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4. ecco Östersund Marathon 25.7.09 SWEUm und über den großen See |
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von Ralf Klink
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Östersund? Irgendwie hat man das doch schon mal gehört. Aber wo? Kleiner Tipp: Hauptsächlich fällt dieser Name hierzulande im Winter. Richtig, bei der um diese Jahreszeit beliebtesten Fernsehsportart der Deutschen - dem Biathlon - laufen und schießen die Skijäger auch in Östersund um Weltcup-Punkte.
Doch wo liegt denn das? Na klar, in Schweden. Darauf werden vielleicht viele sogar noch selbst kommen. Aber wo genau? Da hört die geographische Allgemeinbildung dann in nahezu allen Fällen wirklich endgültig auf.
Nun Östersund ist zwar um einiges größer als seine deutschen Gegenstücke Ruhpolding und Oberhof, die nur durch den Wintersport überhaupt eine Chance haben, international wahrgenommen zu werden. Und auch größer als der österreichische Weltcuport Hochfilzen und das italienische Biathlonzentrum Antholz als ihre Nord- bzw. Südtiroler Entsprechungen, die in die gleiche Kategorie fallen und bei denen man nicht ohne Grund vor den Sportübertragungen erst einmal gezeigt bekommt, wo man sie den überhaupt findet.
Aber eigentlich ist das ja bei nahezu allen Wettkampfstätten im Winter so. Sieht man einmal von Oslo ab, das wohl doch die meisten im Atlas entdecken könnten. Doch mit diesem kann man auch in Östersund nicht nur deshalb nicht mithalten, weil der dortige Holmenkollen für den nordischen Skisport fast noch mehr ist als Wimbledon fürs Tennis.
Immerhin hat man gleich mehrfach versucht in einer anderen Hinsicht zur norwegischen Hauptstadt aufzuschließen. Denn bereits dreimal bewarben sich die Schweden um die olympischen Winterspiele, die ja in Oslo bekanntlich 1952 Station machten. Doch dreimal scheiterte man. Im Jahr 2002 gingen die Spiele nach Salt Lake City anstatt nach Östersund. Vier Jahr zuvor waren die Japaner in Nagano Gastgeber und nicht die Schweden.
Und bei der ersten Bewerbung 1994 wurden ausgerechnet die norwegischen Nachbarn aus Lillehammer mit der Ausrichtung bedacht. Das Ganze wurde dadurch noch auf die Spitze getrieben, dass es sogar im direkten Duell geschah, nachdem alle anderen Bewerber in den vorangegangenen Abstimmungen schon ausgeschieden und nur die beiden skandinavischen Orte übrig waren. Mit einigen Biathlon-Weltmeisterschaften durfte man sich in Östersund allerdings doch schon trösten.
Aber zurück zum Thema. Wo liegt denn dieses Östersund? Um die Schweden noch ein bisschen mehr zu ärgern, könnte man zur Beschreibung gleich wieder deren westliches Nachbarland zu Hilfe nehmen. Denn da wo Norwegen anfängt, langsam schmal zu werden, ist die Stadt Trondheim eingezeichnet. Und von dort muss man auf der Landkarte mit dem Finger nur ziemlich genau nach Osten wandern, um auf Östersund zu stoßen.
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Weder die "Gamla kyrka" noch die "Stora kyrka" passiert man | Nur auf der Medaille bekommt man das wuchtige Rathaus zu sehen |
Die Suche wird erleichtert, wenn man dabei auch noch nach einer größeren blau markierten Fläche Ausschau hält. Als "Storsjön" ist sie beschriftet. Und am Ufer dieses Sees wurde Östersund einst gegründet. Der "große See", wie der Name ziemlich unspektakulär ins Deutsche übersetzt heißt, ist zwar tatsächlich alles andere als klein. Immerhin hat er annähernd die Ausmaße des Bodensees. Aber dennoch nimmt er nur die Position Nummer fünf in der schwedischen Rangliste ein. Da hat man weiter im Süden des Landes ganz anderes zu bieten. Der Vänern zum Beispiel ist noch zehnmal größer.
Man könnte allerdings auch einfach sagen, Östersund befindet sich ziemlich genau in der Mitte von Schweden. Denn zur in die Ostsee hinein ragenden Südspitze und zum in den weiten Tundren Lapplands markierten nördlichsten Punkt des Landes ist es von der Stadt ziemlich genau gleich weit. Doch das gilt einzig und allein für die geographische Position. In Wahrheit liegt man damit schon ein ganzes Stück vom wirklichen Zentrum entfernt. Denn weit weniger als jeder zehnte Schwede lebt tatsächlich noch weiter im Norden.
Und so zählt man Östersund in Sverige dann selbstverständlich auch schon zu Norrland. Das "Nordland" ist zwar nur einer von den drei schwedischen Landesteilen, von denen die Skandinavier im Allgemeinen sprechen. Dennoch nimmt es deutlich über die Hälfte der Gesamtfläche ein. Jedoch ohne eine auch nur annähernd entsprechende Bevölkerung zu haben. Einheimische würden also die Lage von Östersund vielleicht eher als "im Süden von Nordschweden" beschreiben.
Mit seinen ungefähr fünfzigtausend Einwohnern ist Östersund dort auch weit und breit die größte Stadt. Genau genommen ist es sogar die einzige richtige Stadt im Umkreis von einigen hundert Kilometern. Also übernimmt man in der dünn besiedelten Region Jämtland dann auch ziemlich unangefochten die Rolle des wirtschaftlichen und sozialen Zentrums.
Nicht nur im Winter gibt es deshalb Veranstaltungen. Gerade innerhalb der wenigen Wochen zwischen Anfang Juli und Anfang August ballen sich die Termine. Das "Storsjöyran" genannte Stadtfest zum Beispiel zieht sechsstellige Besucherzahlen an. Höhepunkt ist das Musikfestival, bei dem schon internationale Stars wie Brian Adams auftraten. Über drei Tage werden dabei auf mehreren Bühnen bis zu achtzig Konzerte gegeben. Aber schon eine ganze Woche zuvor wird insbesondere am Seeufer gefeiert.
Doch auch in sportlicher Hinsicht geht es im kurzen nordischen Hochsommer ziemlich rund. Da gibt es am ersten Augustwochenende zum Beispiel die zweihundert Kilometer lange "Storsjön runt", bei der man den "großen See" mit dem Fahrrad umfahren kann. Immerhin bis ins Jahr 1923 blickt dieses Rennen zurück.
Während dabei auch die Breitensportler angesprochen werden, ist eine Woche zuvor eher die Radelite in Östersund unterwegs. Ein ganzes Rennwochenende unter anderem mit einem Bergsprint und einem Straßenrennen bringt viele der besten schwedischen Radfahrer in die Stadt am "großen See".
Jene skandinavischen Ausdauersportler, die sich lieber zu Fuß fort bewegen, richten Anfang des Monats Juli ihre Blicke nach Östersund. Denn dann wird zwischen der schwedischen Stadt und dem schon erwähnten norwegischen Trondheim St. Olavsloppet veranstaltet. Ein Langstaffellauf, bei dem an vier Tagen insgesamt mehr als 300 Kilometer zurückgelegt werden und bei dem viele Tausend Läufer aus beiden Ländern am Start sind.
Und nur wenige Wochen danach, am letzten Samstag im Juli findet auch noch der Östersund Marathon statt. Zwar hat dieser Lauf beileibe noch nicht die Tradition von St. Olvsloppet oder Storsjön runt, schließlich wurde er erst 2006 zum ersten Mal ausgetragen, doch zieht er genug Starter an, um die lokalen Zeitungen von einer "guten Beteiligung" sprechen zu lassen. Was bei einem genaueren Blick in die Meldeliste aber dann doch nicht so viel zu bedeuten hat.
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Tännforsen Wasserfall | Ristafallet Wasserfall |
Denn die mit der Startnummer eins beginnende Aufzählung der Marathonis endet schon, bevor die Zahlen vor den Namen überhaupt dreistellig werden können. Und auch der in Schweden als Rahmenwettbewerb nicht unübliche Halbmarathon zieht mit ungefähr zweihundert Teilnehmern kaum mehr Läufer an.
Eine gar nicht einmal untypische Größenordnung für schwedische Marathons. Und das obwohl man andererseits mit dem Lauf in Stockholm den mit Abstand größten skandinavischen Wettkampf über diese Distanz überhaupt veranstaltet. Diese inzwischen über dreißig Jahre alte Traditionsveranstaltung ist mit knapp zwanzigtausend Startern regelmäßig ausgebucht. Und obwohl sie in der Regel Anfang Juni stattfindet, geht bereits im späten Herbst in Bezug auf Anmeldung meist gar nichts mehr.
Vor einem guten Jahrzehnt wurde der Stockholmer Marathon in einem Buch zweier amerikanischer Laufjournalisten, die alle großen internationalen Rennen aufgrund einer längeren Liste von Kriterien bewerteten, sogar zum "besten Marathon der Welt" gekürt. Skeptiker meinen allerdings, dass man damit vielleicht auch nur dem Ärger aus dem Weg gehen wollte, einen der Platzhirsche New York, Boston, Chicago, London, Berlin oder Paris zur Nummer eins zu machen und damit allen anderen im schon damals recht engen Markt auf die Füße zu treten. Da war die schwedische Hauptstadt als Nummer eins irgendwie doch ein bisschen unverfänglicher.
Ob es mit diesem inzwischen längst gegenstandslosen Titel zu tun hatte oder einfach nur mit der allgemeinen Entwicklung der Marathonszene, spätestens seit Anfang des Jahrtausends boomt Stockholm wirklich und muss im Norden absolut keine Konkurrenten mehr fürchten. Doch der Rest der schwedischen Veranstaltungen kommt nicht wirklich auf die Füße und denkt statt in fünfstelligen eher in dreistelligen Zahlen.
Es ist in Europa zwar in vielen Ländern durchaus nicht unüblich, dass der Marathon in der jeweiligen Hauptstadt dominiert und für alle anderen Veranstaltungen nur deutlich kleinere Stücke vom Kuchen übrig bleiben. Aber so wie in Schweden werden diese nun wirklich fast nirgendwo sonst an die Wand gedrückt.
Selbst in Göteborg und Malmö, der zweit- und der drittgrößten Stadt des Landes gibt es keinen richtigen Stadtmarathon. Gelaufen wird dort zwar auch, allerdings nur am Stadtrand und keineswegs mitten durch die City. Nur bei den Europameisterschaften, bei denen ja Ulrike Maisch überraschend den Titel gewann, gab es auch einmal in der Innenstadt einen Marathon.
So bleibt nur "Göteborgsvarvet" als Alternative für Breitensportler. Der Göteborger Halbmarathon - der Name beinhaltet ein nettes Wortspiel, denn "varv" bedeutet im Schwedischen sowohl "Runde" als auch "Werft", von denen es in der Hafenstadt natürlich einige gibt - ist allerdings mit Teilnehmerzahlen jenseits der dreißigtausend eines der größten Rennen in Europa überhaupt und stellt selbst den Hauptstadtmarathon locker in den Schatten. Beim dreißigjährigen Jubiläum im Jahr 2009 wurde gar die Vierzigtausender-Marke überschritten, womit man erstmalig in die Region des bisher größten Halbmarathons weltweit, den Great North Run im britischen Newcastle, vorstieß.
Doch ansonsten ist das Angebot an großen Laufveranstaltungen in Skandinavien eher dünn. Dabei ist Schweden eigentlich ein durchaus für die Leichtathletik zu begeisterndes Land. Denn dort wird zum Beispiel - in Deutschland kaum denkbar - statt der Endphase der Tour de France im Fernsehen zwei Tage lang das Leichtathletik-Sportfest in London übertragen. Allerdings ist die schwedische Beteiligung bei der Frankreichrundfahrt nur mit einem Radprofi irgendwo im Mittelfeld kaum der Rede wert.
Auf der Tartanbahn ist man zwar zahlenmäßig auch kaum besser vertreten, doch ab und zu sind eben Sprinter oder Springer in blau-gelb vorne dabei. Weit genug jedenfalls, um bereits jetzt in den täglichen Sportnachrichten einen WM-Countdown mit Ausblick vorzunehmen. Im Gastgeberland - die WM findet immerhin in Berlin statt - ist man da deutlich weniger interessiert.
Allerdings bedeutet "Friidrott" auch in Schweden inzwischen hauptsächlich Schnellkraft. Die Mittel- und Langstrecken hat man längst ohne weitere Gegenwehr an die Afrikaner abgegeben. Irgendwann muss man wohl tatsächlich einsehen, dass jeder weitere Kampf ohne jede Aussicht auf Erfolg und ziemlich zwecklos ist.
Die Zeiten eines Gunder Hägg, der einst etliche Weltrekorde im Mittelstreckenbereich erzielte und als erster Athlet über fünftausend Meter unter vierzehn Minuten blieb, sind längst vorbei. Und in der Ära von Pulsmessung, GPS-Geräten und Computerauswertungen ist auch die von ihm international hoffähig gemachte intuitive Trainingsmethode des Fahrtspiels inzwischen schon fast wieder völlig in Vergessenheit geraten.
An Kjell-Erik Ståhl, der in den Achtzigern die erste Generation der Stadtmarathons gleich in Serie gewann und dabei - völlig gegen jene weit verbreitete Lehre, dass man bei zwei bis maximal drei Marathons jährlich starten darf - im Monatsrhythmus deutlich unter 2:20 lief, können sich ebenfalls nur noch die ganz alten Haudegen im Läuferzirkus erinnern. In den Siegerlisten von Frankfurt und Bremen wird sein Name jedoch dauerhaft verzeichnet bleiben.
Nur Waldemar Czierpinski verhinderte mit seinem dritten Platz, dass der Schwede bei der ersten Leichtathletik WM 1983 in Helsinki mit Bronze bedacht wurde. Natürlich hat der WM-Vierte Ståhl auch auf der anderen Seite der Ostsee in der eigenen Hauptstadt seine Visitenkarte hinterlassen. Doch heute laufen die Einheimischen weit hinterher und auch dort gewinnen zumeist Ostafrikaner. Allerdings sind die Siegerzeiten noch immer ziemlich ähnlich zu denen die Ståhl vor einem Vierteljahrhundert erzielte. Was jedoch weniger an der allgemeinen Leistungsentwicklung als am schmalen Stockholmer Budget liegt.
Die schwedischen Erfolge im Ausdauersportler gibt es noch immer. Doch kommen sie aus anderen Disziplinen. Neben dem schon erwähnten Biathlon und natürlich dem Skilanglauf, ist da vor allem der Orientierungslauf. Eine Sportart, die hierzulande eine absolute Exotenrolle inne hat und selbst von den meisten Läufern nicht einmal gekannt wird. In Schweden ist das "Orientering" dagegen fast schon ein Volkssport.
Über wichtige Veranstaltungen berichten die Zeitungen nicht nur in einer kleinen Meldung am Rande sondern auch einmal über eine ganze Seite. Selbst längere Übertragungen im Fernsehen sind absolut nichts Außergewöhnliches. Und beim "O-Ringen" genannten, fünf Tage dauernden Etappenrennen starten in unzähligen Klassen zwischen zehn- und zwanzigtausend Sportler. Ein alleine angesichts zigtausender zu produzierender Karten wirklich gigantischer organisatorischer Aufwand.
Natürlich sind die weiten skandinavischen Wälder für diese Disziplin besonders gut geeignet. So verwundert es dann auch nicht, dass Schweden dort eine der führenden Nationen ist. Und ebenso selbstverständlich pflegt man wie im nordischen Skisport mit den Nachbarn Finnland und insbesondere Norwegen eine ewige und ganz spezielle Rivalität.
Doch bewegt sich das durchaus auf einer freundschaftlichen, wirklich sportlichen Ebene und artet keineswegs aus. Von Straßenschlachten zwischen feindlichen, skandinavischen Fans hört man jedenfalls eher selten. Denn eigentlich kann man recht gut miteinander, was allerdings oft hinter den allgegenwärtigen kleinen Sticheleien und Witzen übereinander verborgen wird.
Doch selbst wenn man im direkten sportlichen Vergleich natürlich unbedingt gewinnen will, falls kein eigener Landsmann oder kein eigenes Team beteiligt ist, drückt man - natürlich nur insgeheim - durchaus schon einmal dem Nachbarn die Daumen. Und ein "Norrman" in irgend einem Wettbewerb ohne schwedische Beteiligung ist dem schwedischen Reporter genauso ein paar zusätzliche Sätze wert wie dem norwegischen Kommentator im umgekehrten Fall ein "Svenske".
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Marathonmarkierungen à la Östersund | Die Medaille mit Rathaus wartet schon auf den späteren Sieger Joseph Kimisi, der eine halbe Stunde vor dem Start auch noch ziemlich entspannt ist |
Schon seit Jahrzehnten arbeitet man schließlich in der Nordischen Union gut zusammen. Die Grenzkontrollen gehörten in Skandinavien schon längst der Vergangenheit an. Und zwar seit rund fünfzig Jahren, also einer Zeit, zu der man in Mitteleuropa an das Schengener Abkommen noch nicht einmal zu denken wagte. Auch ohne norwegische EU-Mitgliedschaft können deutsche Nordlandtouristen deshalb inzwischen bis ans Nordkap durchrollen ohne ein einziges Mal den Ausweis zücken zu müssen.
Jämtland, die Region um Östersund hat ein noch wesentlich engeres Verhältnis zum westlichen Nachbarn. Denn erst seit 1645 gehört es zu Schweden und war zuvor Bestandteil des - allerdings in Personalunion von Dänemark aus regierten - norwegischen Königreiches. Schon deshalb waren - und sind es zum Teil noch immer - die kulturellen Bindungen nach Westen fast stärker als zu den umgebenden schwedischen Provinzen.
Sogar die Besiedlung erfolgte höchstwahrscheinlich von dort durch die Volksgruppe der Trönder. Deshalb wird Jämtland manchmal ebenfalls dem "Tröndelag" - oder "Trøndelag", wie es auf Norwegisch richtiger heißt, wo das deutsche "ö" als "ø" geschrieben wird - also dem Gebiet der Trönder zugerechnet. Die Bezeichnung "Öst-Tröndelag" - das Schwedische kennt seinerseits wieder das "ö" - analog zu den norwegischen Provinzen Nord- und Sør-Trøndelag wird allerdings eher lokal verwendet.
Oder höchstens noch einmal von Norwegern, um die Nachbarn wieder etwas zu ärgern. Doch allzu weit sollten sie sich andererseits auch nicht aus dem Fenster lehnen. Denn während der weitesten Ausdehnung Schwedens als Ostseegroßmacht, eine Periode die auf Schwedisch "Stormaktstiden" heißt, wurden die westlichen Teile des Trøndelag ebenfalls eine Zeit lang von Stockholm aus regiert.
Das Jämtländische ist jedenfalls dem Dialekt auf der anderen Seite des skandinavischen Gebirges und der dort verlaufenden Grenze, dem "Trøndersk" ziemlich nahe. Ohne Probleme kann man sich auf "Jamske" mit den Nachbarn verständigen. Andererseits ist es ziemlich weit von der "Reichsschwedisch" genannten Hochsprache entfernt.
Doch eigentlich ist das überhaupt nicht erstaunlich. Das ist überall in Skandinavien so. Sieht man einmal vom zu einer völlig anderen Sprachgruppe gehörenden Finnisch, das einzig und allein die Esten noch halbwegs leicht verstehen und erlernen können, ab. Denn Sprachforscher sehen im Gebiet des Norwegischen, Schwedischen und Dänischen ein sogenanntes Dialektkontinuum mit fließenden Übergängen.
Jeder Dialekt ist dabei für den Sprecher des Nachbardialektes verständlich. Doch je weiter man sich entfernt, umso schwerer wird es. So wie ein schleswig-holsteinischer Marschbauer eigentlich kaum eine Chance hätte seinen Kollegen von der bayerischen Alm zu verstehen, so wenig verstünde der Südschwede aus Malmö den Nordschweden aus Lappland, gäbe es nicht die gemeinsame Schriftsprache.
Umgekehrt kann der Malmöer aber sehr wohl begreifen, was ihm der Kopenhagener auf der gegenüberliegenden Seite des Öresundes zu erzählen hat. Dieser hat seinerseits wieder erheblich mehr Mühe mit dem Jütländer auf dem dänischen Festland als mit dem Schweden, von dem ihn nur der inzwischen von einer Brücke überspannte Meeresarm trennt.
Dass sich davon gleich mehrere Schriftsprachen in Skandinavien entwickelt haben, ist wie so vieles am Ende eher zufällig, mehr den Wirren der Geschichte und der politischen Situation geschuldet als wirklich großen Unterschieden und der Zugehörigkeit zu einem ganz speziellen Volk. Unter anderen Umständen hätten die Grenzen zwischen den drei nordischen Königreichen auch völlig anders verlaufen können. Und zwar mit genau der gleichen Berechtigung.
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Auf dem Schotterparkplatz ist mit Absperrungen aus dem Skistadion der Start aufgebaut |
Nur zum deutschen Sprachraum - bei dem es in Bezug auf das Niederländische übrigens eine ähnliche Konstellation gibt - kann man die skandinavischen Sprachen relativ gut abgrenzen. Intern dagegen eigentlich nicht. Mit etwas Bemühen können sich Dänen, Schweden und Norweger deshalb auch untereinander verständigen, ohne gleich auf das in allen drei Ländern weit verbreitete Englisch als Notlösung ausweichen zu müssen. Der Wortschatz und die Grammatik sind schließlich größtenteils gleich, selbst wenn Aussprache und Schreibweise gelegentlich etwas voneinander abweichen.
So gesehen ist es eigentlich erstaunlich, dass sich nur so wenige Norweger in der Startliste von Marathon und Halbmarathon finden. Zumal es nach Trondheim ja auch kaum weiter ist als bis zur am nächsten gelegen schwedischen Stadt. Denn nach Sundsvall, das seinerseits nicht mehr Bürger hat als Östersund selbst, muss man ebenfalls runde zweihundert Kilometer mit dem Auto fahren. In die drittgrößte Gemeinde Norwegens sind es auf dem kürzesten Weg gerade einmal fünfzig mehr.
Nicht einmal zwei Hände braucht man jedenfalls, um dort das Kürzel "NOR" mit den Fingern abzuzählen. Da findet man auch fast genauso viele Deutsche. Und auch die Läufer aus "Storbritannien" sind in ähnlicher Menge vertreten. Doch neben einem einzelnen Niederländer, der sein oranges Fußballtrikot über die Marathonstrecke tragen wird, bleiben ansonsten die Schweden weitestgehend unter sich.
Dabei wäre der Lauf nicht nur aufgrund der relativen Nähe zur Grenze eigentlich für die Norweger recht interessant. Denn Schweden hat von allen skandinavischen Nationen das niedrigste Preisniveau. Und so mancher "Norrman" fährt gerne einmal ins Nachbarland zum Einkaufen. Auch der Östersund Marathon ist gerade für nordische Verhältnisse mit dreihundert schwedischen Kronen - umgerechnet nicht einmal dreißig Euro - bei frühzeitiger Anmeldung ein regelrechtes Schnäppchen. Zwar kosten auch in Norwegen die kleinen Marathons in der Regel etwa drei- bis vierhundert Kronen. Das aber in der norwegischen Währungsvariante. Und die hat eben einen um etwa zwanzig Prozent höheren Wert.
Selbst die Anreise wäre bei einer Startzeit von zehn Uhr auch von jenseits der Grenze aus noch am Wettkampftag möglich. Das ist für ein skandinavisches Rennen sogar noch relativ früh. Denn selbst im Sommer geht es im Norden Europas eher um elf oder zwölf los. Und die beiden nordischen Großmarathons in Stockholm und Helsinki werden trotz ihrer Termine in der warmen Jahreszeit sogar erst am Samstagnachmittag gestartet.
Ein Grund für den aus mitteleuropäischer Sicht doch relativ späten Beginn ist sicher auch, dass die weiten Wege, die in den eher dünn besiedelten Ländern nötig sind, um zu den Läufen zu gelangen, noch zu einigermaßen erträglichen Uhrzeiten angetreten werden können. Und um nicht gar zu sehr aus den Rahmen zu fallen, werden die Halbdistanzler dann auch in Östersund erst zur Mittagszeit auf die Reise geschickt.
Bis eine Stunde vor dem Start kann man im direkt neben dem zentralen Innenstadtplatz "Stortorget" gelegenen Clarion Hotel Grand seine Startnummern abholen. Das hört sich im ersten Moment viel repräsentativer an als es in Wahrheit ist. Denn um die Unterlagen zu bekommen, muss man in einen relativ kleinen und zudem ein wenig versteckten Kellerraum, wo hinter einer Theke gerade einmal zwei Helferinnen die Umschläge verteilen. Doch Hektik oder Wartezeiten gibt es dennoch keine.
Viel mehr Personal muss es bei diesen Teilnehmerzahlen und der Möglichkeit schon am Freitag, also am Vorabend des Samstags ausgerichteten Laufes, dort vorbei zu schauen, aber auch wirklich nicht sein. Und richtig voll wird selbst dieser kleine Raum weder am einen noch am anderen Tag. Was aber auch daran liegt, dass beide Starts alles andere als um die Ecke liegen und die Nummernausgabe hauptsächlich deshalb im Hotel stattfindet, weil es als einer der Sponsoren seine Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung stellt.
Ein Pendelbus bringt die Läufer dann vom Stortorget zu ihren Startorten. Der "große Platz" wird gerade umgestaltet, ist eher eine große Baustelle. Doch kann man sich durchaus vorstellen, dass er nach Fertigstellung ein wirklich lebhafter Treffpunkt im Stadtzentrum werden kann. Denn er befindet sich schon ein ganzes Stück oberhalb des "großen Sees" und bietet zumindest von seinem oberen Teil einen ganz guten Blick aufs Wasser.
Wie die gesamte Innenstadt hat er nämlich eine Hanglage. Von Ufer aus ziehen sich die Häuser einen zwar weder allzu hohen noch allzu steilen Hügel hinauf. Dennoch liegt aber jede weitere Straße wieder ein Stückchen höher über dem See. Ihr schachbrettartiges Muster zeigt zudem, dass Östersund keineswegs eine gewachsene sondern eine geplante Stadt ist. Erst 1786 wurde die Siedlung gegründet, um der bis dahin absolut ländlichen Region ein städtisches Zentrum zu geben.
Kaum mehr als zweihundert Jahre hat Östersund also auf dem Buckel und kann deshalb natürlich nicht wirklich mit vielen historischen Sehenswürdigkeiten aufwarten. Und an etlichen Stellen des Zentrums haben längst schon wieder moderne Zweckbauten aus den letzten Jahrzehnten die ursprüngliche Bausubstanz verdrängt. Einige alte Straßenzüge sind allerdings doch noch in halbwegs geschlossener Form erhalten.
Am wichtigsten Touristenmagnet der Stadt rollt der Bus, der die Marathonis zum Start bringt, ebenfalls kurz vorbei. "Jamtli" heißt die mit Heimatmuseum nur unzureichend beschriebene Ausstellung. Im großen Freigelände hat man etliche Gebäude aus der Region zusammen getragen, in denen den Besuchern handwerkliche Tätigkeiten vergangener Epochen vorgeführt werden. Und im Hauptgebäude finden sich neben einer reichen Sammlung lokaler Kunst auch natur- und kulturhistorische Exponate.
Einzigartig ist es zwar sicher nicht. Dieses Konzept gibt es auch anderswo auf der Welt an vielen Orten. Und einen "Hembygdsgård" - übersetzt etwa "Heimathof" - findet man in nahezu jeder schwedischen Gemeinde. Meist ist es ein alter Bauernhof, den man erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, in der Regel kostenlos. Auch rund um den Storsjö gibt es einige davon. Aber Jamtli hat eben doch etwas andere Dimensionen, ist gleich um mehrere Nummern größer. Das Museum sorgt jedenfalls dafür, dass das ansonsten doch eher unspektakuläre Östersund in den meisten Reiseführern die Kennzeichnung "besonders sehenswert" erhält.
Das Ziel der Busfahrt ist jedoch jener Ort, den man hierzulande viel eher mit Östersund in Verbindung bringt, das Skidstadion. Wer jetzt meint, das sei ein Schreibfehler, es müsse doch Skistadion heißen, der irrt. Denn während man fast überall das norwegische Wort "Ski" übernommen hat, kennt man im Schwedischen ein eigenes, eben "Skid". Wieder ein kleines Beispiel dafür, wie ähnlich und doch leicht unterschiedlich die skandinavischen Sprachen sind.
Auch wenn die Norweger vielleicht sogar nicht ganz zu Unrecht behaupten, die Väter des modernen Skilaufens zu sein, hat in Schweden die Fortbewegung auf zwei Brettern eine ähnliche, viele Jahrhunderte alte Tradition. Im schneereichen Jämtland sowieso. Jede auch nur halbwegs größere Ortschaft hat ihr "Skidstadion", wobei es aber hauptsächlich um Langlauf geht. Und manchmal gibt es - wie in Östersund - eben auch ein Skidskyttestadion, in dem man neben Ski laufen auch noch schießen muss. Die bei uns gebräuchliche Bezeichnung "Biathlon" kommt im schwedischen Wortschatz nämlich nicht wirklich vor.
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Für einige hundert Meter läuft man vor Brunflo genau in die Richtung zurück, aus der man gerade gekommen war |
Wintersportgelände habe im Sommer sowieso meist ein ziemlich trostloses Aussehen, wie gerade in den Bergen viele jener kahlen, an Mondlandschaften erinnernde Schneisen zeigen, die man für Skipisten in die Landschaft geschlagen hat. Doch das Biathlonstadion von Östersund wirkt irgendwie besonders trist. Denn es liegt eben nicht völlig im Wald und ein ganzes Stück weg von der Stadt sondern am Rand eines Industriegebietes.
Doch vielleicht trägt zu dem traurigen Bild, das sich ohne Schnee sowieso bietet, auch noch das trübe Wetter bei. Denn kurz bevor sich der Bus um neun Uhr in Bewegung setzte, hat es zu regnen begonnen. Nichts wirklich Neues, schon am Vortag konnte man froh sein, dass es nach einem völlig verregneten Morgen, später wenigstens trocken blieb.
Und am Sonntag wird es kaum besser werden, nur noch kälter und ungemütlicher. Mit Mühe werden es da die Temperaturen überhaupt in den zweistelligen Bereich schaffen. Ein wenig wärmer ist es am Renntag zwar doch noch, aber den Erzählungen von einer Hitzeschlacht bei der letztjährigen Austragung des Östersunder Marathons mit knallender Sonne und dreißig Grad mag man angesichts dieser Bedingungen nun wirklich kaum Glauben schenken.
Schweden ist zwar nicht so feucht wie sein westlicher Nachbar Norwegen, da das skandinavische Gebirge einiges von den über das Meer herein ziehenden Wolken abhält. Man sagt dem Land sogar eher ein kontinentales Klima mit warmen Sommern, dafür aber auch recht kalten Wintern nach. Und Östersund gilt zudem als einer der Orte mit den meisten Sonnenstunden, doch fallen am Storsjön die meisten Niederschläge eben trotzdem im Sommer. Vielleicht ist es ein klein bisschen zu kühl, aber wirklich ungewöhnlich sind die Witterungsverhältnisse für den Monat Juli dann doch nicht.
Es mag trüb und grau sein, so dass es einem Mitteleuropäer furchtbar aufs Gemüt schlagen kann. Aber eines ist es in Östersund um diese Zeit dennoch nicht, nämlich dunkel. Zwar liegt die Stadt noch gute drei Breitengrade südlich des Polarkreises, so dass die Mitternachtssonne nicht bis dorthin vordringen kann. Und der längste Tag des Jahres im Juni liegt am Marathonwochenende auch schon wieder mehr als einen Monat zurück.
Dennoch würde die Sonne, wäre sie denn ohne die störenden Wolken einmal am Himmel sichtbar, erst kurz vor elf von dort verschwinden. Und bereits vor vier Uhr am Morgen erhebt sie sich wieder über den Horizont. Berücksichtigt man auch noch die Dämmerungszeiten, haben die Östersunder Ende Juli jedenfalls kaum drei Stunden wirkliche Nacht.
Die Kehrseite der Medaille - die allseits bekannte Aussage "kein Licht ohne Schatten" passt in diesem Fall nicht nur im übertragenden Sinne - ist dann allerdings auch, dass es um die Weihnachtszeit kaum länger als jene wenigen Stunden hell wird. Die Biathleten laufen bei ihrem Auftritt im Dezember jedenfalls schon am frühen Nachmittag unter Flutlicht.
Eventuell sind die Schweden ja auch aus diesem Grund - um der Winterdepression durch fehlendes Licht über den die Produktion von Zufriedenheitshormonen anregenden Zucker zu entgehen - solche Süßmäuler. Fast allgegenwärtig sind die "Kanelbullar" genannten Zimtschnecken. Und wo sonst werden in jedem Supermarkt - selbst bei einer aus Deutschland eingefallenen Discount-Kette - noch Bonbons, Lakritz und Weingummi lose verkauft? Aus einer ganzen Wand von Fächern kann man sich auch im kleinsten Lebensmittelladen seine ganz persönliche Mischung zusammen stellen.
Angesichts der ungemütlichen äußeren Bedingungen verkrümeln sich die meisten Läufer erst einmal in den Umkleidekabinen der Jämtkraft Arena. Damit ist nicht das Skistadion selbst gemeint sondern das auf der gegenüberliegenden Seite von Straße und Parkplatz errichtete Fußballstadion, das seine Pforten für die Marathonis geöffnet hat. Erst 2007 wurde es fertig gestellt und nach dem örtlichen Energieversorger benannt. Mit seinen fünftausend Sitzplätzen könnte es für die in der dritten schwedischen Liga kickenden Östersunder Fußballer vielleicht bei Spitzenspielen angemessen sein. Für nicht einmal einhundert Läufer ist es definitiv überdimensioniert.
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Auf der E14 läuft man nach Brunflo hinein |
So richtig nach dem Startort eines Marathons sieht das ganze sowieso nicht aus. Von Starttransparent, Lautsprecherboxen oder Absperrungen keine Spur. Wo es denn da in einer guten halben Stunde losgehen soll, kann man als Östersund-Neuling nicht einmal erahnen. Der Trubel, der sich sonst oft vor einem Lauf ergibt, fehlt jedenfalls völlig. Selbst die wenigen Leute aus der Organisationsmannschaft, die sich rund ums Stadion sehen lassen, machen einen ziemlich gelassenen Eindruck.
Das mag durchaus auch an der doch zumeist ruhigen, ausgeglichenen und bedächtigen Art der Menschen aus dem Norden liegen. Wilde Gefühlsausbrüche und nicht vorherzusehende Sprunghaftigkeit sind ihrem Charakter eigentlich eher fremd. Selbst wenn das natürlich absolut nicht zu verallgemeinern ist und man mit Sicherheit auch ziemlichen Ausnahmen über den Weg laufen kann.
Die Unauffälligkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung der meisten Skandinavier lässt sich selbstverständlich als Angepasstheit verunglimpfen. Die unterschwellige Abneigung gegen Extreme als Hang zum Mittelmaß. Und die Tatsache, dass es in der sozialen Struktur nur geringe Ausreißer gibt, als Gleichmacherei.
Doch Protzen hat man in Schweden halt nicht unbedingt nötig. Man ist nicht nur deshalb mehr, weil man mehr besitzt. Hochmotorisierten Autos bestimmter Nobelmarken scheint, wenn man sich auf den Straßen so umsieht, jedenfalls kaum jemand die Bedeutung bei zu messen, die sie anderswo haben.
Und über dem Geschäft für Wanderbekleidung, Rucksäcke und Zelte steht keineswegs wie bei uns zumeist ein schrilles "Outdoor-Shop" sondern ein auch für deutsche Ohren halbwegs verständliches simples "Friluftsbutik". Was natürlich auch damit zusammen hängt, dass man die fast alle ziemlich gut Englisch beherrschenden Schweden durch so einen fremdsprachlichen Begriff nun wirklich überhaupt nicht mehr beeindruckt.
Mit "mehr sein als scheinen" könnte man jedenfalls die durchaus typische Grundauffassung beschreiben. Es gibt für diese weit verbreitete Einstellung aber auch ein eigenes, nur schwer in andere Sprachen übersetzbares schwedisches Wort. Es heißt "lagom" und bedeutet etwa so viel "genau passend", "angemessen" oder "nicht zu viel und nicht zu wenig".
Da ist es eigentlich ziemlich erstaunlich und fast schon unschwedisch, wie ausdrücklich man beim Östersunder Marathon dann doch heraus hebt, dass man eines der wenigen Rennen über diese Distanz im Land sei, die auf einer einzigen großen Runde ausgetragen werden. Beim Hauptstadtlauf in Stockholm geht es im Gegensatz dazu nämlich - wie eigentlich jedem schwedischen Läufer bekannt sein dürfte - über zwei nahezu identische Schleifen.
Die völlig entspannte Atmosphäre am Stadion überträgt sich nicht nur auf die Freizeitläufer. Auch der vom Hauptsponsor des Marathons - dem neuerdings auch im Laufsport vertretenen Schuhhersteller ecco - angeheuerte Kenianer Joseph Kimisi lümmelt noch zu einem Zeitpunkt im Trainingsanzug in der Kabine herum, zu dem bei einer größeren Veranstaltung sich die Spitzenläufer längst wie nervöse Rennpferde auf der Startgeraden einlaufen.
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Parallel zur Inlandsbana geht es an Kilometer zwanzig vorbei |
Es sind kaum noch zehn Minuten bis zum Start, als endlich die ersten Sporttaschen in dem für den Transport zum Ziel bereit gestellten Anhänger landen. Viel früher wäre das aber auch gar nicht gegangen, denn erst jetzt hat ihn ein Helfer überhaupt geöffnet. Wobei die Tatsache, dass der Einlauf dann doch wieder woanders - nämlich am Seeufer - stattfindet, die Wahl des Startortes noch ein wenig seltsamer erscheinen lässt.
Erst weitere fünf Minuten später winkt einer der Organisatoren dann langsam einmal die Läufer zu sich. Und nun wird auch klar, wo der genaue Startpunkt sein wird. Denn er geht hinüber zu dem großen Schotterparkplatz, auf dem einige jener Gatter aufgebaut sind, die man als Absperrungen aus den Skistadien kennt.
Oft sind sie ja rot. Doch in Schweden, wo selbst die Schilder, die in engen Kurven platziert sind, blaue und gelbe Winkel zeigen, hat man sie natürlich blau eingefärbt. Es hätte tatsächlich schon ziemlich viel Phantasie dazu gehört, den Bereich zwischen zwei quer zu den anderen stehenden Böcken als Startlinie zu interpretieren.
"Tre minuter" schallt es ohne Lautsprecher und Megaphon zum kleinen Feld. Die folgende Ansprache ist kurz und schmerzlos. Doch sind die Schweden ja nun auch nicht unbedingt für ihren endlosen Redeschwall berüchtigt, sondern gelten als tendenziell eher wortkarg. Man macht eben in der Regel nur den Mund auf, wenn man etwas zu sagen hat. Doch das ist dann eben auch wirklich so gemeint.
Eitle Selbstdarsteller, die das Blaue vom Himmel herunter versprechen und damit in Ländern weiter im Süden bis in höchste politische Ämter aufsteigen können, hätten wohl nicht die geringste Chance auf eine große Karriere. Blender und Aufschneider sind eher wenig gefragt. Offenheit und Ehrlichkeit haben in Skandinavien noch einen Wert und sind nicht nur leere Worte.
Mit ausschweifenden, blumigen Grußworten irgendwelcher Honoratioren, die von der Sache eigentlich überhaupt keine Ahnung haben und anderenorts die auf den Start wartenden Läufer im Endeffekt nur nerven, hält man sich jedenfalls gar nicht lange auf. Allerdings ist außer ein paar Helfern und Begleitern der Teilnehmer ohnehin niemand anwesend. Es sind in bestem skandinavischem Pragmatismus hauptsächlich technische Anweisungen, die da verkündet werden.
Ein paar Brocken Schwedisch reichen eigentlich, um zu verstehen, dass da vom Startprocedere die Rede ist. Und die Handbewegungen machen auch denjenigen, die den gesprochenen Worten nicht vollständig folgen können, deutlich, dass zuerst eine große Runde um den Parkplatz gelaufen wird, bevor es dann auf "asfalten" weiter geht. Noch ein paar Vorwarnungen wie "twå minuter" oder "trettio sekunder" und das nun wirklich ziemlich überschaubare Feld ist auf ein einfaches Startkommando hin unterwegs.
Wesentlich länger als erwartet stellt sich die Parkplatzrunde heraus. Bereits einige Minuten ist man auf der Strecke, bevor man wieder an der Startlinie vorbei kommt. Und schon wenige hundert Meter nachdem man auf dem Asphalt angekommen ist, steht am Straßenrand die orange Baustellenwarnbake, auf die der Zettel mit der "2" geklebt ist. Jeder Kilometer wird so angezeigt. Doch auch, wenn die Schilder selbst nur DIN-A4-Format haben, sind die Marken durch die überall verwendeten signalfarbenen Plastikuntersätze schon auf größere Entfernung zu erkennen.
Joseph Kimisi hat sich da schon an die Spitze gesetzt. Doch nach einem Sololauf sieht es erst einmal nicht aus, denn noch hat er einige Begleiter im Schlepptau. Aber der Kenianer ist das Rennen auch nicht vom ersten Meter an wirklich energisch angegangen, sondern lag in der ersten weiten Parkplatzkurve gerade einmal um Rang zehn herum. Die führende Frau Jenny Jansson macht da schon ganz anderen Druck, hat kaum mehr als ein halbes Dutzend Männer vor sich und ihre weibliche Konkurrenz schon ein ganzes Stück zurück gelassen.
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Hinter Brunflo klettert der Kurs die Hügel hinauf | Auf einer der Kuppen wartet ganz exakt bei Kilometer fünfundzwanzig der fünfte von acht Verpflegungsständen |
An jenem Cirkulationsplats, wie man die in Schweden einen Verkehrskreisel nennt, an dem man vorhin mit dem Bus von unten aus der Stadt kam, geht es nun zu Fuß geradeaus. Um die Innenstadt macht der Marathon nämlich einen großen Bogen. Selbst wenn es dort nicht übermäßig viel Interessantes zu entdecken gibt, so dass man auch ohne große Hetze innerhalb weniger Stunden alles gesehen hat, entgeht auch dies den Marathonläufern auf ihrer Runde.
Weder das wuchtige Rathaus, dass kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende aus rotem Backstein und mit einem typisch jämtländischen Zwiebelturm erbaut wurde, passiert man, noch die "gamla kyrka" oder die "stora kyrka", die "alte" und die "große Kirche". Auch nicht die Gebäude der Mittuniversitet, die so genannt wurde, weil ihre drei Standorte Härnösand, Sundsvall und eben Östersund alle in der Nähe der geographischen Mitte Schwedens liegen.
Dass der weitläufige Campus in Östersund ausgerechnet die frühere Kaserne des "Norrlands artilleriregementes" ist, zeigt dagegen, wo die meisten Schweden diese Region dennoch einordnen, nämlich im Norden. Die beiden anderen "landsdelar" Götaland und Svealand sind halt wesentlich bedeutender. Und schon ihre Namen belegen im Gegensatz zum rein geographischen Norrland eine jeweils eigene und längere Geschichte, denn beide gehen auf dort früher ansässige germanische Volksgruppen zurück.
Svealand, der "mittlere" Teil ist die Bezeichnung für das frühere Gebiet der Svear, die hauptsächlich in der Region um den Mälarsee westlich der heutigen Hauptstadt Stockholm siedelten. Nicht nur deshalb ist dieses Gebiet das eigentliche Kernland Schwedens. Auch die Bezeichnung selbst ist von diesem Stamm abgeleitet. Denn Sverige heißt ursprünglich nichts anderes als "Reich der Svear".
Die südlich davon lebenden Göten oder Gauten - schwedisch "Götar" - kamen erst Jahrhunderte danach im späten Mittelalter endgültig unter schwedische Herrschaft. Nicht nur im Landesteil Götaland sondern auch in den zwar dort liegenden, aber davon zu unterscheidenden Provinzen Västergötland und Östergötland sowie im quer durch die Region verlaufenden Götakanal sind sie auch weiterhin präsent. Und natürlich kann Göteborg ebenfalls nicht verheimlichen, wo seine Bezeichnung ursprünglich herkommt.
Selbst im allseits bekannten schwedischen Wappen mit den drei Kronen haben sie ihre Spuren hinterlassen, denn eine der "tre kronors" ist die des Königs der Göten. Dass eine andere den Svear gehört ist klar. Doch die dritte hat nicht - wie man vermuten könnte - mit dem Landesteil Norrland zu tun.
Denn das Symbol stammt noch aus einer Zeit als die schwedischen Könige auch Anspruch auf Gebiete auf der anderen Seite der Ostsee erhoben und bezieht sich höchstwahrscheinlich auf das dort einst sesshafte slawische Volk der Wenden. Jedenfalls war der formale Titel des Monarchen "Sveriges, Götes och Vendes konung". Doch eigentlich ging es dabei hauptsächlich um Regionen wie zum Beispiel Mecklenburg oder Pommern, wegen denen man lange Jahre im dauernden Konflikt mit Dänemark lag.
Genau wie auch um den Süden und Westen des heutigen Schweden immer wieder Krieg gegeneinander geführt wurde. Schließlich nannten sich die dänischen Herrscher lange Zeit ebenfalls noch "König der Göten und Wenden". Erst die aktuellen Monarchen Carl XVI Gustaf und Margarethe II brachen mit dieser völlig überkommenen Tradition. Jedenfalls ist Carl Gustaf nun auch offiziell nur noch "Sveriges konung".
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Über Felder und Wiesen kann der Blick frei über weiter unten liegenden See wandern |
Moderne Wohngebiete, die wenig typisch Schwedisches an sich haben, nehmen die Marathonis auf. Schon jetzt verläuft der Kurs nicht mehr auf der nassen Straße sondern auf dem genauso nassen "Trottoar", das für das bereits nach drei Kilometern recht weit auseinander gezogene Feld absolut ausreicht. Die Strecke ist auch gar nicht vollständig für den Verkehr gesperrt. Aber alle wichtigen Kreuzungen und Einmündungen werden dennoch von Ordnern gesichert.
Noch immer regnet es und die Wetterverhältnisse haben die Läufer auch zu ziemlich unterschiedlichen Bekleidungsvarianten greifen lassen. Da gibt es diejenigen, die das für optimale Laufbedingungen halten und nur in kurzen Hosen und Trägerhemd unterwegs sind. Aber erstaunlich viele der eigentlich doch an kühlere Temperaturen gewöhnten Nordländer haben auch zur langen Variante gegriffen. Allerdings kann man am gleichen Wochenende genauso Östersunder beobachten, die bei fünfzehn Grad mit T-Shirt und manchmal sogar Sandalen oder Shorts im Straßencafé sitzen.
Die anfangs einigermaßen ebene Strecke fängt spürbar an zu steigen, als man nach einem Linksschwenk auf einmal nicht mehr parallel zum Seeufer sondern von ihm weg läuft. Zwar bewegt man sich während des gesamten Rennens praktisch durchgängig zwischen drei- und vierhundert Metern über dem Meer. Doch als wirklich flach kann man das Ganze dennoch keineswegs bezeichnen. Eher ist es ein stetiges Auf und Ab, manchmal nur leicht, doch gelegentlich auch recht deutlich. Am Ende werden sich die Gesamtsteigungen jedenfalls auf etwa die gleichen Werte summieren wie die Höhenlage von Östersund.
Dieses hüglige Profil ist für Schweden durchaus typisch. Große Teile des Landes bestehen aus ähnlichen Geländeformen und bewegen sich auch auf einem ähnlichen Niveau. Im Gegensatz zu Norwegen, wo Berge und Meer in manchmal sogar dramatischer Art ineinander übergehen, ist die Landschaft in Sverige nicht annähernd so spektakulär, fast sogar etwas enttäuschend, wenn man zuvor beim westlichen Nachbarn war. Nur ganz langsam fallen die Hügel nach Osten hin ab. Einzig an der Grenze erreichen sie wirkliches Hochgebirgsniveau. Mit immerhin rund 2100 Metern ist der Kebnekaise weit im Norden Lapplands die höchste Erhebung des Landes.
Doch auch in Schweden ist - wie in Norwegen mit seinen Fjorden - der Charakter weitestgehend durch eine noch gar nicht lange zurückliegende Eiszeit geprägt, die deutlich sichtbare Spuren hinterlassen hat. Die Kälte der Gletscher, die im Westen der skandinavischen Halbinsel tiefe Kerben in das scheinbar so robusten Gestein geschlagen hat, überdeckte auch auf der anderen Seite die komplette Oberfläche, schob sich über alles hinweg und hobelte dabei etliche Höhen einfach weg.
Zurück blieben runde Kuppen und Senken, die mit Wasser voll liefen, als sich die Eismassen fast noch schneller, als sie aufgetaucht waren, wieder zurück gezogen hatten. Zwar nennt man eigentlich Finnland das "Land der tausend Seen". Doch wenn man sich die Karte von Schweden genauer ansehen und mit dem Zählen beginnen würde, käme man wohl auch locker in den vierstelligen Bereich.
Wobei es dabei gar nicht so leicht ist festzulegen, was überhaupt so alles zu einem See gehört. Denn nahezu alle von ihnen sind aufgrund der Bodenformen die das Eis hinterlassen hat, mit etlichen Buchten, Seitenarmen und Halbinseln ausgestattet, die den Uferlinien ziemlich ausgefranste Formen verleihen. Vieles hinterlässt da sogar einen regelrecht zerrissenen Eindruck. Und die Inseln, Inselchen, kleinen Inselchen und winzigen Inselchen, die oft wie die Trümmer eines einst stolzen, nun aber vollkommen zerbrochenen Felsens darin verstreut sind, verstärken diesen Eindruck noch.
Wie so viele andere Seen lässt sich auch Storsjön deshalb irgendwie in seiner Gänze von nirgendwo wirklich überblicken, denn gleich mehrfach versperren die Höhenrücken der in ihn hinein ragenden Halbinseln die Sicht. Ganz grob gesprochen erinnert er in seiner Form an ein "H", das man ein wenig nach links gekippt hat. An seiner Ostseite, dort wo sich Frösön, die größte Insel im See, fast wie ein Pfropfen vor den südöstlichen dieser Seitenarme setzt, wurde vor nicht einmal zweieinhalb Jahrhunderten dann Östersund erbaut.
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Die große Tiere an der Strecke sind keine Elche | Immer wieder geht es an bunten Bauernhöfen vorbei | Mit 615 Halbmarathonsiegerin Mari Guin |
Das erste Viertel der Distanz der Laufstrecke ist vollständig in ihrem Gebiet abgesteckt. Jedoch in einem weiten Bogen um die Stadt herum, so dass man außer den Randbezirken praktisch nichts zu sehen bekommt. Bald nachdem der Radweg, den man inzwischen beläuft, eine Ausfallstraße in einen Tunnel unterquert hat, wird aus dem Wohn- dann auch wieder ein Gewerbegebiet.
Sieben ziemlich höhepunktlose Kilometer hat man schon in den Beinen, als mit der Trabrennbahn wenigstens eine kleine Besonderheit am Streckenrand auftaucht. Im ganzen Land hat diese Disziplin eine ziemliche Popularität, wie schon ein Blick auf die Ergebnisseiten des Sportteils einer ganz normalen schwedischen Tageszeitung belegt. Denn die Auflistung einer ganzen Reihe von Ausgängen von Trabrennen wäre im deutschsprachigen Raum eher schwer vorstellbar. Und Jämtland gilt sogar als eine der Hochburgen.
Kurz darauf schwenkt der Kurs allerdings auf die parallel zum Storsjön verlaufende Hauptstraße Richtung Süden ein und hat damit nach ein wenig Zickzack in Östersund endgültig wieder seine Orientierung gefunden. Denn von nun an wird der See mal in größerer, mal in kleinerer Entfernung ein stetiger Anhaltspunkt auf der rechten Seite der Läufer sein.
"Mora" steht auf den Schildern, die am Straßenrand aus der Stadt hinaus zeigen. Ein für Skilangläufer ziemlich magischer Name. Denn dort - gute drei Fahrtstunden südlich von Östersund - endet nach neunzig Kilometern Renndistanz der legendäre Wasalauf. Rund fünfzehntausend Teilnehmer machen sich dazu an einem Märzsonntag im an der norwegischen Grenze gelegenen Sälen auf den Weg.
Doch das ist nur der Höhepunkt einer ganzen Veranstaltungswoche, in der man die Strecke an einem Tag als Staffel oder an einem anderen Tag auch einmal ohne Zeitnahme laufen kann. Es gibt Kinder- und Jugendrennen. Und auch im Skilanglauf weicht man das Original mit Halbdistanzen auf. Gleich an zwei Tagen werden Rennen über 45 Kilometer angeboten. Einmal im Skating und einmal im klassischen Stil.
Der lange, der richtige Wasalauf wird, wie es sich für einen Klassiker gehört, ohne die inzwischen auch nicht mehr ganz so neumodischen Schlittschuhschritte in der Spur gelaufen. Mit einer bis ins Jahr 1922 zurück reichenden Historie ist Vasaloppet längst eine nationale Institution. Die dabei an den Verpflegungsständen ausgegebene "Blåbärsoppa" - wörtlich übersetzt "Blaubeer-" oder besser "Heidelbeersuppe" - hat einen Ruf, der den des Rennsteig-Haferschleims weit in den Schatten stellt. Und in Mora ist das direkt neben dem Ziel errichtete Wasalauf-Museum eine der größten Touristenattraktionen.
Halb Schweden - falls nicht sowieso zum Anfeuern an der Strecke - sitzt am Renntag vor dem Fernsehschirm und drückt die Daumen, dass ein Einheimischer als Erster über den Zielstrich in der Hauptstraße von Mora gleitet. Bloß nicht wieder ein Norweger, wie zum Beispiel die Auckland-Brüder Anders und Jörgen, die den Blau-Gelben in den letzten Jahren zweimal die Suppe versalzten.
Doch meist wird der traditionelle Siegerkranz tatsächlich auch einem schwedischen Läufer umgehängt. Gerade einmal zwölf Erfolge gingen während der langen Geschichte des Wettbewerbs ins Ausland. Daniel Tynell und Oskar Svärd siegten jedenfalls beide in diesem Jahrzehnt schon drei Mal. Übrigens, die Bestzeit für die neunzig Kilometer lange Distanz beträgt gerade einmal 3:39 Stunden.
Sogar der König war schon - allerdings jeweils in der sogenannten "offenen Spur" also dem Vorlauf ohne Zeitnahme - ein paar Mal beim Wasalauf unterwegs. Seiner Popularität hat das mit Sicherheit keineswegs geschadet. Zumal das Rennen ja auch mit der Geschichte einer seiner Vorgänger zu tun hat. Denn Gustav Wasa, ein schwedischer Adliger, versuchte im Winter 1520 die Bauern der Region Dalarna für einen Aufstand gegen das damals das Land beherrschende Dänemark zu gewinnen. Doch die zeigten wenig Interesse für den Plan.
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Von links rauscht zum wiederholten Mal ein kleiner Wasserfall dem Storsjö entgegen. Allerdings ist der nicht zu vergleichen mit Tännforsen und Ristafallet | Zum Teil direkt am Ufer verläuft die Strecke |
Also zog Wasa weiter, um nicht in die Hände der ihn suchenden Dänen zu fallen. Wenig später drang die Nachricht durch, dass der dänische König Christian in Stockholm etliche Mitglieder der schwedischen Oberschicht - unter anderem Wasas Vater - hatte hinrichten lassen. Die Bauern überlegten es sich anders und schickten ihre besten Skiläufer hinterher. In Sälen holten sie Gustav Wasa ein und brachten ihn nach Mora zurück. Wenige Jahre später waren die Dänen vertrieben, Schweden hatte endgültig seine Unabhängigkeit gewonnen und Gustav war zu dessen König gewählt.
Der heutige König trägt allerdings nicht den Nachnamen Wasa - schwedisch eigentlich "Vasa" geschrieben, denn das "W" wird normalerweise nur in Fremdworten benutzt - sondern Bernadotte. Er ist Abkömmling eines französischen Generals, den der schwedische König zur Zeit Napoleons adoptierte, da keine männlichen Erben vorhanden waren. Bernadotte wurde so schnell zum Schweden, dass er später gegen seinen früheren Kaiser in den Krieg zog und mithalf diesen vom Thron zu vertreiben.
Konstant geradeaus läuft man nun auf dem Geh- und Radweg an der Hauptstraße entlang. Noch ist man im Stadtbereich. Aber nach ungefähr zehn Kilometern wird die Bebauung doch langsam lichter und die Strecke ländlicher. Immer öfter sind auch einmal Wiesen oder Ackerflächen am Straßenrand. Es geht aus Östersund hinaus.
Und doch nicht so richtig. Denn eigentlich gibt es da zwei Dinge, die "Östersund" heißen. Zum einen die Gemeinde, die nach besten skandinavischen Gepflogenheiten eigentlich von der Größe her eher ein Landkreis ist. Die wird man während des gesamten Rennens nicht verlassen. Doch dann ist da auch noch der Tätort - auch wenn die Schweden gleich etliche bekannte Autoren auf diesem Gebiet haben, hat das mit Krimi nichts zu tun und die Striche über dem "ä" sind vollkommen richtig - gleichen Namens.
Aufgrund der zum Teil doch recht weit verstreuten Besiedlung in ihren Ländern haben sich die Skandinavier nämlich, um eine gewisse Vergleichbarkeit ihrer statistischen Daten zu erreichen, irgendwann einmal darauf geeinigt, was denn überhaupt ein Ort sei. Denn nur wenn eine Gruppe von Häusern, die im Schnitt nicht mehr als zweihundert Meter voneinander entfernt stehen, insgesamt mindestens zweihundert Einwohner hat, wird es als dichtbebautes Gebiet gewertet. Der schwedische Kurzbegriff dafür ist eben "Tätort".
Die Kommune Östersund hat mehrere davon und die eigentliche Stadt Östersund ist nur einer davon. Zur Zeit gibt es in Schweden jedenfalls etwa zweitausend "tätorter" aber keine dreihundert "kommuner". Was jedoch nicht heißt, dass es nicht auch umgekehrt sein kann. So ist der Großraum Stockholm zwar nur ein Tätort, besteht verwaltungsmäßig aber aus mehreren Gemeinden.
Um es noch komplizierter zu machen, ist Östersund zum einen die Hauptstadt der "landskap Jämtland", andererseits aber auch die von "Jämtlands län". Und auch das ist, obwohl es eigentlich gleich aussieht, nicht das gleiche. Denn die Landschaften, die im Mittelalter eine große Bedeutung besaßen und beinahe eigenständige Staaten waren, gibt es seit einer Verwaltungsreform im siebzehnten Jahrhundert, bei der das Land in "län" genannte Provinzen aufgeteilt wurde, eigentlich als juristische Einheit gar nicht mehr.
Obwohl die Namen manchmal - wie im Falle Jämtland - übereinstimmen, sind die Zuschnitte nur selten identisch. Manchmal wurde auch völlig neu gegliedert. Neben der landskap Jämtland umfasst Jämtlands län auch noch die historische Landschaft Härjedalen vollständig. Und aus weiteren Nachbarlandschaften gehören kleinere Teile zur Provinz.
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Auf der Vallsundbrücke weht der Wind wieder eher von hinten | Eine kleine schwedische Flagge haben die Helfer an der letzten Verpflegungstelle festgebunden |
Das eigentlich Erstaunliche ist, dass auch nach weit über dreihundert Jahren die historischen Landschaften noch immer eine solche Bedeutung haben. Die Schweden definieren sich immer noch weit mehr über diese als über ihre Provinz. Trachten, Dialekte und Brauchtum orientieren sich nach wie vor zumindest außerhalb der Ballungsräume nahezu ausschließlich an ihnen.
Nun legen selbstverständlich Franken, Pfälzer oder Badener ebenfalls Wert auf eine eigene Identität, selbst wenn sie in ein größeres Bundesland integriert sind. Doch käme hierzulande wohl wirklich niemand auf den Gedanken, die exakten Grenzen dieser Gebiete auch nach so langer Zeit weiterhin in modernen Karten zu vermerken. Selbst offizielle Straßenschilder markieren ja den Übergang in eine andere Landschaft. Und so existieren in Schweden noch immer zwei unterschiedliche Landesgliederungen nahezu gleichberechtigt nebeneinander her.
Doch ganz egal, ob Jämtlands län oder landskap Jämtland, beide haben gemein, dass sie extrem dünn besiedelt sind. Über zehn Prozent des schwedischen Staatsgebietes umfasst die Provinz, doch gerade einmal etwas mehr als zwei Prozent der Bevölkerung ist dort zu Hause. Und das will bei einem Land, dass noch einmal ein ganzes Stück größer ist als Deutschland, aber keine zehn Millionen Einwohner hat, durchaus etwas heißen.
Fast die Hälfte dieser gut einhunderttausend Jämtländer entfällt dann wieder auf Östersund, das die Schweden übrigens mit einem "sch" sprechen. Aber nicht, wie es die Schwaben tun würden, beim ersten sondern am zweiten "s". Wer also gegenüber den Einheimischen gleich positiv auffallen möchte, sollte von "Ößter-schund" reden. Sogar rund zwei Drittel von ihnen lebt in der Storsjön-Region. Für den großen Rest der Fläche bleibt dann nun wirklich nicht mehr viel übrig.
So kann man dann abseits des großen Sees durchaus auch einmal längere Zeit durch die manchmal unendlich erscheinenden Wälder rollen, ohne dass ein einziges Auto entgegen käme. Nicht umsonst ist der Tempomat in schwedischen Wagen eher die Regelausstattung als ein Extra. Und nicht umsonst werden Distanzen, je weiter man nach Norden kommt, immer häufiger im Gespräch mit Meilen angegeben. Man sollte sich nicht täuschen lassen. Eine skandinavische "Mil" misst nämlich zehn Kilometer.
Wer mit Einsamkeit klar kommen kann und anderen Menschen lieber einmal aus dem Weg gehen möchte, ist in Jämtland ziemlich gut aufgehoben. Eine Einstellung, die durchaus auch die Teilnehmer des Östersunder Marathons haben sollten. Denn nachdem die Kilometerzahlen zweistellig geworden sind und man inzwischen zwischen einzelnen kleineren Siedlungen auch einmal ein Stück über Land läuft, ist das Feld schon ziemlich auseinander gebröselt und weit verstreut.
Noch immer steht zumeist ein Fußweg als Laufstrecke zur Verfügung. Doch gelegentlich müssen die Marathonis eben doch einmal Passagen direkt auf der Straße zurück legen. Aber auch rund um Östersund hält sich der Verkehr in ziemlich überschaubaren Grenzen. Und die wenigen, die unterwegs sind, haben es wirklich nicht so eilig, dass sie nicht auf einen gelegentlich entgegenkommenden Läufer achten würden.
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Fast genau an der obersten Stelle des Brückenbogens wartet die Bake mit der "39" | Mehr als eineinhalb Kilometer führt die Vallsundbrücke über den See |
Das offene Gelände lässt inzwischen auch herrliche Blicke über den weiter unten liegenden See zu, den man bisher höchsten zwischen Bäumen und Häusern einmal erahnen durfte. Die Berge, die man bei schönem Wetter dahinter sehen könnte, bleiben jedoch in den tief hängenden Wolken verborgen. Nicht allzu weit im Westen schwingen sie sich zu Höhen um die fünfzehnhundert Meter auf.
Das ist zwar gerade einmal Schwarzwaldniveau. Doch in Skandinavien liegt die Baumgrenze eben tausend Meter niedriger als in Mitteleuropa. Und so bietet der obere Teil sehr wohl Hochgebirgsflora und in seiner Kargheit und Weite schon Vorgeschmack auf die arktische Tundra. Jämtland und auch Härjedalen liegen ja schließlich bereits deutlich nördlich des sogenannten "Limes norrlandicus".
Diese relativ schmale Übergangszone, die sich quer durchs Land zieht, definiert sowohl aus biologischer wie auch aus klimatischer und kultureller Sicht die ziemlich klar zu erkennende Grenze zwischen Mittel- und Nordeuropa. Nördlich davon fehlen zum Beispiel Laubbäume nahezu völlig und man trifft nur noch auf riesige Nadelwälder. Einmal abgesehen von den Birken, die sich von allen Gehölzen am Weitesten vor wagen. Und zwar sowohl nach Norden wie auch in die Höhe.
"Fjäll" nennen die Schweden - in leichtem Unterschied zu den Norwegen, die sie "Fjell" schreiben - diese für das skandinavische Gebirge typische Landschaftsform, genauer gesagt "Kalfjäll". Dort sind dann auch die zähen Birken gescheitert, haben endgültig aufgegeben. Einzig niedrige Gräser und Moose können sich so weit oben noch halten.
Das Fjäll ist keineswegs schroff und steil, hat mit "Hochgebirge", wie man es sich gemeinhin vorstellt wenig zu tun, auch wenn der höchste Punkt von Jämtland dann doch fast achtzehnhundert Meter erreicht. Höher geht es südlich des Polarkreises in Schweden nirgendwo hinaus. Die schwedischen Berge wirken dennoch eher wie eine etwas gesteigerte Fortsetzung des östlich von ihnen liegenden Hügellandes. Und so richtig lassen sie sich auch gar nicht wirklich sauber davon abgrenzen. Das Ganze erinnert irgendwie fast an Wellen, die sich immer mehr aufschaukeln.
Nur ganz wenige der ohnehin schon nicht dicht gesäten Straßen führen ins Fjäll. Meist als Schotterpiste und Sackgasse. Weiter geht es nur zu Fuß auf den über die endlos erscheinende Hochfläche führenden Pfaden. Selbst wenn es durchaus viele Skandinavier zum Wandern in diese Gegenden zieht, ist man dort dann in der Regel dennoch endgültig mit sich allein und fern von allen Risiken des menschlichen Zusammenlebens.
Nur an wenigen Stellen sind sie erschlossen, ihre Hänge von Liften und Skipisten zerschnitten. Meist findet man dagegen noch ziemlich unberührte Natur. Das im Hinblick auf alpines Skifahren vielleicht bekannteste schwedische Wintersportziel Åre liegt allerdings trotzdem keine hundert Kilometer von Östersund entfernt und wäre im Falle des Olympiazuschlags Austragungsort für Abfahrts- und Slalomrennen geworden.
Doch auch dort fällt wie bei so vielem in Skandinavien die Dimension wesentlich bescheidener aus als in Mitteleuropa. Statt riesiger Skischaukeln, die sich gleich über mehrere Täler und noch mehr Gemeinden erstrecken, konzentriert sich das Geschehen auf einen einzigen Berg. Denn schon auf der Rückseite dieses Åreskutan gibt es nichts mehr außer Wäldern und Seen.
Åre teilt sich mit Östersund nicht nur die Olympiabewerbung sondern auch den Flughafen. Der heißt sogar "Åre / Östersund", obwohl er auf Frösön keine zehn Kilometer von der Hauptstadt Jämtlands entfernt zu finden ist. Doch vielleicht ist die Reihenfolge ja auch alphabetisch gewählt. Wobei man sich wieder einmal nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen sollte. "Å" und "Ö" gelten in Schweden keineswegs als Varianten von "A" und "O" sondern als eigenständige Buchstaben, die am Ende des Alphabets einsortiert werden.
Der "Flygplats" gehört zwar noch zu den zehn größten in Schweden, doch ist die Zahl seiner wöchentlichen Flugbewegungen kaum höher als die, mit der auf großen Drehkreuzen wie Frankfurt oder gar London-Heathrow stündlich zu rechnen ist. Immerhin gibt es zwei Verbindungen pro Tag von und nach Stockholm. Und die werden auch rege genutzt, sind eigentlich immer voll. Denn mit dem Zug wäre man bis zur Hauptstadt an der Ostesee mehr als fünf Stunden unterwegs.
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Der Durchlass zwischen Frösön und dem Festland von einem Steg für Fußgänger- und Radfahrer überspannt | Neben dem kleinen Hafen von Östersund befindet sich das Ziel |
Mit dem Auto braucht man für die über fünfhundert Kilometer angesichts fehlender Autobahnen sogar noch länger. Für den eher geringen Verkehr reichen gerade im Norden Schwedens gut ausgebaute Überlandstraßen völlig aus. Und auf eine davon biegen die Marathonis nach siebzehn Kilometern ein.
Die mit E14 nummerierte Fernstrecke von Sundvall nach Åre und Trondheim führt nicht direkt durch Östersund sondern als Umgehungsstraße um die Stadt herum und wird vom Marathon größtenteils gemieden. Doch so ganz kommt man angesichts des Streckenkonzepts der Seeumrundung und fehlender Alternativen dann doch nicht ohne sie aus.
Ausnahmsweise ist diese vielleicht kritischste Einmündung des Kurses sogar von der Polizei gesichert. Ansonsten haben die Polizisten der Region in diesen Tagen hauptsächlich aber eine andere Aufgabe. Denn in Åre findet gleichzeitig zum Marathon ein Treffen der Umwelt- und Energieminister der EU statt, was natürlich ein viel größeres Aufgebot an Sicherheitskräften erfordert.
Ungefähr zwei Kilometer müssen die Läufer auf der E14 zurücklegen. Es ist die einzige Passage, die man nicht ganz so entspannt wie den Rest zurücklegt. Sie ist zwar nicht wirklich gefährlich aber doch etwas unangenehm. Denn Verkehr ist auf der Hauptstraße halt schon etwas stärker. Und zudem wird, um die Straße nicht auch noch zweimal queren zu müssen, statt wie bisher links nun auf der rechten Seite gerannt.
Doch nicht nur die E14 hat man unter den Füßen auch die E45, die bei Östersund die Ost-West-Verbindung kreuzt und entlang des Sees ein paar Kilometer gemeinsam mit ihr verläuft. Verkehrstechnisch ist diese Nord-Süd-Achse zwar von kleiner Bedeutung, da man sich aus dem Binnenland eher zur dichter bevölkerten Küste orientiert. Wesentlich höher ist aber der touristische Wert der Strecke, die von Mora - bzw. in der Verlängerung sogar von Göteborg aus - bis nach Lappland führt und von den Schweden "Inlandsvägen" genannt wird.
Wobei "Väg" hier trotz der gleichen Wortherkunft keineswegs mit "Weg" übersetzt werden sollte. "Vägen" heißt im Schwedischen auch eine über Land führende Straße. Während das Deutsche keinen Unterschied kennt, nennt man die Stadtstraße - analog zum Englischen mit "road" und "street" - dagegen "gata". Die dazu wiederum ähnlich klingende deutsche "Gasse" ist ein "gränd".
Und Wanderwege, von denen einige bekannte auch über längere Strecken kreuz und quer durch Schweden führen, tragen meist die Bezeichnung "led" - oder mit dem in den skandinavischen Sprachen ja angehängten Artikel eben "leden". So kann man im Sommer auf Vasaloppsleden ziemlich genau dem Kurs der Skiläufer folgen. Etliche Provinzen haben ihre eigenen markiert und nach sich benannt. Und natürlich führen auch im Jämtland viele dieser "leden" durch Wald und Fjäll.
Nach links, den Hang hinauf zeigt ein Schild an der Straße zur Brunflo kyrka. Das Gotteshaus ist ein wirklich nettes Beispiel für schwedischen Pragmatismus. Denn den oben auf der Kuppe bereits stehenden Wehrturm aus der Zeit, als die Grenze zwischen Norwegen und Schweden noch weiter östlich lag, hat man einfach zum Campanile der später daneben errichteten Kirche gemacht.
Der Helfer, der wenig später am Inlandsväg steht, deutet dagegen nach rechts in einen Schotterweg hinein. Ein Schwenk um einhundertachtzig Grad wird daraus. Für einige hundert Meter läuft man nur ein kleines Stück von der E14 entfernt genau in die Richtung zurück, aus der man gerade gekommen war.
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An einem Laternenpfahl klebt der Zettel mit der "42" | Zwischen Frösön und dem Festland | Auf dem letzten Kilometer schlägt der Kurs am Ufer des Storsjö einen Halbkreis |
Ursache dafür ist die Bahnlinie die zwischen Östersund und dem nun erreichten Tätort Brunflo parallel zur Hauptstraße verläuft. Denn, um den "Brunfloviken", übersetzt etwa "die schmale Bucht von Brunflo" - die Skandinavier machen aufgrund ihrer vielfältigen Landschaftsformen einen gewissen Unterschied zwischen dem engen "vik" und dem breiten "bukt" - genannten Storsjö-Seitenarm weiter umrunden zu können, muss man die Linie irgendwie queren.
Und ein Stück entfernt gibt es eben eine Unterführung unter den Gleisen hindurch, die nicht nur Bestandteil der Hauptstrecke zur Küste sind. Genau wie bei den Ost-West- und Nord-Süd-Verbindungen aus Asphalt treffen sich zwischen Brunflo und Östersund auch zwei Bahnlinien, die ziemlich den gleichen Verlauf haben wie die Straßen. Neben Inlandsvägen gibt es auch Inlandsbanan.
Rund tausend Kilometer verläuft die Bahn von Mora nach Gällivare nördlich des Polarkreises. Für den Personenverkehr hat sie kaum noch Bedeutung, denn nur noch ein Zug rollt pro Tag in jede Richtung. Allerdings ist sie inzwischen beinahe so etwas wie eine Touristenattraktion geworden. Fast zwei Tage brauchen die roten Triebwagen, um die Urlauber in den Norden zu bringen.
In Östersund ist zwar noch nicht Halbzeit aber Umsteigebahnhof. Die sechs Stunden vom Wasalauf-Zielort sind angesichts der Zeit, die man für die zweite Etappe benötigt, ein Klacks. Denn wer am frühen Morgen dann wieder in die Bummelbahn steigt und ohne weitere Zwischenaufenthalte durchfährt, ist erst am späten Abend in Gällivare angekommen.
Hinter dem Tunnel geht es für die Marathonis auf der anderes Seite in erneut umgekehrter Laufrichtung, also wieder in der ursprünglichen Orientierung, parallel zur Inlandsbana nach Brunflo hinein. Der Ort wirkt zwar schon ein wenig größer, doch nach viertausend Einwohnern sieht es angesichts der Streubebauung dann doch irgendwie nicht aus.
Rechts unten ist der Storsjö zu erkennen. Genau dorthin senkt sich die Strecke wenig später. Und zwar nicht nur leicht. Mit ordentlichem Schwung steuert man von oben auf den Punkt zu, an dem der Start für die Halbmarathonläufer auf der Straße markiert ist. Sie tragen ihren Wettkampf nämlich auf der zweiten Hälfte des Marathonkurses aus. Von nun an kleben - eigentlich nicht ganz korrekt - an jeder Kilometermarke zwei Zahlen. Den Aufwand, in jeweils einhundert Metern Entfernung eine weitere Bake aufzustellen, hat man sich dann doch nicht gemacht.
Die zwei Stunden Verschub, mit denen die Kurzstreckler auf ihre 21,1 Kilometer entlassen werden, sind clever gewählt. Denn zum einen ist so garantiert, dass die Sieger des Marathons als Erste ins Ziel einlaufen können und dafür die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhalten, ohne irgendwo im Pulk von Läufern der Nebendistanzen unterzugehen. Andererseits vermischen sich weiter hinten dann die Felder zum Ende hin doch ziemlich. Selbst wenn die Halbmarathonspitze erst einmal gnadenlos vorbei rauscht, haben die nicht einmal hundert weit verstreuten Marathonis so zumindest ein wenig Gesellschaft unterwegs.
Hinter Brunflo und damit der Südspitze der Bucht biegt der Kurs auf die kleine Landstraße ein, die auf der westlichen Seite des Seearmes nun wieder nach Norden führt. Und mit genau den gleichen Prozenten, die es gerade noch hinunter ging, klettert diese wieder auf die dortigen Hügel hinauf. Doch nicht nur das drückt die Laufgeschwindigkeit auf einmal drastisch nach unten.
Denn mit dem Schwenk in nördliche Richtung haben die Marathonis nun den in nicht unerheblicher Stärke blasenden Wind auf einmal im Gesicht. Vielen wird erst jetzt so richtig klar, wieso die Zwischenzeiten trotz des welligen Streckenverlaufs und des ungemütlichen Wetters bisher doch so gut waren. Da hatte nämlich jemand ordentlich von hinten geschoben. Zumindest trocknet das alles andere als laue Lüftchen die Straße recht schnell ab. Der Regen hat nämlich schon seit einiger Zeit aufgehört.
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Auf dem Steg zwischen Frösön und dem Festland | Den Schlussabschnitt absolvieren die Läufer am Seeufer auf einem Fuß- und Radweg | Das Ziel hat man stets im Blick |
Es dauert mehrere Kilometer, bis man endlich auf der Höhe angekommen ist. Doch macht genau diese Steigung den Kurs nun endgültig sehenswert. Denn über Felder und Wiesen kann der Blick jetzt frei über den einige Dutzend Meter weiter unten liegenden großen See wandern. Dazwischen verteilen sich bunte Bauernhöfe. Mehrheitlich sind die Holzhäuser rot gestrichen, oft auch gelb, sowie gelegentlich blau oder grün. Jedenfalls liefern sie den passenden Kontrast zum weiten Land.
Fast scheinen diese Bilder einem Schwedenkalender entsprungen zu sein. Dabei ist diese Landschaft eigentlich gar nicht so typisch. Denn nur ein kleinerer Teil Schwedens wird wirklich landwirtschaftlich genutzt. Über die Hälfte der Fläche ist dagegen bewaldet. Und in Jämtland gibt es eigentlich nur im Storsjön-Gebiet größere Ackerflächen.
Man läuft wieder links, dem wenigen vorhandenen Verkehr entgegen. Doch der größte Teil der Autos rollt sowieso in die gleiche Richtung, in der die Läufer unterwegs sind. Es sind nämlich hauptsächlich Begleitfahrzeuge des Marathons. Jedoch nicht von der Organisation. Viele Teilnehmer haben ihre eigenen Betreuer dabei, die dem Rennen nicht nur mit dem Wagen sondern manchmal auch mit dem Fahrrad folgen.
Etliche Leute sieht man deshalb auch immer wieder an der Strecke stehen. Oft habe sie dann auch irgendwelche Flaschen, Riegel oder Gel-Päckchen in der Hand. Ansonsten hält sich der Publikumszuspruch ziemlich in Grenzen, selbst wenn es sich selbstverständlich auch der eine oder andere Anwohner einmal im Gartenstuhl am Straßenrand bequem gemacht hat, um der ungewohnten Abwechselung zuzusehen.
Wer die durchgängigen Fünfer- oder Zehnerreihen sucht, die den Läufern zujubeln müssten, würde man den in der Regel maßlos überzogenen Veranstalterangaben zu den Zuschauerzahlen immer Glauben schenken, sollte Östersund gleich vom Wunschzettel streichen. Auch wenn die Organisatoren nicht mit irgendwelchen utopischen Werten um sich werfen, mehr als ein paar hundert könnte man sowieso nicht nennen. Und zwar selbst dann, wenn man alle Helfer noch mitrechnet.
Doch auch mit den restlichen Autofahrern gibt es eigentlich keine Probleme. Die meisten Nordländer - besondere Ausnahmen, denen man allerdings auch einmal begegnen kann, bestätigen dabei wie meist eigentlich nur die Regel - können durchaus einen kleinen Moment warten. Man lässt sich und anderen die benötigte Zeit. Geduld, der man im Süden eher selten begegnet, gehört halt auch zum eher gedämpften Temperament der Skandinavier.
Weit weniger hektisch als anderswo ist das Leben im Norden noch. Ein sichtbares Beispiel dafür ist unter anderem jenes Fernsehsehprogramm, in dem doch tatsächlich etliche Stunden lang ein Testbild gesendet wird. In Zeiten der Dauerberieselung aus Dutzenden von Kanälen wäre das hierzulande inzwischen nahezu undenkbar. Und manche aus der jüngeren Generation werden sich jetzt vielleicht sogar schon fragen, was ein Testbild denn überhaupt ist.
Ständige Eile und Hetze sind - insbesondere je weiter man sich von den Städten entfernt - selten. Auch und gerade im Straßenverkehr. Selbst wenn in den Weiten Skandinaviens ganz andere Distanzen zurückzulegen sind als in Mitteleuropa, werden Tempolimits absolut akzeptiert. An die neunzig Kilometer pro Stunde, die auf Landstraßen meist die Höchstgeschwindigkeit darstellen, hält man sich jedenfalls größtenteils ziemlich exakt.
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Auf dem letzten Kilometer das Ziel im Blick |
So drückt dann auch in Östersund keiner wie wild auf die Hupe, weil er wegen Läufern und Gegenverkehr einmal kurz den Fuß vom Gaspedal nehmen muss. Ganz im Gegenteil, das macht man sogar dann freiwillig, wenn die Straße einigermaßen frei wäre. Kaum einer fährt tatsächlich mit den siebzig vorbei, die laut Schild erlaubt wären. Rücksichtnahme auf andere ist eben noch der Normalfall und nicht der Ausreißer.
Der lange gleichmäßige Anstieg ist von leichten Wellen abgelöst worden. Doch immer noch geht es tendenziell eher bergauf. Auf einer dieser Kuppen wartet ganz exakt bei Kilometer fünfundzwanzig der fünfte von acht Verpflegungsständen. Auch alle weiteren sind direkt an der jeweiligen Bake positioniert. Auch wenn man so ziemlich gut voraus planen kann, wann die nächste Versorgung denn auftaucht, wären gelegentlich ein paar Meter Abstand doch angebracht. Schließlich ist es nicht ganz so einfach, zu trinken und gleichzeitig noch die Zwischenzeit auf der Uhr zu kontrollieren.
Wasser und Elektrolytgetränke haben die meist drei bis vier Helfern auf den Tischen stehen. Später gibt es auch ein paar Bananen. Unter den 2009 herrschenden Bedingung ist das mehr als ausreichend, doch bei Temperaturen von dreißig und mehr Grad wie im Jahr zuvor, könnte es vielleicht doch etwas zu wenig sein. Doch erstens sind solche Klimawerte ja die absolute Ausnahme und zweitens gibt es ja die Privatversorgung aus dem Marathontross.
Einige große Tiere stehen an der Strecke und betrachten neugierig das Geschehen. Doch es sind Pferde und nicht die Elche, die längst zum inoffiziellen Wappentier von Schweden geworden sind. Die Warnschilder, die man überall im Land und selbstverständlich auch am Storsjö am Straßenrand entdecken kann, haben inzwischen ein Eigenleben entwickelt. Zu Hunderttausenden zieren sie als geheimes Erkennungszeichen die Fahrzeuge der Nordlandurlauber.
Doch fragt man einmal nach, wer von ihnen denn tatsächlich schon einmal so ein Vieh in freier Wildbahn gesehen hat, fällt die Quote nahezu immer ziemlich dürftig aus. Auch beim Marathon wird später von keiner Elch-Sichtung berichtet werden. Und dass obwohl Östersund den Riesenhirsch sogar im Stadtwappen führt.
Für diejenigen, die auf eine Begegnung unbedingt nicht verzichten wollen, gibt es in der Nähe allerdings ein Freigehege. Ganz so klein kann die wild lebende Population allerdings dann aber doch nicht sein. Schließlich werden jedes Jahr in der herbstlichen Jagdsaison rund einhunderttausend Tiere geschossen.
Kilometerlang ändert sich das Bild kaum. Rechts unten der Storsjö, darüber Wiesen, Felder, verstreute bunte Bauernhäuser. Und ab und zu steht auch einmal ein Ortschild am Straßenrand. Doch warum das nun immer ausgerechnet an dieser oder jener Stelle auftaucht, ist eigentlich nicht klar. Denn wo eins anfängt, wo eines aufhört und wieso nun diese Häusergruppe einen Namen haben soll, jene aber nicht, kann man überhaupt nicht erkennen.
Nur die Marieby Kirka, die man schon weit im Vorfeld auf der nächsten Kuppe anvisieren kann, stellt eine wirklich markante Landmarke dar. Und diese Kirche hat auch der ganzen kilometerlangen Streusiedlung mit gerade einmal einigen hundert Bewohnern den Namen gegeben. Die Bezeichnungen am Streckenrand dienen dagegen hauptsächlich dazu, so etwas wie eine auch von Ortsfremden einigermaßen auffindbare Adresse zu erzeugen.
Noch weitere, allerdings meist mit der Hand gemalte Schilder stehen da an der Straße. "Loppis" steht darauf. Eine umgangssprachliche Abkürzung für "Loppmarknad", einen Trödelmarkt. Doch hat das in Schweden eher selten etwas mit großen organisierten Flohmärkten zu tun. Man hat eher den Eindruck, nahezu jeder habe irgendwo in einem Schuppen ein paar dort gelagerte Erbstücke zu verkaufen. Und die darunter gemachte Zusatzangabe "stängt" oder "öppet" - "geschlossen" oder "offen" - zeigt an, ob gerade jemand zu Hause ist und es sich lohnt einmal vorbei zu schauen.
Auch "Stuga" oder "Stugor" kann man auf anderen lesen. Für eine oder mehrere Hütten wird da geworben, eine in Skandinavien absolut übliche Art der Unterkunft. Auf praktisch jedem Campingplatz kann man sie anmieten. Und auch viele Privatleute haben auf ihren Grundstücken welche errichtet, um sie an vorbei kommende Reisende zu vermieten. Zwischen einfacher Bretterbude, in der gerade einmal ein Etagenbett hinein passt, und Ferienhaus mit eigener Küche und Bad variieren dabei die Ausstattungen. Preiswerter als eine Hotelübernachtung ist es aber allemal.
Nach zweiunddreißig Kilometern, beim mit "Öd" bezeichneten Teil von Marieby, der jedoch definitiv auch nicht öder ist als der Rest, beginnt sich die Straße langsam wieder zum See hinunter zu senken. Ein ganzes Stück geht es nicht allzu heftig aber konstant bergab. Je nach Verfassung entweder eine Phase, um noch einmal durch zu atmen, oder eben auch eine Qual für die bereits müde gelaufene Beinmuskulatur.
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Den Schlussabschnitt am Seeufer | Der Niederländer Marcel Hermanns trägt sein orangefarbenes Fußballtrikot über die Marathonstrecke |
Zum Teil direkt am Ufer des Storsjö verläuft die Strecke, als man sich der vorletzten Verpflegungsstelle nähert. Und auch der Wald ist bis an die Straße herangerückt. Meist ist er ziemlich dicht. Doch auch ein nach einem vollkommenen Kahlschlag gerade wieder langsam grün werdendes Stück ist dabei. Immer wieder trifft man auf der Fahrt durch die schwedischen Wälder auf solche Flächen. Von selektivem Holzeinschlag, den man in Deutschland bevorzugt, keine Spur. In Skandinavien wird Wald in großem Stil "geerntet". Man hat ja nun aber auch wirklich genug davon.
Umgekehrt gibt es im Land allerdings auch ein ziemliches Umweltbewusstsein. Einen schwedischen Läufer, der seinen gerade leer gelutschten Gel-Beutel einfach irgendwo in die Landschaft schleudert, wird man kaum entdecken können. Die Straßenränder in Skandinavien machen nicht nur aufgrund der Vegetation einen völlig anderen Eindruck als die mit Müll übersäten Asphaltpisten im Süden.
Und wo hat man denn schon einmal erlebt, dass der Hotelmülleiner mit drei verschiedenen Fächern ausgestattet ist? Eins für Papier, eins für organisches Material und ein drittes für den Rest. Selbst die Karte zum Öffnen der Zimmertür ist nicht aus Plastik sondern aus Holz. Doch worauf man den Magnetstreifen schlussendlich klebt, ist ja eigentlich auch egal.
Von links rauscht zum wiederholten Mal ein kleiner Wasserfall dem Storsjö entgegen. Allerdings ist der nicht zu vergleichen mit den beiden, über die der den großen See durchfließende Indalsälv in der Nähe von Åre stürzt. Tännforsen und Ristafallet heißen die beiden. Sie beeindrucken vor allem durch die enormen Wassermassen, die einer der wasserreichsten schwedischen Flüsse über sie ergießt. Selbst wenn man zu ihnen ein Stück zu fahren hat, es lohnt sich. Denn Wasserfälle wie diese sind eben weiterhin etwas ganz besonderes.
Gegenüber auf der anderen Seite des Storsjö wird langsam Östersund deutlich erkennbar. Die Türme von Rathaus, Universität und Kirche ragen unübersehbar aus den Häusern heraus. Man nähert sich dem Ziel. Und man nähert sich auch einem der Höhepunkte der Strecke. Den haben sich die Streckenarchitekten bis zum Schluss aufgehoben.
"Höhepunkt" ist dabei nicht nur in übertragender Bedeutung zu verstehen. Denn um zurück nach Östersund zu gelangen, führt nun kein Weg mehr daran vorbei, den See zu überqueren. Seit 1998 tut das an dieser Stelle eine Brücke, Vallsundsbron genannt. Über eineinhalb Kilometer weit schlägt sie einen an der obersten Stelle rund zwanzig Meter hohen Bogen hinüber nach Frösön. Gerade einmal ein halbes Dutzend schwedische Brücken sind noch länger.
Kurz hinter dem noch vor dem Beginn der Rampe positionierten Kilometer 38 beginnt der Anstieg. Doch fällt der irgendwie überraschend leicht. Denn durch das Abbiegen nach rechts weht der Wind, der bisher schräg von vorne geblasen und den Läufern das Vorwärtskommen erschwert hatte, nun eher wieder von hinten. Hoch über dem Storsjö kann er fern jeder Deckung natürlich seine Wirkung noch viel besser entfachen und schiebt die Halb- und Ganzmarathonis regelrecht auf Östersund zu.
Fast genau dort, wo sich der Brückenbogen wieder der Wasserfläche entgegen zu senken beginnt, wartet die Bake mit der "39". Und bis man die kleine Insel erreicht hat, an der die eigentliche Vallsundsbro endet, kommt auch schon die letzte Verpflegungsstelle in Sicht. Wie üblich exakt an der Zwischenzeitmarke aufgebaut, die ein Nordländer mit "vier Meilen" bezeichnen würde, erwartet sie die Läufer auf der an die große anschließenden, kleinen Brücke, mit der die Verbindung nach Frösön vollendet wird.
Eine kleine schwedische Flagge haben die Helfer dort festgebunden. Nichts wirklich Ungewöhnliches im Land. Fahnenmasten bekommt man unterwegs absolut genug zu sehen, wenn auch vielleicht doch nicht ganz so ausgeprägt wie im Nachbarland Norwegen. Und nahezu jedes Restaurant, jedes Hotel, jeder Campingplatz hat gleich etliche Flaggen aufgehängt. Interessanterweise ist in Jämtland neben dem natürlich dominierenden schwedischen blau-gelb nahezu immer auch mindestens eine norwegische dabei. Die guten Verbindungen über die offene Grenze zeigen sich auch in solchen Kleinigkeiten.
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Den Schlussabschnitt am Seeufer mit Zielblick |
Die Fahnen der anderen Staaten, die man je nach Blickwinkel - geographisch, kulturell, politisch oder historisch - auch noch zu Skandinavien rechnen kann, nämlich Dänemark und Finnland sind da schon wesentlich seltener zu entdecken. Die einzige Flagge, der man regelmäßig begegnet und die nicht das nordische Kreuz zeigt, ist die deutsche. Schließlich kommen auch aus praktisch keinem Land so viele Touristen in den Norden wie aus Deutschland.
Ein einzelner Zuschauer feuert jeden der fast genauso einzeln vorbei kommenden Läufer persönlich an. Er hat eine Meldeliste in der Hand und sucht schnell über die Startnummer den dazu passenden Namen. Eine Methode, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit bei allen großen Stadtmarathons ebenfalls üblich war, an die man sich aber aufgrund des inzwischen meist mit aufgedruckten Vornamen kaum noch erinnert. Die in der Regel von einer Zeitung gedruckte und dann in großen Mengen ans Publikum verteilte Starterliste, die einst eine Innovation war, gehört jedenfalls längst wieder der Vergangenheit an.
Wie die Teilnehmer auf den Blättern sortiert sind, die der einsame Fan in der Hand hält, ist zwar nicht zu erkennen. Doch die offizielle Liste, die bei der Nummernausgabe im Hotel aushing, war völlig überraschend nicht nach dem Nach- sondern nach Vornamen geordnet. Doch in Schweden ist es eben auch absolut üblich sich mit "du" und dem Vornamen anzureden. Und "Hej" ist ein völlig normaler Gruß, den man auch in Situationen anwendet, bei denen man in Deutschland vielleicht eher formal "Guten Tag" sagen würde.
Hinter der Brücke verlässt die Strecke endgültig die Straße. Ein quergestelltes Absperrgatter mit dem längst bekannten aufgeklebten Richtungspfeil und der ebenfalls schon übliche dicke, rote Pfeil auf dem Boden zeigen in ein Wäldchen hinein. Den Schlussabschnitt werden die Läufer auf einen Fuß- und Radweg folgen, der nun etwas unterhalb des Autoverkehrs verläuft.
Viel mehr als diesen Pfad wird man von Frösön nicht zu Gesicht bekommen. Wie Östersund wird auch der heutige Ortsteil auf der ziemlich hügligen Insel, die schon weit vor der Stadtgründung besiedelt und das Zentrum der Region war, vom Marathon auch nur berührt und nicht wirklich durchquert.
Doch vermutlich würde man sich auch bedanken, müsste man jetzt noch einmal die über hundert Höhenmeter zur hoch über dem See gelegenen Frösö kyrka hinauf. Neben ihrem für Mitteleuropäer ziemlich ungewöhnlichen Glockenturm - rund um den See gibt es allerdings noch einige in ähnlicher Form - haben die Radfahrer am gleichen Wochenende jedenfalls ihre Bergwertung.
Ein Tunnel bringt die Marathonis wenig später direkt ans Seeufer. Gleich daneben ist ein Parkplatz als Beobachtungsstelle für etwas eingerichtet, das als "Storsjöodjuret" bezeichnet wird. Der für Nichtschweden ziemliche Zungenbrecher lässt sich mit dem Wissen, dass man "djur" mit "Tier" und "o-" mit "un-" übersetzt, als "das Untier vom großen See" deuten. Auch in Skandinavien gibt es so etwas wie Nessie. Ungeheuern kann man wirklich überall begegnen, nicht nur in den Highlands am Loch Ness.
Selbst wenn dieses "Untier" bei weitem nicht so populär wie die britische Verwandtschaft ist und man außerhalb von Schweden auch praktisch noch nie von ihm gehört hat, wird es ziemlich gut vermarktet. Sein stilisiertes Abbild dient als Logo für die Region. Sogar eine eigene Internetseite hat man eingerichtet, auf der ganz genau erklärt ist, warum das Ungeheuer denn tatsächlich existiert. Wieso man es allerdings nun ausgerechnet von den "Storsjöodjursspaningsplatser" - es geht noch zungenbrechrischer - besonders gut sehen soll, bleibt rätselhaft. Da ging es wohl eher darum, den einen oder anderen Parkplatz etwas aufzuwerten.
Lang ziehen sich die letzten eineinhalb Kilometer hin. Noch viel länger als üblich. Denn der Halbkreis, den man am Ufer des Storsjö schlägt, lässt das stets im Blick befindliche Ziel so nah und doch so fern erscheinen. Irgendwie kommt der kleine Hafen von Östersund, neben dem sich die Linie befindet, einfach nicht näher.
Der kleine Durchlass, den der See zwischen Frösön und dem Festland gefunden hat, wird neben einer Straßenbrücke auch von einem Steg für Fußgänger- und Radfahrer überspannt. Insgesamt führen sogar vier Brücken hinüber zur Insel, denn im Norden gibt es als Verbindung des Flugplatzes mit seinem Teilnamensgeber Åre noch eine weitere. Mit dem Erreichen des Steges - genauer gesagt sind es zwei, denn auch an dieser Stelle hat man wieder ein Inselchen mit eingebaut - beginnt dann aber wirklich der Endspurt.
An einem Laternenpfahl klebt der Zettel mit der "42". Doch von der darunter hängenden "21" sollten sich die Halbmarathonläufer besser nicht verwirren lassen, wenn sie vermeiden wollen, dass ihnen im Schlusssprint zu früh die Puste ausgeht. Es sind nämlich noch immer zweihundert Meter bis zur Linie. Die ist allerdings erst kurz, bevor man sie erreicht, wirklich zu sehen. Die Zielgerade ist nicht wirklich lang. Ein scharfer Rechtsknick und schon steht man praktisch direkt vor den blauen Zeitmessmatten.
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Auf der zweiten Hälfte kleben an jeder Kilometermarke zwei Zahlen | Ein kurzes Stück führt der Radweg durch ein Wäldchen | Nur kurz ist die Zielgerade zu den blauen Zeitmessmatten |
Der Einlauf ist kaum spektakulärer als der Start. Von großen Aufbauten keine Spur. Nur ein paar der schon bekannten blauen Böcke bilden eine Einlaufgasse. Und das Zieltransparent ist nicht etwa über der Linie gespannt sondern neben das Sponsorenschild an den Barrieren gehängt. Das Ganze ist nüchtern, zweckmäßig, aber eben auch ehrlich und der Größe der Veranstaltung angepasst. Jenes zum Teil übermäßige Brimborium, mit dem manche Veranstalter hierzulande ihren Lauf zum "Event" hochstilisieren wollen, würde vielleicht auch nicht unbedingt zur nordischen Mentalität passen.
Immerhin sind ein paar Besucher des direkt nebenan stattfindenden Stadtfestes herüber gekommen und sorgen für ein bisschen Applaus. Als sie den erklärten Favoriten Joseph Kimisi nach 2:36:04 als Sieger bejubeln, hat sein nächster Verfolger Simon Jörgensen kaum die Vallsundbrücke hinter sich gelassen. Dennoch zeigt der Jämtländer Lokalmatador aus dem fünfzig Kilometer nordwestlich von Östersund gelegenen Dorf Alsen mit 2:41:47 gerade angesichts der doch nicht einfachen Strecke und der Witterungsbedingungen eine wirklich überzeugende Leistung. Eine echte Chance auf die Siegprämie von zehntausend schwedischen Kronen hat er gegen den kenianischen Laufprofi jedoch in keiner Phase.
Der Dritte Jonas Byman ist mit 2:52:50 dagegen bereits mehr als elf Minuten hinter Jörgensen, dessen Namen ja eher norwegisch als schwedisch, wo eigentlich die Endung "son" üblich ist, klingt. Gudleik Husby in 2:56:25 auf Rang vier ist dann tatsächlich Norweger und aus dem Trøndelag herüber gekommen. Auch Alexander Jakobsson - man beachte die Endung - bleibt mit 2:58:11 noch unter drei Stunden.
Und dann kommt noch Frauensiegerin Jenny Jansson als Gesamtsechste nach 2:58:39 ins Ziel, bevor die erste Ziffer der Uhr auf eine drei springt. Lange Zeit zusammen mit dem Norweger Husby unterwegs, kann die Lappländerin am Ende zwar nicht mehr ganz mit gehen. Doch pulverisiert sie den Streckenrekord, den Kajsa Friström, die diesmal in 3:24:55 Zweite wird, bisher mit einer 3:16 hielt, regelrecht. Malin Olofsson (3:27:31) und Eva Hanning (3:29:29) folgen auf den nächsten Rängen.
Auch Kimisi läuft übrigens Rekord. Doch verbessert er ihn um gerade einmal eine Minute. Ein Wermutstropfen bleibt trotz der beiden neuen Bestzeiten für die Veranstalter. Denn noch ein Rekord wird aufgestellt, und zwar ein negativer. Erstmals werden mit 17 Frauen und 63 Männern weniger als hundert Teilnehmer im Marathonziel registriert. Als Letzter kommt kurz vor der gesetzten Zielschlusszeit von sechs Stunden der Brite Sam Owen in 5:57:51 an. Da musste sich der Vorletzte Håkan Lundkvist, den man in 4:53:14 stoppt, unterwegs nun wirklich nicht umdrehen.
Was beim Marathon an Läufern verloren geht, kann der Halbmarathon allerdings beinahe auffangen. Mit 59 Frauen und 121 Männer im Ziel legt man auf der kürzeren Strecke ordentlich zu. Für Mari Guin ändert sich jedoch wenig. Sie kennt das Gefühl als Siegerin einzulaufen bereits aus dem Vorjahr. Diesmal reichen ihr 1:28:54 zum Erfolg. Sophia Sundberg verliert zwar in 1:30:38 die Witterung nie ganz, kann sich aber auch nicht richtig heran arbeiten. Und Katarina Rönngren hat einzig und allein damit zu tun, sich den dritten Platz auch wirklich zu sichern. Denn nachdem die Zeitmatten ihre 1:38:44 registriert haben, kommen in der nächsten Minute noch vier weitere Damen herein.
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Einzig niedrige Gräser und Moose können sich im Fjäll westlich von Östersund noch halten | Im Fjäll ist man schnell mit sich allein |
Auf den ersten Kilometern drücken bei den Männern Andreas Fahlen und Carlos Silva de Brito, der trotz seines südländischen Namens in Norwegen zu Hause ist, gemeinsam ordentlich aufs Tempo und bauen schnell einen Vorsprung auf alle Verfolger auf. Auf der zweiten Hälfte kann sich Fahlen dann aber doch absetzen und mit 1:13:05 ziemlich genau eine Minute auf den 1:14:03 benötigenden Silva heraus laufen. Johan Dahl beendet eine absolute Solovorstellung nach 1:16:12 auf Rang drei und hat damit zum Zweiten praktisch den gleichen Abstand wie zum Vierten Ola Lidmark Eriksson, der in 1:18:32 ebenfalls noch die Achtzig-Minuten-Marke unterbietet.
Allen wird im Ziel das Rathaus von Östersund als Medaille umgehängt. Was man unterwegs nicht zu Gesicht bekommen hat, nämlich das Wahrzeichen "rådhus" hält man nun zumindest aus Metall in der Hand. Doch der Östersunder Marathon will von seiner Konzeption her ja auch gar kein Stadtlauf sein. Es soll um und über den großen See führen.
Zugegeben, der Kurs wird erst mit zunehmender Streckenlänge wirklich schön. Zugegeben, an ein paar Details könnte man eventuell noch feilen. Aber im Großen und Ganzen kann man am Storsjö einen ehrlichen, solide organisierten Marathon absolvieren, bei dem man sowohl skandinavische Natur wie auch skandinavisches Naturell ein wenig besser kennen lernen kann. Es könnte sich dann ja vielleicht doch der eine oder andere merken, wo Östersund denn nun genau liegt.
Seit der letzten Biathlon-WM hat die Stadt ein neues Logo, das Besucher am Stadteingang empfängt. Es ist eine Schneeflocke in Herzform. Ein bisschen seltsam ist "Snöhjärtat" als Symbol schon, denn so kalt ist das Herz von Östersund, Jämtland und Schweden doch gar nicht. Da findet man anderswo wesentlich Kälteres.
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Ergebnisse und Infos unter www.ostersundmarathon.se Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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