16.8.08 - Lofoten Marathon Leknes (Norwegen)

Abwechslung im Reich der Trolle

von Ralf Klink

Er ist hauptsächlich von Eis geprägt, der Zustand, in dem sich Norwegen heute präsentiert. Zwar haben sicher auch andere Vorgänge zu der Formung des Landes beigetragen. Doch die tiefen Wunden, die unübersehbaren Narben, die von der letzten Eiszeit in den anscheinend doch so harten Fels der skandinavischen Halbinsel geschlagen wurden, sind dennoch absolut dominierend.

Etliche Kerben haben die Gletschermassen hinterlassen. Tausend Meter tiefe und Hunderte von Kilometern ins Land hineinreichende Fjorde, unzählige Inseln jeder Größe und Form könnten die ohnehin schon lange norwegische Küstenlinie sicher noch einmal um das zehnfache verlängern, würde man sie bei der Rechnung alle berücksichtigen.

Das ist zumindest die offizielle Version. Wer allerdings "Per Anhalter durch die Galaxis" - übrigens das gleiche Buch, in dem die Frage aller Fragen, die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest, an dem der größte Computer aller Zeiten 7,5 Millionen Jahre gerechnet hatte, am Ende kurz mit "42" beantwortet wird - kennt, wird sich daran erinnern, dass es da einen detailverliebten Planetenbaumeister namens Slartibartfast gab, der Norwegen als sein absolutes Meisterwerk bezeichnete.

Doch da die meisten Forscher nach wie vor an ihr festhalten, kehren wir lieber wieder zu der Geschichte des umher wandernden und überall heftige Spuren hinterlassenden Gletschers zurück. Die ist schließlich auch spannend genug.

Seltsamerweise war es Wärme, die es der Kälte erst möglich machte, die eigentlich doch recht abweisenden Eigenschaften des Gesteins zu überwinden und es deshalb am Ende unter der Wucht des Eises völlig zu zerreiben. Denn auf einer dünnen Schicht Schmelzwasser rutschten die Gletscher bergab. Das dabei mitgeschobene Geröll schmirgelte die Felswände regelrecht blank.

Dem Eis, das die gesamte skandinavische Landmasse eine Zeit lang völlig unter sich begraben hatte, ist es dabei gelungen, Norwegen in unzählige Einzelteile zu zerlegen. Einzelteile, die Straßenbauer immer noch verzweifelt versuchen, irgendwie wieder zu einem Ganzen zusammen zu setzen.

Doch die tief einschneidenden Fjorde, die steilen Bergflanken, das Mosaik aus Tausenden ins Meer hinaus geschütteten Inseln jeder Größe, eben das Trümmerfeld, das wie üblich vom Eis hinterlassen wurde, machen es heute noch zu einer echten Herausforderung vernünftige Verbindungen herzustellen. Jedes Mal wenn man glaubt, einen sinnvollen Weg gefunden zu haben, baut sich ein neues Hindernis auf. Mit unzähligen, oft ziemlich abrupten Wendungen schlängeln sich die wenigen Straßen durchs Gebirge.

Warten auf dem Start im Start-/ Zielbereich vor dem Rathaus Die Preise werden schon vor dem Start zur Ansicht aufgebaut

Nicht nur im übertragenden Sinn versuchen die eifrigen Verkehrsplaner deshalb irgendwie Brücken zwischen diesen Mosaiksteinchen zu schlagen. Tunnels sind allerdings auch recht beliebt. Und manchmal muss man dabei ziemlich lange durch die Dunkelheit, bis man wieder Licht erblicken kann. Der fast fünfundzwanzig Kilometer lange Lærdaltunnel nordöstlich der Stadt Bergen ist da nur das herausragendste, aber nicht das einzige Beispiel.

Fjorde sind sicher die Landschaftsform, die jeder mit Norwegen verbindet. Dort, wo sich das Meer weit ins Land hinein schiebt. Es gibt allerdings auch das genaue Gegenteil. Land, das sich in die stürmische See hinaus gewagt hat. Wer sich einmal die Karte der norwegischen Küste genauer angeschaut hat, wird sicher wissen, wie sehr die Grenzen zwischen Kontinent und Ozean hier verwischt sind.

Am weitesten von der skandinavischen Halbinsel in die Nordsee hinaus traut sich schon ein ganzes Stück jenseits des Polarkreises die Inselkette der Lofoten. Rund achtzig Kilometer ist die am entfernteste Spitze vom Festland weg. Doch nicht nur wegen dieser Tatsache gelten diese Inseln als einer der absoluten landschaftlichen Höhepunkte Norwegens.

Die Lofoten sähen aus, als habe man das Tal von Chamonix geflutet, soll der frühere Vorsitzende des berühmten britischen Alpine Club James Brice einmal über die norwegische Inselgruppe gesagt haben. Und so ganz unrecht hat er damit nicht, denn viele der bizarren Felsformationen, die sich hier finden lassen, sind mit dem in den Alpen meist für spitze Berge benutzten Wort "Horn" tatsächlich nur unzureichend beschrieben.

Der Begriff "Nadel" passt da wirklich besser. Französisch eben "Aiguille", wie die wild gezackten Gipfel rund um den Mont Blanc meist heißen. Eine gewisse Ähnlichkeit kann man da durchaus feststellen. Oder doch eher zu den Zinnen der Dolomiten? Wer die Augen nicht völlig verschließt, entdeckt hier jedenfalls noch viel mehr Bekanntes. Ecken, die an ganz unterschiedliche Regionen in den Alpen erinnern. Ans Wallis, an Graubünden, ans Berner Oberland. Fast zu allem findet man irgendwelche Gemeinsamkeiten.

Richtig hoch sind die Berge. Bis an oder sogar etwas über tausend Meter erheben sie sich aus dem Meer. Und Schnee liegt auch drauf. Zumindest in der Zeit zwischen dem früh einsetzenden Herbst und dem Beginn des Sommers. Dann ragen die eisbedeckten Gipfel direkt aus tiefblauem Wasser in den Himmel. Aber selbst im Spätsommer schimmern in vielen Ecken noch helle Flächen auf dem dunklen Fels.

Doch nicht nur alpine Assoziationen ergeben sich zu den Inseln, auch wenn sie natürlich überwiegen. Nahezu jeder in Skandinavien bekannten Landschaftsform kann man hier zumindest im Kleinen begegnen. Steile, enge Fjorde wie an der norwegischen Westküste, die aus einem Kilometer Luftlinie auch locker einmal eine einstündige Autofahrt machen können. Weite grüne Täler mit von großen und kleinen Findlingen gesprenkelten Wiesen wie in Mittelnorwegen. Bäuerlich geprägte, nur leicht gewellte Flächen, von kleinen und großen Seen unterbrochen. Moore, Heiden, niedrige Birkenwälder, wie sie für den norwegischen Norden und auch die weiten Hochflächen weiter im Süden typisch sind.

Auch jene von Gletschern rund geschliffenen Inseln, die man je nach Größe entweder Schären oder Holmen nennt. Wie aus einem großen Beutel einfach ausgeschüttet, verteilen sie sich von der Küste ins Meer hinaus, um sich dann irgendwann in der offenen See zu verlieren. Bilder, die man doch eher mit Schweden verbindet.

Kurz vor dem Start von Marathon und Halbmarathon schaut der spätere Marathonsieger Ross Wakelin schon mal über die Strecke Anmeldung im Rathaus Auch der spätere 2. im Marathonlauf Dag-Tore Svendsen wartet schon ungeduldig auf den Startschuss

Ja einige der vorgelagerten Küstenebenen erinnern mit den in Norwegen ebenfalls üblichen bunten Häusern auch noch ein wenig an Dänemark. Zumindest wenn man dabei den Bergen wirklich den Rücken zudreht. Wer einen weit gefassten Eindruck nordischer Landschaft in kurzer Zeit bekommen will, ist auf den Lofoten jedenfalls sicher gut aufgehoben. Es finden sich schließlich sogar einige herrliche Sandstrände, die allerdings aufgrund der doch eher frischen Wassertemperaturen kaum zum Baden einladen.

Auch den Lofoten hat das Eis ordentlich zugesetzt, auch sie sind von der Kälte geformt. Denn was aus der Ferne wie eine gefestigte, stabile Mauer - die in allen Reiseführern gepriesene "Lofotenwand" - wirken mag, ist aus der Nähe betrachtet doch von der Kraft des Eises in viele Fetzen zerrissen. Kein durchgängiger Gebirgszug erhebt sich hier aus dem Meer, sondern eine Ansammlung etlicher kleiner Berggruppen.

Und dabei sind es nicht einmal die mit Sund oder Straum bezeichneten Meeresarme, von denen die einzelnen Eilande voneinander getrennt werden, die das bewirken. Es sind auch nicht die vielen Fjorde, die den Inseln eine so bizarre äußere Form verpassen, dass man auf der Karte oft gar nicht entscheiden kann, wo eine aufhört und die andere anfängt.

Doch zwischen den einzelnen hoch aufragenden Gipfeln haben die Gletscher so tiefe Spuren hinterlassen, dass von Pässen eigentlich überhaupt nicht die Rede sein kann. Manchmal rollt man fast ohne es zu merken - weil völlig ohne Höhenunterschiede von einer Bucht zur nächsten auf der gegenüberliegenden Inselseite. Und einige Berge erheben sich sogar völlig vereinsamt direkt aus einer an Marschland erinnernden Fläche.

Auch Leknes, der Hauptort der Insel Vestvågøy und auch der gleichnamigen Gemeinde hat so gar nichts von einem Gebirgsort. Ein Fischerdorf, von denen es auf den Lofoten einige wirklich malerische gibt, ist es aber auch keineswegs. Leknes hat seine Bedeutung hauptsächlich der zentralen und verkehrsgünstigen Lage an der inzwischen die gesamte Inselgruppe über Brücken und Tunnels verbindenden Hauptstraße E10 zu verdanken.

Noch vor nicht allzu langer Zeit bestand die Siedlung, in dessen Geschäften sich heutzutage die Lofotenurlauber und auch Inselbewohner mit allem Möglichen eindecken können, nur aus einigen Häusern. Mit dem Ausbau der Straße wuchs auch Leknes und bekam - zumindest für nordnorwegische Verhältnisse - ein schon fast städtisches Gesicht.

"Und zu einer richtigen Stadt gehört eben auch ein Marathon", mögen sich die Macher des Lofoten Marathons wohl gedacht haben. Seit 2006 kann man nun auch in Leknes über 42,195 Kilometer laufen. "Wir wollten einfach etwas zur Förderung des Laufsports in der Region tun", ist die sicher ehrlich gemeinte Aussage einer der Organisatoren.

Kurz nach dem Start am Ortsrand von Leknes. Die 1. Frau über Halbmarathon Wenche Michelsen (60) und neben ihr der 16-jährige Bjarne Martinsen, der als 6. den Marathon beendet Nach 2 Kilometern schon atemberaubende Aussichten

Das kleine, unscheinbare Völkchen aus Skandinavien, von dem sonst wohl kaum jemand Notiz nehmen würde, hat schließlich den Sport gefunden, um zumindest ein wenig auf sich aufmerksam zu machen. Wenn im deutschsprachigen Raum nach bekannten Norwegern gefragt wird, fallen nach Königs- und Kronprinzenpaar meist schnell die Namen Ole-Einar Bjørndalen und Frode Andresen, Bjørn Dæhlie, Lasse Kjus oder Kjetil-André Aamodt. Gerade im Winter ist Norge definitiv eine sportliche Großmacht. Um ehrlich zu sein, vermutlich fallen diese Namen sogar meist noch vor Harald und Sonja, Håkon und Mette-Marit.

Man ist wirklich sportinteressiert und -begeistert. Aktiv und passiv. Auch in Norwegen wurde im Jahre 2008 Olympia fast rund um die Uhr im Fernsehen übertragen. Gleich auf zwei Programmen des staatlichen Senders zeigte man aus Peking die unterschiedlichsten Sportarten. Und wenn gerade mal kein Landsmann unterwegs ist, schaltet man durchaus auch einmal zu Aktiven der skandinavischen Nachbarn. Ja manchmal fiebert man sogar ein wenig mit ihnen mit, obwohl man sie doch eigentlich gar nicht so richtig leiden kann.

Das hat aber sicher damit zu tun, dass Norwegen erst Jahrhunderte lang eine dänische Provinz war. Und dann nach dem Ende der napoleonischen Kriege in Personalunion mit Schweden verbunden wurde. Damit war man zwar formal ein eigener Staat. Die Musik wurde aber in Stockholm gemacht, wo der gemeinsame König seinen Sitz hatte. In Bezug auf die Außenpolitik hatte Norwegen sogar ganz formal alle Rechte an den Nachbarn abtreten müssen. Erst 1905 bekam man die volle Unabhängigkeit mit einem eigenen König.

Gerade die lange Zeit der Fremdherrschaft hat zu einem großen, allerdings durchaus positiven Patriotismus geführt. Schon die Nationalhymne "Ja, vi elsker dette landet" - "Ja wir lieben dieses Land" - drückt das irgendwo aus. Da ist nicht wie in vielen anderen Gegenstücken vom Kampf um Freiheit oder Unabhängigkeit die Rede. Sie hat absolut nichts Martialisches. Sie handelt von der Schönheit Norwegens und seiner Natur. Und wohl nur in wenigen anderen Staaten flattern vor nahezu jedem Haus Wimpel oder Flaggen in den Landesfarben.

Auch im Sport ist das nicht anders. Fairness und Nationalstolz müssen kein Widerspruch sein. Die Erfolge eigener Athleten werden mit großer Freude bejubelt, ohne dabei die Leistungen anderer zu verkennen. Spätestens seit den olympischen Winterspielen vom Lillehammer, die auch weiterhin von vielen als die bisher stimmungsvollsten überhaupt angesehen werden, ist diese Einstellung auch dem Rest der Welt bekannt. Norwegen als absolute Sportnation. Und zwar in jeder Hinsicht.

Die Zeiten einer Grete Waitz und einer Ingrid Kristiansen sind allerdings schon lange vorbei. Und selbst wenn noch immer einige gute Läufer und Läuferinnen - eine Kirsten Melkevik Otterbu, im Vorjahr immerhin auch Dritte beim Frankfurt Marathon, erreicht bei den Olympischen Spielen von Peking zum Beispiel noch vor den beiden deutschen Starterinnen Melanie Kraus und Susanne Hahn das Ziel - aus dem Norden kommen, sieht es auch in Norwegen im Laufbereich insgesamt eher düster aus. Kaum eine Disziplin ist international noch konkurrenzfähig zu besetzen.

Bei Kilometer 4 auf der E10

So betrachtet ist das mit der Förderung des Laufsports sicher keine schlechte Idee. Wenn dabei auch noch ein paar Touristen vorbei schauen, hat man jedoch absolut nichts dagegen einzuwenden. Fast amüsiert berichten die Organisatoren aber von einigen Profiläufern aus dem Ausland, die angefragt hätten, was es denn so an Preisgeld zu verdienen gäbe. Das wäre für sie wohl sicher nicht der richtige Ort, hätten sie zur Antwort bekommen.

Denn Preis- oder Antrittsgelder sind für die Kleinstveranstaltung im menschenarmen Norden angesichts mit insgesamt gerade einmal etwas über hundert Teilnehmern definitiv kein Thema. Und die verteilen sich neben dem Marathon, auf den mal wohl wie auch in Deutschland oft alleine wegen der größeren Attraktivität des Namens nicht verzichten kann, zudem noch auf einen Halbmarathon, einen Zehner, einen Fünfer sowie einen Schülerlauf.

Immerhin sind bei der Veranstaltung dann tatsächlich drei Spanier und ein Italiener in der Liste geführt. Vier Deutsche lassen sich auch entdecken, wobei allerdings das bei einem Eintrag zu lesende "Oslo" als Wohnort das ganze gleich wieder etwas relativiert.

Einmal steht da sogar das Kürzel "NZL". Es ist nicht Jonathan Wyatt, der zufälligerweise am gleichen Tag in Loen viel weiter im Süden Norwegens einen Berglauf gewinnt, bei dem auf 8,2 Kilometer satte 1800 Höhenmeter überwunden werden müssen. Es hat sich allerdings auch kein Kiwi von der anderen Seite der Erde auf den Weg gemacht, um an diesem Marathon teilzunehmen.

Ross Wakelin hat es beruflich vom angeblich schönsten Ende der Welt in ein anderes landschaftlich wirklich beeindruckendes Land gezogen. "Dann bin ich mal kreuz und quer durch Norwegen gereist und eben in Narvik hängen geblieben." Wie er augenzwinkernd hinzufügt: "Auch weil hier die Marathons sind."

Nur eine Woche zuvor ist er im gerade einmal gut hundert Kilometer entfernten Hadsel ebenfalls gelaufen. Und den Midnight Sun Marathon von Tromsø gebe es im Juni ja auch noch in der Gegend. Wobei das Wort "Umgebung" wohl auch wieder nur aus norwegischer - oder eben neuseeländischer - Sicht wirklich nachzuvollziehen ist. Denn von Leknes bis nach Narvik sind es mal lockere dreihundert, teilweise auch noch recht kurvige Straßenkilometer. Vier bis fünf Stunden einfache Fahrt bedeutet das für die Anreise. Tromsø und Hadsel sind vom als Erzhafen bekannten Städtchen auch nur unwesentlich näher.

Der Neuseeländer war jedenfalls bei allen bisherigen drei Austragungen des Lofoten Marathons dabei. Die Premiere beendete er als Zweiter. Im Vorjahr landete er auf dem dritten Platz. Und um es vorweg zu nehmen, die noch fehlende Platzierung auf dem Treppchen holt er sich mit einer Zeit von 3:13:43 im Jahr 2008. Der "erfaren maratonløper" darf dann auch auf der Internetseite der Veranstaltung die "fantastisk vill og vakker natur" - die phantastisch wilde und schöne Natur - des Kurses loben.

Ketil Johnsen, ein Skilangläufer bei seinem ersten Halbmarathon bei Kilometer 5 auf der E10

Leider ist diese Homepage nur auf Norwegisch gehaltenen, auch wenn man durch etwas Erfahrung mit den Internetauftritten von Läufen sehr wohl die wichtigsten Informationen heraus lesen kann. Einige Worte wie zum Beispiel "Loype" für "Laufstrecke" sind ja sogar im Deutschen - wenn da auch nur in der Skiversion - sehr wohl bekannt.

Dabei wäre zumindest eine englische Variante der Homepage eigentlich kein großes Problem. Schließlich spricht der Großteil aller Skandinavier - ganz egal ob Norweger, Schweden oder Dänen - ziemlich gutes Englisch. Man erwartet dort in der Regel von Ausländern auch gar nicht, dass sie die entsprechende Sprache wirklich beherrschen. Sobald man sich als Nicht-Norweger zu erkennen gibt, wechseln die meisten von sich aus sofort ins Englische über.

Schließlich wird man ja mit dieser Fremdsprache regelrecht groß. Im Fernsehen und im Kino werden nämlich ausländische Produktionen keineswegs in synchronisierter Fassung gezeigt. Nein, sie laufen im Original mit Untertiteln. Weder bei viereinhalb Millionen Norwegern noch bei fünfeinhalb Millionen Dänen lohnt der Aufwand. Und selbst für neun Millionen Schweden spart man sich in der Regel diese Mühe.

Das mit "wilder und schöner Natur" mag man so gar nicht glauben, wenn man sich die Startnummer - gegen die Übergabe von 400 norwegischen Kronen für den Marathon - im Rathaus der die gesamte Insel umfassenden Gemeinde Vestvågøy abholt. Denn rund um das gar nicht schmucke, eigentlich nur aus einer einzigen Einkaufsstraße mit umliegenden Siedlungssprenkeln bestehende Inselzentrum wirkt es eher wenig spektakulär. Flachland prägt das Bild.

Wo soll denn da die "vill natur" herkommen? Nun die auf den ersten Blick absolut ereignislose Talsenke ist nahezu vollständig durch einen Ring von Bergen umgeben. Steile, bis fast tausend Meter in die Höhe ragende Felsen, die viel näher sind, als man in diesem Augenblick beim Umsehen auf dem als Start- und Zielgelände dienenden Parkplatz glaubt.

Und jeder von diesen Bergen ist von einem Troll beherrscht. Jene Naturgeister, Zwerge, Kobolde, hässlich und mit Hakennase, deren meist in ziemlich verniedlichter Form dargestellte Abbilder in jedem Souvenirgeschäft zu Tausenden kaufwütigen Norwegenurlaubern angedreht werden. Dabei können Trolle ziemlich unfreundlich und gefährlich werden, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Es gibt da zum Beispiel welche in Seen und Teichen, die ahnungslose Angler in die Tiefe zerren. Da sind die Waldtrolle, von denen manche, die sich zu weit in ihr Gebiet hinein trauen, auf Nimmerwiedersehen verschleppt werden. Auch auf dem offenen Meer lauern sie und bedrohen die kleinen Boote der mutigen Fischer. Sie wehen mit wilden Winden den Bauern die Saat weg oder verhageln ihnen mit schweren Umwettern die Ernte. Hinter jedem in Skandinavien nicht zu erklärenden Naturphänomen stecken definitiv sie.

Abzweig bei Kilometer 6 Auf Seitenstraße bei Kilometer 7 Am Offersøykammen bei km 8:
Stig Erik Mortensen vor Bjarne Martinsen

Und dann gibt es da auch noch die sogenannte Huldra, die ausnahmsweise alles andere als hässliche weibliche Form des Trolls mit langem Haar. Sie mischt sich gerne auch einmal unter die Menschen, verdreht unbedarften Männer den Kopf, lockt sie so in ihr Reich und stürzt sie damit ins Unglück. Denn meist viel zu spät entdecken diese den lange Zeit sorgsam verborgenen Kuhschwanz.

Ihre Schwester jenseits der Grenze drüben in Schweden agiert ähnlich, hat aber als Unterscheidungsmerkmal den Schwanz eines Fuchses. Und eine entfernte Verwandte der beiden sitzt auch auf einem Felsen am Rhein, kämmt dort ihr Haar und singt dazu. Loreley soll sie heißen. So etwas wie Huldras gibt es wohl in fast jedem Land.

Zum Glück sind Trolle lichtscheu. Und als die gerade einmal acht an den niedrigen Nummern erkennbaren Marathonis - von denen einer unterwegs auch noch auf die kurze Strecke umschwenken wird - und die immerhin sechsundzwanzig Halbmarathonis mit Startnummern jenseits der 50 sich um elf Uhr an der Startlinie versammeln, lacht die Sonne vom Himmel.

Die Wettervorhersage hatte zwar vor Regen gewarnt und ein Stück weiter im Osten schüttet es auch. Doch die Lofoten und insbesondere die Insel Vestvågøy kommen an diesem Samstag besser weg als befürchtet. Es wird trocken bleiben, bis auch der Letzte im Ziel und die Siegerehrung abgeschlossen ist, auch wenn sich ab und zu einmal eine bedrohlich wirkende Wolke sehen lässt.

Ein ganzer Tag Dauerregen bei gerade einmal zehn Grad, mit tiefhängenden Wolken und böigem Wind wie er 48 Stunden zuvor die Inseln geplagt hat, hätte die ohnehin schon niedrigen Teilnehmerzahlen wohl noch deutlich weiter absinken lassen. Etliche, ja die meisten melden schließlich erst am Wettkampftag nach.

Schon bevor das erste Kilometerschild am Straßenrand auftaucht, ist das Läuferfeld aus dem Ortskern des knapp 3000 Einwohner zählenden Leknes hinaus geeilt. Noch einige Zeit werden zwar vereinzelte Häuser in der Weite der Landschaft stehen, doch schon jetzt sieht es deutlich mehr nach dem versprochenen Naturlauf aus. Das Bergpanorama macht über der grünen Weite sofort einen ganz anderen Eindruck.

Gleich zwei Zahlen, nämlich "1" und "22" stehen da auf der Markierung, denn die Langstreckler haben den Kurs zweimal zu absolvieren. Die Halben dürfen nach einer Runde ins Ziel laufen. Zumindest die Hälfte der Distanz ist es aber deshalb auch für das kaum mehr als ein halbes Dutzend Marathonläufer nicht ganz so einsam.

Am Offersøykammen bei Kilometer 8: Die 2. Frau über Halbmarathon Lene-Catrin Martinsen vor der 3. Rakel Enoksen Am Vågspollen bei Kilometer 8 Anstieg zu Kilometer 10

Die Spitze hat da - Halbmarathonis hin, 21-Kilometer-Läufer her - schon Ross Wakelin übernommen. Nur Kurth Magnusen, der mit 1:34:08 die kürzere Distanz gewinnen wird, und Audun Inge Rasmussen, Zweiter in 1:35:37, können noch halbwegs mitgehen. Lars Hjuring dagegen, am Ende auf Rang drei, wird mit 1:40:10 erst ins Ziel laufen, wenn der Marathonsieger schon längst seine zweite Schleife begonnen hat.

Kilometer drei steht schon auf der E10, dem Lofoten-Highway. Hier rollt der gesamte Verkehr, der auf die beiden noch per Straße angebundenen Inseln Flakstadøy und Moskenesøy will oder von dort kommt. Dennoch hält sich die Belastung in Grenzen, zumal die Piste hier in der Ebene mit zwei relativ breiten Spuren wirklich gut ausgebaut ist. Die Zahl der vorbei fahrenden Autos ist jedenfalls mehr als überschaubar.

Und wenn doch einmal ein Wohnwagengespann oder Wohnmobil aufgrund zufälligen Gegenverkehrs gerade nicht an den schon nur noch maximal in kleinen Grüppchen den Asphalt bevölkernden Läufern vorbei kommt, dann wird eben gewartet. Spätestens nach ein paar Tagen auf norwegischen Straßen hat sich auch der hektische Mitteleuropäer an die deutlich geruhsamere Art der Fortbewegung gewöhnt.

Noch sind es rund sechzig beeindruckende Kilometer, bis im kleinen Fischerdörfchen Å - was übersetzt nichts anderes als "Bach" heißt und auf das gleiche germanische Wort zurück zu führen ist wie so manches deutsche Fließgewässer mit dem Namen "Ach" oder "Ache" - die Lofoten-Tourismusstraße ziemlich unspektakulär an einem Parkplatz endet.

Dass Å auch den letzte Buchstabe des um drei Zeichen - daneben noch Æ und Ø - reicheren norwegischen Alphabets darstellt, ist zwar wie vieles im Leben absoluter Zufall, passt aber dennoch optimal ins Bild. Das Ende heißt hier eben nicht Omega sondern Å. Man ist am Ende der Welt - zumindest der auf den Lofoten - angekommen. Nun heißt es umkehren, um irgendwie doch noch weiter zu kommen. Entweder nimmt man eine der Fähren, die ein Stück die Straße wieder hinab den Hafen von Moskenes mit dem Festland verbinden. Oder man muss den gesamten, mehrere hundert Kilometer langen Weg auf der E10 wieder zurück.

In fast jeder Richtung ist nun irgendwo mindestens ein Berg sichtbar. Sechshundert, achthundert, manche fast tausend Meter hoch. Wo keiner ist, wartet eine jener Buchten, von denen die äußere Form der Insel so unübersichtlich gemacht wird. Manchmal sind es wirklich nur ganz schmale Landstreifen, die sie voneinander trennen.

Auch der Offersøystraumen ist eine solche Bucht. Obwohl der Name Offersøy, mit der das Landstück und die vereinzelten Häuser auf der anderen Seite der langen Brücke, die diesen Meeresarm überquert und das Kilometerschild mit der "5" auf sich stehen hat, signalisiert, dass es sich dabei um eine Insel handelt. Stimmt aber nicht, es ist nur eine Halbinsel, wovon sich die Läufer im weiteren Verlauf der Strecke auch überzeugen können.

Rakel Enoksen und Olav Olsen am Anstieg zu Kilometer 10 Am Hauklandstrand bei Kilometer 11 Verpflegung am Hauklandstrand

Hinter der Brücke zeigen die Pfeile auf dem Asphalt nämlich nach rechts in ein Seitensträßchen. Es wird auch höchste Zeit, denn nur zwei Kilometer später verschwindet die E10 in einem Tunnel. Und der führt gut 1700 Meter lang und 63 Meter tief unter dem Nappstraumen hindurch zum Nachbareiland Flakstadøy. Einen Blick auf die Gipfel jener eigentlich noch deutlich wilderen und schrofferen Insel kann man zumindest werfen.

Aber spätestens mit dem Einschwenken ist man auch auf Vestvågøy wirklich im Reich der Trolle angekommen. Links ragt die immer näher kommende Felsen der "Offersøykammen" genannten Erhebung 436 Meter hoch in den Himmel, auf dem einer jener Bergtrolle seine Heimat hat. Rechts ist nach wie vor der Bereich eines jener im Meer wohnenden Kobolde, wenn auch eines meist eher ziemlich ruhigen und ungefährlichen, denn noch einige Zeit wird der weit ins Land hinein reichende, still da liegende Offersøystraumen die Läufer begleiten.

"Vill og vakker". So ganz unrecht hat Ross Wakelin doch nicht gehabt. Mit jedem Meter, den man sich von der E10 entfernt, wird die Landschaft rauer. Acht Kilometer und der Offersøykammen sind passiert, als nun auch links das Meer sich der Laufstrecke nähert. "Vågspollen" heißt diese Bucht, die aus dem Landstreifen, der die Halbinsel Offersøy mit dem Rest von Vestvågøy verbindet, einen nur wenige hundert Meter breiten Isthmus macht. Wie auch der Rest der norwegischen Küste ist die Insel vom Wirken des Eises eben furchtbar zerfurcht.

Und nicht nur in geographischer Hinsicht ist das Land in viele Einzelteile zerlegt. Fast in jedem der unzugänglichen norwegischen Täler, fast an jedem Seitenfjord spricht man einen anderen Dialekt. Eine echte, auch wirklich gesprochene Hochsprache hat sich dagegen nicht entwickelt. Man legt seine westnorwegische Mundart eben auch dann nicht ab, wenn man nach Oslo zieht. Umgekehrt natürlich genauso. Nicht nur Patriotismus, auch Lokalpatriotismus ist eine übliche norwegische Eigenschaft.

Und so gilt es eigentlich nicht als all zu schwer, als Ausländer mit der Aussprache zurecht zu kommen. Denn in Norwegen sind sie sowieso an eine große Bandbreite von Varianten gewöhnt. Sogar die Übergänge zum Schwedischen und Dänischen sind eher fließend. Es ist eben nur eine andere Schriftsprache, die auf der anderen Seite der Grenze genutzt wird. Wenn man redet, versteht man sich aber dennoch einigermaßen.

Dass zu allem Überfluss in Norwegen auch noch gleich zwei verschiedene Schriftsprachen angewendet werden, ist irgendwie ein weiterer Beleg für die Zerfurchtheit des Landes. Es handelt sich zwar absolut nicht um eine klare Linie wie den Röstigraben in der Schweiz oder gar die flämisch-wallonische Sprachgrenze. Mit wirklichem Konflikt zweier Bevölkerungsgruppen hat das nichts zu tun. Die beiden Varianten Bokmål und Nynorsk liegen eigentlich auch näher beieinander als zum Beispiel Hochdeutsch und Schwyzerdütsch.

Richard Brattli, Lokalmatador und 4. im Marathonlauf am Hauklandstrand "600 m zum Gipfel", Hinweis auf den ... ... Anstieg bei Kilometer 13

Aber dennoch steht auf den Straßenschildern eben manchmal "Kirke" und manchmal "Kyrkje", wenn auf eine Kirche hingewiesen werden soll. Selbst auf offiziellen Dokumenten wie Briefmarken, Pässen oder Geldscheinen tauchen zwei Varianten für den Landesnamen auf. Was mit dem deutlich überwiegenden Bokmål "Norge" genannt wird, heißt auf Nynorsk, das nur noch gut ein Zehntel der Bevölkerung nutzt, nämlich "Noreg".

Neben den Narben des Eises ist für diese Vielfalt auch die Geschichte des Landes verantwortlich. In der Zeit als Provinz Dänemarks hatte sich nämlich das Dänische als alleinige Verwaltungs- und Literatursprache durchgesetzt. Geschriebenes Norwegisch im eigentlichen Sinn gab es nicht mehr. Als man sich dann von Dänemark gelöst hatte, kam im Zuge des neuen Nationalbewusstseins der Wunsch nach einer eigenen Schriftsprache auf.

Aus einem norwegisierten Dänisch entwickelte sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts langsam das Bokmål, was übersetzt "Buchsprache" bedeutet. Fast gleichzeitig konstruierte der Sprachwissenschaftler Ivar Aasen aus verschiedenen westnorwegischen Mundarten das Landsmål. Die "Landsprache", die später als "Neunorwegisch" bezeichnet wurde, obwohl ihr Ursprung deutlich der ältere ist.

Im Westen, in Fjordnorwegen bevorzugt man noch heute Nynorsk, im Osten und Norden eher Bokmål. Wie gesagt, wirklich gesprochen wird keine der beiden Formen. Und die Touristen müssen sich auch gar nicht darum kümmern. Sie kommen mit Englisch überall durch. Selbst auf dem norwegischen Pass steht ja neben "Norge" und "Noreg" auch "Norway". Und doch irgendwie bezeichnend für ein Land, das sich vom Eis in so viele kleine Teile hat zerlegen lassen und noch immer auf der Suche nach Zusammenhalt ist.

Nach links weiter am Vågspollen entlang winken die beiden jugendlichen Streckenposten, die an einem Abzweig des Sträßchens ihren Dienst tun. Eine neue Art von Troll bekommt nun Abwechslung in seinem Terrain durch die vorbeikommenden Läufer. "Skogstroll" - "Waldtroll" - wird er genannt. Denn eines jener auf den Lofoten nicht gerade zahlreichen kleinen Nadelwäldchen liegt da am Streckenrand. Und nicht nur für die Trolle gibt es Abwechslung, auch den Marathonis bietet der Kurs ständig neue, wirklich abwechslungsreiche Aussichten.

Während beim Männer-Halbmarathon die Verhältnisse recht schnell geklärt sind, gestaltet sich das Damenrennen deutlich spannender. Gleich drei der neun gestarteten Frauen laufen hier auch kurz vor der Halbzeit in kurzen Abständen hintereinander her. Und mit ständigen Führungs- und Positionswechseln schenken sich Wenche Michelsen, Lene-Catrin Martinsen und Rakel Enoksen noch immer wirklich gar nichts.

So ändert sich die Reihenfolge auch wieder, als das Sträßchen auf dem Weg zum zehnten Kilometer anfängt zu steigen. War der Landstreifen zwischen den letzten beiden Buchten nahezu flach, ist der Weg zum Strand von Haukland dann doch etwas hügliger. Es ist kein richtiger Berg, aber auf der zweiten Runde ist dieser knappe Kilometer, den es da stetig hinauf geht, schon ein recht zäher Brocken.

Bergkulisse bei Kilometer 14 Hügel nach ... ... 15 Kilometern

Doch belohnt wird man mit einem wirklich traumhaften Blick, den man so in dieser Ecke der Welt eigentlich nicht erwarten würde. Ein breiter Sandstrand am Ende einer von bis zu fünfhundert Meter hohen Bergen umschlossenen Bucht. Mal kahle graue, mal bemooste grüne Steilwände über türkisem oder hellblauem Wasser. Stünden da noch ein paar Palmen, könnte man sich Ähnliches durchaus auch in der Karibik oder Südsee vorstellen.

Im Sommer ist auch dieser Strand - selbst wenn er ein wenig in die falsche Richtung orientiert ist - bis spät in die nur auf der Uhr aber nicht am Himmel vorhandene Nacht von Touristen belagert. Denn "jenseits des Polarkreises" bedeutet auch, dass auf den Lofoten für einige Zeit die Mitternachtssonne am Himmel steht. Jenes kaum zu verstehende Phänomen, bei dem ein Tag einfach nicht endet.

Die Sonne senkt sich dabei wie überall im Westen, nähert sich dann im Norden dem Horizont. Doch anstatt dort zu versinken dreht sie nach Osten weiter und beginnt dort wieder zu steigen. Sechs bis acht Wochen dauert je nach Standort diese Zeit auf den Lofoten und Vesterålen. Von Ende Mai bis Mitte Juli. Da der Lofoten Marathon Mitte August stattfindet, kann man die nicht untergehende Sonne zwar nicht mehr erleben. Ungewöhnlich lange hell ist es allerdings noch immer.

Aber für das herrliche Licht eines wunderbaren, jedoch viel zu kurzen Sommers muss man später einen verdammt hohen Preis zahlen. Schnell und oft urplötzlich ist der ungemütliche Herbst gekommen. Und dann folgt die schier endlose lange Dunkelheit des darauf folgenden Winters. Die Polarnacht, in der die Sonne eben gar nicht mehr aufgehen will, nimmt dann dem Land nahezu jede Helligkeit. Willkommen Winterdepression.

Es geht das Gerücht, dass den als trinkfest bekannten Skandinaviern aufgrund dieser Gegebenheiten eigentlich gar nichts übrig bleiben würde, als zur Flasche zu greifen. Anders könne man die Dunkelheit des nordischen Winters gar nicht ertragen. Sicher nur ein Teil der Wahrheit. Denn da in Norwegen Alkohol strikt reglementiert - nur ganz wenige staatliche Läden dürfen Hochprozentiges verkaufen - und zudem sündhaft teuer ist, schlagen die Nordländer natürlich im Ausland besonders zu, was ihren Ruf nicht gerade verbessert. Doch obwohl verboten wird natürlich trotzdem eine Menge Schnaps schwarz gebrannt.

Bei Kilometer 16: Olav Olsen und ... ... Bjarne Martinsen Zwei Kilometer vor dem Ziel jubelt Lene-Catrin Martinsen

Die Markierung mit der "11" lässt ziemlich lange auf sich warten. Als sie endlich auftaucht, ist seit dem Zehner Zeit vergangen, die für zwei Kilometer reichen würde. Und das auch noch bergab, Der erste Gedanke "da hab ich einen übersehen" wird durch die Ziffernfolge widerlegt. Der zweite "die haben die Schilder vertauscht" stimmt auch nicht, denn bis Leknes tauchen auch alle anderen Zahlen noch auf. Zwar sind später einige, insbesondere der letzte Kilometer wohl ein wenig zu kurz geraten, doch so ganz ausgeglichen scheint die Überlänge irgendwie nicht.

Auf den dezenten Hinweis gleich mehrerer Läufer ist man bei den Organisatoren peinlich berührt. "Wir prüfen das" und "wir haben den Kurs gegenüber dem Vorjahr etwas verändert, vielleicht ist es deshalb passiert". Nein, liebe Lofotener, da müsst ihr vielleicht etwas nachbessern, aber wirklich tragisch ist es eigentlich nicht.

Denn auf der doch mit insgesamt einigen hundert Höhenmetern ausgestatteten Strecke läuft sowieso niemand Bestzeit. Zumindest dann nicht, wenn man auch schon anderswo Hel- oder Halvmaraton - das Fehlende "h" ist kein Schreibfehler sondern norwegisch - gelaufen ist. Und besser ein wenig zu lang als deutlich zu kurz. Nur vielleicht ist dann der Wendepunkt, mit dem etwas später noch einige Meter in der Haukland-Bucht geschunden werden, gar nicht nötig.

So zögert sich allerdings auch der nächste Anstieg noch etwas hinaus. "Jetzt kommt gleich der Berg" wird man von Ortskundigen gewarnt. Ach ja, war das vorhin keine Steigung? Na gut, die zweite echte Steigung ist noch etwas ruppiger als die erste. Und irgend etwas alpines hat sie schon. Gar nicht mal von den Prozenten her, die wohl nur an den steilsten Stücken knapp zweistellig sind.

Aber irgendwie erinnert das Bild, das man da vor Augen hat, wenn man dem Strand den Rücken zudreht, augenblicklich an Davos. Das Holzhaus, das da kurz vor der Kuppe zwischen den Felsen steht, wirkt einen Moment wirklich wie die Keschhütte. Natürlich nur eine Assoziation, denn der höchste Punkt des Kurses liegt nicht bei 2700 sondern maximal bei 100 Metern über dem Meer. Und der Weg ist auch keineswegs ein steiniger Bergpfad.

Eine asphaltierte Straße ist es aber auch nicht mehr. Die beiden Kilometer, die über diesen "Pass" führen, sind auf jenem "Grus" genannten Belag zurückzulegen, mit dem in Norwegen etliche Seitenpisten verfestigt sind. "Kies" oder "Schotter" wären mögliche aber doch nicht ganz zutreffende Übersetzungen. Dass da auch noch Schafe am Rand grasen und gelegentlich über die Strecke hüpfen, gibt dem Ganzen etwas noch ursprünglicheres. "Vill og vakker"? Stimmt tatsächlich.

Kurz vor Ziel in Leknes: der 4. über Marathon Lokalmatador Richard Brattli Marathon 5. Arne Rognebakke Ein guter 7. aber dennoch letzter Platz beim Marathon für Wiggo Bakken

Die Meter zum "Gipfel" werden für die Läufer unübersehbar herunter gezählt. "800 m til Bakketopp" - "600 m til Bakketopp" - "400 m til Bakketopp" - "200 m til Bakketopp". Dann ist man endlich oben. Eine eigentlich ganz nette Idee.

Oben erwartet die Marathonis dann das Revier wieder eines anderen Trolls. Tiefschwarz wirkt der See, in dem er wohnt, am Fuße des Himmeltindan. Diese "Himmelsspitze" ist mit 964 Metern der höchste Berg der Insel. Und irgendwie sieht sie sogar noch deutlich höher aus. Kaum hat man einen fast tropisch anmutenden Sandstrand hinter sich gelassen, ist man mitten im Gebirge gelandet. Abwechslungsreicher geht es nun wirklich fast nicht mehr.

Nur wenig später, nachdem nahezu alle kurz zuvor mühsam erarbeiteten Höhenmeter wieder verloren sind, ist das Umfeld schon wieder ein ganz anderes. Grünes welliges Bauernland, verstreute Höfe, Wiesen, ein paar weitere Seen. Land, wie es weiter im Süden die Basis der norwegischen Nation bildet.

Das Land einfacher, aber freier Bauern, die nie Leibeigene waren, die nie einen wirklichen Herren hatten, die mit Geduld und ehrlicher Arbeit ihr Leben bestreiten. Solide, eifrig, ruhig, zurückhaltend, bescheiden. So sehen sich die Norweger. Und so sind sie wohl zum großen Teil auch. Wieder irgendwie dazu passend, dass Norwegen wohl die einzige Monarchie auf der Welt ist, in der es außer dem Königshaus keinerlei Adel gibt. Keine Fürsten, keine Grafen und auch keine edlen Ritter.

Mitten zwischen den Bauernhöfen steht in einer der vielen Kurven des Sträßchens ein Campingtisch mit einigen Bechern voll Wasser und Elektrolytgetränken. Verpflegungsstelle Nummer drei. Vier sind es insgesamt. Die anderen finden sich an der Brücke über den Offersøystraumen und am Hauklandstrand sowie in Leknes bei Start und Ziel. Mehr braucht man angesichts der Bedingungen und Teilnehmerzahlen auch gar nicht.

Spätestens auf der zweiten Runde übersteigt die Zahl der Helfer auf der Strecke dennoch die der Läufer. Und deren Job ist nun nicht unbedingt abwechslungsreich. Denn zwischen Sieger Ross Wakelin und dem Zweiten Dag-Tore Svendsen, der mit 3:40:41 gestoppt wird, liegt schon eine recht lange Zeit des Nichtstuns. Und bis mit dem sechszehnjährigen Bjarne Martinsen (4:53:21) und Wiggo Bakken (4:56:42), der auch eine Woche zuvor in Hadsel schon das dort kaum größere Feld beschloss, die letzten Beiden der gerade einmal ein gutes halbes Dutzend zählenden Marathonis vorbei kommen, müssen sie schon einiges an Geduld aufbringen.

Die letzten Kilometer zurück zum Ausgangspunkt nimmt dann wieder der Straßenrand der E10 die weit auseinander gezogene, kleine Läuferschar auf. Noch immer geht es in leichten Wellen stetig auf und ab. Wellen, die man bei der Anfahrt so gar nicht wahrgenommen hat. Doch das platte Land, das sich dann doch irgendwie deutlich von den umliegenden steilen Bergen unterscheidet, ist so platt dann doch nicht.

Auch im bis zu diesem Zeitpunkt recht engen Rennen der Frauen scheint kurz vor dem Halbmarathonziel die Entscheidung gefallen. Es sind jeweils ein- bis zweihundert Meter die - in dieser Reihenfolge - Wenche Michelsen, Rakel Enoksen und Lene-Catrin Martinsen hintereinander her laufen. Doch während W50erin Michelsen, die bereits 2006 an gleicher Stelle erfolgreich war, ihren Vorsprung bis zu den Zeitmessern rettet und mit 1:52:42 in der Ergebnisliste landet, wird es dahinter noch einmal richtig eng.

Denn Lene-Catrin Martinsen gelingt es mit einer Energieleistung, die Lücke bis in die Ortsmitte von Leknes doch wieder zuzulaufen. Kurz bevor es für die Halbmarathonis nach rechts zum Rathaus ins Ziel geht, ist sie wieder heran und vorbei. Enoksen kontert, Martinsen hält dagegen. Wie zwei Spinterinnen auf der Tartanbahn hetzen sie über den Parkplatz. Am Ende hat Lene-Catrin Martinsen in 1:53:16 dann doch ganz knapp die Nase vorn.

Innerhalb einer guten halben Minute ist das Siegertreppchen voll besetzt. Das hat bei den Männern rund zehnmal so lange gedauert. Im Ziel erhalten auch sie eine Medaille, deren Band - wie sollte es auch anders sein - natürlich in den norwegischen Landesfarben gehalten ist. Die Marathonis dagegen müssen - nein, wohl eher dürfen - nun den ganzen Kurs noch einmal absolvieren und erneut Abwechslung ins Reich der Trolle bringen, bevor um ihren Hals ebenfalls das Metallscheibchen baumelt.

Siegerehrung Håkon Melseth 1.10km Siegerpreise

Damit zumindest im Zielbereich noch ein bisschen Abwechslung herrscht und natürlich auch damit ein wenig Geld in die Kasse kommt, werden zwei Stunden nach dem Marathon die Läufe über zehn und fünf Kilometer gestartet. Eine bzw. zwei Runden geht es dabei durch Leknes.

Und während im Marathon die Herren unter sich bleiben, haben auf diesen beiden Distanzen die Frauen zahlenmäßig die Oberhand. Und zumindest auf der kürzesten Strecke auch beinahe nicht nur quantitativ. Denn mit Lokalmatador Martin Håberg (20:10) muss Frauensiegerin Rose Hemmingsen (20:24) nur einen einzigen ihrer männlichen Mitläufer vorlassen.

Das passiert zwar über zehn Kilometer nicht. Doch stehen hier vierzehn Frauen ganzen sieben Männer gegenüber. Um den Gesamtsieg wird zwischen Håkon Melseth (38:04) und Håvard B. Heldahl (38:14) hart gekämpft. Der Dritte Erik Duesten aus dem südnorwegischen Stavanger, der nach 46:28 ins Ziel läuft, hat dagegen weder nach vorne noch nach hinten irgendwelche Konkurrenz.

Doch vielleicht schont er sich auch für die an diesem Tag noch anstehenden Radkilometer. Denn nur zufällig war er mit voll bepacktem Reiserad auf einer Lofotentour durch Leknes gerollt, hatte den Startbogen gesehen und gefragt, was denn da los sein. Nach dem Rennen schwingt er sich mit einem jener massiven Ehrenpreise aus Kristall, die an die jeweils ersten Drei verteilt werden, als Zusatzgepäck ausgestattet wieder in den Sattel. Nicht nur ausländische Urlauber sind beim Lofoten Marathon willkommen.

Die schnellsten der in der Kopfzahl klar überlegenen Damen heißen Guri Windstad von der Nachbarinsel Flakstadøy in 49:05, Gunhild Rogstad in 49:44 und Siv Arntzen 52:02, beide aus Leknes. Zumindest hier ist der Ausgang eine wirklich rein lokale Angelegenheit.

Und während am Rådhus die Kurzstreckler ihre Dorfrunde beenden, sind draußen im Reich der Trolle noch ein paar einsame Marathonläufer unterwegs. Auch sie - und nicht nur die hakennasigen Gnome - freuen sich sicher über die Abwechslung, die dieser Marathon bieten kann.

Ein Marathon, auf dem man nahezu allen Trollen begegnen kann, die es so gibt. Ein Marathon, der die Läufer in kurzer Zeit durch etliche Landschaftsformen führt, die Norwegen zu bieten hat. Jenes kleine, bescheidene Land, dem Eis und Kälte ziemlich zugesetzt haben, das aber auch deshalb einen ziemlich eigenen, vielleicht sogar einzigartigen Charakter besitzt.

Bericht und Fotos von Ralf Klink

Infos und Ergebnisse unter www.lofotenmaraton.com

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