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29.5.11 - 86. Comrades Marathon (RSA)Bergan zum Back-to-back 87 km Up Run Durban - Pietermaritzburg |
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von Ralf Klink
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Sonntag 29.05.2011, 5:29 Uhr - City Hall Durban
Aus den Boxen erschallt seit kurzem "Chariots of Fire". Nun müssen
sich jene sechsundzwanzigtausend Beine, die neben dem gut einhundert Jahre alten
wuchtigen Gebäude mit dem markanten Kuppelturm auf ihren Einsatz gewartet
haben, nicht mehr lange gedulden. Die ohnehin fast immer für eine leichte
Gänsehaut sorgende Melodie ist das Signal, dass es jeden Moment losgehen
wird.
Sekunden später kracht der Schuss. Fast exakt dreizehntausend Menschen setzen sich langsam in Bewegung und machen die ersten Schritte auf ihrem langen Weg nach Pietermaritzburg. Vor ihnen liegen nämlich ziemlich genau siebenundachtzig Kilometer. Der Comrades Marathon, der größte und traditionsreichste Ultralauf weltweit ist wieder einmal unterwegs.
September 2010 - Goddelau, Deutschland
Der Entschluss hat ein wenig länger gebraucht, um zu reifen. Schließlich
war drei Monate zuvor die spontane Reaktion nach dem ersten Lauf von Pietermaritzburg
nach Durban ein klares und deutliches "nie wieder". Viel zu sehr schmerzten
zu diesem Zeitpunkt die Beine nach einem ziemlich langen Tag auf den hügligen
Straßen zwischen der Hauptstadt von KwaZulu-Natal und der größten
Metropole dieser Provinz.
Aber nun ist die Meldung für den nächsten Comrades eröffnet. Und prompt wird entgegen der ersten völlig ablehnenden Aussage das seit Anfang des Monats freigeschaltete Portal erneut mit den eigenen Daten gefüttert. Mit ein bisschen Abstand hat die enorme Faszination des Rennens, der man sich praktisch nicht entziehen kann, wenn man sie persönlich erleben durfte, eben doch voll gegriffen. Fast jeder, der den Lauf einmal absolviert hat, denkt deshalb auch an eine Rückkehr. Und viele kommen tatsächlich zurück, immer wieder und wieder.
Es gibt jedoch einen guten Grund, gleich nach der ersten Teilnahme im Folgejahr erneut an den Start zu gehen. Die für die Ausrichtung verantwortliche Comrades Marathon Association hat sich nämlich vor einigen Jahren zur Kundenbindung ein zusätzliches Appetithäppchen ausgedacht. Wer als erfolgreicher Neuling im Jahr darauf wieder an die Linie tritt, sichert sich dadurch die Möglichkeit auf die sogenannte Back-to-Back-Medaille.
Die im angelsächsischen Sprachraum weit verbreitete Floskel "back-to-back" - übersetzbar etwa mit "Rücken an Rücken" - wird insbesondere in der Sportberichterstattung meist eingesetzt, um zwei Erfolge eines Athleten bei der gleichen Veranstaltung in aufeinander folgenden Jahren zu beschreiben. Aus der deutschen "Titelverteidigung" wird dann also ein "back-to-back-win".
Doch das englische "back" umfasst eben deutlich mehr Bedeutungen als nur "Rücken". Es ließe sich schließlich genauso gut mit "zurück" übersetzen. Und so kann man die Bezeichnung für die Comrades-Auszeichnung durchaus als zusätzliches kleines Wortspiel verstehen. Immerhin laufen Wiederholungstäter beim in der Regel jährlich die Richtung wechselnden Ultramarathon mit der nächsten Austragung ja praktisch genau den gleichen Weg wieder zurück.
Dass diese spezielle Medaille dann das traditionelle Logo und Symbol des Comrades Marathons, den Götterboten Hermes gleich doppelt zeigt, stellt also kaum Zufall sondern die bildliche Übersetzung der Verbalakrobatik und volle Absicht dar. Mit unterschiedlichen Laufrichtungen und fast selbstverständlich Rücken an Rücken bietet die Symbolik nämlich gleich mehrere Interpretationsmöglichkeiten.
Allerdings - und das ist der kleine Pferdefuß - besitzt man genau eine Chance, sich diese Auszeichnung zu verdienen. Wer nach der Premiere nicht sofort wieder antritt, hat sie für alle Zeiten verspielt. Natürlich ist das auch ein wenig das Kalkül der Organisatoren. Ein ausgelegter Köder, der greift. Nicht nur in Südafrika sondern auch im Ausland wird im September 2010 so manche erneute Meldung von auf diese Art endgültig für den Comrades Marathon angefütterten Sportlern abgeschickt.
Der Mauszeiger zögert ein letztes Mal, dann wandert er zielsicher auf den "Senden"-Knopf. Ein kurzer Klick und für das letzte Mai-Wochenende des Jahres 2011 ist der zweite Comrades in direkter Folge gebucht, der zum back-to-back noch fehlende "Up-Run".
Freitag 27.05.2011, 13:00 Uhr - Durban Exhibition Centre
Bis auf den Gehweg der Straße hinaus reicht die Warteschlange, in die
sich die Läufer einreihen müssen, wenn sie Einlass zur Marathonmesse
im Durban Exhibition Centre bekommen möchten. So scheint es zumindest auf
den ersten Blick zu sein. Man stellt sich also in bester angelsächsischer
Manier hinten an.
Nachdem man langsam vorwärts, immer brav dem Vordermann hinterher in den Hof des mitten in der Innenstadt gelegenen Messezentrums hinein gewandert ist und dem Eingang immer näher kommt, klärt sich die Situation jedoch. Zwei durch die Reihen gehende Helfer erzählen wieder und wieder, dass dies nur die "queue" für die "registration" sei. Und alle, die nicht zur Abholung ihrer Startnummern gekommen wären, nicht weiter anstehen müssten. Auch Ausländer dürften einfach ausscheren und in die Halle hinein gehen.
Schließlich gibt es für Nicht-Südafrikaner einen ganz eigenen Schalter. Völlig zu recht könnte man jetzt im ersten Moment sagen, schließlich berappen "overseas" stolze hundertachtzig US-Dollar - also umgerechnet etwas über hundertzwanzig Euro - für eine Meldung, während Südafrikaner mit dreihundert Rand - gut dreißig Euro - dabei sind. Bei "early birds" genannten Schnellmeldern werden sogar nur zweihundertsiebzig verlangt.
Dabei gilt es allerdings auch zu bedenken, dass die Löhne im Land selbst bei gut bezahlten Jobs kaum halb so hoch ausfallen wie in Mitteleuropa. In diesem Zusammenhang erstaunt es dann doch ziemlich, dass die auf der Messe angebotenen Laufschuhe keineswegs wirklich günstiger sind als hierzulande. Selbst wenn in Südafrika die Startgelder im Allgemeinen deutlich niedriger ausfallen, ist Laufen im Hinblick auf die Ausrüstung auch nicht unbedingt ein billiger Sport.
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Vor der City Hall von Durban wird traditionell der Up-Run gestartet |
Mit achtzehntausend war das Teilnehmerlimit im Herbst angesetzt worden. Und schon lange vor Ende des zweimonatigen Meldefensters hatte man alle Plätze vergeben. Durch Kulanzfälle verlängert sich die Liste der "entries" noch einmal deutlich. Und so werden am Ende 19.617 akzeptierte Startwillige als offizielle Zahl verkündet.
Der größte Teil davon sind tatsächlich Südafrikaner. Nur gut eintausend Meldungen kommen aus dem Ausland. Angesichts solcher Werte verwundert es dann kaum noch, dass die Schlange zur Abholung der Startunterlagen manchmal nicht nur quer durch die Halle sondern hinaus in den Hof und im Extremfall sogar bis auf die Straße reicht.
Samstag 28.05.2011, 16:30 Uhr - Durban, Albany Hotel
Die Frage an die junge Dame an der Hotelrezeption, ab wann es denn am nächsten
Morgen Frühstück geben würde, wird mit einem "half past
one" beantwortet. Nach einer kurzen Pause folgt noch ein festes "at
one thirty" als zusätzliche Erläuterung hinterher. Der Gesichtsausdruck
des Fragestellers bei der ersten Antwort war eventuell doch etwas zu ungläubig.
Zwar hat sich damit gegenüber dem Vorjahr die Uhrzeit gar nicht verändert. Allerdings wurde damals ja auch "down" gelaufen. Sämtliche Teilnehmer, die im mitten in der Innenstadt von Durban gelegenen Hotel übernachtet hatten, mussten also noch irgendwie zum fast einhundert Kilometer entfernten Startort Pietermaritzburg transportiert werden. Eine Fahrt, die selbst mit dem Privatauto bereits eine knappe Stunde in Anspruch nimmt. Die Busse, die den Großteil des Feldes beförderten, brauchten sogar noch deutlich länger.
Diesmal befindet sich die Startlinie jedoch gerade einmal einen Häuserblock entfernt. Dass man dennoch den absoluten Frühaufstehern oder auch den Übernervösen unter den Läufern die Möglichkeit eröffnet, bereits vier Stunden vor dem Start mit der Nahrungsaufnahme zu beginnen, gehört einfach zum selbstverständlichen Service am Comrades-Wochenende. Ganz egal ob "Up" oder "Down", der Lauf hält für viele Tage die ganze Region in Atem.
Samstag 28.05.2011, 13:00 Uhr - Durban Exhibition Centre
William "Bill" und Pauline Howes packen schon wieder ihre Taschen.
Doch wollen sie keineswegs das Weite suchen. Um allzu große Hektik am
Start zu vermeiden, möchten die beiden einzig und allein bereits einen
Tag vorher auf der Marathonmesse die Wechselbekleidung für den Transport
nach Pietermaritzburg abgeben. Ein Service, den man allerdings nur den in vielem
ziemlich bevorzugt behandelten Ausländern anbietet.
Das Pärchen, das mit einigen ihrer Freunde und Vereinskollegen vom britischen 100 Marathon Club angereist ist, benutzt dafür die knallgelben Starterbeutel des Comrades Marathons, den man an diesem Wochenende überall in der Stadt Durban auf dem Rücken meist einigermaßen sportlich wirkender Damen und Herren begegnen kann.
Für einen Trainingsanzug ist dessen Größe durchaus noch ausreichend. Doch spätestens, wenn man dazu noch ein zusätzliches Paar Schuhe hinein packen will, stößt das Kunststoffsäckchen schnell an seine Kapazitätsgrenzen. Allerdings ist seine Verwendung auch keineswegs Pflicht. Abgegeben werden kann so ziemlich alles, was man möchte, solange Volumen und Gewicht in einem halbwegs erträglichen Rahmen bleiben.
Bill - der LaufReport-Lesern auch schon im letzten Comrades-Bericht begegnet ist - und Pauline, belassen es jedoch trotzdem bei der schnellsten und einfachsten Lösung, um sich anschließend wieder in aller Ruhe dem im separaten Ausländerbereich kostenlos ausgegebenen Kaffee, den dazu gehörenden Plätzchen und den fachsimpelnden Gesprächen mit britischen und nichtbritischen Bekannten zu widmen.
Dass die beiden, die zum dritten Mal in Folge in KwaZulu-Natal am Start sind, wenig später ihren Tisch einen Meter zu Seite rücken, weil ein in der Dachkonstruktion der Messehalle sitzender Vogel mit den Überbleibseln seiner Verdauung zielsicher in Paulines Kaffeebecher getroffen hat, soll als kleine und - zumindest für Nichtbetroffene - amüsante Randnotiz ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
Sonntag 29.05.2011, 4:15 Uhr - Durban, West Street
Schon über eine Stunde vor dem Start sind die Lastwagen an der Kreuzung
von West und Aliwal Street - oder wie sie seit einigen Jahren offiziell heißen
Dr. Pixiey Kaseme und Samore Machel Street - recht gut frequentiert. Dabei ist
es gar nicht so einfach zu ihnen ans Ende des Startbereichs vorzudringen.
Dieser ist nämlich mehrere Straßenblocks weit mit hohen Gittern hermetisch abgeschirmt. Und an den wenigen Einlässen sorgen Ordner eines Sicherheitsdienstes dafür, dass man nur dann an ihnen vorbei kommt, wenn man eine Startnummer vorzeigen kann. Ohne diese hat man nicht die geringste Chance auch nur kurz am Kleiderbeuteldepot die vorbereitete Tasche los zu werden.
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Nicht nur ein Hotel sondern die ganze Stadt heißt die Comrades-Läufer willkommen | Ausländische Gäste haben ihren eigenen Schalter zum Abholen der Startunterlagen |
Hat man die Hürde aber überwunden, ist für Ausländer die Sache schnell erledigt. Denn in ihren Startunterlagen waren die beiden benötigten Aufkleber bereits enthalten. Die Kennzeichnung erfolgt mit einem ähnlichen System wie bei der Gepäckaufgabe am Flughafen. Ein langer Klebestreifen wird um einen Griff der Tasche gelegt, das Gegenstück mit der gleichen Ziffernfolge auf der Rückseite der Startnummer befestigt. Ist alles schon vorbereitet, reicht also einfaches Abgeben.
Doch auch bei den Südafrikanern, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht in den Genuss kommen, fertige Aufkleber im Startpaket zu haben, geht die Sache ziemlich schnell vonstatten. Nur wenige Sekunden brauchen die geübten Helfer pro Tasche und der dazu gehörenden Startnummer.
Selbst als es gerade noch eine knappe halbe Stunde bis zum Schuss ist und die Läufer trotzdem noch in langen Schlangen vor den Gepäcktransportern stehen, gibt es nicht die geringste Hektik. Das Gedränge, das in Europa in einem solchen Moment längst entstanden wäre, bleibt aus. Jeder bleibt in seiner Position in der Reihe, bis er wirklich dran ist. Von wegen afrikanisches Chaos. Das könnte selbst im früheren Mutterland wohl kaum geordneter ablaufen.
Samstag 28.05.2011, 17:30 Uhr - City Hall Durban
Zwischen der City Hall und dem kaum weniger interessanten, aus der gleichen
Periode stammenden Hauptpostamt räumen Arbeiter Absperrgitter von den Lastwagen
und stellen sie am Straßenrand auf. Traditionell wird der Comrades Marathon
sowohl in Pietermaritzburg wie auch in Durban vor dem Rathaus gestartet und
endet in einem Stadion, wodurch sich leicht unterschiedliche Streckenlängen
für Up- und Down-Run ergeben.
Es sind nur noch zwölf Stunden bis zum Startschuss. Doch abgesehen von der bereits errichteten Tribüne für die Honoratioren war bis vor Kurzem noch nichts davon zu sehen, dass an dieser Stelle am nächsten Tag der teilnehmerstärkste Ultralauf der Welt beginnen würde. Aber nun geht alles ganz schnell. Erst seit einer halben Stunde ist die West Street gesperrt und die ersten Gitterreihen stehen schon.
Bis zum kommenden Morgen wird man die komplette Infrastruktur für das Rennen aus dem Boden gestampft haben. Alleine die errichteten Zäune im betroffenen Bereich dürften mehrere Kilometer lang sein. Dazu kommen Toilettenhäuschen, Startgerüst und Werbebanner oder auch Lautsprecher, Scheinwerfer und Kameras inklusive ihrer Stromversorgung.
Eigentlich für sich genommen bereits eine logistische Meisterleistung. Aber direkt danach wird man alles in noch viel kürzerer Zeit abbauen. Denn schon um sieben Uhr soll die Straße wieder für den Verkehr freigegeben sein. Und bis die Comrades-Läufer am Abend aus Pietermaritzburg zurück gekehrt sein werden, wird man praktisch nicht mehr erkennen können, wo sie ihren langen Weg begonnen hatten.
Freitag 27.05.2011, 13:20 Uhr - Durban Exhibition Centre
Ziemlich genau nimmt man es bei den Organisatoren von der Comrades Marathon
Association mit dem Abholen der Startunterlagen in der Messehalle von Durban.
Nur gegen Vorlage des Passes bekommt man diese nämlich ausgehändigt.
Dessen Nummer musste man auch bei der Anmeldung bereits mit angeben. Doch ist
diese Prüfung eigentlich noch der kleinste Aufwand, den man bei der CMA
treibt, um jeglichen noch so kleinen Manipulationsversuch zu unterbinden.
Für den Start wird ja unter anderem auch eine Qualifikationsleistung verlangt, die in den letzten zwölf Monaten vor dem Rennen erbracht werden muss und mindestens aus einem Marathon unter fünf Stunden besteht. Ansonsten wird nur die Absolvierung eines anderen Ultralaufes, von denen es in Südafrika ja eine ganze Reihe gibt, mit einem etwa vergleichbaren Zeitlimit oder eben des jeweils letzten Comrades als Zulassung für das Rennen akzeptiert.
Anmelden - und dabei natürlich auch bezahlen - kann man sich ohne diesen Beleg. Doch muss man ihn auf jeden Fall bis einige Wochen vor dem Lauf präsentieren können. Und Schummeln geht nicht. Denn jede einzelne Angabe wird genau überprüft. Wer bis zum festgelegten Termin keine entsprechende Zeit nachgereicht hat, findet in der Startliste hinter seinem Namen das unschöne Kürzel "DNQ". Eine Nummer bekommt man trotz Anmeldung dann nämlich nicht.
Wenn die Veranstaltung - wie praktisch alle südafrikanischen Läufe oder die größten ausländischen Marathons - in der Datenbasis der CMA vorhanden ist, stellt das kein Problem dar. Ansonsten kann es da gerade bei Meldungen aus dem Ausland durchaus auch schon einmal eine Nachfrage mit der Bitte um Übermittlung weiterer Details geben.
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Im Durban Exhibition Centre im Stadtzentrum befindet sich die Marathonmesse |
Ein erstaunlich hoher Anteil der Angemeldeten kann dabei nicht die verlangte Leistung erbringen oder reicht sie falls doch vorhanden aus irgendwelchen Gründen dann nicht ein. Die Zahl der aus diesem Grund ausfallenden Teilnehmer geht jedenfalls jedes Jahr in die Tausende. Auch 2011 werden von über neunzehntausend Gemeldeten schließlich nur fünfzehntausend zugelassen. So mancher lässt sich da wohl doch erst einmal auf Verdacht in die Startliste eintragen.
Über die vorgelegten Qualifikationszeiten wird dann auch das sogenannte "seeding" abgewickelt, die Einordnung in die verschiedenen Startgruppen. Und dabei gibt es wegen der Überprüfung durch die Organisation ebenfalls keinerlei Möglichkeit, sich einfach in einen weiter vorne liegenden dieser "batches" zu mogeln.
Angesichts dieser in manchen Situationen fast schon übertrieben wirkenden Gründlichkeit hat es durchaus etwas angenehm Menschliches, dass auf den Umschlägen, in denen die Startnummern ausgegeben werden, unübersehbar der Aufdruck "Comrades Marathon 2010" zu lesen ist. Selbst die CMA muss wohl gelegentlich erst einmal ihre Reste aufbrauchen.
Sonntag 29.05.2011, 5:10 Uhr - City Hall Durban
Bis 5:15 sollte man sich zu seinem jeweiligen Startblock begeben haben, hatte
es in dem den Unterlagen beigefügten Informationsblatt geheißen.
Danach würden die Zugänge geschlossen und man müsse sich ganz
hinten anstellen. Wo man hingehört, ist dabei ganz einfach zu erkennen.
Schließlich beginnen die Startnummern mit dem entsprechenden Buchstaben.
Statt mühsam wie hierzulande einen Farbpunkt oder irgendein vergleichbares kleines Symbol suchen zu müssen, können die Helfer so selbst in der Dunkelheit mit einem einzigen Blick entscheiden, ob dieser Block der richtige ist. Da die Nummern ohnehin neu gedruckt und zum Beispiel auch mit dem Namen versehen werden, stellt diese eigentlich doch so einfache Kennzeichnung auch überhaupt kein Problem dar.
Aus einem für Europäer recht ungewohnten reißfesten Papier sind sie hergestellt. Und gleich zwei davon bekommt jeder Läufer im Umschlag ausgehändigt. Denn auf der Rückseite des Trikots ist ebenfalls eine zu tragen. Und sie wird auch tatsächlich stets auf dem Laufhemd befestigt. Man kennt es in Südafrika gar nicht anders, es ist einfach so üblich.
Die angeblich doch so tollen Startnummernbänder braucht man dabei nicht. Denn selbstverständlich geht es auch ohne. Die hierzulande manchmal ziemlich erbittert geführten Diskussionen, ob diese denn überhaupt zulässig sind, dürften am Kap einfach nur Kopfschütteln erzeugen. Die Regel beim Comrades heißt eindeutig "on the front and back of your vest". Und man hält sich daran. Die Laufkulturen unterscheiden - und zwar nicht nur in solchen Kleinigkeiten - eben gewaltig
Ein wenig laxer wird dann allerdings doch das "seeding" in die unterschiedlichen Blöcke gehandhabt. Im Vorjahr beim Down-Run mit Start in Pietermaritzburg war man dabei noch wesentlich gründlicher und entsprechend der veröffentlichten Vorgaben vorgegangen. Doch nun sind bereits lange vor dem vermeintlichen Endzeitpunkt um Viertel nach fünf nämlich die Abtrennungen zwischen den Startgruppen entfernt und die Hinteren rücken bereits nach.
Wer bis auf den letzten Drücker gewartet hat, bekommt jetzt durchaus gewisse Schwierigkeiten sich noch einzusortieren. Hektik und Gedränge gibt es allerdings auch dabei nicht. Irgendwo lässt man dann doch immer wieder Lücken für die durch die seitlichen Eingänge neu hinzu Kommenden. Selbst wenn die Startaufstellung dabei nicht ganz so homogen ist wie geplant, hat so am Ende jedenfalls jeder seinen Platz gefunden.
Freitag 27.05.2011, 13:30 Uhr - Durban Exhibition Centre
Während sich die Schlange der auf ihre Startnummer wartenden einheimischen
Teilnehmer quer durch die gesamte Messehalle zieht, geht es in der Ecke, in
der deren internationalen Konkurrenten - "international competitors"
steht nämlich über dem Eingang - ihren Bereich haben, recht übersichtlich
und geruhsam zu.
Die Comrades Marathon Association verkündet in ihren Pressemeldungen zwar mit einem gewissen Stolz, dass sich die Zahl der Starter aus dem Rest der Welt in den letzten Jahren verdoppelt habe. Dennoch sind es ja nur etwas mehr als tausend, und damit nicht einmal zehn Prozent des gesamten Feldes, die sich für das Rennen aus dem Ausland nach Südafrika aufgemacht haben.
Alle übrigen - selbst unter Abzug der Nicht-Qualifizierten oder -Angetretenen also noch immer rund zwölftausend - stammen aus dem eigenen Land. Definitiv ist nirgendwo sonst die Ultralaufszene breiter aufgestellt. Und als richtiger Läufer gilt man nicht nur in Durban sondern auch in Kapstadt oder Johannesburg ohnehin erst, wenn man den Comrades absolviert hat.
Ein Marathon, der überall sonst als die Krone der Lauferei gilt, hat höchstens als Qualifikationswettkampf seine Berechtigung. Und in jedem Verein gibt es zwei weitere Rubriken in der Rekordliste. Die eine lautet "56 km" also die Distanz, über die unter anderem der Two Oceans Marathon von Kapstadt führt. Die andere heißt schlicht und einfach "Comrades".
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Nach einer knappen Stunde schickt die Sonne erstmals ihre
morgendlichen Strahlen ins Läuferfeld hinein |
Über eine weite Autobahn führt die Strecke immer weiter aus Durban hinaus |
Beim kostenlosen Kaffee, der nach dem Abholen der Startunterlagen noch fällig ist, gesellt sich Gerard McCann zum kleinen Grüppchen. Er hat es durch ein paar aufgeschnappte Sprachfetzen als wohl aus Deutschland stammend identifiziert. Schließlich hat er vor vielen Jahren auch einmal eine Zeit lang dort gelebt. Wegen "Schwarzarbeit", wie er mit einem Schmunzeln verkündet.
Inzwischen ist er sogar mit einer Thüringerin verheiratet und hat deshalb natürlich auch schon am Rennsteiglauf teilgenommen. Jedoch nicht so oft wie beim Comrades. Denn immerhin seinen achten Lauf möchte der Fünfzigjährige aus London zwei Tage später absolvieren, wie er in mit nur wenigen deutschen Brocken durchsetzen Englisch erzählt. Er wäre aber dabei seine Sprachkenntnisse mit Hilfe seiner Familie zu verbessern.
Für den B-Batch also die zweite Startgruppe sei er qualifiziert. Allerdings gehöre er im Moment dort eigentlich gar nicht hin, denn er habe wegen einer Verletzung seit April keinen einzigen Meter mehr gelaufen. Antreten will er jedoch trotzdem. "Es wird schon irgendwie gehen". Er grinst wieder, als er sagt, es sei wohl besser, gleich nach dem Start links raus zu treten und alle überholen zu lassen.
Sonntag 29.05.2011, 5:20 Uhr - City Hall Durban
Der Ansager erzählt zum wiederholten Male etwas davon, dass der Comrades
das "ultimate human race" sei. Und seine Stimme überschlägt
sich fast dabei. Es ist einer der wenigen Momente, in denen die Veranstaltung
für den neutralen Betrachter dann einfach doch etwas zu großspurig
daher kommt.
Zwar steht man mit solchem Gehabe absolut nicht allein. Ähnlich überhebliche Werbesprüche über den "größten", "schönsten" oder "besten" hat man durchaus von anderen Marathons ebenfalls schon gehört. Und sicher mag dieser Lauf in und für Südafrika tatsächlich das Nonplusultra sein. Doch es gibt ja auch noch eine Welt außerhalb dessen Grenzen. Und die Entscheidung, was man nun wirklich für das "ultimative Rennen" hält, muss jeder Läufer wohl doch am Besten nach seinen eigenen subjektiven Kriterien ganz für sich alleine treffen.
"Where are you from?" Es ist nicht das erste Mal, dass diese Frage an diesem Morgen gestellt wird. Die seltsame und ungewohnte Aufschrift auf dem Trikot macht so manchen neugierig. Aus Deutschland? Tatsächlich? Dann erst einmal "welcome to South Africa". Ein Händeschütteln darf dabei natürlich auch nicht fehlen.
Spätestens in solchen Momenten wird klar, dass die Freude darüber, dass man dieses Land besucht, wirklich ehrlich gemeint ist. In dieser Häufigkeit erlebt man solche Situationen kurz vor dem Start eines großen Rennens jedenfalls doch eher selten. Noch einmal werden Hände geschüttelt. "Good luck to you" lautet der Wunsch. Und wenig später hat man sich im noch immer leicht vorrückenden Feld schon wieder aus den Augen verloren.
Sonntag 29.05.2011, 5:25 Uhr - City Hall Durban
Die für die musikalische Untermalung zuständigen haben "Shosholoza"
aufgelegt. Und schon Sekunden später hat mindestens das halbe Feld mit
eingestimmt. Das traditionelle Lied über einen "Zug aus Südafrika"
haben einst schwarze Bahnarbeiter während ihres harten Jobs gesungen und
dabei auch ein wenig die Geräusche der Dampflokomotiven imitiert. Längst
ist es so etwas wie eine inoffizielle Nationalhymne geworden.
Die dumpfen, kanonartigen Wechselgesänge hallen durch die morgendliche Dunkelheit und scheinen von den Häuserwänden immer wieder zurück zu kommen. "Vorwärts, vorwärts, durch diese Berge" solle der Zug rollen, so lassen sie sich interpretieren. Es herrscht eine Stimmung, die mit "Gänsehautatmosphäre" fast noch zu dezent umschrieben ist.
Schon bei der von vielen mit enormer Inbrunst gesungenen Nationalhymne zuvor war zu spüren, was sportliche Ereignisse und insbesondere eben auch dieser Lauf für den Zusammenhalt dieses - im positiven wie im negativen Sinn - doch so vielfältigen und vielschichtigen Landes bedeutet.
Die Hymne, zusammen gebastelt aus dem Anti-Apartheitslied "Nkosi Sikelel' iAfrika" und dem burischen "Stem van Suid-Afrika,", mit Versen in Zulu, Xhosa, Sesotho, Afrikaans und Englisch - immerhin knapp der Hälfte der elf offiziellen Sprachen - endet mit den Worten "Sounds the call to come together - and united we shall stand - let us live and strive for freedom - in South Africa our land."
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In dem Gefälle hinter Cowies Hill kann man sich noch einmal kurz erholen .... | dann beginnt mit Fields Hill der längste und schwerste Anstieg |
Nicht nur weil Englisch zwar für die wenigsten Südafrikaner Muttersprache, aber in diesem so vielstimmigen Land eine Art Lingua franca ist, also praktisch jeder den Text versteht, heben sich die Stimmen in diesem Moment weiter an, geht die Lautstärke zum Abschluss noch einmal deutlich nach oben.
"Es ertönt der Ruf, zusammen zu kommen - und vereint werden wir stehen - lasst uns leben und streben für die Freiheit - in Südafrika unserem Land." Wenn man die Südafrikaner vor dem Comrades Marathon diese Zeilen singen hört, glaubt man wirklich, dass sie es ernst damit meinen.
Nun also folgt das im Gegensatz dazu nur aus wenigen ständig wiederholten Worten bestehende Shosholoza, das trotz oder gerade wegen dieses seltsamen Kontrastes in diesem Augenblick irgendwie auch eine fast perfekte Ergänzung ist. Noch im Vorjahr war die Reihenfolge anders herum. Aber selbst Rituale können sich anscheinend verändern.
Der traditionelle Cock's Crow, der längst vom Band kommende Hahnenschrei des früheren Comrades-Läufers Max Trimborns, der sonst eigentlich kurz vor dem Start eingespielt wird, ist diesmal ja schließlich auch schon früh zu hören gewesen. Doch dass vor dem Schuss als letztes "Chariots of Fire" ertönen wird, daran führt kein Weg vorbei.
"Vorwärts, vorwärts, durch diese Berge ..".
Samstag 28.05.2011, 18:30 Uhr - Durban, Albany Hotel
Längst ist es stockfinster draußen. Schon vor über einer Stunde
hat sich die Sonne hinter dem Horizont zur Ruhe begeben. Die Nacht kommt früh
im afrikanischen Winter, der sich in Durban im Gegensatz zu den höher gelegenen
Regionen immerhin mit ganz angenehmen Temperaturen präsentiert.
Über das halbe Hotelbett ist der Streckenplan des Comrades Marathons ausgebreitet. Im Programmheft, das zusammen mit der Startnummer ausgehändigt wurde, war er abgedruckt. Um die Punkt-zu-Punkt-Strecke in einem auch nur einigermaßen sinnvollen Maßstab darstellen zu können, hat man ihn auf vier Seiten verteilt. Man muss den Hochglanzprospekt also noch einmal in der Mitte ausklappen
Eigentlich ist der Kurs mit all seinen Tücken aus dem Vorjahr noch ziemlich gut im Gedächtnis verankert. Aber die Nervosität sorgt eben trotzdem dafür, dass man sich noch einmal bis in alle Einzelheiten mit der Streckenführung und den markantesten Punkten, den "landmarks" des Comrades Marathons beschäftigt.
Dort sind sie zu lesen, jene Namen, die Routiniers praktisch im Schlaf herunter spulen oder sogar jeweils eine Geschichte dazu erzählen können. Jene Namen, aus denen man als originelle Idee auf einem der Souvenir-T-Shirts das Hermes-Logo des Comrades zusammen gesetzt hat. 45th Cutting, Westville, Pinetown steht da. Kloof, Winston Park und Hillcrest, Drummond, Harrison Flats und Cato Ridge, Camperdown, Lynfield Park und Ashburton.
Vor allem aber kann man auf dem Streckenplan die Bezeichnungen Cowies Hill, Field's Hill, Botha´s Hill, Inchanga und Polly Shortts entdecken. Jene fünf längsten und schwersten Steigungen, die man insbesondere beim Up-Run zu spüren bekommen kann. Analog zum aus Löwe, Elefant, Nashorn, Büffel und Leopard bestehenden Tierquintett, auf das früher Großwildjäger so gerne anlegten und heutzutage eher Hobbyfotografen scharf sind, nennt man sie die Big Five.
Doch sind sie beileibe nicht die einzigen Schwierigkeiten. Auch wenn das ohnehin schon nicht gerade detaillierte Profil durch den viel zu kleinen Abdruck nur noch sehr wenig preis gibt, macht es trotzdem klar, dass der am nächsten Morgen anstehende Comrades es nicht nur durch seine Distanz in sich haben wird.
Von Durban dem Indischen Ozean bis zum höchsten Punkt auf rund neunhundert Meter gilt es zu klettern. Auch der Zielort Pietermaritzburg befindet sich noch sechs- bis siebenhundert Meter über dem Meer. Und all die sonstigen Wellen unterwegs addieren sich zu ungefähr zweitausend Höhenmetern Gesamtanstieg. Ein Fehler kann es bei solchen Zahlen sicher nicht sein, wenn man sich vorher ein wenig mit der Strecke beschäftigt hat.
Sonntag 29.05.2011, 5:40 Uhr - City Hall Durban
Ein stampfender Rhythmus hat wie jedes Jahr die dreizehntausend Köpfe zählende
Läuferschar über die Linie begleitet. Keine zehn Minuten hat es gedauert,
dann sind abgesehen von ein paar wenigen Nachzüglern alle unterwegs auf
dem langen Weg in Richtung Pietermaritzburg. Selbst wenn für die Startaufstellung
immerhin sechs Fahrspuren zur Verfügung standen, ist dies angesichts der
Größe des Feldes eine beachtliche Organistionsleistung.
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Rund drei Kilometer lang geht es immer höher
den Berg hinauf |
Immer kleiner wird dabei die Stadt am Fuß der Hügel |
Doch gerade für die hinteren Blöcke ist diese kurze Zeitspanne von einer gewissen Wichtigkeit. Schließlich wird "from gun to gun" gelaufen. Vom Start- bis zum Schlussschuss. Nettozeiten spielen keine Rolle und - noch viel wichtiger - nach genau zwölf Stunden wird das Ziel geschlossen. Wer bis dahin die Linie nicht überquert hat, bekommt keine Medaille und wird unter "DNF" geführt. Ganz egal, wie lange man auch am Start warten musste, eine Gutschrift gibt es dafür nicht.
Samstag 28.05.2011, 13:05 Uhr - Durban Exhibition Centre
Ein wenig Bedenken habe er um seine Pauline schon, berichtet Bill Howes. "She
will be close to the cut-off". Im Vorjahr hatte sie sich mit 11:48 kurz
vor dem Zeitlimit ins Ziel gerettet. Doch war das zum einen ein Down Run, bei
dem es - selbst wenn er zwei Kilometer länger war - sechshundert Höhenmeter
weniger zu erklettern galt. Zum anderen hätte sie aufgrund einer Verletzung
eher schlecht trainieren können und wäre wohl nicht in der Form des
Vorjahres.
Und außerdem sind beide in den vergangenen zwölf Monaten eben auch nicht jünger geworden. Pauline wird schließlich in diesem Jahr sechzig. Bill ist sogar noch drei Jahre älter. Doch hat er eben ein deutlich höheres Leistungsvermögen. Er war 2010 schließlich nach 9:45 im Ziel und hat aus dem Jahr zuvor, als es in einer großem Ausnahme von der Regel ebenfalls bergab ging, mit 8:38 sogar eine Zeit von deutlich unter neun Stunden stehen.
Einen Platz im B-Block habe er diesmal auch wieder, berichtet Bill. Allerdings, so grinst der Brite dabei schelmisch, hätte er sich mit einer Qualifikationsleistung von 3:19 dort gerade noch um ein paar Sekunden hinein gemogelt. Bei einer glatten 3:20 über den Marathon wäre er nämlich bereits eine Startgruppe weiter hinten einsortiert worden.
Sonntag 29.05.2011, 5:32 Uhr - Durban, West Street
"Ein paar Leute sind wohl tatsächlich gekommen". Die kurz nach
dem Start im Vorbeilaufen aufgeschnappte Aussage eines einheimischen Comrades-Runners
ist dann doch ein wenig untertrieben. Denn auf den ersten Metern schallt dem
Feld ein gerade für diese frühe Uhrzeit kaum zu glaubender Geräuschpegel
entgegen.
An vielen Stellen stehen die Zuschauer sogar in mehreren Reihen hinter den Absperrgittern, die sich ein ganzes Stück weit die West Street hinauf ziehen. Viel sehen dürften sie eigentlich kaum. Irgendjemanden von dort draußen erkennen kann man schon gar nicht. Es ist schließlich noch stockdunkel und statt einzelner Personen schiebt sich da nur eine gewaltige Läufermasse an ihnen vorbei.
Doch vielleicht ist gerade dieser Anblick für die jubelnden Menschen am Straßenrand das Faszinierendste an diesem Moment. Auch sie müssen die unglaublich emotionale Atmosphäre vor dem Startschuss registriert und aufgenommen haben. Jetzt sind sie auf einmal selbst ein Teil dieser ganz besonderen Stimmung am Beginn eines Comrades Marathons geworden.
Wenige Straßenblocks später ist es jedoch schon deutlich ruhig geworden. Und als das riesige Feld kurz nach rechts schwenkt, um die Auffahrtsrampe der Autobahn in Angriff zu nehmen, steht nur noch ganz vereinzelt jemand an der Strecke. Nur noch die Schritte von sechsundzwanzigtausend Beinen hallen durch die langsam endende Nacht in den beginnenden Morgen hinein.
Sonntag 29.05.2011, 5:40 Uhr - Durban, N3
Es ist ein wirklich beeindruckendes Bild. Im Licht der Straßenlampen läuft
das weit über zehntausend Köpfe umfassende Comrades-Feld den ersten
Hügel hinauf. Über die Breite von sechs Autobahnspuren ist diese langsam
nach vorne schwappende, dabei unentwegt auf und ab wippende Menschenmasse verteilt.
Nur ein einziger Kilometer zu Anfang war flach verlaufen. Dann hatte mit dem Einbiegen auf die N3, die Durban mit Johannesburg und Pretoria verbindet, bereits der Anstieg begonnen. Unter dem Namen "Tollgate" kennt man im Allgemeinen diese Kuppe, obwohl der Stadtteil eigentlich Berea heißt. Die an dieser Stelle einst vorhandene Mautstation lebt als "landmark" des Comrades Marathons so weiter fort.
Mit dieser Steigung erhält man schon einmal einen kleinen Vorgeschmack auf die noch ausstehenden Schwierigkeiten während des Up-Runs. Der Comrades-Zug ist auf seinem langen Weg bereits in den Bergen angekommen. Die Beine beginnen ihren Rhythmus zu finden. "Shosholoza, Shosholoza, Ku lezontaba, Stimela sphuma eSouth Africa"
Donnerstag 26.06.2011, 11:00 Uhr - R617 bei Swartberg, KwaZulu-Natal
Die Nacht war ziemlich kalt. Nur noch knapp über dem Gefrierpunkt hatten
die Temperaturen gelegen. Doch nach einem völlig verregten Vorabend hatte
sich am Morgen immerhin die Sonne am blauen Himmel sehen lassen und damit den
Blick auf den Schnee freigegeben, der in den Drakensbergen gefallen war.
Nicht wirklich ungewöhnlich ist das in diesem an vielen Stellen über dreitausend Meter aufragenden, schroffen Gebirgszug an der Grenze zum vollständig von Südafrika umschlossenen Lesotho. Sogar einige Skilifte gibt es dort. Die naiven Vorstellungen, die man von Afrika hat, muss man bei einem Besuch des Landes am Kap zu dieser Jahreszeit schnell revidieren. Immer warm oder gar heiß ist es keineswegs.
Jetzt hat es sich allerdings wieder zugezogen und regnet sich ein. Dass es an diesen und dem vergangenen Tag in der Provinz KwaZulu-Natal wohl eher nass sein würde, hatten die Internetseiten der Wetterdienste schon lange vorher angekündigt. Die vielen Schneeflecken, die sich am gerade einmal achtzehnhundert Meter hohen Pass vor dem Örtchen Swartberg gehalten haben, machen aber doch nachdenklich.
Eigentlich gilt diese Jahreszeit in der ohnehin sonnenverwöhnten Region Durban, die aus diesem Grund das bevorzugte Urlaubsrevier der Südafrikaner darstellt, als eher trocken. Und für das Comrades-Wochenende ist praktisch stets gutes Wetter garantiert. Nur ganz, ganz wenige Rennen gingen bei Regen über die Bühne. Sollte das ausgerechnet diesmal, wo die europäische Heimat seit Wochen unter Hitze stöhnt und man sommerliche Bedingungen gewöhnt wäre, anders sein.
Samstag 28.05.2011, 13:30 Uhr - Durban, Garden Court South Beach
Als er zwei Tage zuvor auf dem zur WM neu gebauten King Shaka Airport gelandet
sei, habe er in Durban erstmals nassen Asphalt gesehen, berichtet Uli Tomaschewski
im Foyer des Hotels Garden Court South Beach. Das will durchaus etwas heißen,
denn er ist bereits zum siebten Mal beim Comrades dabei.
Inzwischen hat sich die Witterung jedoch wieder deutlich gebessert. Und obwohl die Wellen noch meterhoch und mit ziemlicher Wucht an die von der langen Kette von Hotels nur durch die gut ausgebaute Promenade getrennten Strände der Millionenstadt schlagen, ist es ansonsten doch ziemlich angenehm. Etwas über zwanzig Grad und Sonneschein ergeben für den nächsten Tag, an dem sich an der Wetterlage praktisch nichts ändern soll, nahezu optimale Laufbedingungen.
Sonntag 29.05.2011, 5:45 Uhr - Durban, N3 bei Berea
An den Geländern der über die Autobahn führenden Brücken
stehen trotz der nachtschlafenden Uhrzeit wie schon am Start überraschend
viele Zuschauer. Doch haben sie an diesen Stellen ja auch einen absoluten Logenplatz.
Einzelne Läufer zu erkennen dürfte angesichts der Entfernung und der
Lichtverhältnisse für sie allerdings ziemlich schwierig sein. Da wird
eigentlich nur ein anonymer Pulk lautstark bejubelt.
Den Läufern selbst geht es kaum besser. Zumal sie sich auch noch darauf konzentrieren müssen, sicher ihren Weg im Getümmel zu finden, was manchmal gar nicht so einfach ist. Denn zum einen fliegen bereits die ersten der am Start getragenen Wärmeschutz-Hüllen durch die Luft, die bei einer Temperatur von deutlich über zehn Grad gar nicht unbedingt nötig gewesen wären.
Sie sind beim Comrades Marathon jedem Startbeutel beigelegt und bestehen nicht wie sonst üblich aus Plastik sondern aus einem Filzstoff, den man bei Bedarf auch zerreißen kann. Wenn man auf eine solchen Überzug tritt, kann das schnell zu einem Ausrutscher führen. Und aufgewirbelt bilden sie für sich im ultratypischen Schlurfschritt vorwärts bewegenden Füße eine ziemlich gefährliche Stolperfalle.
Am tückischsten sind in dieser Hinsicht jedoch die kleinen Rückstrahler, die in die Trennstreifen der Autobahnspuren eingelassen sind. Eine ganze Reihe von Stürzen verursachen diese "Katzenaugen" im Halbdunkeln der ersten Rennkilometer. Wirklich ungewöhnlich ist das nicht, so etwas kommt im großen Feld des Comrades Marathons mit schöner Regelmäßigkeit vor.
Einer der Preisträger des von der CMA jährlich für besondere Beziehungen zur Veranstaltung und herausragende sportliche Fairness vergebenen "Spirit of Comrades Award" hatte zum Beispiel bei der Ausgabe von 2010 längere Zeit eine in der Startphase gestürzte und dabei verletzte Läuferin vor dem Nachkommenden abgeschirmt. Dass er anschließend den Zielschluss ausgerechnet um genau eine der dabei verlorenen Minuten verpasste, war der Comrades Marathon Association diese Ehrung wert.
Der dem Lauf nachgesagte und schon in seinem Namen zum Ausdruck kommende besondere Geist wird auch von den Organisatoren ziemlich hochgehalten. Wörtlich übersetzt heißt "Comrades" schließlich "Kameraden". Und im Gegensatz zum Deutschen, wo man diesem Begriff ja manchmal einen negativen Beigeschmack untermischt, ist er im Englischen weiterhin eindeutig positiv besetzt.
Ganz egal, wo der Läufer, der sich da nebenan den Hügel hoch arbeitet, auch herkommt und welche Hautfarbe er besitzt, ob er in der Luxuskarosse oder im Sammeltaxi angereist ist, er ist ein Comrade, den man unterstützt so gut es geht und von dem man seinerseits Unterstützung erwarten kann. Zwischen Start- und Zielschuss sind alle gleich. Die Verbindung zu den Zeilen "and united we shall stand in South Africa our land" ist da schnell gefunden.
Samstag 28.05.2011, 19:30 Uhr - Durban, Albany Hotel
Die Nachrichtensendung im Fernsehen endet nicht wie üblich mit einem "Auf
Wiedersehen" sondern mit guten Wünschen für alle Comrades-Läufer.
Das alleine wäre schon bemerkenswert. Doch handelt es sich dabei keineswegs
nur um einen Lokalsender aus KwaZulu-Natal. Dieses Programm wird landesweit
ausgestrahlt.
Bereits während der Sportmeldungen davor hatte es ein Filmchen als Vorbericht gegeben. Und bei der Wettervorhersage war man ebenfalls besonders auf die Aussichten für Großraum Durban eingegangen. Man könnte fast vermuten, dass das Rennen für ganz Südafrika eine gewisse Bedeutung hat.
Und die hat es tatsächlich. Am nächsten Morgen wird die Live-Übertragung der staatlichen South African Broadcasting Corporation nämlich bereits um fünf Uhr morgens beginnen. Und erst lange nach Zielschluss wird sie um achtzehn Uhr am Abend enden. Dreizehn Stunden ist man also auf Sendung. Wohl bei kaum einem anderen einzelnen Sportereignis weltweit dürfte es eine ähnliche umfassende und ausdauernde Berichterstattung geben.
Sonntag 29.05.2011, 5:50 Uhr - Durban, N3 bei Berea
Die Fernsehübertragung läuft also bereits längere Zeit, als es
für das Läuferfeld hinter dem Tollgate-Hügel erst einmal wieder
ein Stück bergab geht. Obwohl die Strecke auf den ersten dreißig
bis fünfunddreißig Kilometern über siebenhundert Meter an Höhe
gewinnt, geschieht dies keineswegs gleichmäßig sondern in vielen
Stufen. Und immer wieder geben Gefälle wie dieses die Möglichkeit,
den Laufrhythmus zwischendurch auch einmal zu wechseln.
Kaum einen Kilometer entfernt lässt sich jenseits der kleinen Senke im langsam beginnenden Morgengrauen jedoch schon der nächste Anstieg erkennen. Noch immer auf der in eine Fahrtrichtung komplett gesperrten Autobahn N3 zieht sich dort einen endlose Schlange erneut den Hügel hinauf.
Sonntag 29.05.2011, 6:10 Uhr - Durban, 45th Cutting
Eine steile Rampe, die sich in der Bergab-Variante des Comrades wenige Kilometer
vor dem Ziel als kurzer aber ziemlich heftiger Rhythmusbrecher in den Weg stellt,
hat von der N3 herunter geführt. Mit dem Rechtschwenk unter der Autobahn
hindurch folgt allerdings direkt wieder der Anstieg. Unter "45th Cutting"
kennt man ihn im Feld. Und obwohl es sich dabei nicht um eine offizielle Bezeichnung
handelt, ist dieser Abschnitt auch genau so auf dem Streckenplan vermerkt.
An dieser Stelle mündet die 45th Avenue in die gerade belaufene Hauptstraße M13. Das dort einst stationierte fünfundvierzigste Infantrieregiment der britischen Armee ist für den Namen verantwortlich. Der Einschnitt im Gelände, der den zweiten Teil des Begriffs bildet und von den Soldaten mit der Schaufel gegraben wurde, fällt allerdings nicht so dramatisch aus, wie man angesichts der doch recht schroffen Wortwahl vermuten könnte.
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Botha's Hill ist der dritte der legendären Big Five, der fünf schwersten Anstiege beim Up-Run |
Auch 45th Cutting ist eine der klassischen "landmarks" des Comrades. Und dennoch stand sie für die nächste Austragung im Jahr 2012 zur Disposition. Es gab nämlich ernstzunehmende Gerüchte, die Stadt habe der CMA vorgeschlagen, den Lauf nicht mehr im nahe des Zentrums gelegenen Kingsmead Kricket Stadion sondern im für die Fußball-WM neu erbauten Moses Mabhida Stadium einige Kilometer weiter nördlich enden zu lassen.
Um die übliche Distanz dabei nicht deutlich zu verändern, hätte wohl ein komplett neuer Anlauf zum Ziel gebastelt und 45th Cutting geopfert werden müssen. Es verwundert wenig, dass angesichts der langen Tradition der Streckenführung unter den Läufern kaum positive Stimmen zu dieser Idee zu hören waren.
Auch das Stadion mit dem markanten Bogen selbst, das als eine Art neues Wahrzeichen von Durban vermarktet wird - was vielleicht auch die politische Einflussnahme auf die Organisatoren erklärt - kam in den speziell zum Comrades existierenden Internet-Foren alles andere als gut weg. Viel zu groß und unpersönlich, dort würde nie die Stimmung aufkommen wie im gerade bei Zielschluss regelrecht kochenden Hexenkessel von Kingsmead.
Als die Comrades Marathon Association kurz vor dem sechsundachtzigsten Rennen verkündete, dass dieser auch bei Austragung Nummer siebenundachtzig wieder brodeln würde, war der Jubel groß. Ausgerechnet die Betreiber des Moses Mabhida Stadions hatten am Ende Bedenken, dass durch die ganzen Aufbauten und die vielen tausend Menschen im Innenraum zu große Schäden am Rasen entstehen würde. Es bleibt also alles beim alten. Und kaum jemand im Feld ist böse darüber.
Donnerstag 26.06.2011, 18:30 Uhr - Umkomaas, Ocean Park Guesthouse
Die Chefin des Ocean Park Guesthouse in Umkomaas, gut fünfzig Kilometer
von Durbans Innenstadt entfernt, hat ihre deutschen Übernachtungsgäste
gerade gefragt, was sie denn ausgerechnet im Winter nach Südafrika geführt
hätte. Die Antwort "der Comrades Marathon" gefällt ihr durchaus.
Sie selbst sei noch nie gelaufen. Schon für kurze Distanzen würde
sie das Auto bevorzugen. Aber sie habe viele Jahre lang an der Strecke geholfen.
Das ist gar nicht einmal unbedingt erstaunlich. Denn die Zahl der Helfer, die für die Abwicklung dieses Ereignisses benötigt werden, ist nicht unbedingt kleiner als die der Teilnehmer. Und kaum jemand im Großraum Durban kann dem Comrades auf Dauer entgehen. Gerade die Verpflegungsstellen werden oft nicht von Vereinen sondern von Firmen besetzt, so dass durchaus viele eingespannt sind, die mit dem aktiven Laufen nicht wirklich viel am Hut haben.
Bevor sie ihren Gästen die Zimmer zeigt, bemerkt sie noch am Rande, dass sie einige ihrer beeindruckendsten Erfahrungen während des Comrades gemacht hätte. Eine ziemlich bemerkenswerte Aussage für eine Nichtläuferin.
Sonntag 29.05.2011, 6:15 Uhr - Durban, 45th Cutting
Die kopftuchtragenden moslemischen Frauen, die in der Nähe der Kuppe Getränke
verteilen, gehören mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls
zur nichtlaufenden Fraktion. Unweit dieser zweiten Verpflegungsstelle befindet
sich jedoch die 45th Cutting Mosque. Und so haben sich eben auch zur Besetzung
dieses Postens einige von ihnen gemeldet.
Ganz ungewöhnlich ist dieser Anblick in und um Durban keineswegs. Der Großteil der etwa eine Million Südafrikaner indischer Abstammung lebt in dieser Region. Im neunzehnten Jahrhundert wurden ihre Vorfahren als Arbeiter für die Zuckerrohrplantagen Natals ins Land geholt. Allerdings sind von ihnen wieder nur eine Minderheit Moslems.
Zwar ist der Großteil der Helfer an diesem Versorgungspunkt - so weit man es auf die Schnelle abschätzen kann - wohl tatsächlich indischer Herkunft. Doch auch andere Hautfarben sind vertreten. Eine Beobachtung, die man auch in der Folgezeit regelmäßig machen wird. Entsprechend dem gerne benutzten Begriff von der "Regenbogennation" bunt gemischt sind die ethnischen Zusammensetzungen meist. Zumindest zur Unterstützung der Comrades-Läufer scheint die Zeile aus der Nationalhymne "united shall we stand" tatsächlich zu stimmen.
Sonntag 29.05.2011, 6:30 Uhr - Westville
Jenseits der Senke, in der die M13 die Autobahn N2 gekreuzt hat, ist auch diese
zu einer in gleicher Art ausgebauten Schnellstraße geworden. Von dem Vorort
Westville, den man dabei gerade passiert, bekommt man deshalb relativ wenig
mit. Obwohl mehr oder weniger komplett mit Durban verwachsen war Westville bis
zum Jahr 2000 eine selbstständige Gemeinde.
Mit einer großen Gebietsreform, bei der es noch viel radikaler zuging als in einigen deutschen Ländern in den Siebzigern, wurden dann allerdings ganz neue und wesentlich größere "Municipalities" gebildet. Ähnlich wie die "Kommuner" in Skandinavien habe diese aus deutschem Blickwinkel eher die Ausmaße eines Kreises, Regierungsbezirkes oder gar eines kleineren Bundeslandes.
Selbst die Millionenstadt Durban hörte aus administrativer Sicht damit auf zu existieren. Formal gehört sie nun nämlich zur neu gegründeten, sich über einhundert Kilometer entlang der Küste erstreckenden und weit ins Land hinein ragenden Metropolgemeinde eThekwini, die etwa die Größe des Saarlandes besitzt. Doch selbst die kommunale Marketingagentur benutzt weiter den alten Namen. Denn Durban kennt man überall in der Welt, von eThekwini hat man dagegen noch nie gehört.
Pietermaritzburg gibt es politisch ebenfalls nicht mehr, die Hauptstadt der Provinz ist in der Kunstgemeinde Msunduzi aufgegangen. Und wäre da nicht ein kleiner Zipfel von Mkhambathini, den man auf der Strecke für einige Kilometer durchquert, verliefe praktisch der gesamte Comrades trotz seiner beträchtlichen Länge formaljuristisch nur durch den Start- und den Zielort, die beiden "host cities".
Der CMA ist es egal. Auch weiterhin steht auf den Medaillen wie eh und je "Comrades Marathon Maritzburg - Durban". Und das sogar in genau dieser Reihenfolge völlig unabhängig von der Laufrichtung.
Sonntag, 29.05.2011, 6:30 Uhr - Pinetown, hinter Cowies Hill
Vier Sekunden vor dem Ende der ersten Rennstunde ist Samuel Pazanga über
die Kontrollmatte von Pinetown gerauscht. Ungefähr siebzehn Kilometer hat
er in dieser Zeit zurückgelegt und selbst ohne Berücksichtigung der
Zwischengefälle über dreihundert Höhenmeter gewonnen. Pazanga
sichert sich damit die Möglichkeit achttausend Rand mit nach Hause zu nehmen.
Ähnlich der großen Radrundfahrten versucht man nämlich auch
beim Comrades das Rennen mit Hilfe von Spurtprämien interessant zu halten.
Selbst wenn sich die Favoriten noch belauern, gibt es so von Anfang an trotzdem Bewegung im Feld. Und der Spannungsbogen der ersten Stunden besteht darin, wie lange sich welcher Ausreißer an der Spitze halten kann. Allerdings hat man gegen Spezialisten, die nur auf diese erste Zwischenwertung abzielen und danach aussteigen, die Regelung eingeführt, dass nur derjenige das Preisgeld erhält, der später auch im Ziel ankommt.
Noch etwas ist vergleichbar mit den Radfahrern. Denn Pazanga tritt für Mr. Price, eine Bekleidungsfirma, die ihr eigenes Laufteam unterhält, an. Fast eine Minute hinter dem Führenden passieren Vusi Malobola - für den Comrades Sponsor Bonitas unterwegs - und Wesley Ruto - ein Kenianer, der in Südafrika als Profi beim Nedbank-Rennstall sein Geld verdient - nach 1:00:48 als Nächste diesen Punkt. Point Chaza, für das Team von Bluff Meats Formula One startend, folgt in 1:01:23 als Vierter.
Bis sich die "true contenders", die ernsthaften Anwärter für den Sieg in Pinetown die Ehre geben, dauert es dann wie erwartet noch einen ganze Weile. Man kennt die Abläufe schließlich ganz gut. Erst mehr als fünf Minuten nach Pazanga - der am Ende übrigens auf Position 273 ins Ziel kommen wird - läuft die Gruppe, in der sich Vorjahresieger und Favorit Stephen Muzhingi aufhält, durch.
Sonntag 29.05.2011, 7:00 Uhr - Westville
Gerade ist das Kilometerschild mit der "74" passiert worden, denn
beim Comrades wird - wie übrigens in Südafrika durchaus nicht unüblich
- rückwärts gezählt. Angesichts einer offiziell angegebenen Renndistanz
von 86,96 Kilometer kann man jedoch - zumindest solange das Gehirn noch ausreichend
mit Sauerstoff versorgt ist - ziemlich problemlos auch in eine aufsteigende
Kilometrierung umrechnen.
Seit fast sechs Kilometern ist man nun schon auf der praktisch beständig ansteigenden Schnellstraße unterwegs, für die neben der Nummer in einem typisch südafrikanischen Namenswirrwarr auch noch die Bezeichnungen Jan Smuts Highway oder King Cetshwayo Highway üblich sind.
Nach dem Ende der Apartheid ist aus dem südafrikanischen Premierminister ein Zulu-König geworden. Doch gerade weil man bei dieser Umbenennungswelle oft weit über das Ziel hinaus geschossen ist und nicht die Namen nur rassistische Politiker sondern auch ganz neutrale Bezeichnungen abgelöst hat, können sich die neuen meist nur schwer durchsetzen. Ein schönes Beispiel, wie man selbst in einem kleinen Detail das in vielem so zerrissene Land mit symbolischer Politik nicht vereint sondern nur noch weiter gespalten hat.
Die warmen Strahlen der Sonne, die inzwischen immer öfter über den Hügel im Rücken der Läufer herauslugt, leuchten auf die Autobahn vor den Läufern. Der Morgen hat die Dämmerung abgelöst. Der lange Tag, der Tausende von Menschen zu Fuß hinüber nach Pietermaritzburg führen soll, hat nun endgültig begonnen.
Montag, 30.05.2011, 9:00 Uhr - Durban, Workshop Shopping Centre
Der Zeitungsstand im Einkaufzentrum, zu dem man eine frühere Eisenbahnwartungshalle
umgebaut hat, kann sich über mangelnde Kundschaft an diesem Morgen eigentlich
nicht beschweren. Großer Renner ist der "Mercury", ein Morgenblatt,
das neben ausführlicher Berichterstattung über den Comrades auch eine
Sonderbeilage mit allen Ergebnissen und vielen Bildern bietet.
Natürlich sind darunter auch einige Aufnahmen aus der Zeit des Sonnenaufganges, liefert diese den Fotografen doch einige der schönsten Motive. Die ganz besonderen Lichtverhältnisse können die Stimmung eines solchen Laufes einfach wunderbar herüberbringen. Auch beim europäischen Gegenstück in Biel ist das ja nicht anders, selbst wenn es dort in diesem Moment schon dem Ziel entgegen geht.
Es ist natürlich purer Zufall, dass die Zeitung, die dem Comrades so viele Seiten widmet, den Namen "Mercury" trägt. Und doch ist es ziemlich passend. Denn Merkur ist ja nur die römische Variante des antiken Götterboten und deshalb durchaus vergleichbar mit dem griechischen Hermes, der als Logo die T-Shirts der meisten Käufer ziert.
Sonntag 29.05.2011, 7:05 Uhr - vor Cowies Hill
Eine nicht enden wollende Läuferschlage zieht sich in einem lang gezogenen
Bogen erst von der Autobahn herunter und dann über sie hinweg. Gerade erst
war die Strecke ein wenig abgeflacht. Doch nun steht nach etwa fünfzehn
Kilometern der erste der fünf großen Anstiege an, Cowies Hill.
Nicht nur weil er auf der lange Strecke relativ früh zu finden ist, man ihn also noch mit ziemlich frischen Beinen angeht, stellt er aber eigentlich die kleinste Herausforderung von ihnen dar. Es ist eindeutig die kürzeste Steigung im berüchtigten Quintett. Und auch der Höhenunterschied hält sich mit deutlich weniger als einhundert Metern in Grenzen. Wohl hauptsächlich wegen des ersten, dann doch ziemlich ruppigen Teilstücks ist diesem Hügel die Aufnahme in die illustre Liste gelungen.
Sonntag 29.05.2011, 7:10 Uhr - Cowies Hill
Praktisch direkt hinter der Brücke hat sich der Charakter der Strecke ziemlich
verändert. Statt auf einer breiten Autobahn mehr oder weniger geradeaus
läuft man plötzlich unter dem Dach hoher Bäume durch eine parkähnliche
Wohnstraße, die sich in sanften Kurven an den Hang lehnt. Und obwohl es
ja noch immer ziemlich früh am Morgen ist, sind deren Ränder plötzlich
auch wieder gut mit Zuschauern gefüllt.
"Don't cower up Cowies" hatte auf einem großen Plakat am Beginn des Anstieges gestanden. Übersetzt bedeutet dieses Wortspiel ungefähr "Versteck dich nicht am Cowies". Doch sollte man diesen Rat wohl besser nicht zu wörtlich nehmen und sich auch nicht durch das Publikum verleiten lassen, den Hügel zu schnell hinauf zu laufen.
Wer an dieser Kuppe schon zu viel seiner wertvollen Energien verpulvert, dürfte es später ziemlich bereuen. Zwar hat man am höchsten Punkt von Cowies Hill bereits knapp vierhundert Meter über dem Meer erreicht. Allerdings ist das dennoch kaum mehr als die Einstimmung zum warm werden. Denn gerade einmal etwa ein Viertel des Gesamtanstieges hat man zu diesem Zeitpunkt bewältigt.
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Hinter Drummond beginnt mit Inchanga der vierte große Anstieg | den die meisten zumindest an den steilsten Stellen hinauf gehen |
Kaum ist der Hügel erklommen, senkt sich die Strecke aber auch schon wieder. Und am Ende von Cowies Hill hat man praktisch wieder das Ausgangsniveau erreicht. Eigentlich ist es kaum mehr als pure Schikane, den Kurs über ihn hinweg zu führen. Denn genauso gut hätte man ihn ein ganzes Stück weiter unten umlaufen können, um nach Pinetown - dem nächsten Vorort an der Strecke - zu kommen.
Doch nur daran zu denken, ist beinahe schon Majestätsbeleidigung. Denn Cowies Hill hat - wie jeder seiner später noch folgenden Big-Five-Kollegen - beim Comrades Marathon nach nun bereits neunzig Jahren und sechsundachtzig Austragungen eben einfach eine riesige Tradition.
Samstag 28.05.2011, 13:40 Uhr - Durban, Mustards Grill
Das gegenüber der Uferpromenade gelegene Restaurant bietet sich zum Aufladen
der Kohlenhydratspeicher am Tag vor dem Wettkampf irgendwie gerade an. Und schnell
wird klar, dass die Wahl ganz passend war. Denn auf den Tischen liegen eigens
gedruckte Speisekarten mit der Aufschrift "Welcome to all Comrades athletes
2011".
Die Rückseite des Papiers mit dem speziellen, keineswegs aber nur aus Pasta-Gerichten bestehenden Läufermenüs ist sogar mit dem Streckenplan bedruckt, den man allerdings in diesem eigentlich viel zu kleinen Maßstab kaum lesen sondern nur am graphischen Verlauf erkennen kann.
Dieses ganz spezielle Eingehen auf die Teilnehmer ist beileibe keine Ausnahme an diesem Wochenende in Durban. Nur einen Straßenblock entfernt lässt sich zum Beispiel das Transparent "Beach Hotel welcomes all Comrades Runners to Durban" über dem Eingang eines Hotels entdecken.
Das Rennen ist sicher auch ein Wirtschaftsfaktor für die Stadt. Alleine etliche tausend Übernachtungen werden durch die Läufer und ihren Anhang generiert. Doch hat man nie das Gefühl, dass es bei solchen freundlichen Begrüßungen nur ums Geschäft geht. Die Herzlichkeit, mit der man die Comrades-Starter in Durban und Pietermaritzburg empfängt, ist absolut echt.
Sonntag 29.05.2011, 7:35 Uhr - Pinetown
Schnurgerade zieht sich die Straße kilometerlang durch das im Gegensatz
zu Cowies Hill nicht wirklich idyllische Pinetown. Tendenziell führt auch
sie wohl meist leicht nach oben. Doch ist das unter diesen Voraussetzungen optisch
kaum zu bemerken.
Nicht einmal zwanzig Kilometer hat man in den Beinen, da taucht schon die achte Verpflegungsstelle auf. Zu Anfang lagen sie noch etwas weiter auseinander und hatten einen Abstand, den man auch in Europa gelegentlich einmal finden kann. Doch nun ist ihre Abfolge deutlich dichter geworden. Diese wird sich auch in der Folge nicht mehr ändern. Ganz im Gegenteil, die Posten werden zum Ende hin sogar noch häufiger werden.
Achtundvierzig "refreshment stations" sind über die Strecke von siebenundachtzig Kilometern verteilt. Im Schnitt liegen sie also nicht einmal zwei Kilometer auseinander. Und die kleinste Differenz beträgt, wie man der genauen Auflistung im Programmheft entnehmen kann, gerade einmal tausend Meter. Es gibt tatsächlich Punkte, da kann man die nächste schon sehen, bevor man die aktuelle endgültig hinter sich gelassen hat. Die in der Regel aufgebauten Fahnen der jeweiligen Sponsoren machen das sogar noch leichter.
Jede Verpflegungsstelle ist zumindest was die Getränke angeht voll bestückt. Wasser, Elektrolytgetränke und Cola hat man überall im Angebot. Und siebzig, achtzig oder gar hundert Freiwillige verteilen es jeweils an die Läufer. Selbst wenn man es nur grob überschlägt, ergeben sich alleine dadurch bereits mehrere tausend Helfer an der Strecke.
Während Cola, wie man es aus Europa kennt, in Bechern ausgebeben wird, hat man die anderen beiden Flüssigkeiten in kleinen Plastikbeuteln - den sogenannten "Sachets" - bereit liegen. Erwähnenswert ist das aber eigentlich nur für Nicht-Südafrikaner. Am Kap sind diese nämlich bei nahezu allen Veranstaltungen absolut üblich. Auch hier ergibt die Überschlagsrechnung, dass wohl mehrere Hunderttausend von ihnen angeliefert worden sein müssen und anschließend an der Strecke verteilt werden.
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Rund um Inchanga befindet sich der landschaftlich schönste Teil der Strecke |
Wer schon einmal in Südafrika gelaufen ist, hat die Zweckmäßigkeit dieser Beutel schnell erkannt. Ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, lassen sie sich sogar im vollen Lauf leicht aufnehmen. Die Helfer können sie im Gegensatz zu offenen Bechern zudem gleich in größerer Stückzahl anreichen und müssen nicht ständig zurück zu den Tischen, um Nachschub zu besorgen.
Und auch der Müll fällt wesentlich geringer aus. Einige ausgelutschte Sachets stören jedenfalls nachfolgende Läufer selbst beim extremsten Schlurfschritt ohne jeglichen Kniehub deutlich weniger als ein Haufen kaputt getretener Plastikbecher.
Was für die Einheimischen nicht das geringste Problem darstellt, nämlich das Aufbeißen und anschließende Leersaugen, muss man zwar selbst als Wiederholungstäter erst einmal wieder üben. Und anfangs landet der Inhalt dabei auch einmal in der völlig falschen Richtung. Doch hat man den Kniff erst heraus, geht kaum noch etwas ungewollt verloren.
Sonntag 29.05.2011, 7:45 Uhr - Fields Hill
Die lange Gerade hatte an der Autobahn, unter der man hindurch gelaufen war,
geendet. Eine steile Rampe hatte wieder hinauf zur schon bekannten M13 geführt,
die man also eigentlich nur für einen kurzen Abstecher zum Cowies Hill
verlassen musste. Doch war dieser ruppige Stich eigentlich nur der Anfang, denn
es war der Einstieg zum Fields Hill.
Wenn die Big Five die Könige der Steigungen des Comrades sind, dann ist Fields Hill der Kaiser unter ihnen. Kein anderer ist länger - etwa drei Kilometer geht es ununterbrochen heftig bergauf - und kein anderer überwindet dabei mehr Höhenmeter - es sind beinahe zweihundert.
Dass der Anstieg komplett auf der breiten, weitgehend menschenleeren - weil wegen ihrer Vollsperrung nur schwer erreichbaren - Schnellstraße zurückgelegt wird, macht ihn auch nicht einfacher. Man muss versuchen, den Schwung, den die - an der Auffahrt noch ziemlich zahlreichen - Zuschauer unten mitgegeben haben, zumindest ein wenig zu konservieren, bis an der nächsten Verpflegungsstelle dann endlich wieder ein bisschen Leben aufkommt.
Fields Hill ist definitiv ein erster echter Prüfstein. Rund um die Halbmarathonmarke, die man beim Comrades am Schild mit der "66" erkennen muss, marschiert man im Mittelfeld jedenfalls dann längst auch schon hauptsächlich den Berg hinauf, anstatt ihn im Lauschritt zu bezwingen. Immerhin bleibt so ein wenig mehr Zeit, den Blick über die unten im Tal immer kleiner werdenden Häuser von Pinetown wandern zu lassen.
Montag, 30.05.2011, 9:00 Uhr - Durban
Eine der Schlagzeilen, die man in den morgendlichen Zeitungen über den
Comrades entdeckt, ist weniger schön. "Comrades-Sieger ausgeraubt"
ist dort zu lesen. Der Artikel berichtet weiter, dass der unten abgestellte
Service-Wagen der Mannschaft "Mr. Price" aufgebrochen wurde, als die
Betreuer ihre Läufer in der Steigung am Fields Hill unterstützten,
und die Taschen einiger ausländischer Spitzenläufer gestohlen wurden.
Betroffen seien unter anderem die beiden aus Russland stammenden Nurgalieva-Schwestern Elena und Olesya, die in den letzten Jahren sowohl beim Comrades wie auch beim Two Oceans den Sieg jeweils unter sich ausgemacht hatten und zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in Führung lagen. Auch Jaroslav Janicki, der polnische Sieger von 1999 wäre unter den Opfern. Die Dreistigkeit des Diebstahls wird noch dadurch gesteigert, dass sich die Täter mit den erbeuteten Schlüsseln auch zum Teamhotel aufmachten und dort einige Zimmer ausräumten.
In einem Land, das zugegebenermaßen eine ziemlich hohe Kriminalitätsrate hat, sind Einbrüche zwar keine Seltenheit. Und eigentlich wäre die Geschichte kaum eine Meldung wert. Doch dass es ausgerechnet einige der Ausdauer-Helden getroffen hat, stößt den meisten ziemlich sauer auf. Fast schon zerknirscht fallen die Formulierungen dann auch aus. Sogar von einem "Schatten über dem Comrades" ist die Rede.
Sonntag 29.05.2011, 8:10 Uhr - Fields Hill
Quälend lang zieht sich die Autobahn in weiten Schleifen den Berg hinauf.
Und irgendwie ist kein Ende abzusehen. Im Gegensatz zu Cowies Hill sowie später
Inchanga und Polly Shortts, die einen eindeutigen Gipfel zum überqueren
haben, oder auch Botha's Hill, nach dem es nahezu ohne Höhenunterschiede
weitergeht, ist nur schwer zu definieren, wo der Fields Hill wirklich aufhört.
Die Steigung läuft nämlich einfach aus, sie flacht ab, doch völlig
eben wird die Straße nicht. Da wundert es nicht, dass im offiziellen Höhenprofil
die Markierung "Top of Field Hill" irgendwo mitten in einer weiter
nach oben führenden Linie zu finden ist.
Montag, 30.05.2011, 10:00 Uhr - Kloof
Dort wo der Kurs des Comrades hinter dem Fields Hill die Schnellstraße
M13 wieder verlässt, steht direkt an der Ausfahrt ein Auto auf dem Seitenstreifen.
Die Besucher aus Deutschland, die auf der Suche nach einem der großen
gelben Schilder sind mit denen die Strecke markiert ist, sind zum ersten Mal
fündig geworden. Wie man sich leicht denken kann, sind diese durchaus ziemlich
beliebte Souvenirs.
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Weit reichen die Blicke über die wellige Landschaft des Valley of thousand hills |
Niemand stört sich an dieser Aktion. Aus keinem einzigen der Fahrzeuge, die an dieser Rampe von der Autobahn herunter rollen, wird gehupt. Das mag zum einen daran liegen, dass man in Südafrika mit den Verkehrsregeln doch ein wenig flexibler umgeht. Denn selbst wenn es auch am Kap Radarkontrollen gibt, haben die Ordnungskräfte im von hoher Kriminalität geplagten Land anderes zu tun, als sich mit jedem kurzzeitig falsch abgestellten Wagen zu beschäftigen.
Doch vielleicht ist vielen der vorbei kommenden Autofahrer auch klar, was da gerade passiert. Und Comrades-Läufern sieht man in diesen Tagen ohnehin so ziemlich alles nach. Gebrauchen kann man die Schilder sowieso nicht mehr, ist doch auf ihnen auch das Datum groß vermerkt. Die CMA ist vermutlich gar nicht einmal böse, dass ihr jemand die Arbeit abnimmt und sie nur noch einen Bruchteil der aufgehängten Tafeln auch wieder einsammeln muss.
Wenig später ist auf der anderen Seite der M13, wo der knapp zwei Kilometer lange Comrades Abstecher durch die alles andere als schlechte Wohngegend Kloof beginnt, auch die zweite benötigte Markierung entdeckt und abmontiert. Die Fahrt kann von nun an ohne weiteren Halt auf der Autobahn fortgesetzt werden.
Sonntag 29.05.2011, 16:20 Uhr - am Pietermaritzburg Oval
Leon Schipper vom Tygerberg Athletic Club biegt zwischen Stahlrohrtribünen
in das für den Up-Run als Ziel dienende Kricket-Stadion von Pietermaritzburg
ein. Unter dem Arm trägt er ein leuchtend gelbes Streckenschild. Bereits
während des Rennens hat er sich wie einige andere auch also mit diesem
Erinnerungsstück versorgt.
Kurz vor ihm ist der erste "Elf-Stunden-Bus", wie die großen dichten Pulks, die sich hinter den jeweiligen mit Fähnchen ausgestatteten Schrittmachern bilden, in Südafrika fast liebevoll genannt werden, vorbei gekommen. Die ganze, nicht gerade besonders groß ausgefallene Breite des Weges hatte er eingenommen. Denn während diese Gruppen sich hierzulande zum Ende hin doch ziemlich auflösen, ist es am Kap üblich, bis ins Ziel zusammen zu bleiben.
Ja, man sammelt sich sogar noch einmal regelrecht kurz vor dem Einlauf, um gemeinsam die Linie zu überqueren. Es geht da nicht um Sekunden. Viel wichtiger ist, dass man zusammen mit den "Comrades", mit denen man so viele Stunden auf der Strecke verbracht hat, ankommt. Da gibt es dann auch schon einmal innerhalb einer halben Minute zweihundert oder mehr Einträge in die Ergebnisliste.
Der erste und größte der Busse lag damit ein ganzes Stück vor dem eigentlichen Fahrplan. Doch ist es natürlich im Gegensatz zu einem flachen Stadtmarathon, bei dem man Kilometer um Kilometer in gleichmäßigem, genau auf die angestrebte Endzeit ausgerichteten Schnitt herunter spulen kann, auch ziemlich schwierig bei einem so welligen Kurs wie den des Comrades in den entsprechenden Abschnitten das jeweils passende Tempo zu treffen.
Schließlich sind die Fähigkeiten im Bergauf- und Bergablaufen ja auch keineswegs gleichmäßig verteilt. Die große Zahl der Teilnehmer, die sich vertrauensvoll an die Routiniers hängt und von ihnen ins Ziel gebracht werden, zeigt allerdings, dass diese in der Regel einen wirklich guten Job machen.
Sonntag 29.05.2011, 8:40 Uhr - Winston Park
Noch einmal war die Old Main Road, der man den Schlenker durch Kloof gefolgt
ist, für einen Kilometer auf die Autobahn eingebogen. Schon die lange Gerade
durch Pinetown trug diesen Namen. Die alte Hauptstraße zwischen Pietermaritzburg
und Durban ist die traditionelle Laufstrecke des Comrades. Und immer dort, wo
sie noch erkennbar und nicht vollständig durch eine Schnellstraße
ersetzt ist, orientiert sich der Kurs weiterhin ziemlich genau an ihr.
Auch jetzt läuft man wieder auf ihr in dichtem Abstand parallel zur M13.
Trotz einiger kleiner Wellen geht es dabei weiterhin meist leicht bergauf. Ein
Schild am Straßenrand kündigt den in einem Kilometer folgenden "Cut-Off-Point"
an. Nicht nur im Ziel sondern auch an insgesamt fünf Stellen unterwegs
gibt es nämlich Zeitlimits.
Wer diese Punkte nicht bis zu einer gewissen Uhrzeit passiert hat, wird aus dem Rennen genommen. Im Stadtteil Winston Park befindet sich die erste dieser Kontrollen. Um 10:10 Uhr sei hier Schluss, verkündet die Tafel unübersehbar. Doch wirklich streng ist diese Grenze eigentlich nicht. Wer das erste Drittel der Distanz nicht nach vier Stunden und vierzig Minuten bewältigt hat, dürfte ohnehin nicht die geringste Chance haben innerhalb der Sollzeit anzukommen.
Sonntag 29.05.2011, 8:50 Uhr - Hillcrest
"Forget Hillcrest" stand in dem auf der Messe ausgeteilten Extrablatt
für Zuschauer, dem "spectator guide". Doch nicht etwa, weil in
diesem Vorort nichts los wäre. Nein, ganz im Gegenteil, dort sei so viel
Betrieb durch die Einwohner, dass die dem Marathontross folgenden Begleiter
kaum eine Chance hätten, an "ihre" Läufer heran zu kommen.
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Kurz vor Ende des Inchanga-Hügels wird es nach zwei Kilometern ununterbrochener Steigung wieder flach genug zum Antraben | Auch im Dorf Inchanga ist die Stimmung an der Straße ziemlich gut |
Ganz unrecht haben die Macher des Blättchens jedenfalls nicht. Tatsächlich läuft man an manchen Stellen durch ein regelrechtes Publikumsspalier. Und da sich die Steigung auf diesem Abschnitt ziemlich zurück hält, sie - wenn auch weiterhin meist vorhanden - kaum spür- und sichtbar ist, rollt es auf den ersten beiden Kilometer durch Hillcrest, mit denen man die Autobahn endgültig hinter sich gelassen hat und der nun nur noch als R103 einfach zu identifizierenden Old Main Road folgt, eigentlich ziemlich gut.
Darüber, dass man sich bei einem normalen Marathon jetzt schon auf dem letzten Viertel befände und dem Ziel näher käme, sollte man angesichts von noch fünfundfünfzig bevorstehenden Kilometern allerdings besser nicht nachdenken. Der Comrades ist nämlich bisher kaum aus der Anfangsphase heraus gekommen.
Sonntag 29.05.2011, 9:00 Uhr - Hillcrest
Die Kinder am Straßenrand jubeln in dem Moment, in dem Itumeleng Phineas
an ihnen vorbei kommt, noch mehr als die ganze Zeit schon. Der Läufer aus
Rustenburg hat nämlich eine ziemlich ungewöhnliche Kopfbedeckung.
Den hohen, spitzen Hut mit Schleier würden jedenfalls hierzulande wohl
eher kleine Mädchen tragen, die zum Karneval als Prinzessin gehen möchten.
"Princess Itumeleng" ist zwar sicher ein Unikat, aber keineswegs der einzige mit einem Kleidungsstück, das man nicht unbedingt auf einer Wettkampfstrecke erwarten würde. Wer genau aufpasst entdeckt unterwegs durchaus gelegentlich bunte Perücken oder die in südafrikanischen Fußballstadien so beliebten, reich verzierten Helme auf schwitzenden Läuferköpfen. Eine Gruppe von den Sunninghill Striders ist sogar in rosa Ballettröckchen unterwegs.
Doch insgesamt beschränken sich die Verkleidungsversuche eher auf Einzelteile. Dafür sorgt schon die relativ strengen Regelungen des südafrikanischen Verbandes und der CMA, die vorschreiben, dass man im Trikot seines jeweiligen Laufclubs anzutreten hat. Selbst jener Sportler, der die gesamte Strecke im Anzug bewältigt, hat das Laufhemd fein säuberlich auf dem Rücken seines Sakkos befestigt, um den Offiziellen absolut keinen Grund für eine Disqualifikation zu bieten.
Die Zugehörigkeit zu einem Verein ist für eine Teilnahme am Comrades absolute Pflicht und nach der Meldung durch die Vorlage der Lizenz zu bestätigen. Nur bei Ausländern nimmt man es nicht ganz so genau, weder was die Mitgliedschaft noch was die Bekleidung angeht. Ein neutrales Trikot ist jedenfalls schon ein ziemlich gutes Indiz dafür, einen "international competitor" vor sich zu haben.
Sonntag 29.05.2011, 9:10 Uhr - am Fuß von Botha's Hill
Etliche Meter die man beim langen, gleichmäßigen Anstieg durch Hillcrest
gerade erst gewonnen hatte, gehen in einem stärkeren Gefälle wieder
verloren. Doch am Hang gegenüber kann man schon die nächste Rampe
erkennen. Und diesmal ist es wieder eine richtige. Denn mit Botha's Hill hinauf
zum gleichnamigen Vorort hat man den dritten der Big Five vor sich. Auf nicht
einmal zwei Kilometer verteilen sich gut hundert zu überwindende Höhenmeter.
Auch weiterhin ist in der fast endlosen Reihe der Zuschauer am Straßenrand selten einmal eine größere Lücke zu erkennen. Und sie bemühen sich redlich, dem Feld noch etwas Motivation für den Anstieg mitzugeben. Denn dieser wird dann doch deutlich weniger belebt ausfallen als der letzte Abschnitt.
Der kurz stehen bleibende Läufer wird deshalb auch lautstark aufgefordert, weiter zu traben. Erst der gezückte Fotoapparat macht klar, was dieser Stop eigentlich für einen Sinn hat. Und prompt machen gleich mehrere aus dem Publikum unter lautem Jubel ebenfalls ihre Kameras schussbereit. Bevor es wieder im Laufschritt weiter geht, fotografiert man sich noch schnell gegenseitig beim Fotografieren.
Sonntag 29.05.2011, 9:11 Uhr - am Fuß von Botha's Hill
Neill Kelder breitet seine Arme aus und lässt die Fingerspitzen im Takt
der Musik wippen. Wie an vielen Verpflegungsständen hat man auch am Fuß
der dritten legendären Steigung zusätzlich zu den Tischen noch einige
Boxen aufgebaut. Ganz unterschiedliche Stilrichtungen bekommt man auf dem langen
Weg zu hören. Von Rap und Hip Hop, die auch am Kap bei der Jugend populär
sind, bis zu Rocksongs.
Oder eben die flotten und trotzdem so harmonischen afrikanischen Rhythmen, die Kelder anscheinend besonders zusagen. Denn statt stur geradeaus zu laufen, macht der Mann aus Nelspruit in der Nähe des Krüger-Nationalparks zudem immer wieder kleine Schlenker nach recht und links. Es hat fast etwas von einem Tänzchen.
Dabei traut man ihm das im ersten Moment gar nicht zu. Schließlich ist er eher bullig gebaut, hat mehr etwas von einem Rugbyspieler als von einem Läufer. Wäre man ihm am Vortag in Durbans Straßen begegnet, hätte man wohl kaum damit gerechnet ihn in blauem Trikot und gelben Sporthosen wenig Stunden später auf der Comrades-Strecke zu sehen.
Aber gerade in der südafrikanischen Laufszene und insbesondere beim Comrades kann man sich in dieser Hinsicht ohnehin ziemlich täuschen. So mancher eher muskulöse Sportler, mit dessen Einlauf man erst kurz vor dem Cut-Off gerechnet hätte, ist am Ende noch unter den ersten Fünfhundert oder Tausend im Ziel. Trotz des strengen Zeitlimits bekommt da selbst so mancher ganz sicher seine Medaille, den man aufgrund der optischen Erscheinung hierzulande erst einmal der Walking-Gruppe zuordnen würde.
Und obwohl sich zumindest bei den Männern an der Spitze tatsächlich fast nur Schwarze tummeln, bedeutet diese Hautfarbe selbst in der Kombination mit klein und schmächtig keineswegs, dass man da gerade einen potentiellen Siegläufer vor sich hat. Auch kurz vor der Marke von zwölf Stunden kommen noch Sportler dieses Typus an. Im Gegensatz zu Kenia und Äthiopien rennt man in Südafrika keineswegs nur zum Broterwerb.
Sonntag 29.05.2011, 9:20 Uhr - Botha's Hill
"Good luck for your green" ruft Richard Wulfsohn dem Läufer zu,
den er an der Steigung gerade überholt hat. Der drahtige Senior - der in
Südafrika übliche Altersklassen-Aufnäher auf dem Trikot der Randburg
Harriers zeigt, dass er die Sechzig bereits überschritten hat - trippelt
langsam, aber locker den dritten Big Five Hügel hinauf, während die
meisten um ihn herum bereits wieder in den Gehschritt gefallen sind.
Die für den Laien etwas kryptisch anmutende Aufmunterung ist in den Ohren eines Comrades-Läufers völlig logisch. Die "green number" stellt schließlich den wichtigsten Ritterschlag dar, den man in dieser Sportart in Südafrika erreichen kann. Auch dieser Auszeichnung liegt wieder ein Wortspiel zugrunde, diesmal mit der Bezeichnung "Evergreen".
Denn wer seinen zehnten Ultra zwischen Durban und Pietermaritzburg erfolgreich abgeschlossen hat, bekommt für alle Zeiten eine feste, ganz persönliche Startnummer. Bei jedem weiteren Start wird diese dann grün unterlegt sein. Einen Stoff-Aufnäher mit der Zahlenkombination bekommt man im Zielbereich direkt in die Hand gedrückt. In der Regel befestigt man diesen dann als Trophäe auf der Rückseite des Laufhemdes.
Nicht nur beim Comrades sondern auch beim Two Oceans Marathon, dem zweitwichtigsten Rennen des Landes gibt es diese Ehrungen, selbst wenn sie dort nicht grün sondern blau sind. Und da noch viele andere Rennen nach zehn Teilnahmen ihre ewigen Nummern vergeben, sieht so manches Trikot eines alten Haudegens vor lauter "Badges" von hinten wirklich fast schon wie ein Flickenteppich aus.
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Am Ortsausgang von Cato Ridge hat sich wegen der Nähe zur Autobahn ein dichtes Zuschauerspalier gebildet | kurz danach sind die Läufer wieder alleine in der offenen Landschaft |
Wer auf dem Weg zu seiner "green number" ist, hat - zur besseren Identifizierbarkeit für die Helfer im Ziel sowie als Erkennungsmerkmal für all die vielen Insider auf und an der Strecke - traditionell einen gelben Hintergrund unter der Startnummer. Und natürlich kennt Richard Wulfsohn den Farbcode des Comrades ebenfalls ziemlich genau.
Er hat ja auch sofort erkannt, dass der Läufer neben ihm mit der seltsamen Aufschrift auf dem Trikot keineswegs das normale blau der übrigen ausländischen Gäste trägt. Vielmehr ist der orange Zahlenhintergrund ein untrügliches Zeichen für einen Back-to-back-Versuch. Und natürlich hat der aufmerksame Routinier aus dem Großraum Johannesburg dafür genauso ein paar freundliche Worte übrig.
Freitag 27.05.2011, 13:05 Uhr - Durban Exhibition Centre
Nicht nur Ausländer dürfen die lange Schlange vor dem Durban Exhibition
Centre einfach überholen. Auch wer bereits eine grüne Startnummer
sein Eigen nennt, wird von den Helfern vor dem Eingang der Messehalle aufgefordert,
einfach hinein zu gehen, ohne sich noch weiter für die Unterlagen anzustellen.
Denn selbstverständlich haben die Stammgäste ebenfalls ihren eigenen
Meldeschalter.
Wirklich geruhsam und gemütlich geht es dort allerdings nicht gerade zu. Denn ihre Zahl geht in die Tausende. Ein knappes Fünftel aller Zieleinläufe wird auch 2011 durch Teilnehmer mit einer green number erfolgen. Und fast vierhundert weitere dieser ewigen Startnummer werden diesmal in Pietermaritzburg vergeben werden. Die Anzahl der Mitglieder im Klub der grünen Nummern nähert sich unaufhaltsam der Fünfstelligkeit. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, ist diese bereits in zwei bis drei Jahren erreicht.
Dienstag 31.05.2011, 12:00 Uhr - Vaal Plaza, N3
Sie habe am Sonntag ihren zehnten Comrades hinter sich gebracht, erzählt
Lynette Viljoen, jetzt habe sie auch ihre green number, nachdem sie eine zufrieden
stellende Antwort auf ihre Frage "Wie war's bei Euch?" erhalten hat.
Eine durchschnittliche 11:20 habe sie diesmal gebraucht. Völlig normal
für sie, die auch bisher zumeist um die elf Stunden benötigte.
Zusammen mit ihrem Mann Francois, der ebenfalls zwei Tage zuvor auf der Strecke war, sitzt sie am Nachbartisch der etwa hundert Kilometer südlich von Johannesburg gelegenen Autobahnraststätte. Selbst wenn sie einmal kein Kleidungsstück mit dem schwarz-gelben Hermes-Logo als Identifizierungsmerkmal tragen sollten, erkennen sich Comrades-Teilnehmer in den Tagen nach dem Rennen alleine schon am doch noch recht steifen und ungelenken Gang. Schnell ist man also im Gespräch.
Fast scheint es ohnehin so zu sein, als ob die Hälfte des Verkehrs auf der N3 nur aus Läufern auf der Heimreise von Durban besteht. Das blaue T-Shirt der diesjährigen Veranstaltung schimmert aus etlichen Autos. Vollbesetzte Busse mit Plakaten "Comrades 2011" in den Fenstern rollen auf der Autobahn nach Norden. Und auch das eine oder andere knallgelbe Streckenschild leuchtet von den Heckablagen.
Sonntag 29.05.2011, 9:30 Uhr - Kearsney College, Botha's Hill
Nach eineinhalb Kilometern Anstieg und knapp hundert überwundenen Höhenmetern
ist es wieder flacher geworden. Die sich am Hang entlang den Hügel hinauf
windende Straße ist oben in eine breite Allee eingeschwenkt, auf deren
grasbewachsenen Seitenstreifen neben den für Südafrika so typischen,
bunten Pavillons - praktisch jeder Club egal welcher Art hat einen oder mehrere
dieser "gazebos" - bereits erste Steaks auf die Roste der Grills geworfen
worden sind.
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Die Hügel des Valley of thousand hills sind dreißig Kilometer vor dem Ziel einer weiten aber dennoch welligen Ebene gewichen |
Gelegenheiten für eine derartige am Kap "Braai" genannte Party gibt es sowieso viele. Noch mehr als hierzulande ist das Grillen eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen im Land. Und auch beim Comrades Marathon ist es für viele Zuschauer eben einfach eine liebgewonnene Tradition, die Kohlefeuer anzuzünden und einige nicht unbedingt kleine Fleischstücke aufzulegen.
Die Läufer selbst sind dagegen nicht immer ganz so glücklich, wenn bei ungünstigem Wind wieder einmal die Rauchschwaden auf die Straße ziehen. Andere unter ihnen würden sich vielleicht inzwischen aber auch gerne einfach nur dazu setzen. Was immer man in diesem Moment auch davon hält, zum Comrades gehört dies einfach dazu. Die unzähligen Braais am Streckenrand sind ein fester Bestandteil der unvergleichlichen Atmosphäre dieses Rennens.
Vor dem Kearsney College fällt eine Gruppe besonders auf. Mit Perücken und künstlichen Koteletten haben sie sich als Basketballer aus den Siebzigern verkleidet. Um Schüler dieses Eliteinternats zu sein, sind sie vielleicht schon ein bisschen alt. Und glaubt man dem "spectators guide", sind dort ohnehin gerade Ferien. Doch im Vorjahr waren an gleicher Stelle ebenfalls etliche Kostümierte im Gedächtnis hängen geblieben. Es ist vermutlich auch längst eine Art Tradition.
Sonntag 29.05.2011, 9:35 Uhr - hinter Botha's Hill
Dem relativ flachen Stück am Kearsney College ist mit einer lang gezogenen
Rechtskurve wieder einmal eine Steigung gefolgt. Und recht abrupt - insbesondere
für eine so lange Distanz - hat sich der Charakter der Strecke verändert.
Bisher lief man über Autobahnen, durch Gewerbegebiete oder parkähnliche
Vorort-Wohnviertel, denen man fast überall auf der Welt begegnen könnte.
Doch nun scheint es wirklich in den afrikanischen Busch hinaus zu gehen. Nicht mehr sorgfältig angepflanzt und gepflegt sondern ziemlich urwüchsig und fast schon wild wirkt das Grün am Straßenrand auf einmal. Aus dem eher an einen - wenn auch recht hügligen - Stadtmarathon erinnernden Rennen wird mit einem Schlag ein Landschaftslauf.
Und noch etwas ist neu. Denn nach einem rund fünfunddreißig Kilometer langen, nur von kürzeren Zwischengefällen unterbrochenen Anstieg hat man nun praktisch die Höhe des Zieles erreicht. Es wäre allerdings ein Trugschluss, dass es nun ebener würde. Für den Rest der Distanz werden sich nur Bergauf- und Bergabpassagen in schöner Regelmäßigkeit abwechseln.
Anstatt immer neue Hügel hinauf zu klettern, verläuft die Old Main Road nun auf dem Kamm dieser Kette weiter. Unter den Läufern erstreckt sich das "Valley of thousand hills". Eine ziemlich treffende Bezeichnung für die aus unzähligen einzelnen Kuppen bestehende Landschaft, über die man jetzt, da kaum noch Häuser und Bäume die die Sicht versperren, den Blick weit schweifen lassen kann.
Sonntag 29.05.2011, 9:37 Uhr - hinter Botha's Hill
Beim Überholen wünscht der erneut mit kurzen, aber flüssigen
Schritten den Hügel hinauf trippelnde Richard Wulfsohn einem Kameraden
viel Erfolg auf dem Weg zum "double green". Denn auch die ewig grüne
Nummer kennt noch einen Steigerungsgrad, die fast schon einem Hochadelstitel
gleich kommt. Ab zwanzig erfolgreichen Rennen ist sie nämlich grün
gestreift. Und wer auf dem Weg dorthin ist, trägt in Abweichung vom bei
den letzten neun Rennen gewohnten grün dann dünne gelbe Streifen.
Wer jedoch glaubt, eine so hohe Zahl von Teilnahmen sei die absolute Ausnahme, irrt gewaltig. Alleine 2011 werden sich dreiundsiebzig Läufer den Double-Green-Status sichern können. Und insgesamt werden sogar knapp dreihundertfünfzig Teilnehmer ins Ziel kommen, die den Comrades zwanzig oder noch mehr Mal bewältigt haben, darunter Louis Massyn und Barry Holland, die jeweils ihre neununddreißigste Medaille in Empfang nehmen dürfen.
Nur einen Lauf weniger hat der vierfache Gewinner Alan Robb in den Beinen. 1976 bis 1978 und 1980 stand er ganz oben auf dem Treppchen. Fast noch beeindruckender ist jedoch, dass er seit 1974 nie gefehlt hat. Und seine Zeit von 8:30 sollte, wenn keine Verletzungen dazwischen kommen, noch viele weitere Rennen innerhalb des Zeitlimits ermöglichen.
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Auch vor Camperdown geht es wieder einmal bergauf | In der "Green Mile" von Camperdown herrscht Partystimmung |
Shaun Meiklejohn, mit 6:39 der Schnellste unter allen Dauergästen, hat nicht nur dreiundzwanzig Teilnahmen sondern aus dem Jahr 1995 ebenfalls schon einen Sieg in seiner Vita stehen. Und auch der mit neun Erfolgen zum absoluten Helden des Comrades gewordene Bruce Fordyce wird sich zum neunundzwanzigsten Mal in die Ergebnisliste eintragen lassen. Es muss schon wirklich etwas Besonderes an einem Lauf sein, wenn selbst die früheren Sieger immer und immer wieder zurück kommen, um irgendwo im Mittelfeld mit zu schwimmen.
Auch Richard Wulfsohn hat übrigens unter seiner Startnummer 7306 grüne Streifen. Sein dreißigster Comrades wäre das nun, erzählt er ganz nebenbei und ohne mit der Wimper zu zucken, als sei es das Normalste der Welt. Allerdings, fügt er fast entschuldigend noch hinzu, wären sie nicht in ununterbrochener Folge hintereinander gelaufen. Irgendwann in den Achtzigern hätte es in einem Jahr da einmal einen Aussetzer gegeben.
Selbst wenn er es mit Sicherheit überhaupt nicht beabsichtigt, lässt Wulfsohn mit seinen Äußerungen, insbesondere aber durch die bescheidene und zurückhaltende Art, in der er diese vorbringt, das vermeintlich tolle back-to-back auf einmal ziemlich kläglich aussehen. Dass man hierzulande inzwischen sogar einen einzigen Zwei-Stunden-Halbmarathon zu einer besonderen sportlichen Leistung hochstilisiert, wirkt in diesem Zusammenhang sogar einfach nur noch lächerlich.
Angesichts der 10:44, mit denen er am Ende ins Ziel kommen wird, kann man fast vermuten, dass seine bereits recht umfangreiche Sammlung an Comrades-Medaillen auch mit der dreißigsten noch immer nicht endgültig abgeschlossen sein dürfte. "Thirty in a row" sollten da noch locker drin sein. Oder vielleicht auch ein paar mehr.
Vielleicht müsste sich die CMA langsam ein paar weitere Grade in ihrer Hierarchie des Laufadels einfallen lassen.
Sonntag 29.05.2011, 10:05 Uhr - vor Drummond
Zum dreiundzwanzigsten Mal kann man in der weiten Rechtskurve, die sich um den
ganzen Hügel zu legen scheint, dessen Flanke man gerade erklommen hat,
Flüssigkeit nachtanken. Wie üblich werden die Sachets mit Wasser und
Elektrolytgetränken, die man längst wieder problemlos öffnen
kann, sowie Becher mit Cola gereicht.
Doch noch etwas anderes verteilen die Helfer am Ende der Verpflegungsstelle. Jeder Läufer, der es möchte, bekommt eine einzelne Blume in die Hand gedrückt. Wer mit den Traditionen und Geschichten rund um den Comrades Marathon nicht vertraut ist, wird sich darüber vermutlich doch ziemlich wundern. Denn noch ist nicht einmal Halbzeit, mehr als fünfundvierzig Kilometer sind noch zu laufen. Also wird man die Blüten wohl kaum heil bis ins Ziel bekommen. Was soll man denn damit?
Dienstag 31.05.2011, 19:00 Uhr - O.R.Tambo International Airport Johannesburg
Der Flugbegleiter von South African Airways wirft einen kurzen Blick auf das
leuchtend gelbe Schild unter dem Arm des gerade die Maschine betretenden Passagiers.
Es überschreitet in Höhe und Breite ein wenig die für Handgepäck
eigentlich zulässigen Maße, aber das ist in diesem Moment egal. Vielmehr
hat er das darauf abgebildete Logo erkannt und mit einem zweiten schnellen Blick
auch das Datum überprüft.
Ob er denn wirklich zwei Tage zuvor beim Comrades dabei war, lautet seine fast logische Frage an den Fluggast. Es bleibt nur noch Zeit für ein "yes" und das darauf folgende "congratulations", dann schiebt sich die Schlange weiter in den Airbus hinein. Eigentlich sollte man es nach zwei absolvierten Rennen und den damit verbundenen Erlebnissen langsam schon gewohnt sein. Und es ist jedes Mal aufs Neue erstaunlich, in welchen ungewöhnlichen Situationen der Comrades Marathon doch immer wieder Aufsehen erregen kann.
Sonntag 29.05.2011, 10:10 Uhr - Wall of Honor
"This is not Arthur's Seat" grummelt Richard Wulfsohn, als einige
Läufer die vor kurzem erhaltenen Blumen zwischen die Steine der Wall of
Honor stecken. Dafür waren sie gar nicht gedacht, da gehören sie einfach
nicht hin. Einem alten Haudegen wie ihm stößt eine solche Ignoranz
gegenüber den Traditionen doch ein wenig auf.
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Nicht steil, aber lang und gleichmäßig ist der Anstieg hinter Camperdown |
Denn auch wenn sie ein wenig wie ein Denkmal für frühere Helden aussieht, kann sich an dieser Wand jeder Comrades-Läufer für ein wenig Geld seine ganz persönliche Plakette mit dem eigenen Namen zulegen. Wie gut dies angenommen wird, zeigt die Tatsache, dass inzwischen sogar einzelne Blöcke gekennzeichnet werden mussten, damit die Tausenden in ihr Verewigten ihren jeweiligen Stein finden können.
Sonntag 29.05.2011, 10:12 Uhr - Arthur's Seat
Richard Wulfsohn deutet zufrieden auf die Blumen, die sich vor einer kleinen
Felsnische stapeln. "There is Arthur's Seat". Die meisten wussten
also wohl doch, wo sie wirklich hingehören. Das "I know", das
er von seinem aktuellen Laufbegleiter aus Europa zu hören bekommt, erfreut
ihn sichtlich. Zumal dann auch noch ein "...and I know about the tradition"
folgt.
"Good morning, Arthur" ist die Grußformel, die man an dieser Stelle zu sprechen hat, wenn man seine Blume ablegt. Sie gilt Arthur Newton, dem ersten Fünffachsieger und einem der größten Heroen des Comrades. Der Legende nach habe er sich einst in dieser Nische immer kurz ausgeruht, um dann jeweils das Rennens mit neuem Schwung wieder aufzunehmen.
Wer den Altmeister so ehrt, soll wie dieser gut über die zweite Hälfte kommen. Routinier Wulfsohn legt die Blume sogar mit einem lauten, aber ziemlich ehrfürchtigen "good morning, Sir" - die andere zulässige Variante des Grußes - zu Boden. Und wird anschließend ab der Halbzeitmarke noch ungefähr eine Stunde auf seine Durchgangszeit verlieren. Vielleicht gibt es am Ende ja doch keinen Zusammenhang.
Aber schaden können die Blume und der Gruß für Arthur auf keinen Fall. Am Ende des Morgens werden jedenfalls Tausende von Blüten vor der Felswand liegen. Es sind eben auch diese kleinen Geschichten und Traditionen, die den Comrades von den meisten anderen Rennen unterscheiden. Historie kann man sich selbst mit einem noch so großen Budget einfach nicht kaufen.
Sonntag 29.05.2011, 8:07 Uhr - Drummond, Halfway Point
In Hillcrest hatte Point Chaza die Führung übernommen und danach unentwegt
weiter aufs Tempo gedrückt. Jetzt ist der Läufer aus Zimbabwe in Drummond
angekommen, der traditionellen Halbzeitmarke beim Comrades. Es sind fast unglaubliche
2:36:19, die auf der Uhr angezeigt werden, als er die Matte überläuft.
Dass diese streng genommen einige hundert Meter zu früh liegt, ist da eigentlich vollkommen egal. Neben der Distanz hat er schließlich nun auch schon rund zwei Drittel der ungefähr zweitausend zu erkletternden Höhenmeter hinter sich. Und der Rekord für einen Up-Run steht bei 5:24:49, die der Russe Leonid Schwezow im Jahr 2008 beim letzten bisher veranstalteten Bergauf-Comrades erzielte.
Allerdings erwartet kaum jemand, dass er damit durchkommt. Denn das auf einem Sattel des Hügelkammes, dem die Old Main Road seit Bothas Hill folgt, gelegene Drummond ist ebenfalls ein sogenannter "Hot Spot". An dieser Zwischenwertung gibt es für den Ersten sogar zwölftausend Rand Spurtprämie. Eine durchaus lukrative Sache für Läufer, die nicht auf die zweihundertfünfzigtausend Rand für den Gesamtsieger hoffen können.
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An der Umlaas Road werden beim vorletzten Cut-Off noch einmal
die Langsamsten ausgesiebt |
Im Vergleich zu vielen zuvor ist der Anstieg zum höchste Punkt an der Umlaas Road nur ein kleiner Buckel |
Auch Wesley Ruto (2:43:59) und Vusi Malobola (2:44:01), die mit großem Abstand als nächste vorbei kommen, gehören wohl in diese Kategorie. Dass beide wenig später aussteigen, bestätigt diese These. Sie sehen wohl keine Chance mehr, in der zweiten Rennhälfte weiter vorne mit zu mischen und damit doch noch etwas Geld zu verdienen.
Elias Mabane, der in 2:44:47 folgt, läuft dagegen durch und gewinnt als Gesamtfünfzehnter mit 6:00:50 die Altersklasse über vierzig. In seiner Begleitung befindet sich allerdings noch Vorjahressieger Muzhingi und Fanie Matshipa, der 2010 Vierter geworden war. Auch Comrades-Neuling Teboho Sello und Butiki Jantjies sind in diesem über acht Minuten hinter dem Führenden liegenden Grüppchen dabei.
Samstag 28.05.2011, 9:30 Uhr - Durban, Victoria Street Market
Der indische Händler im Victoria Market lächelt freundlich, als er
hört, dass seine Kunden am nächsten Tag den Comrades Marathon in Angriff
nehmen wollen. Die Markthallen im Westen der Innenstadt, in denen er seinen
Stand hat, werden in allen Reiseführern als Sehenswürdigkeit gepriesen.
Doch zuviel sollte man sich nicht versprechen, wenn man nicht enttäuscht
werden will.
Vom angeblichen typisch indischen Markt sind nur noch wenige Läden übrig geblieben, in denen offen in großen Schalen liegende Gewürze gehandelt werden. Die restlichen Geschäfte haben inzwischen auch nur noch das im Angebot, was man genauso gut bei den fliegenden Händlern an der Strandpromenade erwerben könnte. Holzschnitzarbeiten, Glasperlenschmuck oder bemalte Straußeneier. Selbst wenn noch ein wenig von der spannenden Mischung aus Orient und Afrika übrig geblieben ist, hat der Victoria Street Market längst auch viel von einer reinen Touristenfalle.
Natürlich kennt sich der Verkäufer ebenfalls ein wenig mit dem Comrades aus. Uns zwar nicht nur weil sein Arbeitsplatz fast direkt unterhalb der Autobahnrampe liegt, über die das riesige Feld am nächsten Morgen Durban verlassen wird. Solange man "in front of the Russian twins" liege, sei man gut im Rennen, lautetet sein fröhlicher Ratschlag.
Ganz ernst gemeint ist diese Bemerkung natürlich nicht. Denn wenig überraschend werden einen Tag darauf nur gut fünfzig Läufer vor den überall in Südafrika ziemlich gut bekannten Nurgalieva-Schwestern im Ziel sein.
Sonntag 29.05.2011, 8:34 Uhr - Drummond, Halfway Point
Während bei den Männern zur Halbzeit noch die Prämienjäger
an der Spitze liegen, ist im Frauenfeld längst das seit etlichen Jahren
gewohnte Bild zu sehen. Vorneweg laufen in schöner Eintracht die beiden
russischen Zwillinge nebeneinander her. Und alle übrigen Läuferinnen
dahinter streiten sich eigentlich nur um die Plätze. Wie üblich haben
sie von Anfang an ein hohes Tempo vorgelegt - eine Zeit von 3:04:13 zeigen die
Uhren diesmal in Drummond an - und inzwischen schon mehr als vier Minuten Abstand
zur nächsten Verfolgerin heraus gelaufen.
Dass es sich dabei um die Südafrikanerin Farwa Mentoor handelt, lässt die Kommentatoren und das Publikum vor Ort jubeln. Denn nicht nur wegen des Preisgeldes ist Drummond ein Hot Spot, auch sonst geht es hier heiß her. Erstmals seit Bothas Hill haben auswärtige Zuschauer an dieser Stelle wieder die Möglichkeit, einigermaßen problemlos an die Strecke heran zu fahren. Entsprechend groß ist der Trubel, der den Läufern entgegen schlägt, wenn es das letzte Gefälle von Arthur's Seat hinunter zur Halbzeitmarke kommt.
Schon seit Jahren ist Mentoor mit schöner Regelmäßigkeit jeweils die schnellste Einheimische und diesmal wird sie sich als erste Frau ihre zehnte Comrades-Goldmedaille erlaufen, die man für eine Platzierung unter den besten Zehn bekommt. Ein ziemlich hoher Bekanntheitsgrad ist die logische Folge.
Weitere zwei Minuten dahinter folgt Lizzy Hawker. Die Britin, die sich insbesondere durch etliche Siege und Platzierungen bei den großen Bergläufen der Alpen auch hierzulande einen Namen gemacht hat, startet wie die bei Halbzeit auf Rang fünf liegende Amerikanerin Kami Semick und Ellie Greenwood aus Schottland für den Rennstall der Nedbank. Auch die Russin Irina Vishnevskaya hat man dort für den Comrades noch eingekauft und in ein grünes Trikot gesteckt.
Sonntag 29.05.2011, 10:15 Uhr - Drummond, Halfway Point
Gerard McCann hat am Start keineswegs alle überholen lassen. Noch klar
in der ersten Hälfte des Feldes kommt er an der Zwischenmarke in Drummond
vorbei. Um das für diesen Punkt festgelegte Limit von sechs Stunden und
zehn Minuten muss er sich, selbst wenn es die mit Abstand schärfste der
insgesamt fünf Cut-Off-Zeiten ist, keine Gedanken machen. Am Ende wird
er deutlich unter elf Stunden ins Ziel laufen.
In leicht zu merkenden 4:44:44 passiert er die kurz hinter dem dazu perfekt passenden Kilometerschild mit der "44" ausgelegte Matte, um wenig später Inchanga, den vierten der fünf großen Berge in Angriff zu nehmen. Ihren Namen hat diese Steigung von der auf der anderen Seite des Hügels gelegenen Siedlung bekommen.
Neben Cowies Hill ist es der einzige dieser Hügel, der sowohl in der Up- wie in der Down-Variante einen etwa gleich großen Schwierigkeitsgrad besitzt. Jeweils ungefähr hundert Meter geht es auf zwei Kilometer verteilt nämlich an seinen Flanken auf und ab. Allerdings gewinnt man keineswegs gleichmäßig an Höhe. An den steilsten Stellen dürften die Steigungsprozente knapp zweistellig sein.
Doch dafür entschädigen herrliche Ausblicke von der immer am Hang entlang verlaufenden Straße über die weite Landschaft zu ihren Füßen. So wie die Kilometer rund um Drummond und das Dorf Inchanga der eigentlich mit Abstand schönste Abschnitt während des ganzen Rennens sind, muss man den Inchanga-Hügel als den Schönsten aus dem in Südafrika längst legendären Fünferpack bezeichnen.
Sonntag 30.05.2010, 10:30 Uhr - Inchanga
"It seems we are running to the same tent", lautet der flapsige Gruß
an Andrew Campbell kurz vor der Kuppe des Big-Five-Hügels. Denn auch seine
Nummer ist orange unterlegt. Also ist er ebenfalls auf dem Weg zu der an einem
speziellen Zelt im Zielraum ausgegebenen Back-to-back-Medaille. Dabei rennt
er in diesem Augenblick gar nicht sondern wandert wie fast alle um ihn herum
eine der unangenehmeren Passagen von Inchanga hinauf.
Das einfarbig gelbe Trikot, das er trägt, ist für südafrikanische Verhältnisse wirklich ziemlich unauffällig gestaltet, selbst wenn es im Ton ein wenig knallig ist. Die meisten anderen Clubs kommen jedenfalls mit wesentlich bunteren Mustern und zum Teil recht gewagten Farbkombinationen daher.
Dennoch fallen die Sportler des Varsity Kudus AC aus Johannesburg bei Rennen irgendwie auf. Grund dafür ist weniger das Logo der namensgebenden Antilope mit den gedrehten Hörnern auf der Rückseite des Laufhemdes als vielmehr die dazu gehörende, in eine blaue und eine gelbe Hälfte unterteilte Hose.
Natürlich würde ihn die Sondermedaille reizen, gibt Campbell zu. Aber beim letzten Mal habe er sich schon ziemlich schwer getan. Was er dann sagt, klingt irgendwie ziemlich bekannt. Denn auch er habe vor einem Jahr steif und fest behauptet: "Nie wieder". Und jetzt sei er entgegen seiner damaligen Aussage doch wieder dabei.
Er packt diesen Sachverhalt in wenige treffende Worte. "It's a desease." Ja, der Comrades Marathon scheint wirklich so etwas wie eine Krankheit zu sein. Und wer einmal infiziert ist, kommt nur noch schwer davon los.
Sonntag 30.05.2010, 10:45 Uhr - Inchanga
Die Straße hat sich hinter der Kuppe wieder gesenkt und steuert in weiten
Bögen immer am Hang entlang auf den Menschenauflauf zu, der sich rund um
eine kleine Häusergruppe des weit verstreuten Örtchens Inchanga gebildet
hat. Wenig überraschend ist, wie die Fahnen schon aus der Entfernung zeigen,
auch dort natürlich wieder eine Verpflegungsstelle aufgebaut.
Nur etwa einen Kilometer in der Luftlinie entfernt, aber über hundert Meter weiter unten verläuft die N3 durchs Tal. Alles andere als zügig rollt dort der Verkehr nach Pietermaritzburg, während er in der Gegenrichtung ganz normal fließt. Es staut gewaltig, denn eine lange Autokarawane schiebt sich dem Comrades Marathon hinterher, um immer wieder neue Stellen zum Anfeuern der Läufer anzusteuern. Und vermutlich sind unter diesen Bedingungen manche der Betreuer hinter dem Steuer am Ende des Tages kaum weniger geschafft als die von ihnen Betreuten.
Sonntag 30.05.2010, 11:00 Uhr - Inchanga West
Auch hinter dem "großen" Inchanga-Hügel geht es bald wieder
bergauf. In der weit über die Landschaft verstreuten Ortschaft hat der
Big-Five-Anstieg nämlich noch einen kleinen Bruder. Maria Thomsen nutzt
den Anstieg, an dem sie sowieso geht, dreht sich um und schießt ein Foto
der markanten Felswand im Hintergrund.
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Erst hinter der Kuppe von Ashburton
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beginnt die richtig schwere Prüfung |
"Heja Sverige". Anhand der blauen Flagge mit dem gelben Kreuz, die sie an ihrer Hüfte befestigt hat, lässt sie sich nämlich leicht als Schwedin erkennen. Immerhin rund ein Dutzend "Svenskar" haben außer ihr den Weg nach Durban gefunden, womit sie ihre ansonsten doch so reisefreudigen Nachbarn aus Dänemark deutlich ausstechen.
Eigentlich könne sie viel besser bergab als bergauf laufen, erläutert die Frau aus dem hohen Norden in - wie bei Skandinaviern kaum anders zu erwarten - flüssigem, fast akzentfreiem Englisch. Der Up-Run wäre also eher die falsche Richtung für sie.
Deshalb würde sie inzwischen lieber marschieren, wenn es wieder einmal in eine Steigung ginge. Man dürfe eben seine Energie nicht zu sehr verbrauchen. Nun ja, entschuldigen muss man sich für die Gehpausen zu diesem Zeitpunkt wahrlich nicht mehr. Und ein Blick ins Feld zeigt, dass die meisten um sie herum, es ihr auch längst gleich tun.
Zu ersten Mal sei sie beim Comrades Marathon dabei. Doch die bei diesem Satz leuchtenden Augen belegen, dass sie schon kurz nach der Halbzeitmarke wie so viele andere auch dem Zauber dieses Rennens völlig erlegen ist. Auch sie scheint bereit vom Comrades-Virus infiziert. Bis sie den Down-Run, die für ihre Vorliebe "richtigere" Variante des Laufes, in Angriff nehmen wird, dürfte es also nur eine Frage der Zeit sein.
Sonntag 30.05.2010, 11:10 Uhr - Inchanga, Ethembeni School
Wieder einmal strecken sich dem vorbeikommenden Feld Kinderhände entgegen.
Das kennt man von überall in der Welt. Und auch beim Comrades ist es absolut
üblich, die Läufer auf diese Art zu begrüßen. Wer regelmäßig
darauf eingegangen ist, hat seit dem Start in Durban längst Hunderte davon
abgeklatscht.
Doch irgendwie ist es diesmal trotzdem ein wenig anders als sonst. Denn diese Kinder in ihren adretten Schuluniformen gehen auf die Ethembeni School für Behinderte. Sie sitzen im Rollstuhl, sie stützen sich auf Krücken und bejubeln dennoch stundenlang mit riesiger Begeisterung jene Sportler, die an einer Veranstaltung teilnehmen, die ihnen wohl für alle Zeit verschlossen bleiben wird. Auch wenn man als Wiederholungstäter dieses Erlebnis bereits kennt, ist es dennoch erneut ein ziemlich emotionaler Moment.
Einige der Kinder können nicht einmal sehen, wer ihnen da im Vorbeieilen kurz die Hand berührt. Sie sind blind. Doch zumindest sie können hoffen, tatsächlich irgendwann einmal beim Comrades dabei zu sein. Auf der Marathonmesse hatte bei einer zufälligen Begegnung eine Helferin, die einen Blinden durch die Halle führte, nebenbei erwähnt, dass dieser am nächsten Tag seinen fünften Comrades laufen wolle.
Sonntag 30.05.2010, 11:11 Uhr - Inchanga, Ethembeni School
Auch Axel Rittershaus streckt den rechten Arm aus, um diesem bewegenen Spalier
eine kleine Freude zu machen. Trotz seines Trikots, das eindeutig von einem
südafrikanischen Club stammt, spricht er perfektes Deutsch. Kein Wunder,
erklärt er, schließlich sei er erst vor nicht allzu langer Zeit ans
Kap ausgewandert.
Und zwar tatsächlich direkt ans Kap der Guten Hoffnung, denn nun lebt er in Camps Bay, einem Vorort von Kapstadt. Wenn schon Afrika, dann dort wo es besonders schön ist, erzählt er schmunzelnd. Nun ja, man muss ihm recht geben. Direkt zwischen Tafelberg und Atlantik ist es sicher ganz nett.
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Durch Industriegebiete führt der Kurs nach Pietermaritzburg hinein | doch flach ist es auch dort keineswegs |
Auch seine Zahlenkombination ist orange unterlegt. Er läuft also ebenfalls seinen zweiten Comrades in umgekehrte Richtung nach Pietermaritzburg zurück. Doch fast ständig sieht man im Läuferfeld irgendwo diese Farbe auf der Startnummer. Die neue Idee der CMA scheint also tatsächlich voll eingeschlagen zu haben, der Köder wird mehr als gut angenommen.
Sonntag 29.05.2011, 11:20 Uhr - Pietermaritzburg, C.B. Downes Road
Das gewohnte Duo an der Spitze des Frauenwettbewerbes ist zerfallen. Alleine
läuft Elena Nurgalieva nach PMB, wie Südafrikaner den doch etwas unhandlichen
Namen Pietermaritzburg gerne abkürzen, hinein. Ihre Zwillingsschwester
Olesya geht erst ungefähr eine Minute dahinter auf das letzte halbe Dutzend
Kilometer.
Noch im Vorjahr hatte es fast ein wenig nach Stallregie ausgesehen, als die beiden gemeinsam ins Stadion kamen und Elena am Ende mit wenigen Metern Vorsprung ihren fünften Sieg errang. Olesya hat dagegen erst zwei Comrades-Erfolge zu Buche stehen. Nun scheint die Entscheidung zwischen den beiden schon deutlich früher gefallen zu sein.
Fast möchte man dennoch sagen, es ist langweilig wie zuletzt immer. Oder um einen bekannten Fußballerspruch ein wenig umzuwandeln: "Comrades ist wenn alle loslaufen und am Ende eine der Nurgalievas gewinnt". Doch hinter den beiden Schwestern, die auf den ersten Blick eigentlich gar nicht so aussehen, wie man sich Läuferinnen im Allgemeinen vorstellt, ist einiges passiert.
Die Amerikanerin Kami Semick hat sich erst an Lizzy Hawker und dann auch an Farwa Mentoor vorbei geschoben und liegt nun auf Platz drei. Und während die eine Britin nun sogar auf Rang sieben zurück gefallen ist, hat sich die inzwischen meist in Kanada ansässige Schottin Ellie Greenwood auf Rang vier vorgearbeitet. Hinter Mentoor läuft die eher langsam startende Russin Irina Vishnevskaya, der als einziger in der Spitze zwei praktisch gleiche Hälften gelingen werden, als Sechste vorbei.
Sonntag 30.05.2010, 11:20 Uhr - Inchanga
Es ist im Vergleich zum großen Inchanga-Hügel und selbst seinem "kleinen
Bruder" vor der Ethembeni School eigentlich nur ein winziger Buckel, der
endgültig aus dem gleichnamigen Dorf in die weite Landschaft hinaus führt,
doch inzwischen benutzt man beinahe jeden noch so kleinen Höhenunterschied,
um wieder ein paar Schritte zu wandern.
Selbst im Gehen fängt der Pulsmesser von Axel Rittershaus an Alarm zu schlagen. Er habe ihn eben sehr defensiv eingestellt, erklärt der Neu-Kapstädter. Man dürfe nicht überziehen, immerhin habe man bekanntlich noch weit über dreißig Kilometer vor sich. Lieber rechtzeitig gegen als am Ende völlig platt gelaufen zu sein. Auch er hat den beim Comrades so wichtigen Spruch "walk before you have to" - "gehe bevor du gehen musst" - verinnerlicht.
Sonntag 30.05.2010, 11:40 Uhr - Harrison Flats
Ein weites Plateau hat hinter Inchanga die Landschaft des Valley of thousand
hills abgelöst. Statt sich in vielen Schleifen um die Hügel herum
zu winden verläuft die Straße schnurgerade durch sie hindurch. Und
für einige Kilometer wird das Asphaltband unter den Füßen der
Läufer sogar tatsächlich fast eben. Harrison Flats heißt diese
Passage dann auch ziemlich treffend.
Doch zu einen knallt dafür die inzwischen ziemlich senkrecht am Himmel stehende Sonne auf die schattenlose Piste hinunter. Und zum anderen wird es auch nicht lange so flach bleiben. Ganz ohne Höhenunterschiede ist auch das Plateau nicht, es ist von vielen kleinen Wellen durchsetzt. Die richtig langen Anstiege werden zwar vorerst fehlen, aber dafür wird ein ständiges Auf und Ab in ganz kurzen Abständen folgen. Und schon bald geht es tatsächlich wieder bergan.
Sonntag 29.05.2011, 13:00 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Der Countdown für die Silbermedaille, die dritte Stufe der Skala, ist gerade
herunter gezählt, da biegt Bruce Fordyce um die letzte Ecke. Der inzwischen
fünfundfünfzigjährige neunfache Sieger wollte, nachdem er sich
in den letzten Jahren eher im Mittelfeld aufgehalten und meist achteinhalb bis
zehn Stunden benötigt hatte, diesmal deutlich schneller laufen und damit
wieder ein sportliches Ausrufezeichen setzen.
Doch die Messlatte der silbernen Plakette ist für die Comrades-Legende ein paar Sekunden zu hoch aufgehängt. Er scheitert hauchdünn an der Marke von 7:30 und wird im Ziel mit 7:30:31 gestoppt. "Nur" eine der nach dem ersten Sieger Bill Rowan benannten Bronzemedaillen mit Silberrand bekommt Fordyce dafür umgehängt.
Seine Zeit und insbesondere das knappe Vorbeischrammen an der nächsthöheren Auszeichnungsstufe ist den südafrikanischen Fernsehsendern allerdings trotzdem eine Meldung wert. Ob es irgendwo sonst auf der Welt einen Lauf gibt, bei dem man mit einem Platz 488 nicht nur in den Sport- sondern sogar in den Hauptnachrichten landen kann?
Sonntag 29.05.2011, 11:55 Uhr - vor Cato Ridge
Auch er sei vor zehn Jahren schon einmal recht dicht an Silber vorbei geschrammt,
berichtet Muzi Mavuso im Gefälle, das hinunter zur Eisenbahnunterführung
von Cato Ridge führt. Ganz so knapp wie bei Fordyce waren die 7:38:39 des
inzwischen Siebenundvierzigjährigen vom Ebony Athletic Club zwar dann doch
nicht, wirklich viel gefehlt habe damals aber auch nicht.
Mavuso sieht das bei seinem sechzehnten Comrades Marathon längst ziemlich gelassen und hängt im Rückblick keineswegs der vergebenen Möglichkeit nach. "It must come to you", meint er fast schicksalsergeben. Eine Formulierung, die in ähnlicher Form ja vor Kurzem auch einmal in der deutschen Politik aufgetaucht ist. "Es kommt eben. Oder es kommt nicht".
Eigentlich findet er das Thema seiner ganz persönlichen Comrades Historie auch gar nicht so spannend. Viel mehr interessiert ihn jedoch, was man im Ausland über die vergangene Fußball-WM in seinem Land denkt. Selbst wenn ein Jahr danach nicht mehr das ganze Land in grün und gelb getaucht ist, beschäftigt das sportliche Großereignis den einen oder anderen anscheinend auch weiterhin.
Er ist hocherfreut zu hören, dass es eigentlich nur positive Stimmen gab und sich mit der Ausrichtung der WM bei vielen das Bild von Südafrika deutlich verbessert hätte. Dass fast alle, die vor Ort waren, davon erzählen würden, irgendwann einmal zu einem weiteren Besuch zurück zu kommen, kommt bei ihm ebenfalls gut an.
So gesehen sei der Soccer World Cup durchaus ein großer Erfolg für das Land am Kap gewesen. Alles gut und schön, wirft Mavuso dann aber noch ein, nachdem er sich die Ausführungen seines nun schon zum wiederholten Male in Südafrika startenden Mitläufers aus Europa angehört hat, wäre da nicht das doch eher bescheidene Abschneiden der eigenen Mannschaft gewesen.
Sonntag 29.05.2011, 11:55 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Elena Nurgalieva hat das Zielband nach 6:24:11 erreicht und damit fünfundzwanzig
Sekunden vor ihrer Schwester Olesya. Wenig Neues gibt es also auch beim sechsundachtzigsten
Comrades von den Frauen zu berichten. Überhaupt unterscheidet sich der
Ausgang nur marginal von dem des letzten Jahres. Sieben der schnellsten zehn
Damen erhielten auch schon 2010 eine Goldmedaille.
Die US-Amerikanerin Kami Semick kann sich in 6:26:25 immerhin um eine Position verbessern und Dritte werden. Farwa Mentoor wiederholt mit 6:35:50 ihren fünften Rang beim letzten Down-Run, während Irina Vishnevskaya (6:42:08) und Lizzy Hawker (6:48:29) als Sechste und Siebte die Plätze tauschen. Auch die mit 6:49:02 Achtplatzierte Adinda Kruger war im Vorjahr als Neunte schon vorne dabei.
Nur Ellie Greenwood als Vierte nach 6:32:47 ist ein vollkommen neuer Name. Doch ist die Schottin mit Wohnsitz Alberta ja auch zum ersten Mal beim Comrades dabei. Nicht nur aufgrund ihres Erfolges kann man jedoch fast vermuten, dass es nicht dabei bleiben wird.
Sonntag 29.05.2011, 12:05 Uhr - Cato Ridge Subway
Knapp dreißig Kilometer sind noch zu laufen, als man bei der Ortschaft
Cato Ridge unter der Autobahn hindurch auf die andere Seite der N3 wechselt.
Im Mittelteil der Comrades-Strecke war man ein ganzes Stück von dieser
wichtigsten Verbindungsstrecke zwischen Durban und Johannesburg weg und konnte
sie von der Old Main Road auf dem Hügelkamm nur gelegentlich in der Ferne
unten im Tal erkennen. Für das letzte Drittel wird man nun aber stets in
ihrer Reichweite bleiben und sich selten weiter als einen Kilometer von ihr
entfernen.
Für den dem Läuferfeld folgenden Begleittross heißt dies nun auch eine deutlich bessere Zugänglichkeit. Denn anstatt sich mühsam über Stichstraßen in die Berge hinein zu quälen, muss man nur kurz von der Schnellstraße abfahren, um an die Strecke zu kommen. Die wenigen hundert Bewohner des Ortes, der noch immer zu eThekwini gehört, können jedenfalls kaum für diesen Menschenauflauf gesorgt haben.
Doch nicht nur die gute Erreichbarkeit spricht für diese Stelle als Beobachtungspunkt. Der Name "Cato Ridge Subway" hat in den Ohren von Comrades-Läufern einen besonderen Klang. Denn dort ist stets - ganz egal ob Up- oder Down-Run - einer der Cut-Off-Punkte zu finden, an denen diejenigen, für die das Zeitlimit außer Reichweite ist, aus dem Rennen genommen werden.
Neun Stunden nach dem Start, also um 14:30 Uhr muss man auf der anderen Seite der Unterführung - denn das ist mit "Subway" gemeint - angekommen sein, ansonsten ist der Comrades bereits weit vor Pietermaritzburg zu Ende. Die Ansetzung ist sogar ziemlich großzügig. Wer so lange für nicht einmal sechzig Kilometer benötigt, dürfte kaum in der Lage sein, auf dem Schlussteil ein Tempo von ungefähr sechs Minuten pro Kilometer hinzulegen.
Sonntag 29.05.2011, 12:06 Uhr - Cato Ridge Subway
Maria Thomsen nimmt sich am Verpflegungsstand hinter der Autobahn eine Kartoffel.
Weich gekocht und stark gesalzen werden diese im hinteren Streckenteil an ungefähr
jedem dritten Versorgungsposten zusätzlich zu den Getränken als feste
Nahrung angeboten. Das ist im ersten Moment genauso überraschend wie die
Tatsache, dass Obst dagegen an den "refreshment stations" weitgehend
fehlt.
Doch hat jedes Land eben in dieser Beziehung seine besonderen Sitten und Gebräuche. Die Spanier bevorzugen zum Beispiel anstelle der in Mitteleuropa üblichen Bananen lieber Orangen. Und in Skandinavien darf man sich nicht wundern, bei einem Marathon auch einmal Essiggurken vor die Nase gehalten zu bekommen.
Manche Veranstaltungen besitzen sogar ihre ganz eigenen, individuellen Spezialitäten. Beim Rennsteiglauf erhält man unterwegs ja unter anderem den legendären Haferschleim - mit je nach Verpflegungspunkt unterschiedlichen Geschmacksrichtungen. Wobei man zugeben muss, dass an einigen ausgewählten Stellen auch die Südafrikaner beim Comrades einen vergleichbaren zähflüssigen Brei bereit halten.
In Marias schwedischer Heimat hätte man aber auch noch "Blåbärsoppa" als originelle Variante der Wettkampfernährung zu bieten. Die je nach Witterung und Jahreszeit - denn natürlich wird sie auch bei den Skilangläufern benutzt - warm oder kalt servierte Heidelbeersuppe. So eine würde sie jetzt natürlich auch sofort nehmen, meint die Comrades-Novizin, als bei der lockeren Plauderei während der kurzen Gehpause zum Essen und Trinken dieser Begriff fällt.
Doch wohl kaum einer der vielen tausend eifrigen Helfer zwischen Durban und Pietermaritzburg dürfte je von so einer Suppe gehört haben. Und so beißt Maria eben in ihre Kartoffel. Wirklich traurig sieht sie dabei aber keineswegs aus.
Sonntag 29.05.2011, 12:15 Uhr - Cato Ridge, Ortsausgang
Der Versuch, das leichte Gefälle hinter Cato Ridge mit Schwung anzugehen,
endet nach nur einigen wenigen etwas länger gezogenen Schritten mit einem
heftigen Krampf im hinteren Oberschenkel. Nichts war es mit Zeit gut machen.
Statt Laufen ist erst einmal Humpeln angesagt. Und das ausgerechnet mitten durch
das Zuschauerspalier, das sich neben der Autobahnausfahrt gebildet hat.
Was den los sei, erkundigt sich einer von ihnen. Auf die knappe und wohl auch ein bisschen angefressen klingende Antwort "cramp" bietet er dem Wildfremden sofort seine Hilfe an. Ob er ihn heraus massieren solle, hakt er augenblicklich nach. Und wo genau die Muskeln sich denn zugezogen hätten. Natürlich darf er und ohne zu zögern packt er zu.
Fast scheint es, dass der Unbekannte tatsächlich vom Fach ist. Denn bereits durch die ersten zwar nicht gerade sanften dafür allerdings ziemlich wirkungsvollen Griffe tritt bereits Lockerung ein. Und nicht einmal eine Minute nach dem abrupten Stehenbleiben kann das Gefälle tatsächlich in Angriff genommen werden. Sicherheitshalber nun mit nicht mehr ganz so viel Schwung, aber eben doch im Laufschritt.
Es ist eine Szene, wie sie an diesem Tag hundert- oder vielleicht auch tausendfach vorkommt. Egal ob man sich kennt oder nicht, man hilft sich, wo immer es geht. Im Feld sowieso. Doch auch mit den Zuschauern am Straßenrand bildet das endlose Läuferband, das sich durch KwaZulu-Natal zieht eine große Gemeinschaft. In solchen Momenten sind eben alle Comrades.
Sonntag 29.05.2011, 9:20 Uhr - Camperdown
Auf den Harrison Flats hatten Fanie Matshipa und Stephen Muzhingi den lange
führenden, nun aber doch schwächelnden Point Chaza eingeholt und waren
an ihm vorbei gezogen. Um seine Spurtprämie zu sichern, muss er dennoch
weiter laufen und tut dies auch mit Anstand. In 6:08:46 wird er am Ende immerhin
noch Fünfundzwanzigster werden.
Die dritte Spurtprämie in Camperdown wird nun unter Matshipa und Muzhingi ausgefochten. Denn der dahinter auf Rang drei liegende Claude Moshiywa - in Vorjahr Sechster - ist zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Minuten zurück. Noch eine bzw. zwei Minuten dahinter folgen Charles Tjiane, der Dritte von 2009 und der letztjährige Zweite Ludwick Mamabolo auf den Rängen vier und fünf.
Obwohl beide nach wie vor hauptsächlich auf den Gesamtsieg aus sind, schenken sie sich knapp fünfundzwanzig Kilometer vor dem Ziel nichts. Waren die anderen beiden Zwischensprints eigentlich Solos, gibt es diesmal tatsächlich ein richtiges Duell. Der Südafrikaner Matshipa hängt den Titelverteidiger aus Zimbabwe schließlich um eine Sekunde ab.
Sonntag 29.05.2011, 12:45 Uhr - Camperdown
Über die einzige Überführung unter den fünf Querungen der
N3 zwischen - in der Rückwärtsrechnung - Kilometer dreißig und
vierzehn hat man sich langsam Camperdown genähert. Doch bevor man das Örtchen
wirklich erreicht, muss man erst einmal eine Bodenwelle hinunter und dann auf
der anderen Seite wieder hinauf.
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Der "Elf-Stunden-Bus" nimmt die ganze Breite des
Weges zum Stadion ein |
Eine Gruppe von den Sunninghill Striders ist in rosa Ballettröckchen unterwegs |
Dort wo einige Stunden zuvor Matshipa und Muzhingi um die Spurtprämie kämpften, drängen sich die Menschen an der sogenannten Green Mile. Der Sponsor mit dem Logo in dieser grünen Farbe hat in Camperdown nämlich nicht gekleckert sondern geklotzt. Sogar eine große Bühne hat man errichtet, auf der Rockbands auftreten. Und die nahe Autobahnausfahrt tut ein Übriges. So ist es kein Wunder, dass man an dieser Stelle vielleicht keine Meile aber doch etliche hundert Meter durch in mehreren Reihen hintereinander stehender Zuschauer läuft.
Sonntag 29.05.2011, 12:55 Uhr - hinter Camperdown
Die Zuschauer, die neben der wieder einmal ansteigenden Old Main Road ihre Club-Gazebos
aufgebaut haben, stimmen lautstark "Waltzing Matilda" an. An ihnen
läuft nämlich gerade ein Australier in seinem typischen gelb-grünen
Trikot vorbei. Dass auch die südafrikanischen Sportteams mit diesen Farben
antreten, ist zwar keine Absicht, schadet der Verbundenheit zwischen den beiden
Nationen aber auch nicht gerade.
Wie "Shosholoza" für die Südafrikaner ist "Waltzing Matilda" für die Australier so etwas wie eine heimliche und inoffizielle Nationalhymne. Als man auf dem fünften Kontinent das britische "God save the Queen" durch etwas Eigenes ersetzen wollte, kam das Volkslied, das von einem Landstreicher erzählt, der sich lieber ertränkt als sich einsperren zu lassen, sogar tatsächlich in die engere Auswahl.
Das Rennen macht damals allerdings doch das vom Text her deutlich getragenere "Advance Australia Fair". Aber wenn es für die Australier etwas zu feiern gibt, darf Matilda - bei der es sich nicht um eine Frau sondern um die Schlafdecke der auf der Walz befindlichen Tramps handelt - auf keinen Fall fehlen. Insbesondere in Stadien wird das Lied ziemlich gerne gesungen.
Und da Südafrikaner und Australier zusammen mit den Neuseeländern in einer gemeinsamen Profiliga Rugby spielen, ist es natürlich auch in KwaZulu-Natal ziemlich gut bekannt. Am Vorabend des Rennens hatten die Sharks aus Durban gerade die Waratahs mit einer Niederlage zurück nach Sydney geschickt. Man mag es kaum glauben, aber auch andere Sportarten kommen an diesem Wochenende in der Heimat des Comrades Marathons noch zu ihrem Recht.
Australier sind bei diesem Ultralauf keineswegs eine Rarität. Sie sind in dreistelliger Zahl angereist. Nur die Briten, die das mit Abstand stärkste ausländische Kontingent stellen, und die US-Amerikaner sind noch zahlreicher vertreten. Und weil sie vom Straßenrand oft ganz speziell angefeuert werden, scheinen die "Aussies" auf der Strecke fast schon allgegenwärtig.
Die wirklich große Überraschung findet sich jedoch auf Platz vier der Nationenliste. Dort stehen dicht hinter Australien nämlich die Brasilianer, die ebenfalls über einhundert Meldungen erreicht haben. Auch sie sind beim Comrades meist in ihren Nationalfarben unterwegs. Und wie es der Zufall so will, sind diese genauso grün und gelb. Aus dieser Tatsache nun allerdings irgendwelche Zusammenhänge zu konstruieren, wäre wohl doch sehr weit her geholt.
Sonntag 29.05.2011, 13:15 Uhr - Umlaas Road Interchange
Gerade hat Frank Hamel den Cut-Off-Point an der Autobahnausfahrt Umlaas Road
passiert, bei dem um halb vier dicht gemacht werden wird. Und er macht nicht
den besten Eindruck. Sein Magen habe nicht mitgespielt, er habe die aufgenommene
Flüssigkeit einfach nicht mehr bei sich behalten können, wird er später
erzählen, nachdem er sich im Sanitätszelt am Ziel eine Infusion abgeholt
hat.
Er beisst sich dennoch durch, denn auch er ist von der Comrades-Krankheit befallen. Bereits zum fünften Mal ist er zwischen Durban und Pietermaraitzburg unterwegs. In ununterbrochner Folge wohlgemerkt. Er ist damit keineswegs allein. Ulrich Tomaschewski hat die letzten sechs seiner insgesamt sieben Starts direkt hintereinander absolviert.
Genau wie Tomaschewski hat auch Holger Hedelt seit 2006 nicht mehr gefehlt. Inzwischen startet er, obwohl er immer noch im deutschen Mannheim ansässig ist, sogar für den südafrikanischen Irene Road Running Club. Nicht nur beim Comrades sondern auch bei deutschen Rennen trägt er das türkisfarbene Trikot des Vereins aus Pretoria.
Und in der Zeit, in der sich Kurt Brennert seine 2011 endgültig erlaufene grüne Nummer gesichert hat, haben auch gerade einmal elf Veranstaltungen stattgefunden. Nur ein einziges Mal hat der Fünfundsechzigjährige seit seinem ersten Antreten also gefehlt. Genau wie Klaus Neumann, der mit achtzehn Rennen so viele Comrades Marathons in den Beine hat wie kein anderer Deutscher.
Doch irgendwie scheinen die meisten irgendwann zurück zu kommen. Aus der kleinen Schar der ungefähr vierzig aus Deutschland angereisten Starter sind weit über die Hälfte Wiederholungstäter. Auch die beiden Schnellsten unter ihnen sind keine "novices", wie die CMA Ersteilnehmer an ihren Rennen zu nennen pflegt. Michael Eitner holt sich bei seinem dritten Comrades in Folge nach 7:23:00 die erste Silbermedaille. Zehn Sekunden hinter ihm gewinnt Bernd Juckel, der zum zweiten Mal dabei ist, sogar die Altersklasse der über Sechzigjährigen.
Sonntag 29.05.2011, 13:20 Uhr - Umlaas Road
Man kennt es zwar aus dem Vorjahr und doch ist es ein wenig enttäuschend.
An der Umlaas Road liegt auf 870 Meter über dem Meer der höchste Punkt
der Strecke. Doch würde nicht die große Tafel neben der Straße
stehen, hätte man es kaum bemerkt. Nach all den bewältigten schweren
Anstiegen wirkt dieser kleine Buckel doch ziemlich bescheiden.
Zwar liegt das knapp neunzehn Kilometer entfernte Ziel rund zweihundert Meter tiefer. Doch der Gedanke, dass es nun praktisch nur bergab ginge ist natürlich falsch. Schließlich hat man ja erst vier der fünf großen Anstiege hinter sich. Einer fehlt noch. Grund genug, das zur nächsten Autobahnunterführung führende Gefälle mit einer gewissen Zurückhaltung anzugehen.
Dienstag 31.05.2011, 15:00 Uhr - O.R.Tambo International Airport Johannesburg
Noch ist nichts los am internationalen Check-In-Schalter der South African Airways.
Es sind schließlich noch einige Stunden, bis die meist über Nacht
durchgeführten Langstreckenflüge in andere Kontinente starten. Den
Mitarbeitern belebt so genug Zeit für einen kleinen Plausch mit den Passagieren,
die bei ihnen gerade ihre Koffer und Taschen losgeworden sind.
Thema ist natürlich der Comrades Marathon. Schließlich halten die Fluggäste zwei seiner alles andere als dezenten Streckenschilder in den Händen, die sie wegen ihrer Größe nicht im Gepäck unterbringen konnten. Dass diese damit natürlich eigentlich auch viel zu groß sind, um sie mit ins Flugzeug zu nehmen, stört dabei aber nicht im Geringsten. Viel wichtiger ist, wie es denn während des Rennens war und ob man irgendwann einmal wieder kommen wird. Interessiert hört man den Berichten über Hügel und Zeiten zu.
Sonntag 29.05.2011, 14:00 Uhr - Lions Park
Die nichtstartenden Mitglieder des Laufclubs, der am Abzweig im Richtung Lions
Park seinen Pavillion aufgeschlagen hat, bieten den vorbei kommenden Läufern
Eiswürfel zum Kühlen an. Sie finden im Feld eine Menge dankbare Abnehmer
dafür. Schließlich betragen die Temperaturen wohl deutlich über
zwanzig Grad und kaum ein Wölkchen verdeckt einmal die Sonnen.
Und außerdem füllen diese fachkundigen Anhänger am Straßenrand eindeutig eine Marktlücke. Selbst wenn die Mehrzahl der Teilnehmer mit Kappen - absoluter Favorit ist die grüngestreifte des Sponsors Nedbank, die im Vorjahr mit den Startunterlagen ausgegeben wurde - unterwegs zu sein scheint, sucht man Wasserbottiche, in die man sie hineintauchen könnte, vergeblich. Und Schwämme zur Kühlung gibt es unterwegs ebenfalls nicht.
Aus hygienischen Gründen habe man darauf verzichtet, steht im Programmheft. Es wird dort sogar ausdrücklich davor gewarnt, sich das Wasser, mit dem die Sachets gekühlt werden, überzuschütten oder gar den Kopf hinein zu tauchen. Zum "cool down" solle man bitte wirklich nur die ausgeteilten Beutel nutzen.
Es ist zwar vermutlich ein wenig übertrieben zu glauben, dass man sich ansonsten gleich irgendwelche Infektionen zuziehen könne. Aber ganz so weit her geholt sind solche Empfehlungen in einem Land, in dem noch immer extrem viele Menschen keinen direkten Zugang zu Trinkwasser haben, eben doch nicht.
Jedenfalls werden bei der Fahrt durch Südafrika jedem, der die Augen ein wenig offen hält, immer wieder einmal Leute auffallen, die mit einem große Kanister auf dem Kopf entlang der Straße kilometerweit zum nächsten Brunnen marschieren, um sich dort ihre Tagesration Wasser zu holen.
Es sind Beobachtungen, die - genau wie die oft wirklich erschreckenden Wohnverhältnisse in den auch weiterhin existierenden Wellblechsiedlungen am Rande der Großstädte - immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen und klar machen, wie gut man allem hierzulande üblichen Jammern zum Trotz in Wirklichkeit doch lebt.
Sonntag 29.05.2011, 14:00 Uhr - Lynfield Park
Hinter der Autobahn, die man nun zum letzten Mal unterquert hat, beginnt bei
der mit "Lynfield Park" bezeichneten Häusergruppe ein recht heftiges
Gefälle. Innerhalb von zwei Kilometern gehen fast hundert Meter verloren.
Wohl dem, der in diesem Augenblick nach knapp fünfundsiebzig gelaufenen
Kilometern noch genug Kraft zum Abfangen der Schläge hat.
Doch der Blick nach vorne zeigt, dass die R103 ziemlich bald wieder einen Teil dieses Höhenunterschiedes ausgeglichen haben wird. Unverkennbar zieht sich jenseits der Senke, die man da gerade im Sturzflug ansteuert, nämlich ein schmales Asphaltband den gegenüber liegenden Hügel hinauf.
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Andrew Campbell (in gelb und blau) sagt über den Comrades
Marathon: "It's a desease" |
Der letzte Kilometer führt durch einen Park dem Stadion entgegen |
"This must be Polly Shortts", entfährt es einem Läufer, der den Kurs wohl noch nicht wie so viele andere vollkommen verinnerlicht hat. Der Letzte der fünf berühmten Anstiege also. Die abschließende große Prüfung. Der Scharfrichter, an dem schon so viele Sieger des Up-Runs gemacht wurden.
Nein, klärt ihn ein mit deutlich mehr Streckenkenntnis ausgestatteter Kamerad auf, das sei keineswegs Polly Shortts. Denn der wäre deutlich länger und steiler. Was man da sehen könne, sei lediglich Little Pollys, der Vorhügel zur Einstimmung. "It's only the Baby" drückt es den Sachverhalt recht drastisch aus. Den Ausdruck im Gesicht des Erstgenannten kann man in diesem Moment wahrlich nicht mehr als "glücklich" bezeichnen. Ihm sind die Züge doch ein wenig entgleist.
Sonntag 29.05.2011, 14:20 Uhr - Ashburton
Dichte Zuschauerreihen helfen in der Streusiedlung Ashburton über die letzten
Meter des gar nicht so kleinen "Baby-Hügels", an den sich sofort
wieder das nächste Gefälle anschließt. Ungefähr elf Kilometer
sind nun noch zurück zu legen, der nächste davon wird erst einmal
bergab führen. Doch der bewaldete Höhenrücken, den man nun im
Blick hat, lässt eine ungute Ahnung aufkommen.
"Monster" hat Stephen Muzhingi diesen fünften legendären Anstieg in seinem Online-Tagebuch genannt. Es ist vielleicht etwas übertrieben. Rein von den Zahlenwerten kann er mit Fields Hill keineswegs mithalten. Was die sich androhende Steigung so unangenehm macht, ist vielmehr die Position kurz vor Ende des Rennens.
Selbst der legendäre und ebenfalls knapp zehn Kilometer vor dem Ziel zu findende Heartbreak Hill von Boston, dem bezüglich der Tradition wohl noch am besten mit dem Comrades vergleichbaren Marathonlauf, verblasst dagegen. Schließlich stehen dabei nicht nur anstelle von guten dreißig fast achtzig schon zurückgelegte Kilometer zu Buche, Polly Shortts ist auch ungefähr viermal höher.
Sonntag 29.05.2011, 14:29 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Auf allen Vieren krabbelt Samuel Cornelius dem Ziel entgegen. Nur noch wenige
Sekunden bleiben ihm, um sich eine Bill-Rowan-Medaille zu sichern und die Uhr
tickt unerbittlich weiter den neun Stunden entgegen. Kurz vor dem Einlauf war
er entkräftet zusammen gebrochen. Doch unter dem frenetischen Jubel des
Publikums im Stadion macht er irgendwie weiter, um es doch noch zu schaffen.
Aufhelfen darf ihm niemand. Früher war es eine gute Tradition beim Comrades, einem angeschlagenen Kameraden, der es sonst kaum noch bis zum Ziel schaffen würde, nicht nur im sprichwörtlichen Sinne unter die Arme zu greifen. Nachdem es vor einigen Jahren dabei einmal einen Todesfall gegeben hatte, als man einen Sportler, der eigentlich einen Notarzt benötigt hätte, noch über die Linie schleppte, ist das nicht mehr erlaubt. Nur noch verbale Unterstützung ist zulässig, sonst droht eine sofortige Disqualifikation.
Doch Cornelius liefert den Kameras des Fernsehens und den Fotografen der Zeitungen natürlich genau die spektakulären Bilder, die sie brauchen, um weiter an der heroischen Geschichte des Comrades Marathons zu stricken. Mit wirklich letzter Kraft und enormen Willen wirft er sich nach 8:59:59 über die Linie.
Er hat in letzter Sekunde doch noch seine Medaille bekommen. Eines der vielen Dramen hat für den einsamen Helden einen erfolgreichen Ausgang genommen. Spannender hätte es auch ein Drehbuchautor der Traumfabrik Hollywood kaum erfinden können. Doch darüber, ob Sport wirklich immer gesund ist, muss man bei solchen Bildern eventuell doch einmal nachdenken.
Sonntag 29.05.2011, 14:30 Uhr - Polly Shortts
Auf den aufmunternden Zuruf einer Zuschauerin am Fuß von Polly Shortts,
dass sei nun der letzte Hügel, bemerkt einer der Läufer mit ziemlichem
Sarkasmus: "She's lying." Er wäre schließlich nicht das
erste Mal dabei und kenne die Strecke ganz gut. Auch nachdem man diese Kuppe
bewältigt habe, ginge es keineswegs nur bergab. Da kämen schon noch
zwei oder drei Anstiege.
Wirklich rosige Aussichten für die inzwischen doch ziemlich müden Beine sind das nicht. Denn eigentlich sind es doch nur noch etwa zehn Kilometer. Wo soll man denn all die Steigungen noch unterbringen? Schließlich nimmt alleine der fünfte der Big-Five-Berge bereits zwei von ihnen ein. Und schon dabei gilt es doch noch einmal über hundert Höhenmeter zu überwinden.
Sonntag 29.05.2011, 14:35 Uhr - Polly Shortts
Ein Stück unterhalb der Straße rattert unüberhörbar ein
Zug vorbei. "Man hätte doch auch die Bahn nehmen können",
fällt einem der vorgeblichen Läufer, die sich allerdings zu diesem
Zeitpunkt nahezu alle im Gehschritt den Berg hinauf quälen, in diesem Moment
ein. Dann wäre man schon längst in Pietermaritzburg.
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Auch auf dem mit Gittern abgesperrten Schlussstück stehen etliche Zuschauer an der Strecke |
Nur etwa zwei Stunden benötigt der "Shosholoza" genannten Fernzug auf seinem Weg von Durban nach Johannesburg schließlich für dieses Teilstück. Jetzt ist man dagegen bereits neun Stunden unterwegs. Und noch eine weitere wird wohl folgen. Polly Shortts, der nach einem in seiner Nähe lebenden Farmer benannt ist und sogar einen eigenen Eintrag in der englischen Ausgabe von Wikipedia besitzt, wird schon dafür sorgen.
"Wie kann man diese Strecke nur in fünfeinhalb Stunden schaffen?", entfährt es einem der Wandersleute. In seiner Stimme schwingt zugleich Unglaube und Depression.
Sonntag 29.05.2011, 10:35 Uhr - Kuppe von Polly Shortts
Noch bei Little Pollys hatten Fanie Matshipa und Stephen Muzhingi praktisch
zusammen gelegen. Und auch am Fuße des "richtigen" Hügels
schien noch nichts entschieden. Doch nun ist der Titelverteidiger aus Zimbabwe
schon eineinhalb Minuten vorbei, als endlich auch Matshipa die Steigung hinter
sich gebracht hat. Nur wenig mehr als fünf Stunden haben die beiden bis
zu diesem Punkt gebraucht.
Wieder einmal hat der letzte der fünf großen Hügel dem Rennen eine Wendung gebracht. Aber Muzhingi ist nach rund achtzig in einem Tempo von deutlich unter vier Minuten zurück gelegten Kilometern ebenfalls nicht mehr wirklich locker und muss sich ziemlich quälen, um über die Kuppe zu kommen. Doch schnell findet der inzwischen in Durban beheimatete Favorit wieder seinen Rhythmus und läuft seinem dritten Sieg in Folge entgegen.
Wirkliche Sorgen um Platz zwei muss sich Matshipa aber auch nicht machen, denn Claude Moshiywa hat als Dritter volle sieben Minuten Rückstand auf ihn. Mamabolo und Tjiane sind sogar noch weiter zurück gefallen und inzwischen von den dicht zusammen liegenden Gift Kelehe und Chasara Masiyatsva überholt worden.
Und auch der Schwede Jonas Buud, der sich als mehrfacher Davos-Sieger eine Namen gemacht hat, findet sich in diesem Grüppchen, dass sich weit nach vorne gearbeitet hat. Denn Buud war bei Halbzeit in Drummond als Siebzehnter noch am besten aus diesem Trio platziert. Masiyatsva lag zu diesem Zeitpunkt sogar nur auf Rang zweiundvierzig.
Sonntag 29.05.2011, 14:45 Uhr - Kuppe von Polly Shortts
Es ist ein ziemlicher Bruch, als man über die Kuppe von Polly Shortts kommt.
Und zwar keineswegs nur weil die endlos erscheinende Steigung endlich in ein
leichtes Gefälle übergeht. Doch während des von niedrigen Bäumen
und Dornenbüschen gesäumten Anstieges war man sich noch einmal wie
mitten im afrikanischen Busch vorgekommen. Und nun ist man in einem weiträumigen
Industriegebiet gelandet.
Die unverwechselbare Hügel-Landschaft KwaZulu-Natals ist wieder zu einem ziemlich austauschbaren Außenbezirk einer ziemlich beliebigen Stadt geworden, dessen Gebäude in dieser oder ähnlicher Form wenn schon nicht in Europa dann zumindest in Nordamerika, Australien oder Neuseeland stehen könnten. Nur die Atmosphäre ist weiter typisch afrikanisch, vielleicht auch typisch für den Comrades. Denn natürlich wird man oben lautstark und begeistert empfangen.
Der Blick nach vorne zeigt zudem, dass die Zuschauerin am Fuß des Hügels tatsächlich ein wenig geschwindelt hatte. Denn am Ende der weit einsehbaren Gerade steigt die Straße eindeutig schon wieder an. Nichts ist es mit "nur noch bergab". Das hat man zwar auch anderswo gehört, ohne dass es zutraf, aber wohl nirgendwo ist dieser Satz - ganz egal, wo er auch fallen mag - so falsch wie beim Comrades.
Sonntag 29.05.2011, 15:00 Uhr - Pietermaritzburg, Washington Road
"Hello Ladies, beautiful ladies". Während viele um ihn herum
doch eher gequält wirken, hat Olebogeng Mokolare auf dem Weg durch das
Wohnviertel, von dem die Gewerbeansiedlung entlang der Washington Road inzwischen
abgelöst worden ist, offensichtlich seinen Spaß. Auf Sekunden oder
Minuten scheint es ihm nicht unbedingt anzukommen.
Nach der aus europäischer Sicht manchmal etwas ungewöhnlichen Logik des Comrades Marathons gibt es für ihn ja auch eigentlich kaum einen Grund sich zu beeilen. Die Bronzemedaille, die im Ziel für eine Endzeit unter elf Stunden ausgegeben wird, ist nicht im Geringsten in Gefahr. Und die bis neun Stunden verteilten Bill-Rowan-Medaillen sind zu diesem Zeitpunkt im Stadion bereits längst wieder eingepackt.
Und so kostet Mokolare die letzten Kilometer durch Pietermaritzburg voll aus. Er winkt, klatscht ab, schüttelt Hände und läuft dabei immer wieder auch einmal von einer Straßenseite auf die andere. Und manch eine der von ihm so freudig begrüßten Frauen bekommt auch eine Umarmung. Bekannte dürften es eher nicht sein, denn er stammt aus der viele hundert Kilometer entfernten North West Province an der Grenze zu Botswana.
Von Männern möchte der überaus fröhliche Comrades-Läufer bei seinem ganz persönlichen Triumphzug jedoch nicht beklatscht werden. "No men please, only ladies cheer". Nicht jeder der Zuschauer hält sich allerdings daran. Viel zu viel Freude spricht aus seinem Tun. Und die ist einfach einen Applaus wert.
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Etwa eine Stunde vor Zielschluss kommen diese Läufer zum Ziel, doch noch immer ist ungefähr ein Drittel des Feldes auf der Strecke |
Mokolare ist trotzdem keineswegs nur ein Clown. Wer siebenundachtzig Kilometer und zweitausend Höhenmeter in etwas über zehn Stunden zurück legt, hat durchaus eine gewisse Leistung vollbracht. Zu einer reinen Gaudi-Veranstaltung ohne großen sportlichen Wert wird der Comrades Marathon jedenfalls alleine schon durch die rigorosen Schlusszeiten definitiv nicht verkommen.
Sonntag 29.05.2011, 15:30 Uhr - Pietermaritzburg, Alexandra Road
Es könnte tatsächlich der letzte Anstieg gewesen sein, den Duane Newman
gerade hoch marschiert ist. Denn als man von der noch einmal eine tiefe Senke
durchquerenden Jesmond Road in die Alexandra Road einbiegt, scheint diese nun
wirklich ein längeres Stück bergab zu führen. Und nur noch gut
zwei Kilometer sind es nun bis zum Ziel.
Er habe den Fotografen, der ihn da gerade beim Wandern auf den Silikonchip seiner Kamera festgehalten hat, nun schon eine ganze Zeit lang beobachtet. Da wäre doch wohl unterwegs eine ziemliche Menge von Bildern entstanden, bemerkt er. Und das würde doch sicher auch eine Menge Zeit gekostet haben.
Nun ja, wird er mit ein wenig Augenzwinkern aufgeklärt, eigentlich seien es doch eher "tactical stops". Wer immer dann, wenn er wegen schwerer Beine sowieso gerade eine Gehpause machen müsse, die Kamera zückt, mache eben einen nicht ganz so schlechten Eindruck. Vielmehr sehe das Stehenbleiben voll beabsichtigt aus.
Nach einer kurzen Unterhaltung im Gehen trabt Duane Newman wieder los, auf der Alexandra Road dem Ziel entgegen. Und seinem Gesprächspartner bleibt nun - Taktik hin oder her - auch kaum etwas anderes übrig, als für die letzten beiden Kilometer erneut anzulaufen. Selbst wenn nun keine Berge mehr kommen werden nehmen die Beine noch einmal den bekannten Rhythmus auf. "Shosholoza, Shosholoza, Ku lezontaba, Stimela sphuma eSouth Africa"
Sonntag 29.05.2011, 11:03 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Im Konfettiregen ist Stephen Muzhingi vom Bluff Meats Formula One Team soeben
über die Ziellinie im Kricket-Stadion gelaufen und hat sich damit als erster
Läufer seit Bruce Fordyce den dritten Comrades-Sieg in Folge gesichert.
Trotz eines in manchen Abschnitten fast schon unglaublichen Tempos bleibt der
Rekord bei seinen 5:32:46 außer Reichweite.
Der lange Zeit mithaltende Fanie Matshipa lässt sich auch, nachdem er den Kontakt zum Zimbabwer verloren hatte, nicht hängen und folgt in 5:34:30 keine zwei Minuten später. Dass er nach einigen Jahren bei Mr. Price inzwischen nicht mehr für einen der großen Rennställe sondern für das kleine Team des Autoherstellers Samcor MC startet, hindert ihn nicht daran, seinen Blick nach vorne zu richten und zu verkünden, dass er zurück kommen und dann eben beim nächsten Mal gewinnen wolle.
Für den lange Zeit sicher auf Platz drei liegenden Claude Moshiywa wird es zum Ende hin doch noch einmal eng, denn Jonas Buud holt noch einmal mächtig auf. Dem Schweden fehlen schließlich nach 5:42:45 nur noch knapp vierzig Sekunden um den 5:42:06 laufenden Südafrikaner noch abzufangen. Gift Kelehe wird mit 5:44:00 Fünfter vor dem ebenfalls aus Zimbabwe stammenden und 5:44:34 laufenden Chasara Masiyatsva.
Doch ist er der letzte Ausländer unter den mit Goldmedaillen bedachten ersten Zehn Ludwick Mamabolo (5:50:18), Charles Tjiane (5:50:47), Brian Zondi (5:51:09) und Mncedisi Mkhize (5:51:18) stammen alle aus dem eigenen Land. Und das ist den Medien durchaus eine Meldung wert. Selbst wenn der Sieger nicht dazu gehört, sind sieben von zehn durchaus eine gute Quote.
Der Amerikaner Michael Wardian (5:52:51) sowie Bongmusa Mthembu (5:53:03), Simon Peu (5:55:47) und Johan Oosthuizen (5:55:59) sichern sich zudem die für Zeiten unter sechs Stunden ausgegebene Wally-Hayward-Medaille.
Sonntag 29.05.2011, 15:44 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Kaum größer als ein Zwei-Euro-Stück ist die Medaille, die am
schwarz-gelb gestreiften Band um den Hals baumelt. Verglichen mit den fast schon
riesigen Plaketten, die man anderswo oft bekommt, ist das eigentlich ziemlich
winzig. Seit den Anfangszeiten des Comrades hat sich ihr Aussehen praktisch
nicht verändert.
Auch deshalb ist sie ein gutes Beispiel dafür, dass die Bedeutung einer Sache nicht unbedingt von ihrer Größe abhängt. Und genauso dafür, dass zwischen dem ideellen und dem materiellen Wert durchaus eine ziemliche Diskrepanz bestehen kann. Tradition und Geschichte können manchmal eben wichtiger sein als bloße Effekthascherei.
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Im altehrwürdigen Kricket-Stadion von Pietermaritzburg
befindet sich das Ziel
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die letzten Meter werden dort über den Rasen zurückgelegt |
Die wenig später umgehängte Back-to-back-Medaille ist nur unwesentlich größer. Und doch ist sie in diesem Moment eigentlich noch wichtiger. Sie war schließlich der Hauptgrund für den erneuten Start gleich ein Jahr nach der eigenen Comrades-Premiere. Da ist sie also nun, die Belohnung für einen langen, anstrengenden Tag auf den Straßen zwischen Durban und Pietermaritzburg.
Sonntag 29.05.2011, 16:30 Uhr - Pietermaritzburg, am Oval
Andrew Campbell von den Varsity Kudus muss im warmen Licht der inzwischen ziemlich
tief stehenden Sonne nur noch einen Kilometer laufen. Und er hat dafür
noch eine ganze Stunde Zeit. Sein back-to-back ist also in trockenen Tüchern.
Dazu ist er auch noch zwanzig Minuten schneller als beim Down-Run im Vorjahr.
Doch bei seinem zweiten Comrades Marathon hat er trotzdem ziemliches Lehrgeld
bezahlt.
In Drummond war er noch klar unter fünf Stunden durchgelaufen. Bis er im Ziel ist, wird er jedoch über elf Stunden benötigt haben. Auf der zweiten Hälfte hat er also fast neunzig Minuten liegen lassen. Und für Bronze hat es erneut nicht gereicht. Seine Medaille ist aus Kupfer und nach Vic Clapham, dem Gründer des Rennens benannt. Doch ist gerade deshalb kaum zu vermuten, dass er es nicht in den nächsten Jahren erneut versuchen wird. "It's a desease".
Sonntag 29.05.2011, 16:35 Uhr - Pietermaritzburg, am Oval
Während etliche andere ihre Landesfahnen von Begleitern aufnehmen, um mit
ihnen ins Ziel zu laufen, verschenkt Mark Adams den Union Jack, den er das ganze
Rennen mit sich herum getragen hatte, einen Kilometer vor dem Ziel an einige
Kinder, die ihm zugejubelt haben. Man kann aber auch so erahnen, welche Nationalität
er hat. Schließlich trägt er zusätzlich auch noch das rote Georgskreuz
Englands auf dem Trikot.
Doch weder unter "United Kingdom" noch unter "England" - die aufgrund der für Briten etwas komplizierten Definition des Begriffes "nation" beide auftauchen - lässt er sich in den Ergebnissen entdecken. Dort wird er unter seinem Wohnsitz "Belgium" geführt. Nicht viel anders verhält es sich mit Bo Andersen, der als in Den Haag arbeitender Däne unter "Niederlande" in die erste Betrachtung einläuft.
Und während Axel Rittershaus - obwohl in Kapstadt wohnend - unter "Germany" läuft, lässt sich Holger Hedelt nur über den "Irene Road Runners Club" finden. Ja selbst die eingekauften ausländischen Asse von "Mr. Price" und "Nedbank" kann man nicht auf den ersten Blick als Übersee-Starter identifizieren.
Am kompliziertesten machen aber die Südafrikaner die Sache selbst. Denn viele von ihnen sind längst in Europa, Nordamerika oder Australien ansässig und kommen nur zum Comrades zurück. Umgekehrt zieht das Land aber auch in den letzten Jahren etliche Auswanderer an. Ganz zuverlässig können und werden Nationenstatistiken in einer ohnehin immer internationaleren Welt also eigentlich nie sein.
Sonntag 29.05.2011, 17:27 Uhr - Pietermaritzburg Oval
11:57:25 zeigt die Uhr über ihm, als Francois Viljoen die Ziellinie überschreitet.
Zweieinhalb Minuten vor dem Cut-Off ist er angekommen. Das Gefühl, dass
es knapp wird, kennt er ganz gut. Er ist es sogar beinahe schon gewohnt, unter
dem Licht der längst eingeschalteten Scheinwerfer einzulaufen. Auch bei
den letzten beiden seiner nun neun beendeten Comrades Marathons waren nämlich
weniger als zehn Minuten bis zum Wertungsschluss übrig. Aber so eng war
es dann doch noch nie.
Allerdings ist er beileibe nicht der Letzte. Auf Platz 10940 wird er am Ende geführt werden. Die Ergebnisliste endet dagegen erst bei Position 11080. Im Schnitt fast einen Zieleinlauf pro Sekunde gibt es also in diesen gut zwei Minuten. Und insgesamt kommen sogar weit über achthundert Läufer an, nachdem die Uhr bereits über die 11:50 hinweg gesprungen ist. Mehr als 3600, also fast genau ein Drittel des Feldes, sind es zwischen elf und zwölf Stunden.
Sonntag 29.05.2011, 17:28 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Bill Howes wird langsam ziemlich nervös. Nur noch für zwei Minuten
ist das Ziel offen. Die gut besetzten Zwölf-Stunden-Busse sind auch schon
vorbei gekommen. Und noch immer hat er seine Pauline nicht entdecken können.
Die Vorahnung, dass es mit dem Zeitlimit eng werden könnte, scheint sich
zu bewahrheiten.
Wie alle anderen im Stadion starrt auch er abwechselnd auf die direkt am Zelt für die internationalen Gäste vorbei führende Laufstrecke und den Großbildschirm, auf dem sich das Drama der letzten Einläufe kurz vor dem Zielschluss in Überlebensgröße beobachten lässt. Nur dass das Stück, das für den Briten gerade gespielt wird, im Gegensatz zum großen Rest des Publikums ziemlich viele persönliche Aspekte beinhaltet.
Sonntag 29.05.2011, 17:29 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Mit dem Rücken zu den kurz vor Toresschluss herein Kommenden steht der
Offizielle, der das Rennen gleich beenden wird, auf der Ziellinie und hebt langsam
die Hand mit der Pistole. Das hat ebenfalls Tradition. Denn er soll sich auf
keinen Fall durch den Anblick eines direkt vor ihm stehenden Läufers dazu
verleiten lassen, den Abzug auch nur eine Sekunde zu spät durchzudrücken.
Alleine diese Geste zeigt die ganze Gnadenlosigkeit, die in dem Zwölf-Stunden-Zielschluss inne wohnt. Und doch macht genau dies einen der großen Reize dieser Veranstaltung aus. Wer eine Comrades-Medaille besitzt, hat sie sich mit einer sportlichen Leistung ehrlich verdient.
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Dicht besetzt sind die Zuschauerränge, an denen vorbei man dem Ziel entgegen läuft |
Aus reiner Barmherzigkeit gibt es sie nicht. Man muss dafür wirklich etwas tun, man muss sich anstrengen. Sowohl im Wettkampf selbst wie auch in der Vorbereitung auf ihn. Und obwohl das im Ziel dann umgehängte Metallstück eigentlich ja recht klein ausfällt, besitzt es wegen all der Mühen, die man dafür auf sich nehmen muss, dennoch einen ziemlich hohen ideellen Wert.
Der Comrades Marathon hat es angesichts des derzeitigen Zuspruchs jedenfalls überhaupt nicht nötig, nur um die Teilnehmerzahlen zu erhöhen, das Ziel immer länger offen zu halten. Man ist ja sowieso immer ausgebucht. Genau zwölf Stunden minus eine Sekunde lautet deshalb auch weiterhin die Regel.
Längst ist das Stadion ein einziges Tollhaus. Und mit jeder Sekunde, die der Cut-Off näher rückt, wird es noch lauter. Nirgendwo ist mehr ein freies Plätzchen zu finden. Diese letzten Minuten vor dem Zielschluss sind einfach Kult. Beim Einlauf der Sieger ist vermutlich deutlich weniger los.
Jeder, der sich noch ins Ziel retten kann, wird überschwänglich bejubelt. Doch für alle, die gerade erst den Kricket-Rasen erreichen, wird es verdammt eng. Eigentlich haben sie überhaupt keine Chance mehr, die halbe Runde im Oval ist einfach zu lang. Sie werden die Verlierer, die tragischen Helden dieses Schauspieles sein.
"Five, four, three, two, one .."
Sonntag 29.05.2011, 17:30 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Der feine Herr mit Anzug und Hut auf der Ziellinie hat den Abzugshebel seiner
Pistole durchgezogen. Es ist vorbei. Und augenblicklich ist das Ziel tatsächlich
geschlossen. Zuerst baut sich eine Kette aus Ordnern auf. Dann versperrt eine
in Windeseile errichtete Barriere all jenen, die jetzt noch gerne hinein laufen
würden, den Weg. Der sechsundachtzigste Comrades ist damit aus offiziellem
Blickwinkel gesehen bereits Geschichte, selbst wenn sich andererseits noch mehrere
hundert Läufer auf der Strecke befinden.
Wie stets ist der Grat zwischen hochfliegender Glücksseligkeit und abgrundtiefer Depression dabei unglaublich schmal. Ein paar winzige Schritte, ein kurzes Zögern, ein einziger kleiner Fehler während der vielen seit dem Start vergangenen Stunden können in diesem Moment über Erfolg oder Misserfolg entschieden haben.
Ntshinogang Gaorongwe heißt die erste Gescheiterte. Wenige Meter haben ihr noch gefehlt, als der Schuss ertönte. Es ist der erste DNF-Eintrag in ihrer im Internet lückenlos nachvollziehbaren Comrades-Karriere. In den sechs Jahren davor hatte es stets für sie gereicht. Doch immerhin steht ihr Name im Gegensatz zu allen anderen dahinter am nächsten Morgen groß in den Zeitungen.
Nur zwei, drei Schritte schneller war dagegen Sbusiso Ntuli. Und doch steht er gerade noch auf der anderen Seite der Ordnerkette. Er erhält dafür sogar den Ehrenpreis für den Allerletzten. Mit ihm haben es auch noch Anne-Marie Botha, Nola Joubert, Andre Hugo, Makalo Taumang, Nomonde Nzimande und Murray Johnson in der in diesem Fall nicht nur sprichwörtlichen letzten Sekunde geschafft. Eine einzige Sekunde trennt in diesem Moment emotionale Welten.
Sonntag 29.05.2011, 17:50 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Noch immer ist Pauline Howes nicht aufgetaucht. Bill macht sich unübersehbar
immer größere Sorgen. Inzwischen war er im Info-Zelt, wo man sich
bei rund einem Dutzend mit Computern ausgestatteten Helfern nach vermissten
Freunden, Bekannten und Verwandten erkundigen kann. Dort hat man nicht nur Zugriff
auf die aktuellen Zwischenzeiten. Immer wenn einer der Kleinbusse, die ausgestiegene
Läufer ins Ziel transportieren, in Pietermaritzburg ankommt, werden die
Startnummern der Insassen ebenfalls sofort ins System eingespeichert. Und auch
von den Sanitätsposten werden ständig Daten geliefert. Wirklich verloren
kann so kaum jemand gehen.
"They said she is still running". Bill kann es sich einfach nicht erklären. Anscheinend ist seine Frau am letzten, in seiner Schlusszeit ziemlich großzügig bemessenen Cut-Off-Punkt bei Polly Shortts gerade noch vorbei gekommen und macht nun weiter, obwohl sie nicht mehr die geringste Chance auf eine Medaille hat. Zumindest eine positive Nachricht hat er aber erhalten. "There is no medical report".
Dienstag 31.05.2011, 17:00 Uhr - O.R.Tambo International Airport Johannesburg
Wer im internationalen Bereich des wichtigsten südafrikanischen Flughafens
ein wenig die Augen offen hält, erkennt so manchen Comrades-Läufer
unter den dort auf die Abreise wartenden. Natürlich ist das blaue T-Shirt
wieder der absolute Spitzenreiter in der Beliebtheitsskala. Aber auch andere
Hemden, Jacken oder Kappen mit dem schwarz-gelben Hermes lassen sich entdecken.
Die unter dem Arm getragene, am Vortag abmontierte Streckenmarkierung weckt die Aufmerksamkeit eines anderen Fluggastes. "Nice souvenir" meint er in einem ziemlich australisch klingenden Englisch und fügt dann mit einem fast bis zu den Ohren reichenden breiten Grinsen hinzu: "I got one on the bottom of my bag".
Die beiden Schilder, die noch vor zwei Tagen vielleicht nur wenige Schritte auseinander hingen, werden einige Stunden später weit über zehntausend Kilometer trennen. Den Comrades-Machern könnte es doch eigentlich ganz recht sein, dass ihr Lauf auf diese Art auch optisch weltweit vertreten ist.
Sonntag 29.05.2011, 18:10 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Es ist empfindlich kühl geworden in Pietermaritzburg. Die Höhenlage
und die Entfernung zum wärmenden Indischen Ozean lassen die Nachttemperaturen
deutlich tiefer absinken als in Durban. Wer keine lange Wechselbekleidung zum
Ziel geschickt hat, tut gut daran sich nicht allzu lange im Freien aufzuhalten.
Richard Wulfsohn hatte unterwegs sogar von einem Comrades Marathon berichtet, während dem das Feld bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und einem eisigen Wind in Pietermaritzburg auf die Strecke gegangen war. Selbst wenn das wohl doch eher eine Ausnahme gewesen sein dürfte, ganz auszuschließen ist es im südafrikanischen Winter eben nicht. Und so waren auch die Wenigsten böse darüber, dass der Lauf in den letzten Jahren von Mitte Juni wieder auf Ende Mai verlegt wurde.
Im internationalen Zelt wird langsam zusammen gepackt. Aus den über die ganze Fläche verteilten Plastikstühlen werden nach und nach einige Türme gebaut. Das Büffet ist schon seit einiger Zeit geschlossen. Die meisten sind längst auf dem Heimweg. Bill Howes ist als einer der Letzten aber weiterhin da. Denn diesen Ort hat er als Treffpunkt mit seiner Frau ausgemacht.
Den Vorschlag doch einmal bei der Gepäckausgabe nachzusehen, ob Pauline ihre Tasche schon abgeholt hat, beantwortet er mit einem Achselzucken. Sie hätten doch die gelben Starterbeutel benutzt. Und davon hätten Hunderte, wenn nicht Tausende auf der Wiese gelegen. Die Nummer ihres Aufklebers, die ja nicht mit der Startnummer identisch sei, kenne er nicht. Also bleibt ihm nur weiteres Warten.
Dienstag 31.05.2011, 12:05 Uhr - Vaal Plaza, N3
Lynette und Francois Viljoen haben sich von ihren neuen deutschen Bekannten
am Nachbartisch der Autobahnraststätte über die Marathons in Hamburg
und Berlin berichten lassen, denn ein Start in Europa reizt die beiden schon
einmal. Doch dann kommt ihre fast unvermeidliche Frage an die ausländischen
Gäste: "Und seid ihr nächstes Jahr wieder beim Comrades dabei?"
Es ist eine ganz üble Fangfrage, um deren eindeutige Beantwortung man sich lieber noch ein wenig gedrückt hätte. Denn noch am Sonntagabend stand im Ziel von Pietermaritzburg zu diesem Thema eigentlich eine ziemlich eindeutige Aussage fest. Es sollte nämlich der vorerst letzte Comrades Marathon gewesen sein.
Das während der schier endlosen Kilometer am Schluss des Rennens erwogene "nie wieder" war nach den Erfahrungen aus dem Vorjahr, als diese vorschnelle Festlegungen später dann doch wieder über den Haufen geworfenen wurde, zwar in diesem Moment nicht über die Lippen gekommen. Aber jeder, der es wollte, bekam ein deutliches "so bald nicht mehr wieder" zu hören. Doch jetzt, mit zwei Tagen Abstand zum Verarbeiten der Eindrücke?
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Nach dem Rennen dürfen sich die müden Comrades-Helden mit der Medaille um den Hals erst einmal auf dem Rasen des Stadions ausruhen |
Nun ja, man einigt sich auf "im nächsten Jahr wohl eher nicht". Dafür ist die Anreise dann doch einfach recht weit und außerdem ein bisschen kostspielig. Und es gibt um diese Jahreszeit eben auch noch viele andere interessante Läufe im Rest der Welt. Zudem hat bei der nächsten Austragung am 3.Juni 2012 der Appetitanreger Back-to-back-Medaille ja keine Wirkung mehr. Die gibt es schließlich nur ein einziges Mal für jeden Läufer. Und dieses Exemplar steckt schon in der Seitentasche des Rucksacks.
Allerdings fällt dann eben auch noch der Satz, dass es wohl definitiv nicht das letzte Mal gewesen wäre. "I will come back". Ja, man werde sicher irgendwann zurück kommen. Wahrscheinlich sogar "in the near future". Wie sagte doch Andrew Campbell so schön: "It's a desease". Die Krankheit Comrades Marathon hat wohl schon wieder ein neues Opfer infiziert.
Sonntag 29.05.2011, 18:30 Uhr - Pietermaritzburg Oval
Endlich kann Bill Howes seine Pauline in die Arme nehmen. Sie hat sich tatsächlich
weit nach Zielschluss bis ins Ziel durchgekämpft und damit - wenn auch
ohne eine Medaille als Lohn - zumindest die Strecke bewältigt. Nach langen
- für ihren wartenden Ehemann schier endlosen - 12:40 ist sie am Kricket-Stadion
von Pietermaritzburg angekommen.
Schon in Drummond, wo sie nur wenige Sekunden unter der Sechs-Stunden-Marke durchgekommen war, hatte sie sich angesichts von vierundvierzig noch zu laufenden Kilometern praktisch damit abgefunden, es diesmal nicht im Limit zu schaffen. Die letzte Cut-Off-Time bei Polly Shortts hatte sie sogar schon verpasst, die Aufforderung zum Warten auf die Sammelbusse jedoch ignoriert und ihren Weg trotzig auf eigene Faust neben der Straße fortgesetzt.
So ist Pauline Howes hinterher nicht einmal wirklich niedergeschlagen. Sie hatte schließlich lange genug Zeit, sich auf diesen Ausgang ihres Laufes einzustellen. Ganz im Gegenteil ist sie eher stolz, die Strecke am Ende doch noch bewältigt zu haben. Sie habe zwar keine Medaille aber immerhin das T-Shirt. Viel ärgerlicher wäre in ihren Augen ein knappes Scheitern gewesen.
Auch Pauline ist trotz ihres Negativerlebnisses weiter vom Comrades-Virus befallen. Wie sonst soll man jene danach gemachte Aussage erklären, in der sie jedem rät, unbedingt einmal am Comrades Marathon teilzunehmen. Es sei wirklich eine ultimative Erfahrung im Leben eines jeden richtigen Läufers. Was soll man dem noch hinzu fügen?
Comrades Marathon Historie - der ultimative Lauf - von Ralf Klink im LaufReport HIER
Weitere Reisen+Laufen-Beiträge im LaufReport zu Südafrika: | |
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Teil 1: Bloemfontein Marathon HIER Teil 2: Peninsula Marathon Kapstadt HIER Teil 3: Pretoria Marathon HIER |
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Ergebnisse und Infos unter www.comrades.com Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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