebenenfalls auch in lange Zickzackreihen verlängern kann. Das gleiche System kennt man zum Beispiel auch von den Sicherheitskontrollen an Flughäfen.
In Singapur lässt sich ähnliches allerdings noch wesentlich häufiger
beobachten. So werden unter anderem an vielen Taxiständen die Wartenden
durch fest montierte Barrieren in eine eindeutig definierte Warteschlange kanalisiert.
Doch selbst dort, wo keine künstlich errichteten Hilfen für Ordnung
sorgen, läuft es in solchen Gelegenheiten im Stadtstaat meist ziemlich
geregelt ab. In bester Tradition der früheren britischen Kolonialherren
ist man es einfach gewohnt, sich ohne zu Drängeln hinten an einer Reihe
anzustellen.
Die Abholschalter, zu denen man nun langsam vorrückt, sind jeweils mit Zweier- oder Dreierteams meist jüngerer Singapurer besetzt. Und jedes von ihnen hat ein Täfelchen mit einer Nummer, die kurz hochgehalten wird, wenn die Position wieder frei geworden ist. Ein weiterer Helfer schickt dann den Teilnehmer an der Spitze der Anstehende genau dorthin.
Die Startnummer ist dabei völlig egal, denn diese werden genau wie die Trikots weiter hinten zentral gelagert. Durch die Zusammenarbeit von zwei oder drei Freiwilligen, von denen einer bereits im rückwärtigen Bereich wirbeln kann, während ein anderer noch die Formalitäten erledigt, hält man nach Vorlage seines Reisepasses - der ist bei Ausländern Pflicht - trotzdem innerhalb von maximal ein bis zwei Minuten den blauen Beutel mit allen Unterlagen in der Hand. Ein hoher Durchsatz ist so selbst bei großem Andrang eigentlich garantiert.
Wer den Blick über die lange Reihe der "Volunteers" hinter den Schalter wandern lässt, bekommt dabei auch einen guten Eindruck über die ethnische Vielfalt der Einwohnerschaft Singapurs, denn auch die Helferschar ist bunt gemischt. Obwohl die Stadt zwischen Malaysia und Indonesien liegt, sind dennoch mehr als zwei Drittel ihrer Bürger chinesische Abstammung. Etwa fünfzehn Prozent gelten als Malaien, zehn Prozent werden dem indischen Bevölkerungsteil zugerechnet.
Einen gewissen Beitrag liefern auch noch diejenigen, die sich in dieses Raster nur schwer einordnen lassen, zum Beispiel weil in ihrer Ahnengalerie neben Asiaten auch noch Europäer auftauchen oder auch weil ihre Eltern aus zwei verschiedenen der drei großen Gruppen stammen. Eine zunehmende Aufweichung der sozialen Grenzen sorgt dafür, dass dieser Wert tendenziell immer höher wird.
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Bei der bestens organisierten Starnummernausgabe kann man schon einmal den Einlauf durch den Zielbogen üben |
Doch selbst die vermeintlich so klar zu definierenden Einheiten der Chinesen, Malaien und Inder sind bei näherer Betrachtung alles andere als homogen. Am einfachsten ist die Sache noch bei den Malaien. Denn diese sind fast ausschließlich Moslems. Einige der jungen Damen hinter der Startnummernausgabe tragen dann auch unübersehbar ein Kopftuch - in der Regel selbstverständlich farblich auf das Helfer-T-Shirt abgestimmt.
Die überwiegende Zahl hat zudem Malaiisch - die Eigenbezeichnung lautet "Bahasa Melayu" - als Muttersprache. Allerdings werden ethnisch zwar verwandte, aber ursprünglich eine eigene Sprache besitzende Gruppen wie die Javaner oder die aus Celebes eingewanderten Bugis ebenfalls zur malaiischen Gemeinschaft gerechnet. Und sogar Bewohner mit arabischen Vorfahren werden ihr genau wie weitere moslemische Minderheiten der Einfachheit halber meist zugeschlagen.
Auch die Chinesen zerfallen ihrerseits wieder in verschiedene Untergruppen. Denn entgegen einer im fernen Europa weit verbreiteten Ansicht ist "Chinesisch" keineswegs eine einzige Sprache sondern eine ganze Sprachgruppe. Dominierend ist dabei - auch aufgrund von starken Bemühungen zur Vereinheitlichung - inzwischen zwar das in Nordchina beheimatete Mandarin, das in der Regel als "Hochchinesisch" gilt. Doch gibt es insbesondere im Süden des Riesenreiches noch etliche weitere Varianten.
Meist werden sie zwar nur als "Dialekte" bezeichnet. Aber aufgrund
ihrer deutlichen Abweichungen voneinander können durchaus auch als eigenständige
Sprachen gelten. Die Abgrenzung ist unter anderem deshalb schwierig, weil das
europäische Konzept, eine Sprache über eine eigene Schriftsprache
zu definieren, in diesem Fall nicht greift. Die chinesischen Schriftzeichen
bilden schließlich keine einzelnen Laute sondern jeweils ganze Begriffe
ab. Wie das dahinterstehende Wort dann jeweils gesprochen wird, sieht man ihnen
nicht an.
Da die Einwanderer in der Vergangenheit aus unterschiedlichsten chinesischen Regionen nach Singapur kamen, brachten sie natürlich auch mehrere Sprachen mit. Die größte Gruppe der Chinesen in der Stadt benutzte ursprünglich zum Beispiel Hokkien. Daneben waren - und sind weiterhin - auch noch Teochew, Hakka und Kantonesisch im Gebrauch.
Jedoch ist Mandarin als einzige eine der vier offiziellen Landessprachen von Singapur. Und die Behörden versuchen - unter anderem mit einer Kampagne "speak mandarin" - deren Gebrauch weiter zu forcieren. Zum einen um in das herrschende Sprachgewirr wenigstens ein bisschen Ordnung zu bringen, zum anderen aber auch weil man sich Vorteile in den Geschäftsbeziehungen auf dem wachsenden chinesischen Markt verspricht.
Wer genau hinsieht, erkennt - selbst wenn man eigentlich nicht das Geringste versteht - unter anderem auch, dass bei einigen Fernsehsendungen die Lippenbewegungen der Schauspieler nicht mit den dabei zu hörenden Lauten übereinstimmen. In Hongkong auf Kantonesisch gedrehte Seifenopern werden in Singapur aus genau diesem Grund nämlich fast immer in einer synchronisierten Mandarin-Version ausgestrahlt.
In den letzten Jahrzehnten ist der Anteil der Mandarin-Sprecher jedenfalls ständig gewachsen, Die "chinese dialects" sind insbesondere bei den Jüngeren auf dem Rückzug. Allerdings steigt gerade in der chinesisch stämmigen Bevölkerungsgruppe aber auch der Prozentsatz derjenigen, die zu Hause überhaupt keine der Chinesisch-Varianten benutzen sondern vielmehr Englisch als "first language" bevorzugen.
Nicht weniger uneinheitlich ist das Bild auch bezüglich der Religionszugehörigkeit. Neben dem Taoismus und Buddhismus, die sich gegenseitig beeinflussten und deshalb manchmal nur schwer voneinander abzugrenzen sind, hat auch das Christentum eine größere Bedeutung. Etwa ein Fünftel der Chinesen Singapurs bekennt sich zu diesem Glauben. Da ungefähr genauso viele sich bei Volkszählungen als Atheisten bezeichnen, ist keine Religion wirklich dominierend.
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Noch einige der alten Viertel, die man einzelnen Bevölkerungsgruppen zugeordnet hatte, wie Chinatown | und Little India sind in Singapur erhalten |
Als ob das bisher alles noch nicht kompliziert genug gewesen wäre, wird die Komplexität bei den "Indern" noch einmal übertroffen. Die stammen nämlich bei weitem nicht nur von Einwanderern aus dem heutigen Indien ab. Vielmehr werden in Singapur alle dazu gezählt, deren Vorfahren vom Indischen Subkontinent stammen, was also auch die Staaten Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka umfasst.
Und wenn schon die Aussage "in China spricht man Chinesisch" nicht wirklich korrekt ist, so ist der Satz "die Inder reden Indisch" dann nicht nur falsch sondern sogar vollkommen daneben. Zum einen gibt es eine Sprache dieses Namens nämlich überhaupt nicht, zum anderen haben wohl nur wenige andere Länder diesbezüglich eine ähnliche Vielfalt wie die Republik Indien. Denn weit über einhundert verschiedene Sprachen werden dort benutzt.
Und diese gehören zum Teil auch noch zu völlig verschiedenen Familien. So sind viele der nordindischen Sprachen zwar durchaus mit denen der germanischen, romanischen, slawischen und keltischen Gruppen im weit entfernten Europa verwandt, haben jedoch völlig andere Strukturen als die benachbarten Sprachen im Süden des Subkontinentes.
Gleich mehr als ein Dutzend davon haben die indischen Immigranten einst auch nach Singapur mitgebracht. Da die meisten der Zuwanderer allerdings aus Südindien stammten und zum Volk der Tamilen gehörten, ist Tamil die dominierende unter ihnen. Neben Englisch, Mandarin und Malaiisch hat sie als vierte Sprache einen offiziellen Status im Stadtstaat. Über die Hälfte der Inder in der Metropole benutzt sie täglich.
Doch außer jenem Tamil aus der drawidischen Familie sind in Singapur eben zum Beispiel auch noch die völlig anders gearteten indoeuropäischen Sprachen Punjabi, Hindi und Bengali im Gebrauch. Und wie bei den Chinesen bevorzugt ebenfalls ein Teil der Indischstämmigen inzwischen Englisch nicht nur als lingua franca, um sich im Beruf mit Kollegen aus den anderen Bevölkerungsgruppen zu verständigen, sondern auch zu Hause.
Eine knappe Mehrheit der Inder Singapurs bekennt sich zum Hinduismus, dessen strenges Kastenwesen zwar an Einfluss verloren hat, gelegentlich aber doch noch durch schimmert. Doch auch der Islam und das Christentum sind unter ihnen durchaus verbreitet. Dazu kommen noch ungefähr zehntausend Sikhs, die mit ihren typischen Turbanen gut zu erkennen sind und ziemlich auffallen.
Die Grenzen von Herkunft, Religion und Sprache verlaufen dabei keineswegs immer vollkommen deckungsgleich. Es sind ganz im Gegenteil beinahe beliebige Kombinationen denkbar. Und so sind die von Südindern abstammenden und Tamil sprechenden Hindus zwar die größte Untergruppe, aber keineswegs in der Überzahl.
Wie schon erwähnt, Singapur ist in manchen Dingen halt tatsächlich so etwas wie ein Asien im Kleinformat und bietet einen breiten - wenn vielleicht auch nicht wirklich repräsentativen - Querschnitt durch die verschiedenen Völker und Kulturen des Kontinents. Und in wohl kaum einer anderen Metropole sind alle großen Weltreligionen so präsent wie in Singapur.
Dass dieses Aufeinadertreffen zumindest vordergründig dennoch ziemlich harmonisch verläuft, ist zum einen in einer von Regierung und Behörden sorgsam gepflegten, aber auch energisch durchgesetzten religiösen Toleranz begründet. In vielerlei Hinsicht wird auf die jeweiligen Besonderheiten der unterschiedlichen Glaubensrichtungen Rücksicht genommen. Jede von ihnen leistet zum Beispiel auch einen Beitrag zum Feiertagskalender der Stadt.
Und an vielen der unzähligen Restaurants, Garküchen und Essstände - ganz egal welcher asiatischen Variante der Kochkunst sie sich auch verschrieben haben - hängen unübersehbare Schilder mit der Aufschrift "no pork, no lard". Dieses "kein Schweinefleisch, kein Schweinefett" ist zwar nicht von oben verordnet, denn natürlich bekommt man anderswo durchaus auch einmal Schwein auf den Teller, aber man nimmt eben trotzdem oft Rücksicht auf die moslemische Kundschaft.
Ein wenig hält es die Führung von Singapur jedenfalls wie der preußische König Friedrich II, bei dem "jeder nach seiner Façon selig werden" konnte, solange er das zu Hause tat und ansonsten die staatlichen Institutionen achtete. Und genau dort - nämlich im privaten Bereich - soll auch in der südostasiatischen Metropole die Religion gefälligst bleiben.
Denn die große Toleranz endet sofort, wenn der Glauben eine politische Dimension bekommt. In diesem Moment wird jeder Versuch der Einflussnahme ziemlich schnell unterbunden. Und den Aufbau einer eigenen politischen Bewegung lässt man schon gar nicht zu. Das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht zwischen den einzelnen Gruppen soll auf keinen Fall ins Wanken kommen.
Im formal zwar demokratischen, aber in manchen Aspekten doch ziemlich autoritär regierten Singapur gibt es jedenfalls keine Parteien mit religiöser oder ethnischer Ausrichtung. Und weder Islamismus - der bei den meist doch eher liberal eingestellten Moslems Südostasiens sowieso kaum Bedeutung hat - noch der in Indien verbreitete militante Hindu-Fundamentalismus bekommen ernsthaft einen Fuß auf den Boden.
Wenn auf dem Foto, das sämtliche schriftliche Unterlagen sowie die Internetseite
des Singapur Marathons ziert, eine ziemlich bunt gemischte und in vielerlei
Hinsicht ausgewogene Läufergruppe zu sehen ist, mag man dann auch nicht
so ganz an ein Werk von Fortuna glauben. Die Zusammensetzung ist einfach so
"zufällig", dass es sich schon aufgrund der Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung
um nichts anderes als eine sorgsam durchgeplante Choreographie handeln kann.
Auch in der Stadt begegnet man dem Bild immer wieder. Es grüßt von Plakaten, es flattert von Laternenmasten. Sogar eine U-Bahn-Station hat man vollständig in Marathon-Optik dekoriert. Und im Fernsehen flimmert regelmäßig ein Werbespot über den anstehenden Lauf. Man bemüht sich sichtbar, um in der Stadt Begeisterung für die Veranstaltung zu erzeugen.
Im Stadtstaat ist der Marathon beinahe schon ein nationales Ereignis. Immerhin bringt er rund ein Prozent der gesamten Bevölkerung in Bewegung. Und gäbe es nicht Meldelimits wären es vielleicht sogar noch mehr. Dabei sein ist alles. Dass zwei Moderatoren des Frühstücksfernsehens bei ihrer Teilnahme am Zehn-Kilometer-Rennen eigens von einem Filmteam beobachtet werden und dann am nächsten Morgen in lockerer Form über ihre "Leiden" unterwegs und hinterher plaudern, belegt irgendwie diesen Stellenwert.
Jedenfalls sind die Menschen mit blauem Kleiderbeutel, denen man bei der Stadtbesichtigung immer wieder über den Weg läuft, bei weitem nicht das einzige, das in den Tagen vor dem Start mit schöner Regelmäßigkeit an den Marathon erinnert. Doch sind diese Begegnungen mit von der Startnummernausgabe Kommenden eigentlich auch zu erwarten.
Denn selbst wenn das Marina Bay Sands ziemlich freistehend fast eine komplette Uferfront der beinahe rechteckigen Bucht belegt, gruppieren sich auf und hinter den anderen drei Seiten große Teile der Sehenswürdigkeiten Singapurs. Rund um die sich über etwa einen halben Quadratkilometer ausdehnende Wasserfläche befindet sich die touristische Kernzone der Stadt, die eigentlich kein auswärtiger Besucher versäumt.
Der gegenüber des Multifunktionshotels in die Marina Bay mündende Singapore River trennt dabei zwei völlig unterschiedliche Teile fein säuberlich voneinander ab. Während an seinem südwestlichen Ufer gleich mehrere Dutzend Bürotürme bis weit über zweihundert Meter in den Himmel wachsen, erstreckt sich nordöstlich des nur wenige Kilometer langen Flusses der sogenannte Civic District.
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Rund um den Singapore River wuchs die Stadt zur Metropole heran, heute gehören seine mit Skulpturen verzierten Promenaden zur touristischen Kernzone |
Dieses optisch wesentlich weitläufigere und sich im Gegensatz zur nach oben strebenden Downtown in die Breite ausdehnende Gebiet wird von deutlich niedrigeren Bauten aus der Kolonialzeit dominiert. Doch auch alles, was an öffentlichen Gebäuden in den letzten Jahrzehnten zusätzlich entstanden ist, orientiert sich trotz moderner Architektur in den Maßen an den schon etwas älteren Nachbarn.
In diesem Viertel finden sich Museen und Theater, das Parlament und der Oberste Gerichtshof von Singapur sowie das frühere Rathaus. Doch das vielleicht zentralste Element ist eine riesige Freifläche, der Padang, um den herum sich die meisten anderen Bauwerke anordnen. Auf dem über hundert Meter breiten und mehrere hundert Meter langen Rasen wurde einst hauptsächlich Cricket gespielt. An beiden Längsenden steht deshalb jeweils ein Clubhaus von Vereinen dieser so urbritischen Sportart.
Doch inzwischen rollt auf dem Feld durchaus auch einmal der Fußball oder es fliegt ein Rugby-Ei. Für Großereignisse wird der Padang natürlich ebenfalls verwendet. Mehrfach fanden zum Beispiel dort schon die Feierlichkeiten anlässlich des Unabhängigkeitstages statt. Und wenig verwunderlich ist zudem, dass man sich beim Marathon diese idealen örtlichen Gegebenheiten zu nutzen macht und den Lauf hier enden lässt. Nach einem solch großzügigen Areal praktisch mitten im Stadtzentrum würde sich schließlich so mancher Organisator alle zehn Finger lecken.
Schon Tage vor der Veranstaltung wächst auf dem Padang eine Zeltstadt mit den Aufbauten für das Zielgelände nach oben. Seitenwände braucht man dabei eigentlich nicht, bei den in Singapur herrschenden Klimabedingungen dienen die überdimensionierten Pavillons wohl doch hauptsächlich als Regen- und Sonnenschutz.
Früher wurden auch alle Rennen in der Nähe der Freifläche gestartet. Inzwischen haben die Macher das Konzept allerdings etwas verändert. Noch immer gehen zwar sowohl die Kinder als auch die Läufer über fünf und zehn Kilometer nur etwa zweihundert Meter vom Ziel entfernt an der Marina Bay auf die Strecke. Für "Full" und "Half" hat man sich nun aber andere Startorte ausgesucht.
Denn der Halbmarathon beginnt auf Sentosa, einem etwa fünf Quadratkilometer großen Eiland direkt vor der Hauptinsel, das zu einem Freizeit- und Vergnügungszentrum ausgebaut ist. Unter anderem findet sich dort der neu eröffnete Themenpark der Universal Studios, der im Stile des großen Konkurrenten Disneyland Achterbahnen und Wildwasserrutschen mit den bekannten Filmfiguren der Produktionsfirma umgibt.
Auch das Aquarium Underwater World, wo man durch einen Glastunnel unter einem Becken mit Haien und Rochen schlendern kann, und der Butterfly Park mit Tausenden von Schmetterlingen finden sich auf der Insel. Direkt am Meer hat man auf Pfählen ein künstliches Fischerdorf errichtet, in dem jeden Abend die Musikshow "Songs of the Sea" dargeboten wird. Dazu gibt es mehrere große Hotels, Golfplätze und - neben dem im Marina Bay Sands - ein weiteres Spielkasino.
Von "Ruhe und Frieden", wie sich das malaiische Wort"Sentosa" ungefähr ins Deutsche übersetzen lässt, ist angesichts von mehreren Millionen Besuchern im Jahr - die Zahl lässt sich leicht feststellen, da vor dem Betreten der Insel drei Dollar Eintritt zu bezahlen sind - jedenfalls nicht mehr viel zu merken. Es ist eine ziemlich künstliche Welt, die einzig und allein dem Zweck der Unterhaltung dient. Nicht einmal die langen Strände der Insel sind da echt. Den Sand dafür hat man vielmehr in Indonesien gekauft, von dort nach Singapur gebracht und wieder neu aufgeschüttet.
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Jedes Kilometerschild auf dem Weg zum großzügigen Zielgelände auf dem Padang ist mit einem anderen Spruch verziert |
Lange vor der Umgestaltung zum Freizeitpark war Sentosa wichtigster Bestandteil der britischen Küstenverteidigungslinie. Fort Siloso, eine der Geschützstellungen kann heute wieder besichtigt werden. Eine Zeit lang galten diese Befestigungsanlagen sogar als uneinnehmbar. Doch galt dies eben nur für eine Attacke vom Meer her, denn hauptsächlich darauf hatte man sich vorbereitet.
Die Japaner hielten sich im Zweiten Weltkrieg allerdings nicht an die Pläne der Militärstrategen des Empire und griffen Singapur vom Festland aus auf der weit schwächer geschützten Nordseite an. Die schweren, in die andere Richtung orientierten Schiffskanonen konnten da nur wenig helfen. Innerhalb einer Woche war Singapur überrannt und vollständig in japanischer Hand. Die Briten mussten sich ergeben und über hunderttausend Soldaten gingen in Gefangenschaft.
Zwischen Februar 1942 und September 1945 regierten die neuen Herren die Stadt mit eiserner Faust. Auch unter der Zivilbevölkerung waren tausende Opfer zu beklagen, denen man in der Nähe des Padang ein Denkmal gesetzt hat. Gern erzählt wird die Geschichte, dass es eine Prophezeiung gegeben habe, die Japaner würden abziehen, wenn Schnee auf dem Padang fiele. Und angeblich sei dann tatsächlich kurz vor deren Kapitulation ein heftiges Gewitter mit schwerem Hagel nieder gegangen, der liegen geblieben wäre und die Freifläche bedeckt hätte.
Außer mit einer durch eine Straßenbrücke ist Sentosa durch die Gondelbahn "Singapore Cable Car", die vom hundert Meter hohen Mount Faber startet und sogar eine Zwischenstation in einem Hochhaus einlegt, sowie die Einschienenbahn "Sentosa Express" angebunden. Es mag darum zwar vielleicht ein wenig übertrieben sein, dass auf dem Eiland Sentosa der "southernmost point of continental Asia" ausgeschildert ist, doch zumindest kann man vom asiatischen Festland aus nirgendwo weiter nach Süden vorstoßen, ohne dazu aufs Boot umsteigen zu müssen.
Für die ersten neun Kilometer werden die Halbmarathonis auf der Vergnügungsinsel bleiben, um dann mehr oder weniger auf direktem Weg die von Sentosa aus in nordöstlicher Richtung gelegene Innenstadt anzusteuern. Die lange Strecke startet dagegen auf der anderen Seite des Zentrums, allerdings von diesem nur etwa zwei Kilometer entfernt in der bekannten Einkaufsstraße Orchard Road.
Eine lange Reihe von zum Teil ziemlich imposanten Shopping-Centern zieht sich diese "Obstgartenstraße" entlang, die trotz meist dichter Bebauung an einigen Stellen mit tropisch bewachsenen Grünanlagen ihrem Namen noch alle Ehre macht. Zwar gilt diese Gegend als das beliebteste und belebteste Einkaufsparadies Singapurs.
Doch noch in vielen anderen Ecken der Stadt trifft man auf glitzernde Konsumpaläste. Nicht nur im Marina Bay Sands sondern auch in viele anderen Hotel- und Bürotürme sind zum Beispiel in den unteren Stockwerken Ladenpassagen eingebaut, die zum Teil sogar durch Tunnelgänge miteinander verbunden sind. Und gleich mehrere historische Straßenzüge hat man ebenfalls entsprechend umgestaltet und dazu die einstigen Gassen komplett überdacht.
Alle diese Zentren sind so gut gefüllt, dass man sich gelegentlich fragt, wo denn all die Menschen herkommen, die in dieser Unmenge von Geschäften ihr Geld los werden möchte. Es sind beileibe nicht nur ausländische Touristen. Diese sind vermutlich sogar eher die Ausnahme unter den Kaufwilligen. Man hat vielmehr den Eindruck, für die Singapurer gäbe es keine schönere Freizeitbeschäftigung als Shopping.
Obwohl sich gerade einmal ein knappes Fünftel der Einheimischen zum Christentum bekennt, ist um die Jahreszeit dennoch alles weihnachtlich geschmückt. Überall in der Stadt leuchten am Abend bunte Lichterketten. Vor und in jedem der Einkaufspaläste stehen künstliche Christbäume in zum Teil ziemlich unnatürlichen Farbgebungen. Sogar Weihnachtsmänner auf Rentierschlitten sieht man gelegentlich in den Schaufenstern. Und in etlichen Restaurants laufen die Angestellten mit roten Mützen herum.
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Auf der zu einem Vergnügungs- und Freizeitpark ausgebauten Insel Sentosa wird der Halbmarathon gestartet, nicht nur per Straße sondern auch mit Einschienen- und Seilbahn ist sie erreichbar |
Dazu dudelt nahezu immer die berühmt-berüchtigte Weihnachtsmusik amerikanischer Herkunft in Endlosschleifen aus den Lautsprechern. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik, angesichts von dreißig Grad Außentemperatur bei "Jingle Bells" vorgesungen zu bekommen, wie schön doch eine Fahrt im Pferdeschlitten sei. Und Bing Crosby dürfte seinen Traum von einer "White Christmas" mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im tropischen Singapur so schnell nicht erfüllt bekommen.
Genau wegen dieser Temperaturen sind die Startzeiten der Läufe - wie auch bei vielen anderen Marathons in dieser Klimazone - ziemlich früh gewählt. Wenn man wie auf der langen Distanz das Feld bereits um fünf Uhr auf die Strecke schickt, entgehen die Läufer zumindest den höchsten Temperaturen um die Mittagszeit. Auch der Halbmarathon mit 6:30 und der Zehner mit 7:15 beginnen weit bevor die Sonne ihre ganze Kraft entfalten kann.
Für zigtausend Menschen in Singapur ist die Nacht von Samstag auf Sonntag deswegen an diesem Wochenende auch ziemlich kurz. Während viele Nachtschwärmer noch lange nicht ans nach hause gehen denken, machen sich die Marathonis schon zwischen drei und vier Uhr langsam auf den Weg zu ihrem Startplatz in der Orchard Road.
Doch nicht nur die Läufer selbst müssen eben früh aufstehen. Bereits zu diesem Zeitpunkt sind im Innenstadtbereich fast sämtliche Straßenkreuzungen an der Strecke mit zwei oder drei meist jungen Ordnern besetzt. Dutzende Polizisten leiten zudem den Verkehr entlang der weit im Vorfeld überall platzierten Umleitungsschilder vom schon vollständig abgesperrten Kurs weg. Und an den Verpflegungsstellen wird ebenfalls längst heftig gewerkelt.
Die Stimmung ist trotz der frühen Uhrzeit dennoch ziemlich gut. Fast überall von den Helfern wird gescherzt und gelacht. Und zwischendurch fällt auch für die sich mit einem kleinen Fußmarsch zum Marathonstart begebenden Läufer immer wieder einmal ein fröhliches "good morning" oder "good luck to you" ab. Man wird sich etwa zwei Stunden später erneut begegnen.
Für alle, die in den Außenbezirken wohnen oder übernachten, legt außerdem die MRT Sonderschichten ein und fährt diesmal die ganze Nacht durch. In Singapur versteht man unter dieser Abkürzung nämlich keine Kernspin-Untersuchung sondern die Metro der Stadt. "Mass Rapid Transit" heißt das Schnellbahnsystem, für das ansonsten eigentlich erst nach fünf Uhr die ersten Züge rollen, in der ausgeschriebenen Variante.
Dieses Verkehrsmittel ist durchaus ein schönes Beispiel für die Geschwindigkeit und Dynamik, mit der sich Singapur entwickelt. Erst 1987 wurde der erste sechs Kilometer lange Streckenabschnitt in Betrieb genommen. Inzwischen ist das Netz auf vier Linien mit fast hundertfünfzig Kilometern gewachsen. An einer fünften Strecke wird bereits gewerkelt, zwei weitere sind zudem in der Planungsphase. Bis 2020 werden so vermutlich noch einmal hundert weitere Kilometer hinzu kommen.
Doch einige Besonderheiten dieser U-Bahn passen irgendwie ebenfalls perfekt zum Bild, das man von Singapur im Kopf hat. So sind unter anderem sämtliche Stationen mit durchgehenden Glaswänden zwischen Bahnsteig und Gleis ausgestattet. Die Türen öffnen sich erst, wenn der Zug vollständig zum Halten gekommen ist. Ein vielleicht etwas teureres, aber eben auch ziemlich sicheres System.
Dass Drehkreuze den Zugang zu den "platforms" nur mit Fahrkarte erlauben, kennt man durchaus auch aus anderen Städten. Doch die Tickets in Singapur sind nicht aus Papier, sie erinnern vielmehr in Format und Material an eine Scheckkarte. Und nicht nur beim Betreten sondern auch beim Verlassen der Stationen müssen sie vor ein Lesegerät gehalten werden. Nur genau die Strecke, die man vorher ausgewählt hat, kann man damit also fahren.
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In der Orchard Road, der Haupteinkaufsstraße Singapurs, wird der Marathon unter der weihnachtlicher Beleuchtung gestartet |
Anschließend kann man sich mit der Rückgabe des Kärtchens am Automaten dann wieder den Singapur Dollar abholen, der für sie beim Ziehen des Tickets als Pfand kassiert wurde. Müll - und seien es nur weggeworfene Papierfahrkarten - fällt also keiner an. Die Metropole soll schließlich sauber bleiben. Wer öfter unterwegs ist, besorgt sich der Einfachheit halber besser gleich eine wiederaufladbare Karte, von der die jeweiligen Kosten automatisch herunter gebucht werden.
Wirklich teuer sind die Fahrten auch nicht unbedingt. Zwei Singapur Dollar und zehn Cent kostet der halbstündige Trip vom Flughafen Changi ganz im Osten der Insel bis ins Stadtzentrum. In deutschen Tarifverbünden kann man für diesen Preis meist nicht einmal ein Kurzstreckenticket für wenige Haltestellen erstehen. Das Schnellbahnsystem wird jedenfalls angenommen, denn im Schnitt werden jeden Tag auf den MRT-Strecken mehr als zwei Millionen Fahrgäste gezählt.
Während hierzulande diese Linien oft mit Nummern - oder manchmal auch mit Buchstaben - benannt sind, tragen sie in Singapur Bezeichnungen, die ihren ungefähren Verlauf angeben. Da orientiert man sich eng an London, der Hauptstadt der früheren Kolonialmacht. "North South Line", "East West Line", "North East Line" und "Circle Line" lassen jedenfalls schon erahnen, wie das Netz in etwa aussehen könnte.
Dafür sind dann allerdings alle Endstationen durchnummeriert. Die Richtung der Züge wird deshalb nicht nur mit deren Namen sondern zudem mit der entsprechenden Zahl angegeben. Auch im unterirdischen Labyrinth der Umsteigebahnhöfe kann man sich mit Hilfe von Linienfarbe und Nummer deshalb schnell orientieren, selbst wenn man sich die zum Teil doch ziemlich fremd klingenden Benennungen nicht wirklich merken kann.
Im multikulturellen Singapur stammen die Namen der U-Bahn-Haltestellen schließlich aus ziemlich vielen verschiedenen Sprachen. Nicht nur Europäer und Amerikaner sondern auch asiatische Besucher aus den jeweils anderen Kulturkreisen könnten damit eventuell Schwierigkeiten bekommen. Und natürlich hat man dafür ebenfalls eine Lösung. Jede Station ist mit einem Code aus der Linie und einer laufenden Nummer bezeichnet, der im Zug vor dem Halt angezeigt wird und den man sogar in vielen Stadtplänen wieder findet.
So bezeichnet "NS22" zum Beispiel den Bahnhof "Orchard", der sich in Startnähe des Marathons befindet. Doch auch "NS23 Somerset" würde sich für die Läufer eignen. Von "NS24 Dhoby Ghaut" ist es zwar dann schon wieder ein bisschen weiter, doch dafür kann man sich eventuell das Umsteigen sparen, denn dieser Haltepunkt trägt gleichzeitig auch die Kürzel "NE6" und "CC1". Alles klar? So kompliziert ist das doch gar nicht.
Sogar die einzelnen Ausgänge der Stationen sind kodiert. Jeder ist nämlich mit einem anderen Buchstaben gekennzeichnet, Insbesondere in den großen Bahnhöfen in der Innenstadt, aus denen man zum Teil direkt in die Untergeschosse der Bankentürme und Einkaufszentren kommt, sind dabei durchaus "J" oder "K" üblich. Die in Singapur gebräuchliche Wegbeschreibung zu einer Sehenswürdigkeit enthält deshalb nicht nur die Haltestelle sondern auch den passenden Ausgang.
Alles wirkt perfekt organisiert in der südostasiatischen Metropole. Und die vielen Marathonhelfer, die den Ankommenden in und um die Orchard Road die Richtung vorgeben, scheinen dies zu bestätigen. Doch wenn man die lange Schlangen bei der in einem kleinen Platz in einer Seitenstraße aufgebauten Gepäckabgabe sieht, kommen doch gewisse Zweifel an diesem Glauben.
Schon in der Informationsbroschüre bei den Startunterlagen war gewarnt worden, dass man dafür bis zu einer Dreiviertelstunde einkalkulieren müsse. Und das Abholen im Zielbereich soll angeblich auch nicht schneller von statten gehen. Nun ist bei fünfundzwanzig Grad Nachtemperatur wärmende Wechselkleidung nun wirklich nicht unbedingt nötig und viele kommen deshalb auch bereits im Laufdress zum Startbereich. Dass das Verfahren dennoch so lange dauert, zeigt dass in der Organisation noch deutlich Luft nach oben ist.
Ein wenig umständlich geht man dabei nämlich schon vor. Denn statt fertig vorbereitete Kleiderbeutel nur entgegen zu nehmen, wird erst vor Ort der jeweilige Aufkleber auf der Tasche und das entsprechende Gegenstück dann auf der Startnummer befestigt. Und angesichts der in der Presse angegebenen zwanzigtausend Marathonmeldungen, scheint der vorhandene Platz - genau wie die Zahl der dafür eingesetzten Helfer - auch einfach ein bisschen zu klein geraten zu sein.
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Ein langes Wendepunktstück im East Coast Park bestimmt das mittlere Drittel des Marathons |
Nicht wirklich anders verhält es sich auch mit den Toilettenhäuschen. Und während man auf das Deponieren von Bekleidung und Wertsachen gegebenenfalls verzichten kann, gibt es bei diesem Thema wichtige und nicht aufschiebbare biologische Tatsachen. So mancher begibt sich, bevor der Druck gar zu groß wird, dann auch in eines der umliegenden Gebüsche.
Allerdings muss man dabei immer hoffen, dass die anwesenden Polizisten einfach einmal wegsehen oder zumindest so mit der Verkehrslenkung beschäftigt sind, dass sie für die Verfolgung solcher Kleinigkeiten keine Zeit haben. Denn natürlich droht in Singapur auch in diesem Fall ansonsten eine deftige Geldstrafe.
Man kann sicher darüber geteilter Meinung sein, ob für jedes noch so kleine Vergehen gleich solch drakonische Sanktionen notwendig sind. Den Aufschrei hierzulande mag man sich gar nicht vorstellen, wenn zum Beispiel tausend Singapur-Dollar - also umgerechnet rund sechshundert Euro - nur dafür fällig werden würden, wenn man nicht wie verlangt in einer Unterführung von seinem Fahrrad absteigt und den Drahtesel hindurch schiebt.
Doch kann man sich natürlich durchaus auch die Frage stellen, ob es wirklich zu den unbedingt zu schützenden menschlichen Freiheitsrechten gehört, seinen Müll einfach irgendwo fallen lassen zu dürfen. Leider zeigt die Erfahrung außerdem nur allzu oft, dass der Appell an die Vernunft alleine meist wenig bewirken kann, wenn dahinter nicht der entsprechende Druck steht.
Die Abschreckung wirkt jedenfalls. Singerpur ist für eine Metropole dieser Größenordnung fast schon unglaublich sauber. Selbst die in Europa diesbezüglich wohl am vorbildlichsten erscheinenden Städte Skandinaviens oder der Schweiz können dabei nur schwer mithalten. Vom Mittelmeerraum, wo man es in dieser Hinsicht nun wirklich nicht so genau nimmt, ganz zu schweigen.
Trotz der hohen Strafen für praktisch jede noch so kleine Kleinigkeit stellt sich allerdings eigentlich nie das Gefühl ein, in einem totalen Polizeistaat zu sein oder ständig und überall überwacht zu werden. Uniformierte sieht man in Singapur eigentlich nicht häufiger als in anderen Städten. Und die wenigen Streifen, denen man dann doch einmal begegnet, bewegen sich eher mit britischer Zurückhaltung als mit amerikanischer Ruppigkeit.
Man kann ohnehin den Eindruck gewinnen, dass die Sorge um Reinlichkeit den Singapurern längst in Fleisch und Blut übergegangen ist und Strafandrohungen eigentlich gar nicht mehr nötig wären. Und vermutlich gehört diese Sauberkeit auch untrennbar zum Image des Stadtstaates. Ständig wird jedenfalls irgendwo geputzt, gekehrt oder gewischt.
In vielen Einkaufszentren hängen an den Eingängen sogar dünne Plastiküberzüge, die man doch bitteschön über die einem der tropischen Regengüsse durchnässten Schirme ziehen soll, damit es auf dem Fußboden keine unnötigen Wassertropfen gibt. Dass sie auch genutzt werden, muss man eigentlich kaum noch erwähnen.
Im Gegensatz zur Kleiderabgabe ist der Zugang zu den jeweiligen Startbereichen dann allerdings wieder ziemlich gut organisiert und geht zügig vonstatten. Durch verschiedene Nummernfarben - blau für aller Läufer mit Zielzeiten unter vier Stunden, grün für alle unter sechs Stunden und rot für alle noch langsameren - lässt sich der Zugang auch in der Dunkelheit relativ leicht kontrollieren.
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Bei tropischem Temperaturen wird im Uferpark durch tropische Vegetation gelaufen |
Sogar die mit sechs Ziffern wirklich extrem lang geratene Zahlenfolge gibt über die Zuordnung Aufschluss. Denn in ihrer ersten Stelle ist die erwartete Laufzeit - und damit der Block, in dem man sich aufstellen soll - zusätzlich noch einmal verschlüsselt. Die blauen Nummern beginnen nämlich mit einer vier, die grünen mit einer sechs und die roten mit einer sieben.
Wer sich jetzt über diese seltsame Einteilung wundert und die schnelleren Startgruppen vermisst, dem sei gesagt, dass von ziemlich genau fünfzehntausend am Ende in der Ergebnisliste geführten Marathonis nicht einmal fünfhundert eine Nettozeit unter vier Stunden erreichen werden.
Die Gesamtzahl der Männer und Frauen, von denen die Drei-Stunden-Marke unterboten werden wird, beläuft sich sogar nur auf ganze neununddreißig. Selbst unter sechs Stunden wird mit knapp siebentausend Läufern weniger als die Hälfte des Feldes bleiben.
Das hat sicher auch mit der nach nordamerikanischem Vorbild nicht unbedingt an Zeiten sondern eher am Dabeisein ausgerichtete Laufphilosophie der Einheimischen - fast drei Viertel der Teilnehmer stammen aus Singapur - zu tun. Doch hauptsächlich spiegeln sich darin eben auch die klimatischen Bedingungen wider, die für einen leistungsorientierten Marathon schwieriger kaum sein könnten.
Dass es sich beim Inhaber des so langsam erscheinenden Streckenrekords mit Luke Kibet immerhin um den Weltmeister von 2007 handelt, rückt die Verhältnisse dann vielleicht auch noch einmal in ein etwas anderes Licht. Die sonstigen Siegerzeiten in den Jahren davor und danach waren in der Metropole nahe dem Äquator nämlich meist drei bis vier Minuten langsamer.
Es ist auf jeden Fall für den aus nasskaltem Wetter kommenden Mitteleuropäer schon etwas befremdlich, im Dezember mit kurzen Hosen und Trägerhemd am Start zu stehen und dabei nicht etwa zu frieren sondern selbst ohne Bewegung schon leicht zu schwitzen. Die über dem wartenden Feld brennende Weihnachtsbeleuchtung macht die Situation noch ungewöhnlicher, zumal in den - natürlich voll belaubten - Bäumen am Straßenrand gleichzeitig Schwärme von Vögeln einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugen.
Links neben dem sich langsam in Position begebenden Feld ertönt allerdings noch ein anderes, weit weniger natürliches Geräusch. Dort rollen nämlich Autos. - und zwar in die kommende Laufrichtung, denn wenig überraschend herrscht in der ehemaligen britischen Kolonie Singapur Linksverkehr. Die Orchard Road ist nicht einmal im Startbereich vollständig für den Lauf gesperrt. Und auch in der Folge werden sich die Läufer immer wieder einmal die Straßen mit dem selbst zu dieser Uhrzeit vorhandenen Verkehr teilen müssen.
Allerdings sind diese Passagen dann jeweils ziemlich gut gesichert. Denn keineswegs sind dort nur ein paar Absperrgitter, Flatterband oder gar nur Pylonen zur Trennung der Spuren vorhanden. Auf der kompletten Länge hat man vielmehr in solchen Fällen jene hohen Plastikbarrieren gestellt, denen man im Normalfall rund um Baustellen begegnet. Etliche Kilometer sind davon über Nacht in der Stadt aufgebaut worden.
Es erscheint zwar nur bedingt verständlich, warum es am frühen Sonntagmorgen um fünf oder sechs Uhr nicht möglich sein sollte, einige Straße einmal eine Stunde lang für ein solches Großereignis komplett zu sperren. Insbesondere im Bereich des Stadtkerns, wo es ja ein ziemlich dichtes Netz von Metrostationen gibt. Doch die logistische Leistung bei der Verteilung und Errichtung der Barrieren ist natürlich trotzdem ziemlich beachtlich.
Kein Startschuss ertönt, um die Läufer Punkt fünf Uhr auf die Reise zu schicken. Der Singapur Marathon wird nur los gewunken und nicht etwa angeschossen. "Flagged off" heißt das auf Englisch. Und genauso muss man es sich auch vorstellen. Denn ähnlich wie bei einem Autorennen senkt der Ehrenstarter, nachdem die letzten Sekunden herunter gezählt sind, eine große Flagge als Signal dafür, dass das Rennen nun eröffnet ist.
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Das Asian Civilisations Museum hat sich auf die Präsentation asiatischer Kulturen spezialisiert |
Auch das passt gut zum Stadtstaat, der eine ziemlich restriktive Waffengesetzgebung besitzt. Selbst für Messer ab einer gewissen Größe ist eine Genehmigung erforderlich. Und schon mancher Urlauber soll beim Zwischenstopp in Singapur mächtig Ärger bekommen haben, weil er als Souvenir aus Malaysia oder Indonesien einen kleinen Dolch oder auch nur ein Blasrohr mit nach Hause bringen wollte.
Da die Startaufstellung schon fast ein Drittel der immerhin mehr als zwei Kilometer langen Orchard Road in Beschlag nimmt, bleibt man nach dem Start nur noch kurz im Bereich der großen Einkaufszentren. Zumindest rechts löst wenig später eine lang gestreckte Parkanlage die Konsumtempel ab. Und obwohl über der Straße noch immer Lichterketten brennen, wird es ohne die zusätzliche Reklame-Beleuchtung gleich merklich dunkler.
Noch bevor der erste Kilometer beendet ist, hat man die Anlage dann sogar durchquert und ist auf die parallel zur "Obstgartenstraße" verlaufende Penang Road eingeschwenkt. Doch obwohl gerade einmal ein paar Prozent der Gesamtstrecke bewältigt sind, spürt man schon die Wärme, ist die Haut vom Schweiß bereits ziemlich nass. Die Feuchtigkeit des Gewitterregens, der am Samstagnachmittag herunterging, hat sich zum größten Teil längst wieder in die Luft verflüchtigt.
Da ist es wirklich kaum nachzuvollziehen, dass einige nicht nur Kompressionsstrümpfe tragen sondern sich sogar in Hosen und langärmlige Oberteile aus diesem Material gezwängt haben. Manchmal dürfte es allerdings schon ein bisschen schwierig sein, diese überhaupt in passenden Größen zu finden. Denn viele der Asiaten sind aus europäischem Blickwinkel doch eher klein und schmächtig geraten. Einige von ihnen würde hierzulande beim Kleiderkauf vermutlich eher in der Kinder- als in der Erwachsenenabteilung fündig.
Besonders auffällig ist allerdings, dass man praktisch nirgendwo einen wirklich dicken Einheimischen sieht. Das ist umso erstaunlicher, weil man umgekehrt nahezu überall, wo man geht und steht, auf unzählige Essstände und Restaurants trifft. Kein Shopping-Center kommt ohne sogenannten Food-Court aus, die größeren haben gleich mehrere davon. Und in den Gängen, die sie miteinander und den MRT-Stationen verbinden reiht sich ebenfalls eine Einkehrmöglichkeit an die nächste.
Nicht nur in der Innenstadt sieht man diese Garküchen übrigens. Wie man unschwer bemerken kann, wenn man zum Beispiel mit der in den Außenbezirken oft auf Stelzen geführten Metro unterwegs ist, werden überall, wo man in Singapur irgendetwas einkaufen kann, in jeder Markthalle, bei jedem Gebäude mit Geschäften auch warme Mahlzeiten angeboten. Da kann man sich manchmal schon fragen, ob überhaupt jemand einmal zu Hause etwas isst.
Die Auswahl ist riesig und für den Europäer zudem ziemlich verwirrend. Es gibt da zwar auch Pizzerias oder Hamburger-Buden. Doch wenn man in Asien dann doch lieber einmal echt asiatische Küche probieren möchte, wird es wirklich kompliziert. Nicht nur dass man da japanisch, koreanisch oder thailändisch essen könnte, da gibt es eben auch noch unzählige Varianten chinesischer, indischer, malaiischer und indonesischer Küche.
Denn während man in Europa ja "zum Chinesen" oder "zum Inder" geht, steht man in Singapur nun vor der Wahl, ob die Gerichte aus Guangdong, Sichuan oder vielleicht doch lieber aus Taiwan kommen sollen, aus Hongkong, Shanghai oder Peking, aus Tamil Nadu, Bengalen oder doch aus dem Punjab, aus Java, Sumatra, Sarawak oder vom malaiischen Festland. Von gegenseitigen Beeinflussungen und Mischformen wie "chinesisch-malaiisch" ganz zu schweigen. Die feinen Unterschiede erschließen sich dem Ortsfremden natürlich nicht im Geringsten.
Aber wenn man etwas nachdenkt, ist natürlich klar, dass angesichts von völlig verschiedenen geographischen und klimatischen Verhältnissen in solch riesigen Ländern wie China und Indien die Kochgewohnheiten nicht überall gleich sein dürften. Wenn man dort schon sprachlich so weit auseinander liegt, wieso sollte dann ausgerechnet das Essen einheitlich ausfallen.
An der Nordsee kocht man ja auch ganz anders als in den Alpen. Und in Frankreich isst man völlig andere Dinge als in Italien oder Spanien. Über die für Kontinentaleuropäer manchmal recht gewöhnungsbedürftige britische "Kochkunst" - die in Singapur übrigens auch die eine oder andere Spur hinterlassen hat - redet man in diesem Zusammenhang besser erst gar nicht.
Die äußeren Bedingungen werden noch unangenehmer, als der Kurs einen halben Kilometer lang in einem Tunnel verschwindet. Dort hat es zwar selbstverständlich nicht geregnet, doch dafür steht die Luft. Nicht der leiseste Windhauch, der zumindest für ein bisschen Kühlung sorgen könnte, ist in der unter einem Hügel hindurch führenden Röhre zu spüren.
Man unterläuft dabei nicht nur den Fort Canning Park - eine der zahlreichen Grünflächen, auf die man trotz des beengten Raumes in Singapur immer wieder stößt - sondern auch das direkt am Hang stehende Nationalmuseum, in dessen verschiedenen Ausstellungen hauptsächlich die Geschichte der Stadt behandelt wird.
Eigentlich handelt es sich dabei nur um eines von mehreren Museen, die nationalen Status haben. Doch unter "National Museum of Singapore" versteht man eben trotzdem meist nur dieses ursprünglich aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende inzwischen allerdings noch mit einem modernen Anbau erweiterte Gebäude. Schräg gegenüber befindet sich in einer ehemaligen katholischen Schule zum Beispiel aber auch noch das Singapore Art Museum.
Einen ganz anderem Verwendungszweck hat man dagegen eine weitere kirchliche Institution zugeführt, auf die das Läuferfeld einen kurzen Seitenblick erhaschen kann, nachdem es den Tunnel wieder verlassen hat. Denn in die Laubengänge des früheren "Convent of the Holy Infant Jesus" sind in einer für Singapur nicht einmal ungewöhnlichen Lösung jetzt Geschäfte und Restaurants eingezogen. Und die Kapelle des Klosters wird nun als Veranstaltungsaal genutzt. "Chijmes" lautet der aus einer Verballhornung der Abkürzung "CHIJ" entstandene Name dieses Komplexes.
Der Marathonkurs biegt allerdings nicht nach links in Richtung auf den trotz seines nun kommerziellen Charakters in der Hektik der Millionenmetropole noch immer einen Ruhepol darstellende Gebäudeblock, sondern schwenkt nach rechts. Dafür sorgt aber eine Gruppe Sambatrommler, die es demnach auch in Südostasien gibt, kurz hinter der Kurve zumindest für etwas musikalische Untermalung. Ansonsten ist am Streckenrand um diese frühe Uhrzeit natürlich ziemlich wenig los.
Nach kaum mehr als zwei absolvierten Kilometern können die Marathonis bereits zum ersten Mal ihre Flüssigkeitsvorräte auffüllen, denn an die Trommlergruppe schließt sich fast nahtlos eine Verpflegungsstelle an. Und das ist keineswegs unnötig. Längst sind die Trikots vieler Läufer nämlich nicht nur feucht sondern regelrecht durchnässt. Angesichts der doch ziemlich extremen Bedingungen muss man die Dichte der Getränkestellen einfach wesentlich höher ansetzen als üblich.
Schon im Startbereich wurde an mehreren Punkten Wasser ausgeschenkt. Und in der Folge wird der Abstand zwischen den Posten zumindest ungefähr eingehalten. Viel mehr als drei Kilometer muss man nur selten zurück legen, bis es wieder etwas zu Trinken gibt. Gelegentlich folgen zwei der insgesamt neunzehn Tränken auch innerhalb von nur gut tausend Meter aufeinander.
Manchmal gibt es dort nur Wasser, manchmal ein von einer Firma aus Singapur hergestelltes Elektrolytgetränk namens "100plus", zumeist aber beides. Bananen oder Gel haben dagegen nur ganz wenige Versorgungsstellen im Angebot. Doch besteht bei diesen Verhältnissen eigentlich auch kaum Bedarf für feste Nahrung. Kühlung ist oberstes Gebot und dazu wären Schwämme eventuell recht sinnvoll. Aber die werden leider nirgendwo verteilt. Immerhin gibt es mit den Wasserbechern, die man sich ja auch überschütten kann, eine akzeptable Alternative.
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Über die Wasserflächen eröffnen sich immer wieder Blicke auf das faszinierende Stadtpanorama |
Der Verpflegungsstand ist direkt unter einer Fußgängerbrücke
aufgebaut. Dutzende davon gibt es alleine in Singapurs Innenstadt über
Hauptstraßen. Nicht ganz so oft, aber immer noch häufiger als in
anderen Städten kann man wichtige Verkehrsadern auch in Tunneln passieren.
Wo beides nicht vorhanden ist, werden Fußgänger mit Pfeilen zur nächsten
Ampel oder einem Zebrastreifen geleitet. Und in der Regel richtet man sich nach
ihnen.
Über den Richtungsangaben sind nämlich eindeutige Verbotsschilder
angebracht, die das Kreuzen der Straße abseits markierter Überwege
unterbinden sollen. Wer es dennoch tut und dann bei diesem sogenannten "jaywalking"
erwischt wird, zahlt - wie in der "fine city" kaum anders zu erwarten
- ein empfindliches Bußgeld. Selbst an den Ampeln kann man gelegentlich
nachlesen, was es kosten würde, bei rot loszulaufen.
Der Marathonkurs ist inzwischen im Regierungsviertel, dem Civic District angekommen, wenn auch nicht auf dessen repräsentativer Schauseite. Doch das Gebäude, vor dem die Verpflegungstische stehen und den Läufern nur seine Schmalseite zuwendet, ist das Finanzministerium, die "Treasury". Und in dem auffälligen Eckhaus mit den in verschiedenen knallbunten Farben lackierten Fenstern schräg gegenüber residiert das "Ministry of Information, Communications and the Arts", wie das Kultusministerium Singapurs mit vollem Namen heißt.
In der Parallelstraße hinter der Treasury würde man auch auf die
Neubauten für Parlament und Obersten Gerichtshof treffen, die man den Läufern
allerdings vorenthält. Während das Parlamentsgebäude für
Singapur doch eher nüchtern und unscheinbar daher kommt, hat der daneben
gelegene Supreme Court etwas ziemlich futuristisches - zumindest aus der Entfernung,
wenn man die an ein gelandetes UFO erinnernde Dachkonstruktion erkennen kann.
Übrigens steht das Gericht direkt an der Straße und ist völlig ungesichert. Das Parliament House ist zwar von einem Zaun umgeben und davor kontrollieren zwar einige Polizisten in die Tiefgarage einfahrende Fahrzeuge. Doch will das dennoch nicht so ganz zum Bild eines halbautoritären Staates passen, der seit seiner Gründung von einer Partei mehr oder weniger alleine beherrscht wird. Jede Botschaft und jedes Konsulat der USA sind da viel stärker befestigt.
Wie die Stadt selbst erscheint auch ihr politisches System seltsam widersprüchlich, zwiespältig und nur schwer einzuordnen. Rein formal handelt es sich nämlich um eine Demokratie nach britischem Vorbild. Gleichzeitig werden Regierung und Regierungspartei allerdings nicht müde zu betonen, das ein liberales System westlicher Prägung weder für ihr Land noch für Südostasien das Richtige wäre.
Regelmäßig wird gewählt. Und stets gewinnt die People's Action Party eine überwältigende Mehrheit der Sitze. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2011 erreichte sie zwar "nur" noch sechzig Prozent der Stimmen. Ein Ergebnis, das von manchen schon als Erdrutsch gewertet wurde. Nie zuvor schnitt die PAP nämlich schlechter ab. Dennoch stellt sie mehr als neunzig Prozent aller Abgeordneten.
Das ist auch im an angelsächsischer Tradition angelehnten strikten Mehrheitswahlrecht begründet, bei dem nur der Kandidat ins Parlament einzieht, der in einem Gebiet die meisten "votes" bekommt. Doch als Besonderheit werden in den Wahlkreisen fast immer gleich mehrere Sitze an die siegreiche Liste vergeben, was die Chancen der PAP nur noch weiter erhöht.
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Das Parlamentsgebäude wirkt im Schatten der Hochhäuser fast unscheinbar | das oberste Gericht des Stadtstaates ist da schon auffälliger und erinnert an ein UFO |
Und weiterhin sind einige Positionen "uncontested", dass heißt gegen die von der Staatpartei vorgeschlagenen Politiker tritt aus unterschiedlichen Gründen niemand an. Die Oppositionsgruppierungen pflegen, um sich nicht gegenseitig weiter zu schwächen, pro "electoral division" jeweils nur eine von ihnen ins Rennen zu schicken. Immerhin gelang es diesmal der Workers' Party of Singapore zwei Wahlkreise für sich zu gewinnen und sechs gewählte Abgeordnete ins Parlament zu entsenden.
Um angesichts der Dominanz der PAP überhaupt eine sichtbare Opposition
in den Debatten zu haben, wurde in der Vergangenheit die Institution der sogenannten
"Non-Constituency Members" geschaffen. Mehrere unterlegen Kandidaten
wurde dazu trotzdem ein Sitz im Parlament angeboten. Eine Regelung, die man
als Europäer von den Skispringen der Vier-Schanzen-Tournee zu kennen glaubt.
"Lucky Loser" heißt sie dort.
Es macht zudem ziemlich skeptisch, wenn der aktuelle Premierminister Lee Hsien
Loong der Sohn von Lee Kuan Yew ist, also jenem Politiker, der Singapur in die
Unabhängigkeit führte und danach zweieinhalb Jahrzehnte regierte.
Das riecht schon nach einer Familiendynastie, wie man sie von anderen autoritären
Regimes kennt. Immerhin wurde Lee Junior aber nicht direkter Nachfolger seines
Vaters, der selbst nach seinem Abtreten noch immer als "Senior Minister"
und graue Eminenz im Hintergrund mitmischte.
Mit der gelenkten Demokratie russischer Prägung hat es dennoch nur bedingt zu tun. Denn während sich dort Politiker und ihr Gefolge ungeniert bereichern, gehört Singapur angeblich zusammen mit den "üblichen Verdächtigen" aus Skandinavien sowie Kanada, Australien, Neuseeland und der Schweiz zu den am wenigsten korrupten Staaten der Welt. Deutschland und Österreich rangieren dagegen bereits einige Plätze dahinter und spielen bei dieser Wertung nur in der zweiten Liga. Auch gilt Singapur als Land mit einem der besten Rechtssysteme in ganz Asien.
Doch wie als Kontrastprogramm dazu sind die harten Strafen im Stadtstaat berüchtigt. So können bei bestimmten Vergehen noch immer Schläge mit dem Rohrstock angeordnet werden. Und die Todesstrafe wird nicht nur bei Mord und Totschlag sondern auch bei Besitz einer bestimmten Menge Drogen und dem illegalen Gebrauch von Schusswaffen verhängt und - wesentlich schlimmer - meist auch tatsächlich vollstreckt. Zwanzig bis dreißig mal pro Jahr wird in Singapur ein Mensch hingerichtet.
Nun kann man durchaus darüber diskutieren, ob es moralisch zu vertreten ist, ein solches Land als Tourist zu bereisen und dort vielleicht auch noch einen Marathon zu laufen. Doch bei den Rennen in New York, Boston oder Chicago käme man wohl auch kaum auf den Gedanken, sie nur wegen der in einigen amerikanischen Bundesstaaten durchgeführten Exekutionen zu boykottieren. Wobei zugegebenermaßen sowohl New York wie auch Massachusetts und Illinois - also die Staaten, in denen diese Marathons stattfinden - die Todesstrafe inzwischen abgeschafft haben.
Freie Medien existieren in Singapur nur bedingt. Auch wenn es nicht die strenge Zensur totalitaristischer Diktaturen gibt, sind Zeitungen und Fernsehsender zumindest staatlich kontrolliert. Offene Kritik am System wird nicht gerne gesehen. Und im Zweifelsfall kann man mit Klagen wegen Verleumdung oder übler Nachrede entsprechenden Druck aufbauen. Vieles wird deshalb schon in vorauseilendem Gehorsam ziemlich "regierungsnah" formuliert.
Doch - selbst wenn die Vergleiche sicher ein wenig hinken - lässt sich ähnliches durchaus gelegentlich auch in Europa finden. Wirklich regierungskritische Fernsehensendungen dürften im Italien des Medienunternehmers Berlusconi jedenfalls eher eine Seltenheit gewesen sein. Und wenn es um die umstrittenen ungarische Pressegesetzte geht, fallen öfter einmal Begriffe wie "Zensur" oder gar "Gleichschaltung".
Im Internet-Zeitalter wird es für die Singapurer Regierung ohnehin immer schwerer, die alleinige Informationshoheit zu behalten. Insbesondere, weil man das Land sogar zu einem Zentrum dieser - im Gegensatz zu Druckerzeugnissen nur schwer zu kontrollierenden - neuen Technologie ausbauen möchte. Langfristig wird es den Staatsorganen deshalb vermutlich kaum möglich sein, diesen Spagat durchzuhalten.
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Am Marina Reservoir hat man nach 33 Kilometern eine beeindruckende Aussicht auf die Skyline der Stadt mit ihren futuristischen Bauten |
Auf der Coleman Bridge wird der Singapore River überquert. Jener Fluss, um den herum die Stadt entstanden und von dort auf ihre heutige Größe gewachsen ist. An seinen Ufern wurden einst die Waren umgeschlagen, denen der Handelsplatz Singapur seine Bedeutung verdankte. Auf historische Aufnahmen erkennt man vor lauter Booten, die den Transport zu den im Hafen vor Anker liegenden Schiffen übernahmen, kaum noch das Wasser.
Etliche dieser früheren Lagerhäuser hat man inzwischen umgebaut und nutzt sie - wie könnte es in Singapur auch anders sein - hauptsächlich als Restaurants oder Bars. Landeinwärts erstreckt sich rechts der Marathonis zum Beispiel das Gebiet des Clarke Quay, wo man gleich mehrere Häuserblocks aufwendig restauriert hat. In den zwar überdachten, aber dennoch offenen Gassen wimmelt es insbesondere abends nur so von Menschen.
Fast noch größer ist allerdings der Zuspruch am flussabwärts gelegene Boat Quay, der im Gegensatz zu den in Bonbonfarben gestrichenen Häusern des Clarke Quay zudem weit weniger künstlich wirkt. Die direkt am Ufer gelegene, lange Reihe von Freiluftrestaurants bietet mit ihren niedrigen Bauten einen faszinierenden Kontrast zu den hinter ihnen aufragenden Bankentürmen. Zusammen mit der Wasserfläche vor ihnen bildet diese ungewöhnliche Kombination sicher eines der am häufigsten fotografierten Motive der Metropole.
Wenig später taucht der Marathonkurs mit einer kurzen Rechts-Links-Kombination dann nach Chinatown ein. Das alte Chinesenviertel schließt zwar direkt an Downtown an. Und dennoch könnte man sich dort in einer ganz anderen Welt wähnen. Schmale, niedrige und oft recht bunte Häuschen kleben entlang der Straße aneinander. In nahezu allen befindet sich im Erdgeschoss - in Singapur übrigens nach nordamerikanischem Muster der "first floor" - ein kleiner Laden. Und die für sie montierten Werbetafeln zeigen meist chinesische Schriftzeichen.
Denn auch diesbezüglich geht es im Stadtstaat ziemlich verwirrend zu. Die Schweiz mag zwar auch vier offizielle Landesprachen besitzen. Aber mit gleich drei verschiedenen Schriften wie Singapur kann sie definitiv nicht glänzen. Und es könnte sogar noch eine weitere sein, denn Malaiisch wurde früher mit arabischen Zeichen geschrieben. Erst vor wenigen Jahrzehnten legte man sich auch in den Nachbarländern Malaysia und Indonesien endgültig auf das lateinische Alphabet fest.
Doch auch ohne diese vierte Variante deckt man in Singapur eine ziemlich große Bandbreite er denkbarer Systeme ab. Neben der lateinischen Buchstabenschrift, die für Englisch und Malaiisch in Gebrauch ist, und der chinesischen Symbolschrift wird Tamil nämlich mit Zeichen für die unterschiedlichen Silben geschrieben.
Neben Chinatown gibt es in Singapur noch weitere nach ethnischen Gesichtspunkten entstandene Viertel. Little India nordöstlich der Orchard Road zum Beispiel, dessen Namen man schon ansieht, welche Gruppe von Einwanderern sich hier ursprünglich nieder gelassen hatte. Oder unweit davon Kampong Glam, wo hauptsächlich moslemische Malaien siedelten.
Inzwischen wird in neu errichteten Wohngebieten allerdings von den Behörden peinlichst darauf geachtet, eine ausgewogene Mischung der verschiedenen Bevölkerungsteile zu erreichen, um damit jegliche Ghettobildung schon im Ansatz zu unterbinden. Die Methode scheint zu funktionieren. Mehr als einmal sieht man - insbesondere bei den Jüngeren - ethnisch gemischte Gruppen. Da ist eine Kopftuch tragende Malaiin zusammen mit ihrer wesentlich luftiger gekleideten chinesischen Freundin unterwegs. Oder auch mit einer Tamilin im Sari und mit Farbpunkt auf der Stirn.
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Das Riesenrad Singapore Flyer und das Marina Bay Sands Resort mit seiner Aussichtsplattform in luftiger Höhe sind auf den letzten zehn Kilometern immer wieder gute Orientierungspunkte |
Doch selbst in den traditionellen Vierteln ist die Trennung keineswegs so streng, wie es die Bezeichnungen vermuten lassen. Die South Bridge Road durch Chinatown, auf der die Marathonis gerade unterwegs sind, ist dafür ein gutes Beispiel. Denn praktisch direkt nacheinander werden auf ihre eine kleine Moschee, ein mit Hunderten von bunten Figuren verzierter Hindu-Tempel und eine im chinesischen Stil errichtete buddhistische Pagode passiert. Drei Seitenstraßen tragen die dazu passenden Namen "Mosque Street", "Pagoda Street" und "Temple Street".
Wirklich ungewöhnlich sind solche Konstellationen keineswegs. Eigentlich sind sie sogar eher die Regel. Noch an vielen anderen Stellen muss man jeweils nur wenige Schritte laufen, um auf die Gotteshäuser mehrerer völlig verschiedener Religionen - neben den genannten Typen gibt es schließlich auch noch christliche Kirchen und jüdische Synagogen im Stadtgebiet - zu stoßen.
Kurz hinter dem "Buddha Tooth Relic Temple" schwenkt die Strecke in die wieder deutlich moderner bebaute Maxwell Road ein. Und kaum ist das Feld abgebogen, kommt auch schon ins Stocken. Denn obwohl auf der relativ breiten Straße eigentlich Platz genug wäre, hat man für die Läufer gerade einmal zwei schmale Fahrspuren abgesperrt. Selbst wenn der sich beim Einfädeln entstehende Stau sich schnell wieder auflöst, ist das für eine fünfstellige Läuferzahl gerade einmal vier Kilometer nach dem Start dann doch ein bisschen zu wenig.
In den beiden Bürohäusern, an denen man vorbeiläuft, nachdem man wieder in Tritt gekommen ist, residiert das Ministry of National Development, in dessen Zuständigkeitsbereich auch die Stadtplanung fällt. Das wäre für Touristen nicht weiter interessant, gäbe es in einem von ihnen nicht die "Singapore City Gallery". Denn dort kann man sich an raumfüllenden Modellen ansehen, wie sich die Metropole in nächster Zeit weiter entwickeln soll.
Angesichts einer Fläche, die gerade einmal der Hamburgs entspricht, aber mehr als doppelt so vielen Einwohnern wie in der Hansestadt muss man mit dem vorhandenen Platz ziemlich sorgfältig umgehen. So ist eigentlich kein Wunder, dass in Singapur deutlich mehr Hochhäuser in den Himmel wachsen, als in vielen anderen Städten. Mehrere Tausend "high-rises" sollen es sein. Die Zahl der Gebäude über einhundert Meter ist dreistellig. Und weit über ein Dutzend davon knackt sogar die Zweihundert-Meter-Marke.
Trotzdem ist es mehr als erstaunlich, wenn man sieht, was da noch alles entstehen soll. Alleine für den Innenstadtbereich hat man ungefähr eine Verdoppelung von Fläche und Gebäuden im Sinn. Bis an das im Moment noch ziemlich alleine stehende Marina Bay Sands wird dieser neue Stadtteil heran reichen.
Noch liegt das durch Erdaufschüttung entstandene Gelände weitgehend brach. Aber zahlreiche Baukräne belegen, wie sich die Hochhauslandschaft langsam weiter ausdehnt. Während hierzulande man schon ein oder zwei neue Bürotürme bestaunt, sind in Singapur gleich Dutzende Wolkenkratzer im Bau. Man kann davon ausgehen, dass die Stadt beim nächsten Besuch schon wieder ganz anders aussehen wird.
Und keineswegs werden da nur monotone Betonklötze nach oben gezogen. Selbst wenn der Wettbewerb "Wer hat den Größten" aufgrund der - wegen eines nicht allzu weit vom Stadtzentrum gelegenen Militärflughafens eingeführten - Höhenbeschränkung auf 280 Meter keine Sieger haben kann, versuchen sich Firmen und Architekten natürlich dennoch durch möglichst spektakuläre Baustile gegenseitig auszustechen.
Das Resultat ist eine unglaubliche Formenvielfalt, die Freunde moderner Architektur voll auf ihre Kosten kommen lässt. Selbst neue Wohnhochhäuser sind nicht mehr nur gesichtslose Blocks sondern bekommen neuerdings ebenfalls oft eine ziemlich individuelle Note. Der Experimentierfreudigkeit sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Sogar an diese Zustände gewöhnte Singapurer geben zu, dass immer, wenn sie gedacht hatten, nun ginge es wirklich nicht mehr futuristischer, kurz darauf ein neues Gebäude das Ganze noch einmal übertroffen hätte.
Wäre es bereits hell, könnte man wenig später, einige davon näher betrachten. Denn die Marathonis verschwinden in einer der Hochhausschluchten des Central Business District. Sie endet nach einem knappen Kilometer am Raffles Place, den kleinen, aber trotzdem zentralen Platz in Singapurs Downtown.
Unter ihm treffen sich zwei Metrolinien. Um ihn herum ragen etliche der hohen Bankentürme - insbesondere auch die drei allerhöchsten - auf. Und über und unter ihm wuseln ständig Menschen. Nicht nur oberirdisch kann man nämlich sämtliche Ecken des Platzes, mehrere Seitenstraße und auch einige der Bürogebäude erreichen. Es gibt auch ein langes Tunnelsystem, das sogar bis zur benachbarten U-Bahn-Station reicht.
In Kanada, in Montréal und Toronto gibt es solche Untergrundstädte hauptsächlich wegen der Kälte, in Singapur wohl eher wegen Gewitterregen und Hitze. Denn wie in jedem geschlossenen Raum brummen natürlich auch dort die in der Stadt ziemlich exzessiv eingesetzten Klimaanlagen. Bei manchen Häusern sieht man vor lauter Kühlanlagen sogar kaum noch die Hauswand. Und oft werden die Temperaturen durch sie so deutlich abgesenkt, dass man beim ersten Schritt, den man ins Freie macht, einen regelrechten Schlag bekommt.
Nicht nur am Raffles Place sondern noch an einigen anderen Stellen in Singapur gibt es solche weit ausladenden Gangsysteme, die mehrere U-Bahn-Stationen, Bürotürmen und Einkaufszentren untereinander verbinden. Man sollte sich einfach immer wieder einmal durch diese Labyrinthe treiben und dann irgendwo vollkommen anders wieder nach draußen spülen lassen.
Singapur gehört nämlich ganz sicher nicht zu den Metropolen, in denen
es sinnvoll wäre, nach einem festen Plan einzelne Sehenswürdigkeiten
abzuarbeiten, selbst wenn es davon natürlich auch einige gibt. Der Reiz
dieser multikulturellen Stadt liegt vielmehr in dem Gesamteindruck und gleichzeitig
- das ist kein Widerspruch - in der Unmenge der überall zu entdeckenden
Details.
Da wäre zum Beispiel die Vielzahl über die Stadt verteilten, von Künstlern bunt bemalten Plastik-Elefanten. Ähnliche Aktionen gab es nach dem Vorbild von Zürich, wo man dieses Konzept einst mit Kühen begann, zum Beispiel in Berlin auch schon mit Bären, in München mit Löwen oder in Hamburg mit der hanseatischen Symbolfigur des Wasserträgers.
Und wie in diesen Städten handelt es sich auch in Singapur um ein Benefiz-Projekt. Nach dem Ende des Ausstellungszeitraumes werden die Dickhäuter nämlich versteigert, um Gelder zum Schutz ihre frei lebenden Artgenossen zu bekommen. Fast ist das ein bisschen schade, denn die meist ziemlich originellen Ideen, von denen man auch am Raffles Place eine ganze Reihe bestaunen kann, bringen weitere Farbe in die Straßen der Metropole. Und Spaß macht die unblutige "Elefantenjagd" ohnehin.
Der Marathonkurs führt hinaus aus dem Finanzdistrikt und stößt auf die Marina Bay. Wenig später beginnt am zum Luxushotel "Fullerton" umgebauten alten Hauptpostamt eine lange Brücke über die Mündung des Singapore River. Unweit dieser Stelle begann vor nicht einmal 200 Jahren der Aufstieg eines kleinen Fischerdorfes namens "Temasek" zu einer Weltmetropole.
Am 29. Januar 1819 landete nämlich der Brite Thomas Stamford Raffles genau mit einem kleinen Kommando, um an diesem strategisch so günstigen Punkt eine neue Handelsniederlassung für die British East India Company zu gründen. Der durch innere Konflikte in seinem Reich geschwächte Sultan von Johor genehmigte kurz danach auch förmlich die Ansiedlung am äußersten Zipfel seines Herrschaftsgebiets. Im Gegenzug wurde ihm nämlich die offizielle Anerkennung und Unterstützung des Empire und eine jährliche Zahlung garantiert.
Dort wo Raffles angeblich zum ersten Mal den Boden der Insel betreten haben soll, steht am Fluss heute sein überlebensgroßes Denkmal. Denn man sieht ihn in Singapur keineswegs als fremden Eroberer sondern den Vater der Stadt. Und nicht nur dem Platz in Downtown hat er seinen Namen gegeben sondern auch einem Einkaufskomplex - die Raffles City - und dem wohl bekanntesten und vielleicht auch teuersten Hotel der Stadt.
Von Raffles stammt unter anderem auch der Plan, den nach Singapur strömenden Zuwanderern je nach Herkunft unterschiedliche Wohngebiete zu geben. Innerhalb weniger Jahre war die Stadt nämlich ziemlich unkontrolliert von kaum mehr als ein- bis zweihundert auf mehrere tausend Bewohner angewachsen. Damals wurde die Basis für Chinatown, Little India und Kampong Glam gelegt.
Den Namen der Stadt hat Raffles sich allerdings dann doch nicht einfallen lassen. Der geht der Legende nach auf den im vierzehnten Jahrhundert lebenden Fürsten Sang Nila Utama aus Sumatra zurück. Dieser soll nämlich angeblich im Dschungel der Insel einem vermeintlichen Löwen begegnet sein, woraufhin er dem Ort dann "Singapura" nannte, was in der altindischen Literatursprache Sanskrit "Löwenstadt" bedeutet.
Obwohl es in Asien sehr wohl Löwen gab - und in Indien auch heute noch gibt - legen wissenschaftliche Forschungen allerdings nahe, dass sie niemals bis in diese Region vorgedrungen sein dürften. Selbst wenn die Geschichte nicht alleine ein Gründungsmythos ist sondern tatsächlich der Realität entspricht, handelte es sich bei dem Tier höchstwahrscheinlich nur um einen malaysischen Tiger.
Dennoch spielt der Löwe natürlich als Symbolfigur für die Stadt eine gewisse Rolle, genauer gesagt ein Mischwesen mit einem Löwenanteil. Direkt neben der Mündung des Flusses sprüht nämlich der "Merlion" in weitem Bogen seinen Wasserstrahl in die Marina Bay. Und diese rund acht Meter hohe Skulptur hat unterhalb des Löwenkopfes den Körper eines Fisches.
Was wie ein Fabeltier aus uralten Legenden aussieht, ist jedoch in Wahrheit nur die Erfindung eines kreativen Tourismusbüros, das in den Sechzigerjahren ein neues Logo entwerfen wollte und sich dabei nicht nur vom Namen der Stadt sondern auch von einer Meerjungfrau - auf Englisch "mermaid" - inspirieren ließ.
Ein paar Jahre später wurde dann die überdimensionale Statue errichtet, die sich schnell zu einem der wichtigsten Wahrzeichen Singapurs entwickelte. Mehrere weitere Merlions hat man inzwischen über die Millionenmetropole verteilt, kleine und große. Das gigantische Exemplar auf der Insel Sentosa misst zum Beispiel fast vierzig Meter.
Noch immer ist der Merlion Park an der Flussmündung einer der wichtigsten Anlaufpunkte für Touristen. Hier werden die Fotos geschossen, mit denen man bei Bekannten eindeutig belegen kann, dass man auch schon in Singapur war. "Ich vor dem Eifelturm", "ich vor der Tower Bridge", "ich am Kolosseum" haben in Südostasien ihre Entsprechung mit dem Merlion.
Doch das Panorama von diesem Punkt ist eben auch eines der eindrucksvollsten in der ganzen Metropole. Mit den steil aufragenden Wolkenkratzern der Downtown im Rücken wandert der Blick über die öffnende Wasserfläche hinüber zum Marina Bay Sands Komplex. Links davon wächst mit dem Marina Square - einem von mehreren riesigen Hotelbauten umgebenen Shopping-Center - und der Suntec City eine weitere Hochhausgruppe in den Himmel.
Und davor, jenseits der Esplanade-Brücke, über die das Marathonfeld nun unterwegs ist, sticht ein seltsames Gebäude ins Auge, das für Europäer aus diesem Winkel etwas von einem schuppigen Gürteltier oder stacheligen Igel hat. "Esplanade - Theatres on the Bay" heißt der V-förmige Komplex, denn in ihm verbergen sich ein Konzertsaal und ein Theater für jeweils rund zweitausend Besucher.
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Der letzte Kilometer beginnt an den ungewöhnlichen Kuppeln des Esplande-Theaters ... | mit den Hoteltürme der Raffles City im Rücken |
Bis zur Fertigstellung des Marina Bay Sands Resorts waren sie wohl tatsächlich das markanteste und futuristischste Gebäude der Stadt. Doch obwohl erst 2002 offiziell eingeweiht werden sie inzwischen - wie als Bestätigung für die Aussage, dass es in Singapur immer wieder eine Steigerung geben muss - eigentlich fast schon wieder als Selbstverständlichkeit hingenommen. Immerhin tauchen sie genau wie der Merlion in stilisierter Form ebenfalls im Marathonlogo auf.
Die metallenen "Stacheln" auf den beiden ungewöhnlichen Kuppeln haben dabei aber bei weitem nicht nur Bedeutung für das äußere Erscheinungsbild. Sie bilden vielmehr auch einen Schutz gegen die direkte Einstrahlung der Sonne, lassen aber andererseits jedoch noch genug Licht durch, um im Gebäudeinneren weitgehen ohne künstliche Beleuchtung auskommen zu können.
Einheimische fühlen sich allerdings durch diese Dachkonstruktion übrigens eher an die Frucht des Durian-Baumes erinnert. Und angeblich soll sie den Architekten beim Entwurf tatsächlich ein wenig als Vorbild gedient haben. Oft nennt man diese Obstsorte allerdings auch "Stinkfrucht", denn trotz des schmackhaften Fleisches haben sie auch einen ziemlich strengen und von vielen als abstoßend empfundenen Geruch.
Deshalb ist die Mitnahme in öffentliche Gebäude und die Metro verboten. Wer die Augen aufhält entdeckt immer wieder die entsprechenden Schilder. Damit war in Singapur aber eigentlich auch zu rechnen. Die große Überraschung ist jedoch, dass als seltene Ausnahme von der Regel bei Verstoß trotzdem kein "fine" fällig wird.
Der Marathonkurs schlägt einen Haken um die Esplanade-Theater, vor denen später sowohl der Fünfer und der Zehner wie auch die Kinderläufer gestartet werden, und stößt danach von der ebenfalls nach dem Stadtgründer benannten Raffles Avenue direkt ans Ufer der Bucht vor. Dort ist zwar eigentlich keine wirkliche Straße, aber das entlang der Wasserfläche verlaufende Asphaltband ist in diesem Abschnitt breit genug für das sich doch langsam ein wenig auseinander ziehende Feld.
Um die Marina Bay herum verläuft vermutlich eine der beliebtesten - und aufgrund der ständig wechselnden Aussichten auf das Stadtzentrum sicher auch eindrucksvollsten - Laufstrecken der Stadt. Vollkommen kreuzungsfrei bringt eine Runde, auf der es allerdings einige Treppenstufen zu überwinden gilt, knappe vier Kilometer für das Trainingsbuch.
Entlang des Singapore River ist die Schleife dank der mit Fußgängerunterführungen ausgestatteten Brücken noch deutlich zu erweitern. Insbesondere nach dem angesichts der Hitze für Europäer doch irgendwie ungewohnt frühen Sonnenuntergangs - in Äquatornähe sind die Tage und Nächte das ganze Jahr über konstant zwölf Stunden lang - herrscht wegen der guten Ausleuchtung der Promenaden Hochbetrieb.
Im Gegensatz zur doch ein wenig an Überalterung leidenden Laufszene hierzulande sind auffällig viele Jüngere unterwegs. Und auch der Frauenanteil ist ziemlich hoch. Sogar die eine oder andere Muslima mit Kopftuch sowie - im Gegensatz zu den in der Regel mit nur kurze Hose und Trägerhemd bekleideten übrigen Läufern - trotz der Hitze langen Ärmeln und Hosenbeinen kann man auf den Uferwegen bei sportlicher Betätigung entdecken. Auch bei den Rennen des Singapur Marathons werden einige in diesem doch eher ungewöhnlichen Sportdress dabei sein.
Die Strecke führt zwischen Wasserfront und einer großen Tribüne entlang, die an dieser Stelle seltsam verloren herumsteht und viel eher in ein Stadion passen würde. Doch genau das ist sie eigentlich auch. Denn auf der anderen Seite des Läuferfeldes schwimmt ein fußballfeldgroßes Floß, auf dem sowohl sportliche als auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Vermeintlich hochmodern wird die Kombination als "The Float@Marina Bay" bezeichnet.
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Die Bankentürme der Innenstadt und das Asian Civilisations Museum bilden den Rahmen für den Endspurt |
Von den immerhin mehr als fünfundzwanzigtausend Zuschauern fassenden Rängen kann man zum Beispiel bei der Silvesterfeier "Singapore Countdown" das große Feuerwerk beobachten. Ihren bisher herausragendsten Auftritt hatten Plattform und Tribüne aber wohl bei der im August 2010 in Singapur ausgetragenen Premiere der Olympischen Jugend-Sommerspiele. Die Eröffnung- und die Schlussfeier der Veranstaltung fanden nämlich dort statt.
Obwohl die meisten Singapurer ziemlich sportlich aussehen, tritt man auf diesem Gebiet international ansonsten aber eigentlich nicht groß in Erscheinung. Die Erfolge bei internationalen Großereignissen halten jedenfalls sich ziemlich in Grenzen. Seit der Unabhängigkeit des Landes hat man gerade einmal eine einzige olympische Medaille gewonnen.
Erst 2008 in Peking holten die Tischtennisspielerinnen mit dem hinter den Gastgeberinnen erkämpften Silber im Teamwettbewerb erstmals Edelmetall für den Stadtstaat. Dazu kommt nur noch eine weitere Silbermedaille durch den Gewichtheber Tan Howe Liang bei den Spielen von Rom im Jahr 1960, bei denen das damals noch britische Singapur mit einer eigenen Mannschaft antrat.
Verglichen zum Beispiel mit dem kaum mehr Staatsbürger zählenden Norwegen, das insbesondere im Winter als sportliche Großmacht auftritt, aber auch in anderen Disziplinen immer wieder einmal Spitzenathleten hervorbringt, ist das sicher eine eher durchwachsene Bilanz. Aber vielleicht misst man dem Leistungssport auch einfach nur nicht jenen manchmal weit übertriebenen Stellenwert bei, den er in Europa oder Amerika besitzt.
Bei den im früheren britischen Empire noch immer wichtigen Commonwealth Games gewinnen Singapurer dann doch etwas häufiger einmal Medaillen, meist allerdings in den als "typisch asiatisch" geltenden Sportarten Tischtennis und Badminton. Auch bei den Asienspielen fällt trotz der dort in der Regel klar dominierenden Volksrepublik China immer wieder einmal der eine oder andere Erfolg ab.
Und bei den "eigenen" Spielen 2010 reichte es zwar nicht zu einem Titelgewinn aber immerhin zu sechsmal Edelmetall. Unter anderem blieb überraschend die Bronzemedaille im Fußball im Land. Ansonsten ist man in dieser Sportart nämlich schon froh, wenn man bei WM-Qualifikationsspielen die erste Runde übersteht.
Eine eigene Profiliga mit zwölf Teams besitzt man zwar. Doch ist die Zusammensetzung dieser "S.League" schon ein wenig seltsam. Denn neben der Junioren-Nationalmannschafts Singapurs spielen dort auch die komplett aus Japanern bestehende Reserve-Mannschaft eines japanischen Erstligaklubs sowie der nur mit Franzosen auflaufende Etoile FC mit. Und meist wird nur vor wenigen tausend Zuschauern gespielt.
So trägt die Jugend Singapurs dann auch viel lieber die Trikots der englischen Top-Clubs Manchester United, Liverpool oder Chelsea als die der einheimischen Teams. Diese sind unübersehbar im Stadtstaat weit verbreitet. Doch auch T-Shirt mit schwarz-rot-goldenen Streifen und der Aufschrift "Germany" scheinen gerade ziemlich in Mode zu sein. Gleich mehrere davon bekommt man jeden Tag zu Gesicht. Und die Vermutung, dass dabei keineswegs Deutsche ihre Heimatverbundenheit zeigen möchten, liegt durchaus nahe.
Ein anderes extrem beliebtes Modeobjekt trägt man an den Füßen. Im heißen Klima des Äquators sind feste Schuhe natürlich nicht unbedingt nötig. Wer es sich erlauben kann, ist deshalb mit Sandalen unterwegs. Oder eben noch besser mit Badelatschen. Die Flip-Flops gibt es in unzähligen knallbunten Farbkombinationen. Und in fast allen Einkaufszentren gibt es einen Laden, der nichts anderes als all diese verschiedenen Varianten anbietet.
Unter der markanten Fußgängerbrücke namens "Helix Bridge", die "The Float" mit dem Marina Bay Sands verbindet und in ihrer Form an die sogenannte Doppelhelix der DNA erinnert, hindurch geht es zum Singapore Flyer, dem mit 165 Metern aktuell höchsten Riesenrad der Welt. Den Titel wird man zwar demnächst wohl wieder abgeben müssen, weil bereits an noch größeren Modellen gearbeitet wird, doch der Blick über die Marina Bay und die Stadt wird dadurch natürlich nicht schlechter. An Aussichtspunkten herrscht in Singapur wahrlich kein Mangel.
Schon an der Tribüne des Float waren einige seltsame Markierungen auf der Straße zu sehen gewesen. Und auch nun sind sie wieder links und rechts, wo der Asphalt an einen Rasenstreifen grenzt, angebracht. Es sind Begrenzungsmarken, denn man ist gerade auf einer Formel-Eins-Rennstrecke unterwegs. Seit einigen Jahren wird in Singapur schließlich ein Grand Prix ausgefahren.
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Auf der Anderson Bridge geht es zum vierten und letzten Mal über den Singapore River |
Eigentlich laufen die Marathonis sogar bereits seit der Esplanade-Brücke nahezu ununterbrochen auf dessen Kurs. Dieser Marina Bay Circuit besteht nämlich größtenteils aus öffentlichen Straßen. Nur im Bereich von Start und Ziel sowie der Boxengasse ist ein Stück Piste neu gebaut worden, das nicht für den Verkehr freigegeben ist. Und genau dieses hat man gerade unter den Füßen. Die Fahrer der überzüchteten Boliden sehen übrigens während ihrer rasanten Hatz um die Kurven kaum mehr als die Läufer. Denn im Stadtstaat wird ein Nachtrennen ausgetragen.
Vor dem Riesenrad wird Kilometer sieben passiert. Wie auf allen anderen Schildern ist auch auf ihm neben der Zahl noch ein gutgemeinter Ratschlag zu lesen. Über diese Sprüche kann man gelegentlich sogar einmal wirklich nachdenken. "Long distance is 90% mental and 10% physical" ist dafür ein gutes Beispiel. Doch manchmal erinnern sie auch nur an den Inhalt chinesischer Glückskekse.
Gegen das "Drink up" auf dieser Tafel gibt es wenig zu sagen. Doch gebraucht hätte man die Tipps vielleicht auch nicht unbedingt. Die Verpflegungsstelle, die dort aufgebaut wird, wo man die Formel-Eins-Piste wieder verlässt wäre angesichts der klimatischen Bedingungen wohl auch so ziemlich gut genutzt worden. Gerade an den ersten Posten, zu denen die Läufer noch in dichten Pulks kommen, haben die Helfer jedenfalls manchmal erhebliche Probleme mit dem Einschenken nachzukommen.
Der Marathonkurs schwenkt auf eine breite Ausfallstraße ein und beginnt bald darauf leicht anzusteigen. Auf einer weiteren Brücke wird erneut die Mündung eines der kurzen Inselflüsse überwunden. Jenseits dieses Kallang River ist mit Kilometer zehn nicht nur das erste Viertel der Distanz sondern auch die spektakuläre Abfolge touristischer Attraktionen zu Ende.
Die Innenstadt habe die Marathonis nun hinter sich gelassen. Nach dem Verlassen der Schnellstraße, geht es durch Wohngebiete, deren Hochhausblocks in der weiterhin herrschenden Dunkelheit sogar noch deutlich weniger interessant sind als im Hellen. Zu sehen gibt es nicht viel. Und trotz der massiven Werbekampagne kann man um diese Uhrzeit auch die Zuschauer, die sich um diese Zeit an die Strecke verirrt haben, praktisch einzeln mit Handschlag begrüßen.
Ein wenig ändert sich das Umfeld, als man nach einem Dutzend absolvierter Kilometer in den East Coast Park einbiegt, in dem sich das komplette mittlere Drittel des Marathons abspielen wird. Bis zur Halbmarathonmarke wird man immer parallel zur Küste ostwärts laufen, um dann auf praktisch dem gleichen Weg wieder nach Westen zum Ausgangspunkt zurück zu kehren.
Das merkt man spätestens in dem Augenblick, als plötzlich in der entgegengesetzten Richtung Läufer heran gerauscht kommen. Während sich das Mittelfeld auf der relativ breiten Service Road gerade erst in den lang gestreckten Park hinein begibt, haben ihn die Afrikaner an der Spitze schon hinter sich gebracht und verlassen ihn auf dem daneben verlaufenden Radweg wieder.
"It's incredible how fast they are", entfährt es einem eindeutig überraschten Marathoni. Er hat keineswegs unrecht. Denn trotz extremer Luftfeuchtigkeit und dreißig Grad Hitze hat die langsam zerfallende Kopfgruppe die erste Rennhälfte in ziemlich flotten siebenundsechzig Minuten zurück gelegt. Die schnellsten Frauen haben nur gut zehn Minuten später den Rückweg angetreten.
In dem vom - auch in Singapur als Sponsor auftretenden - Autohersteller BWM aufgebauten Kühlzelt, das man einige Kilometer später durchläuft, können sie sich also ganz sicher nicht lange aufgehalten haben. Große Klimaanlagen sorgen dort für etwas kältere Temperaturen. Doch ist das natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und kaum mehr als ein Werbegag. Nach wenigen Metern ist man wieder im Freien und bald darauf läuft der Schweiß schon wieder in Strömen.
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Der Schlussabschnitt bietet noch einmal viele und abwechslungsreiche Aussichten |
Die Wendepunktpassage durch den Park ist eigentlich interessanter als man es vielleicht anfangs vermuten könnte. Ständig verändert sich das Bild. Manchmal läuft man direkt entlang der Küstenlinie, einen Kilometer später bewegt man sich dagegen ein ganzes Stück im Land. Meist sind eher Rasenflächen mit vereinzelten Bäumen vorherrschend, doch gelegentlich befindet man sich auch mitten in dichter tropischer Vegetation. Dazwischen tauchen mit schöner Regelmäßigkeit Restaurants oder einmal sogar eine Hotelanlage auf.
Und nicht immer ist die Strecke auch direkt gegenläufig. Es gibt sogar Abschnitte, in denen die Marathonis auf Hin- und Rückweg sich nicht einmal erkennen können. Dafür ist dann allerdings meist ein Wäldchen oder eine Baumgruppe verantwortlich. Denn inzwischen kann man auch auf etwas größere Entfernungen etwas sehen. Die Dämmerung hat nämlich eingesetzt und von Minute zu Minute wird es heller.
Eigentlich geschieht dies zu spät. Bei zwölf Stunden Tag und zwölf Stunden Nacht sollte man erwarten, dass der Sonnenaufgang und -untergang jeweils gegen sechs Uhr stattfinden. Doch Singapur hat genau wie Malaysia eine Zeitzone gewählt, die nicht zur geographischen Position passt. Statt sechs Stunden, wie es sein müsste, gehen die Uhren im Stadtstaat gegenüber Mitteleuropa sieben Stunden vor. Man könnte auch sagen, in Singapur herrscht das ganze Jahr über Sommerzeit - und würde damit gleich doppelt richtig liegen.
Dass man sich am Nachbarland orientiert, das mit seinen östlichen, auf der Insel Borneo gelegenen Landesteilen zumindest zum Teil die "richtige" Zeitzone trifft, hat durchaus auch geschichtliche Gründe. Beide standen nämlich nicht nur unter britischer Oberhoheit, für eine kurze Zeit waren Singapur und Malaysia sogar in einem einzigen Staat vereint.
Nachdem sich die Briten einige Jahre nach der Gründung der Stadt mit den Niederländern endgültig über eine Aufteilung der Interessengebiete in Südostasien geeinigt hatten - das Vereinigte Königreich beanspruchte das Festland nördlich der Meerenge, während Niederländisch Ostindien aus den südlich davon gelegenen Inseln, dem heutigen Indonesien bestehen sollte - entstand 1826 aus Singapur und den ebenfalls auf der malaiischen Halbinsel gelegenen nun britischen Niederlassungen Penang und Malakka die Kolonie der "Straits Settlements".
Anfangs vom schon länger unter britischer Hoheit stehenden Indien aus regiert, wurden die "Siedlungen an der Meeresstraße" im Jahr 1867 eine eigene Kronkolonie. Zur selben Zeit dehnten die Briten ihren Einfluss auch auf die malaiischen Fürstentümer aus, deren Herrscher zwar formal selbstständig blieben, aber europäische "Berater" hatten.
Während Singapur weiterhin Kronkolonie blieb, allerdings innere Autonomie zugestanden bekam, entließ das langsam zerfallende Empire die Föderation Malaya 1957 in die Unabhängigkeit. Sechs Jahre später wurde der - bis dahin nur die malaiische Halbinsel umfassende - Bund dann aber durch Singapur und die auf Borneo gelegenen britischen Besitzungen Sarawak und Sabah erweitert. Aus "Malaya" wurde "Malaysia".
Zwar waren auch die malaiischen Sultanate Vielvölkerstaaten, denn auch dort lebten Malaien, Inder und Chinesen neben einander, allerdings mit eindeutiger malaiischer Vorherrschaft. Durch die chinesische Mehrheit in Singapur verschob sich das Verhältnis nun erheblich. Und die von Lee Kuan Yew geführte Regierung der Stadt machte entsprechenden Druck, die Ungleichbehandlung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu beenden.
Massive Spannungen zwischen dem ökonomisch starken Singapur und den übrigen Teilstaaten waren die Folge. In der Stadt gab es zudem mehrfach Unruhen und ziemlich blutige Zusammenstöße zwischen Malaien und Chinesen. Nur zwei Jahre später wurde Singapur formal aus der Föderation ausgeschlossen und erklärte sich daraufhin zum unabhängigen Staat.
Die so massiv auf den Ausgleich zwischen den Religionen und Ethnien bedachte Politik Singapurs, lässt sich auch mit diesen Ereignissen erklären. Selbst wenn die Chinesen klar in der Überzahl sind, sollen sie gefälligst nicht zu sehr dominieren. Und auch wenn Englisch und Mandarin inzwischen als Sprachen dominieren, wird die Nationalhymne zum Beispiel weiterhin auf Malaiisch gesungen.
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Von der Esplanade Bridge hat man beim Schlussabschnitt in fast jede Richtung einen hervorragenden Blick |
Das immer besser werdende Licht erlaubt, sich das Läuferfeld einmal genauer zu betrachten. Eindeutig überwiegen darin die Farben hellblau und grün. Das vor dem Lauf verteilte Trikot ist ganz klar das beliebteste Kleidungsstück. Doch man sieht auch andere Schnitte und Designs, denn schon seit Jahren hat das Veranstaltungsshirt die Farben des Hauptgeldgebers. Manchmal fällt es fast schon auf, wenn jemand etwas anderes trägt.
Die Helfer sind dagegen unterschiedlich gekleidet, denn das medizinische Personal trägt im Gegensatz zu den Streckenposten und Getränkereichenden rote T-Shirts. Eine der Hauptaufgaben dieser Freiwilligen besteht darin, die Läufer zu massieren. Und schon im East Coast Park, also noch zu einem relativ frühen Zeitpunkt, wird dieser Service ziemlich gut angenommen.
An den Sanitätsposten riecht es deshalb stark nach dem früher in Singapur tatsächlich vollkommen verbotenen, entgegen anderslautender Gerüchte inzwischen aber unter gewissen Umständen wieder erlaubten Kaugummi. Das von den Masseuren verwendete Einreibemittel ist doch ziemlich geruchsintensiv. Wer eine gute Nase hat, erkennt unter anderem Menthol und Minze.
Es handelt sich dabei um den in Ostasien beinahe schon legendären Tiger Balm, der gegen so ziemlich alles helfen soll. Man kann damit angeblich Erkältungen behandeln, man kann Kopf- und Bauchschmerzen verschwinden lassen oder ihn auch auf Insektenstiche schmieren. Und natürlich ist die in zwei verschiedenen Varianten existierende Salbe auch gut gegen Verspannungen und Krämpfe.
Naturschützer müssen allerdings keine Sorge haben, dass für dieses vermeintliche Allheilmittel tatsächlich Tigerteile verwendet werden. Den Namen hat Tiger Balm vielmehr von dem früheren Firmenchef Aw Boon Haw, dessen Vorname eben "Tiger" bedeutet. Sein Bruder Aw Boon Par heißt dagegen "Panther".
Zusammen sind die beiden auch für eine ganz besondere Attraktion Singapurs verantwortlich, die Tiger Balm Gardens. In diesem kleinen Themenpark einige Kilometer außerhalb der Innenstadt sind rund um den "Haw Par Villa" genannten Wohnsitz des Brüderpaares mit Dutzenden von Großstatuen sowie etlichen Dioramen chinesische Märchen und Mythen dargestellt. Aus europäischer Sicht ist das alles so knallig und schräg, dass es dadurch schon wieder unbedingt sehenswert wird.
Die Namen der Aw-Brüder zeigen ganz nebenbei auch, dass die Verhältnisse im ziemlich komplexen Singapur selbst in diesem Bereich nicht wirklich einfach sind. Denn das diesbezügliche chinesische Konzept stellt den Familiennamen an den Anfang und die Vornamen ans Ende. Doch der genaue Blick auf die Startnummern, wo sie jeweils aufgedruckt sind, belegt, dass es auch noch andere Möglichkeiten gibt.
Da kann man zwar zu Beispiel "Lim Lu Kai" entdecken, den man förmlich mit "Herr Lim" anreden müsste. Und über den Triathleten Mok Ying Ren, der in 2:46:01 zum dritten Male schnellster Einheimischer beim Marathon ist, wird die Zeitung Straits Times nach dem Lauf "Wok's threepeat" titeln. Aber es lässt sich eben auch "Jeffrey Wu", "Christopher Cheng" oder "Derek Li" finden, die trotz chinesischen Familiennamens einen englischen Vornamen besitzen und diesen auch voran stellen. Und "Johnny Tsan Wai Wong" nutzt irgendwie gleich beide Möglichkeiten.
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Die Tiger Balm Gardens, ein Themenpark rund um chinesischen Märchen und Mythen, sind aus europäischer Sicht so schräg, dass sie schon wieder sehenswert sind |
Als ob dies noch nicht genug wäre, gibt es dann auch noch die bei Malaien gebräuchliche, den Arabern abgeschaute Variante, als Nachnamen den Vornamen des Vaters anzuhängen, wie es "Yusnaem Bin Mohamed" oder "Hazmi Bin Hasan" tun. Ganz so antiquiert und exotisch, wie es auf Deutschsprachige im ersten Moment vielleicht wirkt, ist diese Methode allerdings auch nicht. In Island mit all seinen "-sons" und "-dottirs" hat man nämlich die gleiche Lösung. Und auch in Dänemark ist sie inzwischen wieder erlaubt und hat einige Anhänger.
Singapurer indischer Abstammung heißen zum Beispiel "Umapathi Thirugnanam" oder "Sivakumar Subramaniam". Sikhs, von denen auch beim Marathon einige mit einem kleinen Turban unterwegs sind, tragen allerdings aus religiösen Gründen praktisch alle den gleichen Nachnamen wie "Gurjeevan Singh". Und das heißt ja bekanntlich "Löwe". Wer in einem Singapurer Passamt arbeiten möchte, sollte also durchaus eine gewisse Flexibilität mitbringen.
Das Stück vor und nach dem Wendepunkt wird dann in beide Laufrichtungen wieder auf der mit Hütchen in zwei Spuren unterteilten Service Road am Rande des Parks absolviert. Wie alle anderen Parks in Singapur wird er von National Park Board verwaltet. Das hört sich allerdings viel gewaltiger an, als es eigentlich ist. Es gibt zwar auf der Insel tatsächlich einige kleine Naturschutzgebiete, in denen noch tropischer Regenwald erhalten ist. Doch das meiste was im Stadtstaat National Park heißt, ist nicht viel mehr als eine große Grünanlage.
Inzwischen ist auch längst klar, dass unterwegs etliche Kilometerschilder
fehlen. Konnte man in der Dunkelheit noch vermuten, das eine oder andere von
ihnen einfach übersehen zu haben, fällt dieses Argument bei deutlich
besseren Lichtverhältnissen nun eindeutig aus. Insbesondere im East Coast
Park sind wirklich einige von ihnen verschwunden. Weshalb das so ist, bleibt
allerdings fraglich.
In der Innenstadt waren sie schon Tage vor dem Rennen zu sehen. Und vermutlich hatte man sie auch auf dem grünen Wendepunkteil frühzeitig aufgestellt. Sollte selbst im ordnungsliebenden Singapur einige von ihnen tatsächlich von jemandem einfach mitgenommen oder versteckt worden sein? Man mag es irgendwie kaum glauben. Und doch zeigen gerade diese kleinen Organisationsmängel, dass der Stadtstaat vielleicht doch nicht ganz so steril und durchgeplant ist wie von Kritikern gerne behauptet.
Selbst wenn die Gesamtdistanz nach wie vor zweiundvierzig Kilometer beträgt und die Bestzeitenjagd aufgrund der äußeren Bedingungen ebenfalls ausfällt, ist es natürlich trotzdem irgendwie ärgerlich, viele Kilometer überhaupt keinen Anhaltspunkt mehr zu besitzen, wo man sich denn gerade befindet.
Zumal die Markierungen sowieso alles andere als genau gesetzt sind. Viel zu groß sind die Schwankungen, falls man doch einmal Vergleichsmöglichkeiten bekommt. Und spätestens wenn nach der Zusammenführung von Halb- und Vollmarathon im Schlussabschnitt die Kilometermarken 18 und 39, zwischen denen ja eigentlich hundert Meter liegen müssten, zusammen auftauchen, wird klar, dass man es in dieser Hinsicht wohl wirklich nicht allzu genau nimmt.
Wenig beeindruckt von solchen Details zeigt sich Charles Kanyao. Der Kenianer trifft dem Anschein nach sein ideales Tempo ziemlich genau, denn er absolviert auf dem Weg zu seinem ersten Marathonsieg überhaupt zwei nahezu identische Rennhälften. Nach 2:14:34 läuft er zu einem Zeitpunkt, zu dem der Rest des Feldes fast noch komplett im Küstenpark unterwegs ist über die Ziellinie.
Wenn man sich nur seine Startnummer ansieht, könnte man darüber schon ziemlich erstaunt sein. Diese ist nämlich keineswegs eine ein- oder zweistellige Elitenummer. Sie lautet vielmehr "738864" und hat zudem einen roten Hintergrund, ließe also eher auf einen Teilnehmer ganz am Schwanz des Rennens schließen.
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Vor und hinter der Brücke ragen die Hochhäuser in den Himmel |
Genau wie Luka Kipkemoi Chelimo, der sich erst auf den letzten Metern abhängen lassen muss und mit 2:14:39 Zweiter wird, gehört Kanyao nicht zu den lange im Voraus eingeladenen Athleten sondern ist kurzfristig ins Feld gerückt. Wie wenig das bei einem Läufer aus dem ostafrikanischen Hochland bedeuten muss, zeigen die beiden eindrucksvoll.
Ihr Landsmann John Kelai - mit der elf, also einer der Ziffernkombination für die Favoriten unterwegs - vervollständigt das rein kenianische Siegertreppchen in 2:15:46. Thomson Cherogony (2:17:03) und Charles Kibiwott (2:18:29) untermauern die erdrückende Übermacht, die das Marathonland Nummer eins in den letzten Jahren erarbeitet noch, bevor mit Gebresellasie Reda in 2:18:45 ein Äthiopier immerhin auf Rang sechs einläuft. Auch Peter Muriuki - erneut ein Kenianer - bleibt mit 2:18:57 noch unter zwei Stunden und zwanzig Minuten.
Ohne auf die dort verzeichneten Sportler eindreschen zu wollen, die ja nichts dafür können, dass niemand schneller ist als sie, sei dennoch einmal zum Vergleich erwähnt, dass in der deutschen Jahresbestenliste gerade einmal sechs Einträge zu finden sind, die schneller als diese Marke sind. Und der Kurpfälzer Hans Pfisterer, der als einziger Deutscher den Marathon in Singapur gewinnen konnte, lief bei seinem Erfolg 1988 immerhin eine 2:22:49.
Bis zu diesem Jahr war der Lauf im Stadtstaat nur im Zweijahresrhythmus ausgetragen worden. Ab 1989 gab es dann eine weitere Veranstaltung, die mit einem etwas anderen Konzept in den jeweils ungeraden Jahren gelaufen wurde. Erst zum Beginn des neuen Jahrtausend wurden beide zusammengelegt und durch den Einstieg des Sponsors Standard Chartered zum Großereignis.
Als die ersten Herren der Langdistanz dem Ziel entgegen stürmen, sind die Zehner noch nicht einmal auf die Strecke gegangen, die sie grob gesprochen über einem Wendepunktkurs auf den Marathonkilometern sechs bis zehn führen wird. Beide Siege werden dabei an Dänen gehen. Kent Normark wird mit 35:03 das Männerennen für sich entscheiden und Malene Munkholm in 41:43 alle anderen Frauen abhängen.
Auch von den Halbmarathonis ist noch keiner in Nähe des Padang, als dort zum ersten Mal das Zielband zerrissen wird. Und verglichen mit den Marathonergebnissen fallen die Zeiten auch deutlich schwächer aus. Allerdings beträgt die Siegprämie auf der kürzeren Distanz mit fünftausend Singapur Dollar auch gerade einmal ein Zehntel von dem, was man verdienen kann, wenn man den Marathon als Erster beendet.
Selbst der kenianische Gewinner Benard Mwendia Muthoni läuft mit 1:08:33 die einundzwanzig Kilometer im Schnitt etwas langsamer als sein Landsmann Charles Kanyao die doppelt so lange Strecke. Soh Rui Yong aus Singapur und William Kimutai Kurgat aus Kenia auf den Plätzen zwei und drei liegen in 1:15:34 und in 1:15:57 sogar noch weit dahinter.
Bei den Damen ist mit Esther Wambui Karimi ebenfalls eine Läuferin aus der ostafrikanischen Läufernation am Schnellsten. Nach 1:22:27 hält sie die 1:23:02 laufende Japanerin Jetani Satoko eine gute halbe Minute auf Distanz. Yucabeth Chelangat Bore ist mit 1:25:29 auf Rang drei schon ein ganzes Stück zurück.
Und genau wie bei den Herren müssen auch die Frauen im Marathon deutlich schneller laufen, um das Podest zu erreichen. Denn Irene Kosgei legt die zweiundvierzig Kilometer in 2:36:42 zurück. Die Kenianerin hat in Roman Gebregessesse aus dem Nachbarland Äthiopien am Schluss ihre ärgste Konkurrentin. Doch dieser sitzt bei ihrer 2:37:31 gleich wieder die in 2:38:06 gestoppte Magadelene Mukunzi im Nacken.
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Nagelneue und schon etwas ältere Gebäude wie das Marina Bay Sands und das Fullerton Hotel bilden in der Innenstadt einen reizvollen Kontrast |
Mit Halima Beriso (2:39:33) und Jacqueline Nytepi (2:40:57) geht dahinter das muntere Wechselspiel zwischen den Rivalen aus Äthiopien und Kenia im Minutenrhythmus weiter. Dahinter klafft dann aber doch schon eine größere Lücke. Immerhin kommt auch Magret Wangui in 2:53:59 noch klar unter drei Stunden ins Ziel. Die Russin Lyubov Denisova knackt mit 2:59:20 diese Grenze gerade eben noch.
Selbst zu diesem Zeitpunkt sind allerdings etliche Teilnehmer noch lange nicht beim Wendepunkt angekommen. Auf dem Rückweg führt die Strecke in vielen Abschnitten noch ein wenig näher ans Meer heran. Manchmal verläuft sie direkt an den auch im East Coast Park aufgeschütteten Stränden entlang. Draußen auf dem Wasser ist eine regelrechte Armada von Schiffen zu erkennen. Keine kleinen Fischerboote sondern dicke Pötte, Großtanker und Containerfrachter.
Schon beim Anflug auf den Changi Airport kann man - sofern er aus Süden über das Insellabyrinth Indonesiens erfolgt - diese kaum zu zählende Flotte von oben betrachten. Angesichts dieses Anblicks glaubt man sofort, dass kaum ein Seeweg befahrener ist als die Straße von Malakka und dass in Singapur einer der größten Häfen der Welt zu finden ist.
Entlang eines Kanal verlässt man den Park endgültig. Der dreißigste Kilometer ist der erste, der sich außerhalb der Grünanlage befindet. Doch das Gelände, durch das man nun geleitet wird, ist alles andere als attraktiv. Denn ein ganzes Stück geht es mitten durch eine Baustelle. Gebaut wird in Singapur ja fast überall. Und vielleicht sieht es an dieser Stelle beim nächsten Mal schon ganz anders aus.
Der Boden, auf dem man unterwegs ist, befindet sich eben noch nicht allzu lange in seiner aktuellen Position und wird jetzt mit einer Großaktion umgestaltet. Denn auch er ist aufgeschüttet. Durch solche Landgewinnungsmaßnahmen hat der Stadtstaat seine Landfläche schon erheblich vergrößert. Und arbeitet weiter daran. Eigentlich ist jede Flächenangabe praktisch mit der Veröffentlichung schon wieder veraltet. Um mehr als einhundert Quadratkilometer ist Singapur seit seiner Unabhängigkeit gewachsen, noch einmal so viele sind geplant.
Die Strecke führt im Bogen um einen Golfplatz herum und dabei wird das eine Zeit lang doch recht triste Bild auf einmal ziemlich beeindruckend. Denn nun läuft man auf die Stadt zu und hat deren gesamte Skyline vor sich. Den Singapore Flyer, das Marina Bay Sands, die Türme von Marina Square, Suntec und Raffles City sowie noch ein wenig weiter im Hintergrund das Bankenviertel.
Vielleicht ein bis zwei Kilometer wären es noch bis dorthin. Doch zum
einen liegt die - allerdings von eine Brücke überspannte - Mündung
des Kallang River dazwischen. Vor allen Dingen fehlen aber zur Marathondistanz
noch rund zehn Kilometer. Auf dem Kilometerschild, das man gerade passiert hat,
stand nämlich eine "32".
Nachdem man etliche Minuten das Panorama bewundern konnte kehrt der Kurs innerhalb von einhundert Metern seine Richtung komplett um. Ein weiter Linkschwenk bringt die Läufer auf eine Fußweg direkt am Ufer des vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht existierenden breiten Kanals, der von der Marina Bay, die einst selbst offenes Meer war, zur nun zwei bis drei Kilometer verschobenen Küstenlinie führt.
Gegenüber sind zwei Gebäude sichtbar, die in ihrer gewölbten Dachkonstruktion durchaus den hohen Standard von Singapur im Hinblick auf moderne Architektur erfüllen können. Ein Teil des rund um die Bucht gewonnenen Landes soll nämlich nicht mit neuen Hochhaustürmen bebaut sondern zu einem neuen großen Park werden, den "Gardens by the Bay".
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Am Clubhaus des Cricket Clubs von Singapur biegen die Läufer ... | auf die aussichtsreiche Zielgerade ein |
Die beiden Kuppeln werden als "Flower Dome" und "Cloud Forest" bezeichnet, denn unter ihnen sollen Pflanzen gezeigt werden, die ansonsten in Singapur nicht wachsen. Im Gegensatz zu botanischen Gärten in gemäßigten Breiten, wo man in Treibhäusern für tropische Gewächse künstliche Wärme erzeugt, muss man in Äquatornähe den entgegengesetzten Weg gehen und für Kühlung sorgen.
Nach ausgiebigen Besuch des einen Kanalufers und einem weiteren Kilometer hat man fast wieder den Ausgangspunkt des grünen und aussichtsreichen Schlenkers erreicht und darf nun hinüber auf die andere Seite. Es ist keine Brücke, auf der man das Wasser überquert, es ist ein Damm. Während sich links der Marathonis Salzwasser befindet, haben sie rechter Hand Süßwasser neben sich.
Singapur, das über keine natürliche Seen auf seinem Staatsgebiet verfügt, muss versuchen mit dem Bau von Rückhaltebecken und Reservoirs eine unabhängige Wasserversorgung sicher zu stellen. Im Landesinneren hat man schon eine ganze Reihe von ihnen errichtet. Mit der nun belaufenen Marina Barrage ist direkt an der Küste ein weiterer riesiger Wasserspeicher, nämlich die Marina Bay entstanden.
Die Sonne hat sich ihren Weg durch die Wolken gekämpft. Und nun machen den Läufern nicht nur Temperaturen und Luftfeuchte zu schaffen, auch das Zentralgestirn leistet noch seinen Beitrag, die äußeren Bedingungen schwer zum machen. Es wird langsam wirklich extrem zäh. Zumal die beiden folgenden, im Zickzack verlaufenden Kilometer alles andere als interessant sind. Auf dieser Seite der Bucht wird nämlich ebenfalls entweder gewerkelt oder das Gelände liegt noch weitgehend brach.
Erst mit dem Zusammentreffen der beiden Felder von Halb- und Vollmarathon ändert sich das Bild. Nicht nur weil es nun auf der eigentlich recht breiten Straße wieder vor Menschen nur so wimmelt. Man hat nun auch die drei ungewöhnlichen Hoteltürme mit dem auf ihnen gelandeten Schiff direkt vor sich.
Der Kurs wird an der Rückseite am schon bekannten Komplex vorbei geführt. Und die Schnellstraße gewinnt ein wenig an Höhe. Wirklich wild sind die Steigungen beim Marathon nun wahrlich nicht, selbst wenn die Stadt durchaus ein wenig wellig ist und die höchste Erhebung immerhin 177 Meter beträgt. Würde man sich nur auf das Profil beziehen, könnte man Singapur sogar als ziemlich schnelle Strecke bezeichnen.
Aber ein Schild am Straßenrand warnt dennoch nicht ganz zu unrecht vor der "Heartbreak Bridge". Denn in Kombination mit der Wärme sind sogar die zwanzig Höhenmeter dieser nach dem früheren Präsidenten von Singapur Benjamin Sheares benannte und wieder zum Riesenrad führende Brücke eine echte Herausforderung.
Noch einmal gilt es einen großen Bogen zu laufen. Denn bis man von der Rampe, über die man die Sheares Bridge wieder verlässt, zu der Stelle kommt, an der man sie unterquert, sind fast zwei Kilometer zurück gelegt. Eigentlich läuft man sogar dreimal unter ihr hindurch. Denn direkt nachdem sie am Singapore Flyer angekommen ist, vollführt die Brücke einen Neunzig-Grad-Schwenk, den man auf der Auffahrt und dem anschließenden Rückweg gleich doppelt passieren muss.
Längst bewegt man sich natürlich wieder in bekannter Umgebung, allerdings kommt man nun an der rückwärtigen Front der "Float-Tribüne" vorbei, um die Esplanade-Theater zu erreichen. Die dort beginnende Überquerung des Singapore River kennt man tatsächlich schon. Doch als man sie das erste Mal unter den Sohlen hatte, war es noch stockdunkel. Nicht nur wegen der umgekehrten Laufrichtung sieht alles ein bisschen anders aus.
Im direkten Abschluss geht es allerdings gleich wieder auf die andere Seite des Flusses. Die bisher von der Strecke noch nicht berührte Anderson Bridge läutet den Endspurt ein. Auch über diese Metallbogenbrücke rasen die Formel-Eins-Rennwagen beim Singapore Gran Prix, selbst wenn man es aufgrund der nicht gerade ausladenden Maße kaum glauben mag.
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Das Old Supreme Court Building und die Bankentürme von Downtown bilden den Hintergrund für die Zielfotos |
Nun ist man mitten im Civic District, dem alten Zentrum, angekommen und eine lange Reihe von Sehenswürdigkeiten wird die Marathonis ins Ziel begleiten. Erstes bemerkenswertes Gebäude ist das Empress Place Building mit dem Asian Civilisations Museum direkt am Fluss, das sich als Völkerkundemuseum auf asiatische Kulturen spezialisiert hat.
Während das Museum in voller Pracht zu bewundern ist, versteckt sich das Victoria Theatre hinter einem Bauzaun. Und auch das altes Gerichtsgebäude mit der markanten hohen Kuppel, auf das man direkt zuläuft, wir gerade entkernt und innen komplett umgestaltet. Wie schon das alte Parlament, in dem sich nun das Art House eingezogen ist, soll es zusammen mit der benachbarten City Hall in Zukunft nämlich ebenfalls kulturellen Zwecken dienen. Aus den beiden Prunkbauten aus britischer Zeit wird die neue Nationalgalerie Singapurs.
"Marathon to the right, half marathon to the left" rufen zwei Helfer abwechselnd in ihre Megaphone, um die Läufer in die beiden unterschiedlichen Einlaufspuren zu lotsen. Immer und immer wieder. Wie lange sie das so schon tun, ist zwar nicht klar. Aber sie zeigen eine bemerkenswerte Ausdauer. Vermutlich können sie am Ende ihres Einsatzes diesen Satz für das ganze kommende Jahr nicht mehr hören.
Doch wenn man in Singapur mit der U-Bahn unterwegs ist, kennt man die sich ständig wiederholenden Durchsagen wie "doors are closing" ja auch irgendwann so auswendig, dass man sie gar nicht mehr registriert. In den Stationen wird ja sogar unentwegt durchgegeben, dass man doch bitte erst den Aussteigenden Platz machen soll, bevor man selbst in den angekommenen Zug hinein geht. Und Pfeile am Boden, die genau das anzeigen und sogar die Warteposition vorgeben, gibt es auch noch.
All das passt wieder zum Bild des so perfekt organisierten Stadtstaates. Genau wie die im Zielbereich aufgehängten Tafeln, mit denen die gerade Angekommenen in unterschiedliche mit Absperrgittern voneinander getrennte Bereiche geleitet werden, um im Gewusel irgendwie die Übersicht zu behalten.
Doch der vom Regen des Vortages und den Abertausenden schon über ihn hinweg Marschierten völlig aufgeweichte und matschige Padang, lässt da schnell wieder gewisse Zweifel aufkommen.
Singapur ist einfach eine Stadt voller Widersprüche. Eine Stadt, für die man durchaus zwiespältige Gefühle empfinden kann - und eventuell sogar muss. Doch man sollte sich vielleicht erst einmal selbst ein Bild machen, bevor man ein zu schnelles und zu strenges Urteil fällt. Denn genau das ist es doch, was man selbst der Stadt meist vorwirft.
Eines kann man Singapur nämlich auf keinen Fall absprechen, es ist interessant und faszinierend. Egal ob man im Hellen durch die verschiedenen Viertel schlendert oder im Dunkeln an der Marina Bay zwischen hypermodernen Bauten der allabendlichen Lasershow zusieht. Von der Stadt der Vielfalt am Tag zur Stadt der Lichter in der Nacht.
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Singapur ist am Abend auch eine Stadt der Lichter, eine "fine city" - und zwar bei weitem nicht nur im Sinne von "Stadt der Geldstrafen" |
Der Singapur Marathon hat sich selbst die Überschrift "Run for a reason" verpasst. Und einen Grund braucht man vermutlich wirklich um sich diesen wahrlich nicht einfachen und in vielen Abschnitten nicht einmal spektakulären Lauf anzutun. Neben der Flucht vor der Winterdepression, für die man nun durchaus nicht so lange reisen müsste, gäbe es da tatsächlich einen guten Grund. Er heißt ganz einfach: Singapur.
Denn das vielzitierte Wortspiel trifft auf Singapur tatsächlich zu. Eine "fine city" ist es eindeutig. Und zwar bei weitem nicht nur im Sinne von "Stadt der Geldstrafen".
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Ergebnisse und Infos www.marathonsingapore.com Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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