St. Helena Island Festival of Running

Marathon am Ende der Welt

von Stefan Schlett

Das wohl abgelegenste Rennen der Welt findet alle zwei Jahre auf der Insel St. Helena im Südatlantik statt. Kaum ein Mensch würde dieses einsame Fleckchen Erde kennen, wäre es nicht von 1815 – 21 der Verbannungsort von Napoleon Bonaparte gewesen. Geografisch können es allerdings die wenigsten einordnen. Das Eiland ist 1868 km von Afrika (Angola) und 3290 km von Recife (Brasilien/Südamerika) entfernt. Die Insel gehört zu den Britischen Überseegebieten des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, die geografische Lage ist 15° 57’ Süd und 5° 42’ West. Die gebirgige Vulkaninsel hat keinen Flugplatz und ist nur per Schiff erreichbar. Die Lebensader der Insel ist das Royal Mail Ship St. Helena, das letzte im Dienst stehende königliche Postschiff der Welt.

Das kombinierte Fracht-Passagierschiff ist das einzige welches die Insel anläuft und regelmäßige Verbindungen zwischen Kapstadt/Südafrika, Walvis Bay/Namibia und der 1270 km weiter nordwestlich gelegenen Insel Ascension sicherstellt. Zwei Mal im Jahr läuft es via Teneriffa/Kanarische Inseln und Vigo/Spanien seine Heimatbasis Portland in England an.

Beim Festival of Running sind innerhalb von 6 Tagen drei Wettbewerbe zu bewältigen: Das Jacob’s Ladder Challenge – ein Treppenlauf über 699 steile Stufen, ein 10 km-Lauf oder 3 km Fun-Run, sowie ein Halbmarathon oder Marathon. Für die Teilnahme sollte man mindestens 3 Wochen veranschlagen. Die Passage von Kapstadt, der Aufenthalt auf der Insel und die Rückreise dauern jeweils eine Woche. Eine verkürzte Variante ist ab Walvis Bay möglich, von wo die Überfahrt nur 4 Tage dauert.

Um 2 Uhr morgens verlässt die R.M.S. St. Helena mit 77 Passagieren und 53 Crewmitgliedern den Hafen von Kapstadt. Das in Aberdeen für 19 Millionen Pfund Sterling gebaute 7000-Tonnen Schiff kann 128 Passagiere und 2000 Tonnen Fracht transportieren und wurde 1990 in Dienst gestellt um die Versorgung der Insulaner sicherzustellen. Der nur halb so große Vorgänger war nach der Rekrutierung für den Falkland-Krieg nur noch bedingt einsetzbar und stieß an seine Kapazitätsgrenzen.

Das Leben an Bord ist gemächlich, es gibt Kabinen in verschiedenen Kategorien, die günstigste Passage ist für rund 350 Euro zu haben (4er Kabine, Vollpension). Neben Bibliothek, Minipool, Souvenirshop, winzigem Fitnesscenter, Spielstube für Kinder, Bar und Sonnendeck gibt es tägliche Infoveranstaltungen, Entertainment, Filme. Daneben kann man die Arbeit der Offiziere auf der Brücke und der Lademeister auf dem Vordeck, wo die Übersee-Container gestapelt sind, verfolgen.

Das absolute Highlight ist die Küche, die vier Mal täglich mit erlesensten Gaumenfreuden verwöhnt. Diese Passage ist eine der letzten Gelegenheiten auf die herkömmliche, traditionelle Weise zu Reisen, wie es vor dem Zeitalter des Massentourismus und Flugverkehrs üblich war. Nachts funkelt das Kreuz des Südens am Sternenhimmel und vermittelt Exotik pur. Tags darauf tauchen die Sanddünen der berüchtigten Skelettküste auf, die Teil der Namib sind, der ältesten Wüste der Welt. Walvis Bay in Namibia wird nach 55 Stunden Fahrt und 725 nautischen Meilen (= ca. 1305 km) erreicht. Hier steigen 31 weitere Passagiere, davon etliche Läufer, zu. Die 8 Stunden Aufenthalt nutze ich zu einem Trainingsläufchen in den nahegelegenen Sanddünen.

87 Stunden sind für die rund 2200 km lange Überfahrt nach St. Helena geplant. Die See wird merklich rauher als die R.M.S. am frühen Abend die afrikanische Küste verlässt und Kurs auf den offenen Atlantik nimmt, der hier im Angolabecken über 5000 m tief ist. Einige Passagiere werden seekrank. Abends sitze ich alleine mit dem 2. Ingenieur Mike Cheyne am Tisch und genieße das 5-Gänge-Menü. Mike, ein Brite, erzählt mir von der Arbeitsroutine auf dem Schiff. Vier Stunden Dienst wechseln mit acht Stunden Freischicht, dann wieder 4 Stunden Arbeit usw. Dies 3 Monate lang, ohne Ruhetag. Dann 3 Monate Heimaturlaub mit bezahltem Rückflugticket von der Reederei. Rund 80% der Crewmitglieder sind Saints (wie sich die Bewohner von St. Helena selber nennen), die stolz darauf sind, auf „ihrem“ Schiff zu arbeiten.

Nach einer Woche Seefahrt tauchen am frühen Morgen die hohen Basaltwände und Steilklippen St. Helena’s am Horizont auf, die Überreste von zwei erloschenen Vulkanen, die vor 7 Millionen Jahren ihre Aktivitäten einstellten. Die stark zerklüftete Insel hat eine Fläche von 122 Quadratkilometer, ist 17 km lang und 10 km breit, höchste Erhebung bildet der Diana’s Peak mit 823 m. Von den zentralen Berghängen verlaufen enge Täler und tiefe Schluchten bis zum Meer. Nur ein kleiner Teil der Insel ist flach. Nördlich des zentralen Hauptkamms auf der Windschattenseite ist die Landschaft von sanften, zum Teil kahlen Hügeln durchsetzt. Hier liegen auch die Siedlungsgebiete. Gebüsch und subtropische Pflanzen wachsen an den Hängen des Zentralmassivs, weiter unten herrscht Grasland vor. Ein großer Teil der Landschaft unterhalb der 500-Meter-Linie ist unfruchtbar. Es gibt eine kleine und interessante endemische Flora. Riesenseeschildkröten nutzen die Insel zur Eiablage. Durch den Südostpassat herrscht trotz der tropischen Lage ein mildes ozeanisches Klima. Der Winter bringt Regen, Nebel und peitschenden Wind.

St. Helena wurde am 21.05.1502 von dem portugiesischen Admiral Juan da Nova Castella entdeckt und erhielt ihren Namen zu Ehren von Saint Helena, der Mutter von Kaiser Konstantin, auf deren Geburtstag der Tag der Entdeckung fiel. 1588 entdeckten die Briten das Eiland und lieferten sich in den kommenden Jahrzehnten immer wieder kleinere Scharmützel mit Holländern und Portugiesen, die ebenfalls Besitzansprüche auf die Insel stellten. Ab 1659 schließlich wurde die Insel von der englischen Ost-Indien-Kompagnie besiedelt und in den kommenden Jahrhunderten zu einer Inselfestung ausgebaut. St. Helena war wichtiger Stützpunkthafen auf dem Weg nach Asien und erlebte auf dieser bedeutenden Handelsroute seine Blütezeit. Diese Bedeutung ging mit dem Bau des Suezkanals 1869 verloren. Bereits 1834 wurde die Administration an die britische Regierung übergeben und St. Helena somit zu einer Kronkolonie.

St. Helena war ein Schmelztiegel der Nationen, an dem sich die internationalen Seestraßen kreuzten. Die 4000 Einwohner sind ein Potpourri aus den Nachkommen von britischen Siedlern, afrikanischen Sklaven, asiatischen Arbeitskräften, Arabern und Skandinaviern die Ende des 18. Jahrhunderts als Gefangene auf die Insel kamen. Regierungschef ist ein von Großbritannien eingesetzter Gouverneur. Verwaltungsmäßig gehören zu St. Helena auch zwei „Nebengebiete“: Die Insel Ascension (1270 km im Nordwesten) und eine kleine Inselgruppe um Tristan da Cunha (2440 km im Süden).

Die „Saints“ haben den Status eines britischen Staatsbürgers, allerdings erst seit dem 21.05.2002, anläßlich der Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Entdeckung der Insel. Offizielle Währung ist seit 1984 das St.-Helena-Pfund, das dem britischen Pfund gleichgestellt ist. Die Insel liegt in der gleichen Zeitzone wie das Vereinigte Königreich (Greenwich Mean Time). Hauptstadt und einzige Ortschaft ist Jamestown mit 864 Einwohnern, die auf der Windschattenseite im Nordwesten der Insel in ein enges, tief eingeschnittenes vulkanisches Tal eingebettet ist.

Hier müssen die Passagiere ausgebootet werden, was bei starkem Seegang oft schwierig ist. Die Gäste verteilen sich auf drei bescheidene Hotels, kleine Gasthäuser und Privatunterkünfte. Die Ortschaft fasziniert sofort mit ihrer reichhaltigen Geschichte und den Kolonialgebäuden im georgianischen und viktorianischen Stil. Um und in den Bergen über Jamestown sind die Bollwerke der Vergangenheit zu sehen: Alte Festungen, Ruinen, Kanonen, Bunkeranlagen.

Nach dem erfolgreichen Governor’s Cup im Jahre 2000, einem Segelwettbewerb von Kapstadt nach St. Helena, wurde der Gedanke eines Laufwettbewerbs auf der Insel geboren. Die Premiere des „St. Helena Island Festival of Running“ fand Ende September 2001 mit 115 Teilnehmern aus 5 Ländern statt. Dortmals noch mit Halbmarathon als längste Distanz. Der Marathon kam erst bei der 2. Austragung im Jahre 2003 dazu. Chet Sainsbury, der Organisator des berühmten Two Oceans Marathon in Kapstadt (zweitgrößter Ultramarathon auf der Welt) veranstaltete das Event in Zusammenarbeit mit der National Amateur Sports Association (NASA) of St. Helena. Noch heute ist das immer in ungeraden Jahren ausgetragene Festival of Running das einzige Langstreckenrennen auf der Insel.

Diese Monstertreppe gilt es ... ... beim Auftaktbewerb zu erklimmen Der Autoverkehr ist gering auf den rund 110 km asphaltierten, meist nur einspurigen Straßen

Zum 4. Festival of Running waren 34 Teilnehmer mit dem Postschiff angereist. Die Organisation übernahm Andrew Campbell vom Fish Hoek Athletic Club (der Verein, welcher für die Versorgungsstation bei km 21 des Two Oceans Marathon verantwortlich zeichnet) zusammen mit Eric Benjamin, dem Präsident der NASA. Erster Wettbewerb ist das Jacob’s Ladder Challenge, und das ist ein Kracher! Schon vom Schiff aus war diese Monstertreppe zu sehen, die die „Skyline“ von Jamestown dominiert. Die technischen Daten verschaffen Respekt: 699 Treppen (Stufenhöhe 28 cm!), 180 Höhenmeter und 300 m Laufdistanz ließen hohe Laktatwerte erwarten. Der Kenner weiß, das ist die Hölle! Ein nicht enden wollender, anaerober Exzess. Die Jacob’s Ladder wurde 1829 errichtet, um einen direkten Zugang zum Ladder Hill Fort, einer Verteidigungsanlage, zu erhalten. Beidseitig waren dort einmal Schienen angebracht um in kleinen Waggons, die von Eseln gezogen wurden, Güter auf den Berg zu transportieren.

Der "Aperitif" 699 Treppen (Stufenhöhe 28 cm!), 180 Höhenmeter und 300 m Laufdistanz machen den Anfang

48 Sportler nehmen den Kampf mit der Treppe im Einzelstartverfahren auf. Der Autor wird als Erster losgelassen – es ging das Gerücht um, er sei ein guter Treppenläufer.....

Das beeindruckendste Ergebnis lieferten zwei Brüder: Der erst 10-jährige Joshua Yon war mit 8:18 Min. auf dem 7. Platz zugleich der schnellste Insulaner. Nathaniel Yon stürmte mit seinen gerade mal 7 Lenzen in 9:49 Min. auf den 15. Platz. Damit konnte er sogar noch die schnellste Insulanerin (Sally Hickling, Besitzerin der einzigen Sandwich-Bar auf der Insel) um 6 Sekunden abhängen! Die schnellste Frau kam aus Namibia (Claire Van Aardt – 4. Platz in 7:43 Min.). Sieger mit über 1 ½ Minuten Vorsprung und neuer Treppenrekord in 5:17 Minuten (der alte Rekord aus dem Jahre 2001 lag bei 5:43 Min.) lag weit über den Erwartungen und den Wünschen, die ich von „meinem“ Treppengott erfleht hatte. Die Lunge rasselte wie bei einem Asthmakranken und nach dem die ersten Hustenanfälle bewältigt waren schnappte mich gleich der private Radiosender Saint FM um den neuen Treppenkönig von St. Helena zu küren.....

Ein Kaiser machte St. Helena nicht nur weltweit bekannt, er bescherte der Insel auch einen ökonomischen Boom. Während Napoleons Exil vom 17.10.1815 bis zu seinem Tode am 5.5.1821 verdoppelte sich nahezu die Bevölkerung, als mehrere Regimenter englischer Soldaten stationiert wurden um einen eventuellen Fluchtversuch zu verhindern. Die britische Admiralität war so besorgt, daß sie sogar das 750 Seemeilen nordwestlich gelegene Ascension durch die Royal Navy besetzen ließ. Die bis dahin noch unbewohnte Vulkaninsel – ein wüster Flecken, von dem Portugiesen Alfonso de Albuquerque an Christi Himmelfahrt 1503 entdeckt – wurde zu einer Festung ausgebaut, um Befreiungsversuchen durch die Franzosen zuvorzukommen. Die „Flucht“ des Kaisers verlief dann allerdings friedlich. 19 Jahre nach seinem Tod wurde die Leiche Napoleons exhumiert und im Dome Les Invalides in Paris beigesetzt. Die Häuser in denen Napoleon lebte – The Briars und Longwood House –, sowie sein Grab sind im Besitz des französischen Staates und werden auch von ihm unterhalten.

Die abgeschiedene und schwer erreichbare Lage machte St. Helena zu einer idealen Gefangeneninsel. 1890 wurde der Südafrikanische Zuluchef Dinizulu für 7 Jahre ins Exil geschickt und 1900 kamen 6000 Gefangene aus dem Burenkrieg auf die Insel. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts wurden drei politische Gefangene aus Bahrain festgehalten. Auf der Durchreise waren allerlei Berühmtheiten und VIP’s der Geschichte hier: Captain Bligh, Charles Darwin, Captain James Cook. Der berühmte Astronom Edmund Halley kam 1676 für seine Sternenbeobachtungen nach St. Helena. Die Deutschen waren auch hier, allerdings in unrühmlicher Mission. 1941 versenkte ein Deutsches U-Boot die britischen Frachter RFA Darkdale und SS City of Cairo im Hafen von Jamestown.

Startpistolen-Check zum Start des 10 km Laufs

Der 10 km-Lauf startet zwei Tage später an der Prince Andrew School, die bereits im Hochland (über 400 m) liegt. 40 Teilnehmer wagen sich an den knackigen Rundkurs mit ca. 500 Höhenmetern. 47 weitere finden sich für den gleichzeitig gestarteten 3 km-Wettbewerb ein. Der Kurs repräsentiert den Rest der Insel, auf der es ausschließlich extreme Steigungen und Gefälle gibt. Flache Abschnitte sind nahezu unbekannt. Die 300 m-Höhenlinie ist selten weiter als einen Kilometer von der Küste entfernt. Es gibt rund 110 km asphaltierte, meistens nur einspurige Straßen, mit Ausweichbuchten. Der Verkehr ist gering und die Straßen im Hinterland genau so einsam wie die windumtosten Höhenlagen der Insel. Das verzweigte Straßennetz bietet somit eine ideale Arena für das Festival of Running. Überraschend gehe ich gleich nach dem Start in Führung, verfolgt von Erroll Duncan, einem „Saint“, der den Inselrekord im Marathon hält (4:06:47 Std., aufgestellt beim Festival of Running 2003). Ich kann mich in 44:10 zu 45:07 Minuten durchsetzen, das restliche Feld lassen wir fast 5 Minuten hinter uns! Erroll arbeitet auf Ascension und ist das erste Mal seit zwei Jahren auf Heimaturlaub. Da er eine Marathonbestzeit von 2:47 Std. hält (gelaufen in London) wurde er letztes Jahr sogar zu den Commonwealth Games nach Melbourne geschickt. Diesmal wurde ich gleich im Ziel von einem Mitarbeiter des staatlich finanzierten Senders Radio St. Helena rekrutiert und direkt zum Interview ins Sendestudio gefahren....

Am 6. Tag des Festival of Running geht es auf die anspruchsvolle Halbmarathonstrecke und den schweren Bergmarathon mit rund 1500 – 2000 Höhenmetern

Aufgrund des extrem niedrigen Einkommensniveaus auf St. Helena (durchschnittliches pro Kopf Einkommen Euro 500.- im Monat) sind die meisten Insulaner Arbeitsnomaden. Mittlerweile arbeiten und leben mehr „Saints“ in Südafrika, Ascension, den Falkland-Inseln und Großbritannien, als auf der Insel selbst. Fast ein Jahrhundert lang bildete der Anbau von Flachs, der zur Herstellung von Postsäcken für die Royal Mail diente, das Haupteinkommen auf St. Helena.

Diese Industrie brach mit der Erfindung von synthetischen Fasern 1966 zusammen. Wirtschaftlich ist man heute vom Mutterland Großbritannien abhängig, daß die Kolonie jährlich mit zirka 16 Mio. Pfund Sterling subventioniert. Dies dokumentiert sich auch darin, daß 60% aller Beschäftigten in der Verwaltung arbeiten. Weitere Einkommensquellen sind Fischfang, Philatelie (Briefmarken und Ersttagsbriefe aus St. Helena sind weltweit begehrt), Tourismus und eine kleine, aber lukrative Kaffeeindustrie. Mit einem Handelspreis von US-$ 100.- pro Kilogramm Kaffeebohnen wird auf St. Helena der teuerste Kaffee der Welt angebaut. Die Arbeitslosenquote liegt unter 5% und es gibt so gut wie keine Kriminalität. Momentan laufen die Planungen für einen Flughafen, der im einzig flachen Abschnitt im Nordosten gebaut und bis zirka 2012 fertig gestellt werden soll. Dies wird die Insel für immer verändern.

Am 6. Tag des Festival of Running werden 40 Teilnehmer/innen auf die anspruchsvolle Halbmarathonstrecke losgelassen. Dabei ein „Rekordfeld“ von 5 Frauen und 7 Männern die den schweren Bergmarathon mit rund 1500 – 2000 Höhenmetern absolvieren wollen. Ein bildschöner, exotischer Rundkurs erwartet uns. Uralte, knorrige Bäume, Lilien, Farne, riesige Flachsfelder und allerlei tropische Gewächse säumen den Straßenrand in den Hochlagen. Das Wetter ist rau. Der Wind fetzt über die Insel und treibt Nieselregen und Nebelschwaden vor sich her. Ich fühle mich glatt in die schottischen Highlands versetzt! Durch die gebirgige Struktur und die engen, kurvigen Straßen läuft man allerdings meistens im Windschatten. Das Mikroklima läßt keine Langeweile aufkommen.

Dicker Nebel der eine gespenstische Atmosphäre erzeugt wechselt mit Sonnenschein, der das Auge mit grandiosen Ausblicken belohnt und die Seele zum Jauchzen bringt. Regen und Wind sorgen für Ernüchterung und Abkühlung. 7 Kilometer lang bilden Erroll, ich und Brian Key, ein 68-jähriger Ultraläufer aus Südafrika das Führungstrio. Der Rest des Läuferfeldes ist außer Sichtweite. An den extrem steilen Gefällen – die ja sonst meine Spezialität sind – kann ich wegen einer Fußoperation im vergangenen Jahr nicht mehr mithalten und muß beide ziehen lassen.

Brian beendet den Lauf in 1:50:29 Stunden als Sieger des Halbmarathons. 3 Minuten später begebe ich mich auf dem komfortablen 2. Platz auf die zweite Runde. Diese führt mit noch schwereren Steigungen und Gefällstrecken einmal rund um die „Inselringstraße“. Eine einspurige, zerklüftete Piste, die in Höhenlagen von 500 – 700 Metern um das Zentralmassiv mit den höchsten Bergen führt und gigantische Eindrücke von der landschaftlichen und klimatischen Vielfalt der Insel bietet. Besonders stark ist der Kontrast bei Sandy Bay im Südosten. Hier geht saftiges, fruchtbares Hochland abrupt in eine wüstenhafte Einöde über, mit kargen Felsnadeln, Geröllhalden und Kaktusfeldern. Ein arides Amphitheater das auf der Karte zu Recht als „The Gates of Chaos“ bezeichnet wird....

Den krönenden Abschluß bildet die Siegerehrung im Plantation House, dem Amtssitz des Gouverneurs. Bild rechts: Marathon Inselrekordhalter Errol Duncan

Durch eine Panne gibt es auf diesem wichtigen Abschnitt keine Verpflegungsstation. Ich spüre die Unterzuckerung, als die gefühlten Steigungen immer länger, höher und steiler werden. Bei km 34 kann ich von einer Polizeipatrouille 2 Bonbons und ein paar Kilometer weiter an einem einsamen Haus Wasser und Kekse erbetteln – Gerettet! Von nun an läuft es wieder einigermaßen flüssig und ich beende einen der anspruchsvollsten und schönsten Marathonläufe auf diesem Globus in 4:13:52 Std. Erroll Duncan unterbietet seinen Inselrekord von 2003 um 5 ½ Minuten und erreicht als Sieger eine Zeit von 4:01:16 Std. Die ersten beiden Frauen kommen gemeinsam in 5:09:37 Std. auf dem 5. und 6. Platz ins Ziel. Eine beachtliche Leistung erbringt der 10-jährige Kyle Shoesmith mit dem 11. Platz in 3:09:47 Std. beim Halbmarathon.

Den krönenden Abschluß bildet die Siegerehrung im Plantation House, dem Amtssitz des Gouverneurs. Das elegante georgianische Landhaus fungiert seit über 200 Jahren als Residenz für den Repräsentanten der Queen. Der großzügig gestaltete Garten beherbergt den ältesten Bewohner der Insel, die Schildkröte Jonathan mit rund 180 Jahren. Während tags darauf die Athleten ihre Rückreise nach Kapstadt antreten, gönne ich mir noch 5 ½ Wochen atlantische Einsamkeit. Eine ausgezeichnete Chance, Körper und Geist von Müll, Lärm und Hektik der restlichen Welt zu entgiften. An jeder Ecke gibt es Relikte der wechselvollen und spannenden Geschichte dieser Insel zu entdecken. Die Friedhöfe sind voll mit Gräbern aus dem vorletzten Jahrhundert. St. Helena lebt noch in einer anderen Zeitrechnung, weit weg vom Krieg gegen den Terror, Nahostkonflikt, Börsencrashs, Konsumrausch und Junk-TV.....

Stefan Schlett unterbietet die alte Rekordmarke um 6 Sekunden auf der Jacob’s Ladde, sammelt dabei 327 Pfund Sterling für die Krebshilfe und erhält eine Flasche köstlichen Kaktusschnaps. Bild rechts: Beim Interview im Sendestudio des staatlich finanzierten Senders Radio St. Helena

Bevor ich mit dem Postschiff die 2-wöchige Rückreise nach Europa antrete, darf ich noch eine Fußnote setzen. Nach 18 Trainingseinheiten auf der Treppe animiert mich Mike Olsson, Manager von Radio Saint FM und Herausgeber der wöchentlich erscheinenden Inselzeitung „The St. Helena Independent“, zu einem Rekordversuch auf der Jacob’s Ladder. Die Insulaner sollen dabei durch Wetteinsätze, bei der sie die voraussichtliche Zeit schätzen, in die Aktion mit eingebunden werden. Nach einem spannenden Kampf gegen die Treppe, mich selbst und die Uhr gelingt es tatsächlich, meine alte Rekordmarke um 6 Sekunden zu unterbieten und dabei 327 Pfund Sterling (= ca. 500 Euro) für die Krebshilfe zu sammeln. Als Belohnung gibt es eine Flasche köstlichen Kaktusschnaps, der in einer kleinen Brennerei am Fuße der Jacob’s Ladder destilliert und in treppenförmigen Spezialflaschen abgefüllt wird. Dieser ganz besondere „Treppenpokal“ wird einen würdigen Platz in meiner „Hall of Fame“ erhalten.....

Halleluja St. Helena – ich komme wieder!

F A K T E N

Das nächste St. Helena Island Festival of Running findet im September 2009 statt.

Website: www.festival-of-running.com Email: sthelenarun@mweb.co.za
Telefon: 0027-21-785 55 22 (Andy Campbell in Südafrika, Organisator des 07er Events)

Anreise: Nur mit dem Postschiff R.M.S. St. Helena möglich. Von und nach Kapstadt/Südafrika (inkl. Festival of Running) 23 Tage, verkürzte Variante von Walvis Bay/Namibia 17 Tage. Für Teilnehmer am Festival of Running gibt es einen kleinen Discount auf die Schiffspassage.

Adresse der Reederei:
St. Helena Line Limited
Managing Agents
Andrew Weir Shipping Limited
Dexter House, 2 Royal Mint Court
GB-London EC3N 4XX

Tel.: 0044-20-7575 6480 Fax: 0044-20-7575 6200
Email: reservations@aws.co.uk Website: www.rms-st-helena.com

Die naheste Anreise per Flugzeug ist zu der 1270 km nordwestlich gelegenen Insel Ascension möglich, die nur von 1100 Menschen bewohnt wird, welche überwiegend für das britische und amerikanische Militär sowie diverse Kommunikationsgesellschaften arbeiten. Zirka zwei Mal die Woche gibt es Royal Air Force Flüge mit zivilen Kontingenten von Brize Norton in Oxfordshire, die mit einem Tankstop in Ascension weiter zu den Falkland Inseln fliegen. Zirka ein Mal wöchentlich fliegt die US-Air-Force von Ascension via Antigua nach Patrick Air Force Base in Florida.

Informationen: www.ascension-flights.com
Die wenigen Unterkünfte für Besucher gibt es bei: www.obsidian.co.ac

Informationen über St. Helena gibt es bei:
St. Helena Tourist Office
Main Street
Jamestown
St. Helena Island
South Atlantic Ocean
STHL 1ZZ
Großbritannien
Tel.: 00290-2158
Fax: 00290-2159
Email: StHelena.Tourism@helanta.sh
Website: www.sthelenatourism.com

Bericht und Fotos von Stefan Schlett

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