7.1.09 - 18. Siberian Ice MarathonEin eisiges und dennoch "mildes" Vergnügen |
von Stefan Schlett
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Sanft setzt die alte Tupolev 154 in einer dunklen und eisigen Winternacht auf dem Provinzflughafen von Omsk in Westsibirien auf. Draußen hat es -14° C und nur wenig Schnee - für Ende Dezember sind das relativ milde und für sibirische Verhältnisse ungewöhnliche Wetterbedingungen. Wir sind hier 5 Zeitzonen von Mitteleuropa entfernt, bis nach Urumqi in der chinesischen Provinz Xinjiang sind es nur noch 1200 km und die Mongolei liegt quasi um die Ecke. Es geht gleich weiter ins 70 km südlich von Omsk, nahe der Grenze zu Kasachstan gelegene Örtchen Blumenfeld.
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Das 2000 Einwohner umfassende Dorf wurde vor über 100 Jahren von Deutschen und Esten gegründet, die im Zuge der durch die Transsibirische Eisenbahn initiierten Siedlungskampagne von der Wolga nach Westsibirien kamen. In dem aus gemütlichen, bunten Holzhäusern bestehenden Ort will ich mich zusammen mit Frank Schulz aus Dresden auf den Siberian Ice Marathon (kurz SIM genannt) vorbereiten, der traditionell am 7. Januar, dem orthodoxen Weihnachtsfest, bereits zum 18. Mal stattfindet. Schulz ist der einzige Veranstalter in Deutschland, der eine Reise zu dieser außergewöhnlichen Veranstaltung organisiert.
Unser Akklimatisationsprogramm sieht ausgedehnte Läufe in die umliegenden Birkenwälder vor und täglicher Besuch der Banja (russische Sauna) mit anschließender Schnee-Einreibung (ein herrliches Hautpeeling!). Eis und heiß sollen dabei die Akzente setzten, damit sich der Organismus optimal an die extremen klimatischen Bedingungen adaptieren kann. Daneben genießen wir die herzliche russische Gastfreundschaft und werden mit der spannenden deutschen Geschichte von Blumenfeld vertraut gemacht. In sehr vielen Familien wird auch heute noch Deutsch gesprochen.
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Vorbereitung in Blumenfeld |
Die Bezeichnung Siberian Ice Marathon ist leicht irreführend, denn es ist nur ein Halber, mit einem 7 km-Lauf als Rahmenprogramm. Einen ausgewachsenen Marathon gibt es auch, allerdings im Sommer, und das bereits seit 1990. Gleiche Organisation, gleiches Kürzel, nur daß das SIM hier für Siberian International Marathon steht. Nachdem sich der Marathon erfolgreich etabliert hatte (mittlerweile IAAF-Mitglied) entstand in Läuferkreisen der Wunsch nach einem ähnlichen Event im Winter. Die ersten beiden Eis(halb)marathons fanden am 31.12. als Silvesterläufe statt. Nachdem in Folge des Zusammenbruchs der atheistischen Sowjetunion das orthodoxe Weihnachtsfest wieder offiziell eingeführt wurde, verlegte man den Lauf auf das Weihnachtsfest am 6. oder 7. Januar, was eine deutlich höhere Resonanz zur Folge hatte. Im Gegensatz zur westlichen Hemisphäre, wo Silvester alljährlich mit Abstand der Tag mit den meisten Laufveranstaltungen ist. Die russische Mentalität ist nun mal anders. Das Organisationskomitee der beiden SIM's hat 9 hauptamtliche Mitarbeiter, dessen Budget sich aus Zuwendungen des Ministeriums für Sport, sowie Startgeld- und Sponsoreneinnahmen zusammen setzt.
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Seinen Ruf als kältesten Halbmarathon der Welt erhielt der Lauf am 6. Januar 2001, als Sibirien den kältesten Tag der letzten Jahrzehnte erlebte. Von 148 Teilnehmern schafften bei Temperaturen von -40° C gerade einmal elf die volle Distanz! Eine Region, die sich im Laufe von Jahrhunderten auf immer wiederkehrende unmenschliche Winter eingestellt hatte, erlag an diesem Tag und in den darauf folgenden Wochen einer besonders grausamen Laune der Natur. Eine Kältewelle brach über das Land herein, die innerhalb kürzester Zeit nicht mehr zu kontrollieren war.
Temperaturen von unter minus 50 Grad kann kein Kulturraum über einen längeren Zeitraum beherrschen, nicht einmal die in Sachen Frost so hoch spezialisierten Einwohner Sibiriens. In Krasjonarsk wurde der Rekordwert von 58 Grad minus gemessen. Sibirien wurde regelrecht eingeeist. Wochenlang blieben die Temperaturen unter 40 Grad minus. Der Katastrophenwinter forderte Hunderte von Menschenleben, teilweise erfroren die Leute in ihren eigenen Wohnungen.
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Der Journalist Tom Ockers, dortmals einer von drei Teilnehmern aus Deutschland, hat darüber ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Das 300-Seiten-Werk (Eis-Lauf - In der Kälte des Sibirien Marathons, siehe dazu im LaufReport unter Buch & Lesezirkel klick HIER) ist eigentlich ein Antilaufbuch, sehr ironisch, zynisch, äußerst humorvoll und zum Teil selbstverachtend geschrieben - und gerade deshalb so lesenswert. Es gibt hunderte von Büchern die den Laufsport glorifizieren und hochjubeln. Der Autor greift bewußt nicht in diese Schublade, ja er verhöhnt den Laufsport und seine Anhänger regelrecht und macht sich darüber lustig. Das Ganze relativiert sich allerdings, wenn man weiß, dass Tom Ockers 1999 den Hamburger Satirepreis verliehen bekommen hat. Das Buch ist eine köstliche Lektüre und als Kontrastprogramm für jeden literarisch interessierten Ausdauersportler auf jeden Fall eine "eiskalte" Empfehlung. Potentiellen Teilnehmern am SIM sowieso.
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Minus 10 Grad und leichtes Schneetreiben beim Start in Omsk, am 7. Januar 2009 - die 12 "Germanskis" am 18. Siberian Ice Marathon hatten objektiv wohl die bessere, sprich "wärmere", Wahl getroffen. Denn in Deutschland und Mitteleuropa war es an diesem Tag definitiv erheblich kälter! Auch ein Rekord, wenn auch ein kurioser. Aber eigentlich waren doch die insgesamt 17 ausländischen Teilnehmer aus 5 Nationen in den sibirischen Tiefkühlschrank gereist, um den kältesten Halbmarathon der Welt zu erleben und ggfs. auch zu überleben. Fast schon neidisch verfolgten wir die Meldungen auf Deutsche Welle TV mit Rekordtemperaturen in Sachsen und Sachsen Anhalt von bis zu minus 29,6 Grad. Na ja, wenn man bedenkt, daß der 7. Januar ein Mittwoch war und es sehr unwahrscheinlich ist, daß irgendwo auf der Welt noch ein Halbmarathon stattfand, dann war es -zumindest an diesem Tag- doch der kälteste Lauf.........
824 Läufer (449 Starter über 21,1 km und 375 über 7 km) und Tausende Zuschauer zelebrierten wie jedes Jahr ein großes Volksfest. Start und Ziel ist vor der imposanten Kreuzigungskathedrale, der größten und schönsten Kirche der Stadt. Es sind 6 Runden á 3,5 km zu laufen, was auf den ersten Blick monoton erscheint, aber für einen Wettbewerb unter normalerweise extremen klimatischen Bedingungen doch erhebliche Vorteile bringt.
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Das Feld ist leichter zu kontrollieren, Hilfe schneller zu leisten und der Läufer kann bei auftretenden Problemen nach jeder Runde entweder aufhören, die Kleidung modifizieren oder sich irgendwo aufwärmen. Nicht zuletzt ist so ein Rundkurs zuschauerfreundlicher. Und wenn es nicht gerade frostbeulenfördernde minus 40 Grad hat, zieht es den Omitschi, wie die 1,2 Millionen Einwohner von Omsk genannt werden, raus aus seiner überheizten Plattenbauwohnung, um die fröhliche "Weihnachtsparty" zu genießen. Vor allem will er die vielen skurrilen Typen sehen, die der Lauf jedes Jahr neben den besten Ausdauersportlern der Region anzieht. Da sind 80-jährige Damen mit Wolljacken und -hosen neben Soldaten in Kampfuniform und Springerstiefeln unterwegs. Auch Frauen mit Stöckelschuhen und Minirock oder Jeanshose und Lackschuhen entsprechen nicht unbedingt unseren westlichen Laufbekleidungs-Paradigmen. Weihnachtsmänner mit wallendem Umhang und langen weißen Bärten passen da schon eher in die Jahreszeit. Die Krönung sind alljährlich ein gutes Dutzend halbnackte Gestalten, mit kurzer Hose und freiem Oberkörper! Aber, das sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, dieser Lauf ist nichts für Untrainierte oder Weicheier, und schon gar nichts für untrainierte Weicheier. Auch deshalb paßt dieser Lauf so gut nach Sibirien: Das ganze Volk ist verdammt zäh. Ein echter Sibirier hustet eben nicht wegen Kälte, sondern höchstens wegen zu starker Zigaretten......
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Omsk wurde 1716 von dem Gardeoffizier Ivan Buchholz gegründet, der im Auftrag Peter des Großen den Platz für eine Festung aussuchte. Ihre erste Blüte erlebte Omsk im 19. Jahrhundert als Hauptstadt Westsibiriens, erlangte aber gleichzeitig auch traurige Berühmtheit als Etappenort der zaristischen Verbannung. Bekanntester Häftling war der berühmte Schriftsteller Fjodor Dostojewski, der seine Omsker Verbannung in den "Aufzeichnungen aus dem Totenhaus" niederschrieb. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Omsk zur "geschlossenen Stadt". Ausländer durften Omsk bis Anfang der 90er Jahre nicht besuchen, selbst für Sowjetbürger aus anderen Regionen war der Ort tabu.
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Die Laufstrecke liegt großteils in einer idyllischen Flußlandschaft und führt am Ufer des mächtigen Irtysch entlang. Der siebtlängste Strom der Welt entspringt im chinesischen Altai Gebirge und legt bis zu seiner Mündung in den Ob 4248 km zurück. Ein Wendepunkt ist an der Stelle eingebaut, wo das Flüßchen Om, nun komplett zugefroren, wie ein riesiger Gletscherstrom in den Irtysch mündet. Damit hat man einen attraktiven Kurs kreiert, der Stadt- und Landschaftslauf miteinander kombiniert. Flach und schnell ist er auch, wie die diesjährigen Siegerzeiten beweisen: Wadim Ulischov aus Murmansk hatte mit 1:08:25 Std. die Nase vorn, während bei den Frauen die Lokalmatadorin Evgenija Danilova in 1:20:57 Std. triumphierte.
Die orthodoxen Weihnachtsfeierlichkeiten und die Teilnahme an diesem stimmungsvollen, exotisch-kalten Wettbewerb sind schon ein außergewöhnliches Erlebnis.
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Eine besondere Weihnachtsüberraschung erwartete mich und Frank Schulz dann noch im Anschluß. Der Omsker Eisbadeclub lud uns spontan zu seinem traditionellen Ritual nach dem Lauf ein: Aufheizen in einer 100° C heißen Sauna, mit dampfendem Körper (immerhin ein Temperaturunterschied von 110° C!) im Laufschritt zum 200 m entfernt liegenden See und Schockfrostung in einem fachmännisch ausgehobenen Eisloch von 5 x 3 Meter, mit Ausstiegsleiter - einfach herrlich! Eine Einladung, der wir nicht widerstehen konnten! Gehört doch das Eisbaden (in der Regel ohne vorherige Sauna) zu einem unverzichtbaren Ritual, daß der Autor seit bereits einem ¼ Jahrhundert in jedem Winter pflegt und mit inbrünstiger Leidenschaft zelebriert. Sauna, "eiskalte Orgasmen", sowie verhaltener, aber obligatorischer Wodkagenuss rundeten somit das russische Weihnachtsfest ab.......
Stefan Schlett
InformationenSchulz Aktiv Reisen in Dresden ist der einzige Veranstalter, der eine Reise zum SIM im Angebot hat. Da Individualreisen nach Russland nur sehr schwierig zu organisieren und mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden sind, empfiehlt es sich, auf das Know-how des Spezialveranstalters und Russlandspezialisten zurück zu greifen. Es gibt zwei Programme: Neben der Basisreise (7 Tage, nächster
Termin: 03.-09.01.2010) gibt es eine Langversion (12 Tage, nächster
Termin: 29.12.09-09.01.2010) mit Gastaufenthalt bei einer deutschsprachigen
Familie, feierlichem Silvestermenü, täglichen Trainingsläufen
und Saunabesuch. Die ideale Möglichkeit um sich für die kalten
Temperaturen zu akklimatisieren - es muß ja nicht unbedingt im Kühlhaus
trainiert werden, wie das von einzelnen ausländischen Teilnehmern
in den vergangenen Jahren bereits praktiziert wurde...... Mehr Infos im Internet www.schulz-aktiv-reisen.de/Russland... Zwei Reiseprogramme gibt es auch für den Sommermarathon in Omsk, der dieses Jahr am 1. August stattfindet. Adresse: |
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Nachschlag: Humorvoller und nicht ganz Ernst zu nehmender Aufsatz "Was ist echte Kälte?"
Was ist echte Kälte ? Alles eine Frage der Einstellung! | |
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+ 10°C | Die Bewohner von Mietwohnungen in Helsinki drehen
die Heizung ab, die Lappen (Bewohner Lapplands) pflanzen Blumen |
+ 5°C | Die Lappen nehmen ein Sonnenbad, falls die Sonne noch über den Horizont steigt |
+ 2°C | Italienische Autos springen nicht mehr an |
O°C | Destilliertes Wasser gefriert |
- 1°C | Der Atem wird sichtbar. Zeit,
einen Mittelmeerurlaub zu planen. Die Lappen essen Eis und trinken kaltes Bier |
- 4°C | Die Katze will mit ins Bett |
- 10°C | Zeit, einen Afrikaurlaub zu planen. Die Lappen gehen zum Schwimmen |
- 12°C | Es ist zu kalt zum Schneien |
- 15°C | Amerikanische Autos springen nicht mehr an |
- 18°C | Die Helsinkier Hausbesitzer drehen die Heizung auf |
- 20°C | Der Atem wird hörbar |
- 22°C | Französische Autos springen nicht mehr an. Zu kalt zum Schlittschuhlaufen |
- 23°C | Politiker beginnen die Obdachlosen zu bemitleiden |
- 24°C | Deutsche Autos springen nicht mehr an |
- 26°C | Aus dem Atem kann Baumaterial für Iglus geschnitten werden |
- 29°C | Die Katze will unter den Schlafanzug |
- 30°C | Kein westliches Auto springt mehr an, aber die Russischen, weil die die Motoren laufen lassen und Wodka trinken |
- 31°C | Zu kalt zum Küssen, die Lippen frieren zusammen. Lapplands Fußballmannschaft beginnt mit dem Training für den Frühling! |
- 35°C | Zeit ein zweiwöchiges Bad zu planen. Die Lappen schaufeln den Schnee vom Dach |
- 39°C | Quecksilber gefriert. Zu kalt zum denken. Die Lappen schließen den obersten Hemdenknopf |
- 40°C | Das Auto will mit ins Bett. Die Lappen ziehen einen Pullover an |
- 44°C | Mein finnischer Kollege überlegt, evtl. das Bürofenster zu schließen |
- 45°C | Die Lappen schließen die Klofenster |
- 50°C | Die Seelöwen verlassen Grönland. Die Lappen tauschen die Fingerhandschuhe gegen Fäustlinge |
- 70°C | Die Eisbären verlassen den Nordpol. An der Universität von Rovaniemi (Lappland) wird ein Langlauf-Ausflug organisiert |
- 75°C | Der Weihnachtsmann verlässt den Polarkreis. Die Lappen klappen die Ohrenklappen an den Mützen herunter |
- 120°C | Alkohol gefriert. Folge davon: Die Lappen sind sauer |
- 268°C | Helium wird flüssig |
- 270°C | Die Hölle friert |
- 273°C | Absoluter Nullpunkt. Keine Bewegung der Elementarteilchen. Die Lappen geben zu: "Ja, es ist etwas kühl, gib mir noch ´nen Schnaps zum Lutschen. |
Und jetzt kennst du den Unterschied zwischen Lappen und Waschlappen! |
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Bericht von Stefan Schlett - Fotos Schulz Aktiv Reisen Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER Zum Porträt von Stefan Schlett im LaufReport klick HIER |
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