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Belfast City Marathon (6.5.13)Kreuz und quer durch eine geteilte Stadt |
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von Ralf Klink
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Belfast - wohl keine andere Stadt im Westen und in der Mitte Europas lässt bei ihrer Nennung ähnlich negative Bilder im Kopf entstehen. An fliegende Steine, an brennende Autos und Häuser, an explodierende Bomben, Schießereien und Straßenschlachten denkt man dabei augenblicklich. Zumindest bei den Älteren haben sich die jahrzentlangen gewalttätigen Auseinandersetzungen, die vor allem in den Siebzigern und Achtzigern immer wieder die Nachrichten bestimmten, tief ins Gedächtnis eingegraben.
Mehrere tausend Opfer hat der Nordirlandkonflikt, der auf den britischen Inseln wohl doch ein wenig zu verharmlosend als "the troubles" - ins Deutsche ungefähr mit "Ärger", "Störungen", "Schwierigkeiten" oder vielleicht noch am besten "Wirren" zu übersetzen - bekannt ist, gekostet. Der hierzulande oft verwendete Begriff "Bürgerkrieg" trifft den Charakter der Auseinandersetzung allerdings auch nicht richtig. Denn weniger offene Kämpfe als immer neue Terrorakte und Anschläge auf die jeweilige Gegenseite prägten seinen Verlauf.
Und genauso falsch ist die - aufgrund der zumeist vereinfachten Bezeichnung der Beteiligten als "Katholiken" und "Protestanten" - weit verbreitete Auffassung, es handele sich um einen Religionsstreit. Es geht nämlich keineswegs um den "richtigen" Glauben, den man dem anderen aufzwingen will und zum Beispiel bei vielen Kriegen im Mittelalter oder der frühen Neuzeit eine Rolle spielte. Vielmehr geht es weitaus stärker um poltische, wirtschaftliche, historische und auch emotionale Aspekte.
Die Konfession ist einfach nur eine ziemlich scharfe Grenzlinie, anhand derer man die nordirische Bevölkerung eindeutig in jene zwei fast gleichgroßen Hälften aufteilen kann, deren vielschichtige Differenzen am Ende mit Waffengewalt ausgefochten wurden. Dass zum einen daran natürlich längst nicht alle Nordiren beteiligt waren und die Blöcke zum anderen selbst wieder in viele verschiedenen Splittergruppen mit jeweils eigenen Interessen und Ideologien zerfielen, die sich manchmal sogar gegenseitig bekriegten, fällt dabei unter den Tisch.
Belfast bemüht sich redlich das negative Image loszuwerden. Doch so wirklich will das nicht gelingen. Selbst für Briten ist die nordirische Metropole weiterhin keine beliebige Stadt, wie man in England, Wales oder Schottland auch viele andere hat. Und im Ausland ist das Bild fast noch schlechter. Hierzulande erntet man jedenfalls oft ziemlich ungläubige Blicke, wenn man davon berichtet, Belfast besuchen zu wollen. "Was? Da willst du hin?" Belfast ist als Ziel einer Städtereise für viele exotischer als Rio, Mexico, Kapstadt, Sydney, Singapur oder Bangkok.
Als Läufer kann man dabei immerhin das Argument hervor holen, am dortigen Marathon teilnehmen zu wollen. Immerhin gehört er sowohl zu den größten als auch zu den traditionsreichsten Veranstaltungen, die sich über diese Distanz im Vereinigten Königreich finden lassen. Noch vor fünf Jahren war der Belfast Marathon hinter London und Edinburgh sogar die Nummer drei im Land.
Doch ein wenig trügerisch ist dieser Rang schon. Denn hinter ihm verbirgt sich keineswegs ein echtes Großereignis. Um ihn zu erreichen, genügten nämlich nur etwas mehr als fünfzehnhundert Läufer im Ziel. Und hinter dem nun schon praktisch seit jahrzehnten dominierenden Hauptstadtlauf von London mit seinen fünfunddreißigtausend Läufern blieben die Schotten bei deutlich unter siebentausend ebenfalls schon deutlich zurück.
Obwohl in jenen Jahren der größte Boom hierzulande schon wieder vorbei war, wurden immerhin noch zwanzig Marathons über tausend Teilnehmer gezählt. Für das Königreich zeigt die Statistik dagegen im gleichen Zeitraum gerade einmal ein halbes Dutzend auf. Und in der Summe konnte man in England, Schottland, Wales und Nordirland insgesamt in den Ergebnislisten weit weniger als die Hälfte der Läuferzahl notieren, die in Deutschland eine Marathonziellinie überquerte.
Erst mit deutlicher Verzögerung gegenüber dem deutschsprachigen Raum kam dann auch die britische Szene ins Rollen. Gleich mehrere neue Rennen mit großem Zuspruch betraten in den letzten Jahren die Bühne. Im Seebad Brighton stieg man 2010 gleich mit mehr als achttausend Startern ein und hat - als Alternative zum bisher stets eine Woche später stattfindenden und völlig überbuchten London Marathon - nun sogar schon die Fünfstelligkeit erreicht. Auch in Edinburgh kratzt man inzwischen an dieser Marke.
Manchester stieg 2012 nach längerer Pause wieder ein und bringt nun - ebenfalls im April - immerhin fünftausend Läufer auf die Beine. Und auch im hierzulande ziemlich unbekannten Milton Keynes konnte man bei der letztjährigen Premiere mit einem weiteren Marathon im ziemlich vollen Frühjahr fast dreitausend Teilnehmer locken. Es übrigens der einzige, bei dem sich der in Deutschland fast immer zu beobachtende Effekt beobachten lässt, dass die zweite Auflage dann deutlich kleiner ausfällt. Für Brighton und Manchester zeigt die Kurve dagegen weiter nach oben.
Auch in Liverpool hatte man in den letzten beiden Jahren - wohlgemerkt im Oktober - kurzzeitig einen Marathon mit mehreren tausend Teilnehmern. Doch nach nur zwei Austragungen ist er für dieses Jahr wegen Problemen mit der Streckengenehmigung schon wieder abgesagt. Für 2014 ist angeblich jedoch eine Neuauflage - dann ebenfalls im bereits jetzt eigentlich längst überfüllten Frühling - geplant.
Obwohl Belfast seine Teilnehmerzahlen innerhalb eines halben Jahrzehntes fast verdoppelte und zuletzt fast dreitausend Zieleinläufe vermelden konnte, fiel der Lauf damit in der britischen Größenrangliste etwas zurück. Allerdings kann auch kaum eine Handvoll Veranstaltungen auf der Insel auf eine ähnlich lange Geschichte zurück blicken. Denn schon mit der offiziellen Zählung ist man bei der zweiunddreißigsten Auflage in ununterbrochener Folge angekommen.
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Im Universitätsviertel rund um die Queen's University (links) und das Methodist College (rechts) präsentiert sich Belfast dagegen ziemlich britisch |
Doch nähme man die in den Jahrzehnten zuvor ebenfalls stets in der Hauptstadt ausgetragenen nordirischen Meisterschaften hinzu, kämen sogar weit über sechzig bisher in Belfast schon gelaufene Rennen zusammen. Auch weiterhin werden die Titel im Rahmen des City Marathons vergeben. Doch kamen Sieger und Platzierte wie bei den meisten größeren internationalen Veranstaltungen zuletzt nahezu ausschließlich - bei den Frauen mischten gelegentlich auch noch Osteuropäerinnen im Vorderfeld mit - aus Ostafrika.
Wie nur bei wenigen anderen Läufen kann man sich in Belfast auch auf den Termin verlassen. Ähnlich wie beim traditionell am dritten Montag im April, dem "Patriot's Day" stattfindenden Boston Marathon, hat man in Nordirland nämlich einen festen Feiertag als Austragungsdatum gewählt. Und auch dabei handelt es sich um einen Montag, nämlich den jeweils ersten im Monat Mai, so dass der Lauf im Kalender gerade einmal sieben Tage nach vorne und hinten wandern kann.
Im angelsächsischen Kulturraum positioniert man viele seiner "holidays" - ein Wort, das wie den meisten aus der Schule bekannt sein dürfte, im britischen Sprachgebrauch auch "Urlaub" bedeuten kann, während man in Nordamerika in diesem Fall den Begriff "vacation" benutzt - von vorne herein auf diesen Wochentag. Zudem gibt es bei anderen, an einem festen Datum liegenden Gedenktagen meist die arbeitnehmerfreundliche Regelung, dass, wenn diese auf ein Wochenende fallen, der folgende Montag frei ist.
Der "Early May Bank Holiday" geht wohl auf die auch vielerorts sonst in Europa anzutreffenden Traditionen und Feiern zum Maibeginn - man denke nur an die nicht nur in Bayern verbreiteten Maibäume oder den "Tanz in den Mai" - zurück, die deutlich älter als der in über achtzig Ländern ebenfalls am ersten Mai begangene "Tag der Arbeit" sind. Auch auf den britischen Inseln gibt es etliche Bräuche, die nun hauptsächlich am ersten Aprilmontag stattfinden.
Dieser ist längst nicht der einzige Feiertag im Königreich, der diesem Ansatz folgt. Es gibt am letzten Montag im Mai auch noch den "Spring Bank Holiday", der aus dem Pfingstmontag entstanden ist, und den "Summer Bank Holiday", der den Einwohnern von Schottland am ersten, den Engländern, Walisern und Nordiren dagegen am letzten Montag im August einen arbeitsfreien Tag beschert.
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Rund um das gläserne Palm House zeigen die Botanic Gardens die volle Farbenbracht der Pflanzenwelt |
Jedenfalls ist für Nichtbriten oder Nichtiren - auch in der Republik Irland ist der erste Maimontag nämlich ein Feiertag - also in der Regel mindestens ein Urlaubstag nötig, um beim Belfast Marathon dabei zu sein. Aber auch die Anreise gestaltet sich keineswegs einfach. Zwar besitzt die Stadt gleich zwei Flughäfen. Doch abgesehen von den - auch nur im Winter angeflogenen - österreichischen Städten Innsbruck und Salzburg gibt es keinerlei Direktverbindungen in den deutschsprachigen Raum.
Also muss man entweder auf einem der von Belfast aus angesteuerten Flughäfen umsteigen, zum Beispiel in London, Manchester oder Birmingham. Als Alternative kann man aber auch ins etwa hundertfünfzig Kilometer entfernte Dublin fliegen, von wo es dann sowohl Bus- als auch Zugverbindungen gibt. Aufgrund der offenen inneririschen Grenze muss man dabei abgesehen von der Einreise in das "Common Travel Area" direkt nach der Landung auch keine weiteren Passkontrollen passieren.
Einmal dort angekommen präsentiert sich der Kern von Belfast auf den ersten Blick wie eine ganz normale britische Industriestadt, die wie viele andere im Land inzwischen ein bisschen in die Jahre gekommen ist und ihre beste Zeit schon einen Moment hinter sich hat. Mit selbst bei großzügiger Betrachtung kaum zwei auf zwei Kilometern fällt dieses Zentrum für eine Metropole mit knapp dreihunderttausend Einwohner im administrativen und einer halbe Million im - durch zusammenhängende Bebauung definierten - geographischen Stadtgebiet zudem eher klein aus.
Auch der Belfast City Marathon kommt wie viele andere Laufveranstaltungen in dieser Größenordnung daher. Neben der namensgebenden Distanz, die von den Briten weiterhin mit sechsundzwanzig Meilen angegeben wird, hat man nämlich noch einige Nebenwettbewerbe im Programm. So gibt es eine Marathonstaffel mit je nach Wahl zwei bis fünf Läufern, bei der knapp zweitausend Teams ins Ziel kommen werden. Zudem bietet man ohne Zeitnahme einen "Fun Run" über drei Meilen - also etwa fünf Kilometer - und eine Walking-Strecke von neun Meilen an.
Doch schon die Startnummernausgabe ist ziemlich ungewöhnlich, befindet sie sich doch nicht etwa wie sonst zumeist in einer nüchternen Sport- oder Messehalle. Seine Unterlagen erhält man mit dem dazugehörenden Funktions-T-Shirt vielmehr im mit Säulen, Deckengemälden und Fensterbildern prunkvoll verzierten großen Saal des Rathauses. Fast noch beeindruckender ist der Weg dorthin, der über die marmorne Haupttreppe und unter der hohen Kuppel der City Hall hindurch führt.
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Neueste Attraktion der Stadt ist zudem das "Titanic Belfast" - ein Museum, das sich mit der dramatischen Geschichte dieses in Belfast gebauten Schiffes beschäftigt |
Dass neben dem nordirischen Leichtathletik-Verband auch die Stadtverwaltung zu den Organisatoren des Rennens zählt, erleichtert dabei natürlich so manches. Denn obwohl das Rathaus natürlich durchaus öffentlich zugänglich ist, kann man die "Great Hall" ansonsten eigentlich nur während der - allerdings mehrmals am Tag stattfindenden - kostenlosen Führungen durchs Rathaus betreten.
Über fünfzig Meter ragt "the dome" als höchster Punkt der immerhin etwa die Größe eines Fußballfeldes einnehmenden City Hall auf. Inzwischen wird er zwar aus einigen Blickrichtungen von Hochhäusern verdeckt, nimmt aber in der Skyline der Stadt noch immer einen ziemlich prominenten Platz ein und ist vermutlich sogar das bekannteste Gebäude von Belfast. Das am meisten auf Ansichtskarten abgebildete Bauwerk ist es zumindest eindeutig.
Gut hundert Jahre hat das 1906 fertig gestellte Rathaus nun auf dem Buckel. Es wurde in einer Zeit errichtet, in der die Stadt wirtschaftlich prosperierte. Um die vorletzte Jahrhundertwende war Belfast deswegen sogar kurzzeitig an Dublin vorbei gezogen und bei der Einweihung der City Hall die größte Stadt Irlands. Entsprechend des damaligen Zeitgeistes fällt sie sowohl bezüglich ihrer Ausmaße als auch im Hinblick auf die Ausstattung also ziemlich pompös aus.
In einem Zelt, das man auf dem Rasen vor dem fast schon schlossähnlichen Bau aufgestellt hat, findet sich zudem eine kleine Marathonmesse. Doch entspricht diese in Größe und Angebot her keineswegs den angeblich siebzehntausend insgesamt gemeldeten Teilnehmern. Eigentlich präsentieren sich dort hauptsächlich die Sponsoren der Veranstaltung sowie eine Reihe von Wohltätigkeitsorganisationen.
Das Verteilen der Startunterlagen beginnt zwar schon am Freitagmorgen. Doch sowohl an diesem als auch am folgenden Tag ist bereits um vier Uhr Schluss. Und sonntags kann man seine Nummern nur noch zwischen zwölf und fünf abholen. Wer später kommt, steht vor verschlossenen Türen und hat keine Chance mehr auf eine Teilnahme, denn am Renntag bleibt die Ausgabe komplett geschlossen. Eine Anreise erst am Morgen vor dem Start ist also nicht möglich.
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"Victoria Square" ist ein erst vor Kurzem eröffnetes, einen kompletten Häuserblock einnehmendes Einkaufs- und Vergnügungszentrum, in das man auch vorhandene alte Gebäude integriert hat |
Das mag durchaus etwas ungewöhnlich sein. Aber einzigartig ist es ganz sicher nicht, findet man doch gerade international auch andere Veranstaltungen mit ähnlich strengen Regelungen. Dass in Belfast aber doch kein "ganz normaler" Marathon in einer "ganz normalen" europäischen Stadt stattfindet, kann jeder erkennen, der am Samstagnachmittag seine Startnummer inklusive Einmalchip in Empfang nimmt. Denn vor dem Haupttor findet eine Protestaktion statt, bei der eine Gruppe von Demonstranten trotzig ihre britischen Union Jacks präsentiert.
Was zum Beispiel in Dänemark, Schweden oder Norwegen nicht wirklich auffiele, weil man in solchen Fällen maximal einen Feiertagsanlass vermuten würde, ist in Belfast durchaus brisant. Alleine die rund um die City Hall postierten Polizeifahrzeuge und die auf den Straßen patrollierenden Beamten belegen dies deutlich - insbesondere, da es sich keineswegs umnormale Autos sondern um gepanzerte Fahrzeuge handelt und die Polizisten schusssichere Westen tragen.
Denn im Gegensatz zum positiven Patriotismus der Skandinavier, die mit dem Zeigen ihrer Fahnen nur die Verbundenheit mit ihrer Heimat ausdrücken und sich keineswegs über jemand anderen erheben wollen, sind Flaggen in Nordirland ein massives politisches Symbol, mit denen man ausdrückt, auf welcher Seite man im nun zwar weitgehend befriedeten, aber noch immer schwelenden Konflikt steht.
Wie schnell ein einziger Funke das Pulverfass wieder zur Explosion bringen kann, ließ sich im vergangenen Winter erleben, als der Beschluss des Belfaster Stadtparlaments, den Union Jack nicht mehr ständig sondern nur noch an fest definierten Feiertagen - einer Regelung, die in praktisch allen anderen Gemeinden des Königreiches ebenfalls gilt - über dem Rathaus flattern zu lassen, zu tagelangen Straßenschlachten führte.
Für die protestantischen Unionisten bedeutete eine Entscheidung, die in praktisch jedem anderen westeuropäischen Land als Lappalie mit kaum mehr als einem Schulterzucken quittiert worden wäre, nämlich bereits den Anfang vom Ende der britischen Ansprüche auf Nordirland. Jene befürchtete Kapitulation, die sie in ihrer Parole "No surrender" so vehement ablehnen. Und entsprechend massiv fielen ihre Proteste aus. Die radikalsten und militantesten unter ihnen reagierten dann auch mit unzähligen Steinen und Brandsätzen.
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Rund um die riesige City Hall befindet sich in Belfast das Marathonzentrum |
Die katholisch-nationalistischen Iren hatten umgekehrt die Flagge als ständige Provokation und Symbol für die noch immer andauernde Besetzung ihres Landes durch eine fremde Macht empfunden, die sie am liebsten vollständig beseitigt hätten. Denn genau wie die Protestanten empfinden auch sie Nordirland als ihre Heimat. Die Vorstellungen darüber, wo dieses Fleckchen Erde denn nun politisch hingehöre, sind allerdings vollkommen verschieden.
Im genau wie Stadt und Land tief gespaltenen Stadtrat konnten die irisch-nationalen Parteien sich mit der einzigen in dieser Hinsicht einigermaßen neutralen Gruppierung, der meist das Zünglein an der Waage spielenden Alliance Party auf den nun gültigen Kompromiss einigen. Dass deren Parlamentarier daraufhin sogar massive Morddrohungen von Unionisten erhielten und man zur ihrer Zerschlagung aufrief, ist ein weiteres Indiz für die Schärfe der Auseinandersetzung.
Doch zeigen die Vorfälle auch anschaulich die eigentliche tiefere Ursache der Streitigkeiten. Diese reicht nämlich bis ins Mittelalter zurück, in dem Irland von den auch über England herrschenden Normannen erobert wurde. Abgesehen von den adligen Grundbesitzern kamen aber erst einmal relativ wenige neue Siedler ins Land. Die breite Masse der Bevölkerung bestand nach wie vor aus gälisch sprechenden Iren.
Nachdem es im sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert mehrere Aufstände gegeben hatte, wurden allerdings - mehr oder weniger freiwillig - Engländer und Schotten in Irland angesiedelt, insbesondere in der bis dahin besonders renitenten Nordprovinz Ulster. Mit einem ganz ähnlichen Ansatz wie die fast gleichzeitig entstandenen ersten Kolonien in Nordamerika wurde dazu vor ziemlich genau vier Jahrhunderten "Plantation of Ulster" gegründet.
Diese legte dann endgültig den Grundstock für die heute bestehenden Probleme. Denn während im restlichen Irland auch weiterhin meist nur eine eher kleine Oberschicht englischer oder schottischer Abstammung war, gab es im Nordosten der Insel von nun an eine weitaus stärkere Konzentration von eingewanderten Protestanten. Insbesondere aus Schottland kamen rund hundert Jahre lang immer weitere Kolonisten, so dass die in dieser Region ursprünglich ansässigen Iren irgendwann sogar zur Minderheit wurden.
Als dann Ende des neunzehnten Jahrhunderts - die Insel war nun Bestandteil des "Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland" - die Rufe nach irischer Selbstbestimmung und der Wiedereinsetzung eines eigene Parlamentes lauter wurden, entstand im Norden eine Gegenbewegung der Protestanten, die sich der angestrebten "Home Rule" widersetzten, weil sie befürchteten, damit ihre schon mehr als zwei Jahrhunderte währende Vorherschaft einzubüßen.
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Sowohl die Startnummernausgabe in der "Great Hall" des Rathauses (rechts) wie auch der Weg dorthin sind ziemlich imposant |
Zusammen mit den traditionell konservativen Kräften im Londoner Oberhaus konnten aufgrund ihrer Einflussnahme entsprechende Vorschläge gleich mehrfach abgeblockt und eine größere Autonomie Irlands fast drei Jahrzehnte lang verhindert werden. Ein nach langem Hin und Her 1914 schließlich doch noch verabschiedetes Gesetz für mehr irische Selbstverwaltung wurde wegen des fast gleichzeitig ausgebrochenen Ersten Weltkrieges dann nie umgesetzt.
Und so kam es an Ostern 1916 in Dublin zu einem Aufstand radikaler Nationalisten gegen die Briten, der wegen seiner schlechten Vorbereitung und der zahlenmäßigen Unterlegenheit der Rebellen innerhalb weniger Tage niedergeschlagen wurde. Das dabei nicht gerade zimperliche Vorgehen der britischen Armee - bei den Kämpfen kamen durch wahllose Erschießung von Verdächtigen und Einsatz von Artillerie mitten im Stadtgebiet mehr Zivilisten als Rebellen und Soldaten ums Leben - verhärtete die Fronten nur noch weiter.
Bei den ersten Wahlen nach dem Ersten Weltkrieg erlangten deswegen Kandidaten der Unabhängigkeitsbewegung "Sinn Féin" eine große Mehrheit. Statt ins britische Parlament von Westminster einzuziehen, riefen sie ein eigenes irisches Parlament, den "Dáil Éireann" aus. Im anschließenden "Anglo-Irischer Krieg", der mit ähnlichen Mitteln ausgefochten wurde wie später die "troubles", nämlich hauptsächlich mit Bombenanschlägen und Attentaten, konnte sich keine der beiden Seiten wirklich durchsetzen.
Doch den Briten wurde klar, dass sie die Herrschaft über Irland nicht dauerhaft würden behaupten können. Im Jahr 1921 wurde deshalb ein Vertrag geschlossen, mit dem der Insel ein ähnlicher Status wie Kanada, Australien oder Neuseeland als eigenständiger Bestandteil des Empire zugestanden wurde. Sechs der neun Grafschaften von Ulster, in denen es insgesamt eine protestantische Bevölkerungsmehrheit gab, sollten allerdings eine eigene Regierung erhalten und die Möglichkeit bekommen, aus dem Freistaat auszutreten. Genau dies geschah dann auch.
Die damit endgültig zementierte Teilung Irlands sowie die Beibehaltung der Monarchie, spaltete die irische Unabhängigkeitsbewegung in Vertragsbefürworter und Vertragsgegner, die sich in den folgenden beiden Jahren in einem - mit den bekannten terroristischen Methoden ausgetragenen - Guerillakrieg bekämpften. Am Ende setzten sich die Befürworter weitgehend durch. Und sie behielten auch mit ihrem kompromissbereiten Ansatz recht. Denn in mehreren Schritten wurde aus Irland tatsächlich die angestrebte unabhängige Republik.
Ein Stachel im Fleisch der Iren blieb aber der Verlust der sechs Grafschaften im Nordosten, auf die man in der später neu entstandenen Verfassung auch weiterhin Anspruch erhob, was umgekehrt die dortigen Unionisten nur noch in ihrer kompromisslosen Haltung bestärkte. Die Herauslösung Nordirlands aus dem Königreich und die Angliederung an die Republik wurde für diese zum Schreckensszenario, das es unbedingt und im wahrsten Sinne des Wortes "mit allen Mitteln" zu verhindern galt.
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Direkt vor der City Hall werden Marathon und alle Nebenwettbewerbe gestartet |
Im Zuge des "Karfreitagsabkommens" zur Beendigung des Nordirlandkonfliktes von 1998 wurde der entsprechende Passus zwar aus dem irischen Grundgesetz gestrichen. Die Rede ist nun nur noch von der Möglichkeit einer Wiedervereinigung, falls die Mehrheit der Nordiren sich dafür ausspricht. Doch wie emotional aufgeladen und fast schon hasserfüllt die Debatte diesbezüglich noch immer ist, zeigen die extremen Reaktionen auf den Flaggenbeschluss. "No surrender" - so steht es in großen Lettern auf einigen der vor der City Hall gezeigten Union Jacks.
Ansonsten bleibt der Belfast Marathon aber von den Auseinandersetzungen vollkommen unbehelligt. Das war jedoch beileibe nicht immer so. Gleich zweimal musste nach Bombenfunden die Laufstrecke kurzfristig auf eine andere Route umgeschwenkt werden. Im Jahr 1998 lief das gesamte Feld dabei einige Meter zu viel. Nur wenige Tage nach dem erst "Good Friday Agreement" wollte eine der vielen militanten Gruppierungen die Umsetzung des nach langen Verhandlungen zustande gekommenen Vertrages gleich wieder torpedieren.
Sieben Jahre später musste sogar während des laufenden Rennens ein Teil der Läufer umgeleitet werden, weil man an der Nähe des Kurses erneut einen Sprengsatz entdeckt hatte. Der sicherere Weg der davon betroffenen langsameren Teilnehmer war dann aber gleich einen ganzen Kilometer zu lang. Und auch 2003 wurde im Vorfeld des Marathons eine Autobombe entschärft. Schon lange vor den dramatischen Ereignissen von Boston hatten Terroristen also Sportveranstaltungen als Ziel für ihre Anschläge im Auge.
Vielleicht gerade, weil man all dies aus eigener Erfahrung kennt, ist natürlich das Attentat auf den Urvater aller Stadtmarathons in Belfast ein Thema. Dass in Massachusetts und insbesondere in dessen Hauptstadt Boston ein relativ großer Anteil der Bevölkerung zudem irische Vorfahren besitzt - nicht umsonst heißt das dortige Basketball-Profiteam "Celtics" - verstärkt die Verbundenheit vielleicht sogar noch zusätzlich.
Während die meisten anderen Laufveranstaltungen inzwischen wieder zur Tagesordnung übergegangen sind, haben die Organisatoren in der nordirischen Metropole jedenfalls auch drei Wochen nach dem Anschlag noch einen Moment des Schweigens kurz vor dem Start eingeplant. Und eine ganze Reihe von Läufern wird den Opfern außerdem mit Botschaften auf T-Shirts und Lauftrikots gedenken.
Wenig überraschend für eine Stadt auf den britischen Inseln präsentiert sich das Wetter über das lange Wochenende recht wechselhaft. Zwar bleibt es abgesehen gelegentlichem Nieseln zumeist trocken, doch umgekehrt kommt auch die Sonne nur in Ausnahmefällen durch die dicken Wolken. Und die mit ungefähr fünfzehn Grad sowohl gegenüber den Vor- als auch den Folgetagen sogar noch relativ hohen Temperaturen fühlen sich bei böigem Wind um einiges kälter an. Strahlende Frühlingstage stellt man sich eindeutig anders vor.
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Einen wirklich typischen Stil kann man in Belfast nicht entdecken. Neben den niedrigen Hallen des altehrwürdigen St. George's Market (rechts) stehen zum Beispiel hochmoderne Bürohochhäuser |
Auch am Marathonmorgen sind die Straßen nass. Über Nacht hat es wieder etwas geregnet. Und obwohl zumindest die Niederschläge aufgehört haben, sieht es nicht wirklich einladend aus. Da bleibt man lieber noch etwas länger im Hotel. Allzu früh muss man sich jedoch ohnehin nicht auf den Weg zum Start begeben, der sich ebenfalls direkt vor der City Hall befindet. Den die meisten der für eine Stadt dieser Größenordnung nicht gerade übermäßig zahlreichen Unterkünfte befinden sich in einem Radius von weniger als einem Kilometer Entfernung zum Rathaus.
Und ohnehin hat es gewisse Vorteile, wenn man nicht gar zu früh im Startbereich auftaucht. Denn gerade einmal etwa ein Dutzend Toilettenhäuschen sind für die viele tausend Teilnehmer wohl doch ein wenig unterdimensioniert. Und auch der einsame Lieferwagen, der für den Gepäcktransport - ein mit der Startnummer selbst zu beschriftender Anhänger lag den Unterlagen bei - zum etwa drei Kilometer entfernten Ziel verantwortlich ist, will gerade im Vergleich zu anderen ähnlich großen Marathons nicht so ganz zur Dimension der Veranstaltung passen.
Neben Marathonis und Staffeln gehen zeitgleich schließlich auch die Walker bereits um neun Uhr auf die Strecke, um den ersten Teil des Kurses gemeinsam mit diesen zu absolvieren. Obwohl sie eigentlich ihre eigene Aufstellungszone in einer Seitenstraße hinter der City Hall haben, werden etliche von ihnen dennoch weiter vorne zwischen den Läufern im Block stehen und diese in der Anfangsphase behindern.
Es ist also ein durchaus beachtliches Feld, das da auf die Minute pünktlich auf die Reise geschickt wird - übrigens nicht etwa mit einem Schuss sondern wie meist in Großbritannien mit einem Signalhorn. Allerdings ist es verglichen mit den rund fünfzehntausend, die jedes zweite Jahr vor einem fast genauso aussehenden Rathaus in einer ganz anderen Ecke der Welt zu einem noch längeren Rennen antreten, fällt es trotzdem noch bescheiden aus.
Es geht dabei um die City Hall von Durban in Südafrika, von der oft fälschlich behauptet wird, sie sei eine exakte Kopie des nordirischen Originals. Doch hat sich der Architekt eindeutig in Belfast inspirieren lassen und eine Vielzahl von Elementen - unter anderem auch die hohe Kuppel - übernommen. Und natürlich ist mit dem Lauf der jedes Jahr die Richtung verändernde und dabei vor dem jeweiligen Rathaus startende Comrades Marathon zwischen Durban und Pietermaritzburg gemeint.
Schon nach wenigen hundert Metern biegt die Strecke nach rechts ab. Doch bereits auf der kurzen Startgerade lässt sich jener Eindruck von Belfast gewinnen, den man auch bei längerer und genauerer Betrachtung bestätigt bekommt. Einen wirklich typischen Stil kann man in der Stadt - ohne ihr damit unbedingt zu nahe treten zu wollen - nämlich beim besten Willen nicht entdecken. Vielmehr geht es im Zentrum architektonisch ziemlich wild durcheinander.
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In den letzten Jahren hat man versucht, die Ufer des River Lagan mit vielen Neubauten und Kunstobjekten attraktiver zu gestalten und wieder zu beleben |
Direkt neben viktorianischen Prunkbauten, die in der Blütezeit des Empire mit möglichst viel Prunk errichtet wurden, stehen da nüchterne Bürogebäude und Kaufhäuser aus den letzten Jahrzehnten. Historische Backsteinfassaden wechseln sich mit modernen Glasfronten in nächster Nachbarschaft ab. Und gegenüber altehrwürdigen zwei- oder dreistöckigen Pubs ragen fünfzig Meter hohe Hoteltürme in den Himmel.
Bestes Beispiel ist sicher der kleine "Crown Liquor Saloon", auf den am Abend der lange Schatten des auf der anderen Seite aufragenden "Europa Hotel" fällt. Beide zählen zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, der Pub wegen seiner reich verzierten und darum viel fotografierten Fassade, das Europa dagegen, weil es nach insgesamt achtundzwanzig Bombenanschlägen während der "troubles" als das am häufigsten von Terroristen attackierte Hotel auf der Welt gilt.
Große Verkehrsachsen oder Boulevards, die quer durch die Innenstadt schneiden, sucht man allerdings vergeblich. Die Marathon-Startgerade vor der City Hall gehört mit ihren drei Fahrspuren eigentlich schon zu den breiteren Straßen im Zentrum von Belfast. Nicht nur aufgrund der relativ geringen Fläche, die er einnimmt, sondern auch in dieser Hinsicht vermittelt der Stadtkern also nicht den Eindruck einer echten Metropole.
Allerdings ist auch die mit Grünflächen durchzogene kleine Fußgängerzone, die sich vor den Marathonläufern erstreckt und sie nach wenigen hundert Metern zum Abbiegen zwingt, eine Seltenheit in der Stadt. Nur ganz wenigen Ecken von Belfast sind für den Verkehr gesperrt und einzig per pedes zu erreichen. Eine enge, verwinkelte Altstadt mit schmalen Gassen gibt es nämlich ebenfalls nicht. Das Straßennetz zeigt zwar nicht durchgängig ein Schachbrettmuster, doch dominieren eindeutig rechte Winkel, so dass die Orientierung nicht wirklich schwer fällt.
Verwunderlich ist dies nicht. Denn bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts war Belfast kaum mehr als ein unbedeutendes Dörfchen, das sich um eine nicht mehr vorhandene kleine Burg gruppierte, die sich nur einen Straßenblock von der City Hall im heutigen Stadtzentrum erhob. Unter Arthur Chichester, der als "Lord Deputy" offizieller Stellvertreter des englischen Königs in Irland war, wurde Belfast Castle deutlich erweitert.
Auch die Zahl der Einwohner stieg soweit an, dass man 1613 das Gemeinderecht erhielt. Damit durfte Belfast erstmals Abgeordnete ins Parlament entsenden und sich zudem selbst verwalten. Das vierhundertste Jubiläum dieser offiziellen Stadtgründung wird natürlich mit einer Reihe von Veranstaltungen entsprechend begangen. Und immer wieder begegnet man auch auf Fahnen oder Plakaten dem farbenfrohen Logo "Belfast 400".
Übrigens heißt die Straße, auf der man gerade unterwegs ist, "Chichester Street" und ist nach jenem "Baron Chichester of Belfast" benannt. Da während seiner Regierungszeit in Irland die Anfänge der von ihm maßgeblich geförderten und propagierten "Plantation of Ulster" zu finden sind, für die er viele der bisherigen Landeigentümer einfach enteignen ließ, hat er allerdings längst nicht bei allen Bewohnern Nordirlands den allerbesten Ruf.
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Auf der Albert Bridge führt der Marathonkurs über den Lagan | in die größtenteils protestantischen Wohngebiete in East Belfast |
Dass der im Hinblick auf die Adresse noch zur Straße gehörende, für Autos praktisch nicht passierbare Fußgängerbereich sich ausgerechnet zwischen mehreren Gerichtsgebäuden - dem äußeren Anschein nach erstreckte sich die Zeit ihrer Errichtung über ein volles Jahrhundert - ausdehnt, ist angesichts der gewalttätigen jüngeren Geschichte und der in ihnen verhandelten Verfahren eventuell dann doch nicht ganz zufällig. Auch diese Stelle der Stadt war in der Vergangenheit nämlich von Bomben nicht verschont geblieben.
Der auffällige, runde Glasturm auf der Ecke gegenüber gehört dagegen zu einem weit weniger brisanten Baukomplex. Denn dahinter dehnt sich mit "Victoria Square" ein einen kompletten Häuserblock einnehmendes Einkaufs- und Vergnügungszentrum mit rund einhundert verschiedenen Geschäften und Restaurants inklusive einem Kino aus. Abgesehen davon, dass es sich dabei natürlich um eines der größten in Nordirland handelt, klingt das erst einmal recht gewöhnlich.
Doch ist das Konzept durchaus ein wenig anders als sonst üblich. Denn man hat nicht nur einige bereits bestehende Gebäude einfach integriert. Es handelt sich auch keineswegs um einen komplett abgeschlossenen Bereich, den man nur zu gewissen Öffnungszeiten betreten kann. Vielmehr hat man einfach einen Platz und die drei auf ihn zuführenden Straßen mir Glas überdacht, ohne sie an den Enden mit Portalen zu versehen. Vor Regen ist die Einkaufspassage also gut geschützt, Wind und Kälte können dagegen durchaus eine gewisse Wirkung entfalten.
Markantester Bauteil von Victoria Square ist die zentrale Kuppel, die der nahen City Hall Konkurrenz macht und in deren Mitte sich ein "viewing deck" befindet, von der man den Blick weit über die Dächer der Stadt wandern lassen kann. Einzigartig ist das zwar nicht. Immer wieder einmal findet man in einer Großstadt ein Einkaufszentrum mit einer Aussichtsplattform. Doch im diesbezüglich ansonsten eher biederen Belfast ist das Ganze schon ziemlich spektakulär.
Hinter der nächsten Ecke, an der man nach links wieder in die ursprüngliche Laufrichtung einschwenkt, wartet ein Einkaufzentrum vollkommen anderer Art. Denn kurz hinter der Kurve wird der im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert noch unter der mehr als sechzigjährigen Regentschaft von Königin Victoria errichtete St George's Market passiert, der nicht nur wegen seiner Backstein-Stahl-Architektur als Sehenswürdigkeit gilt. Allerdings ist die Markthalle nur von Freitag bis Sonntag geöffnet.
Die hochmodernen Bürobauten, die man im direkten Anschluss passiert, liefern dann gleich wieder ein absolutes Kontrastprogramm. Die Straße hat inzwischen angefangen ein wenig zu steigen. Denn mit einer Brücke muss kurz darauf eine Bahnlinie überwunden werden. Am höchsten Punkt befindet sich außerdem auch der Zugang zur "Belfast Central railway station". Doch täuscht der Name schon etwas, denn mit gerade einmal vier Gleisen hat sie nicht gerade die Ausmaße, die man von einem Hauptbahnhof erwarten würde.
Allerdings betreibt die Bahngesellschaft "Northern Ireland Railways" insgesamt auch gerade einmal vier Strecken. Neben der grenzüberschreitenden Linie, die über Portadown und Newry nach Dublin führt, und einer Verbindung nach Derry im Westen des Landesteiles gibt es ansonsten nur noch zwei kürzere Routen nach Bangor und Larne im Umland von Belfast, die man am besten unter "Vorortbahnen" verbuchen könnte.
Auch in der Republik Irland ist das Netz verglichen mit anderen europäischen Ländern eher dünn ausgefallen und weitgehend auf Dublin ausgerichtet. Immerhin setzt man dort inzwischen wieder verstärkt auf die Schiene und versucht stillgelegte Strecken zu reaktivieren, um die Querverbindungen zwischen den übrigen Städten zu verbessern. Dennoch bleiben Fernbusse auf der grünen Insel sowohl im Süden wie auch im Norden ein im Vergleich zum Zug weitaus häufiger benutztes Verkehrsmittel.
"Belfast Central" ist zudem nicht die einzige wichtige Station der Stadt. Eineinhalb Kilometer entfernt findet sich westlich des Zentrums der - allerdings auch nicht größere - Kopfbahnhof "Belfast Great Victoria Street", von dem aus die Züge im Süden einen großen Bogen um den Stadtkern schlagen, um mit zwei weiteren Zwischenhalten das östliche Pendant anzusteuern und dann in verschiedene Richtungen aufzufädeln.
Abgesehen von diesen - einer S-Bahn ähnelnden - Strecken übernehmen einzig und allein Busse den öffentlichen Nahverkehr. Die früher in der Stadt verkehrenden Straßenbahnen sind genauso verschwunden wie die Elektrobusse, die sie ablösten nur um später selbst durch ihre mit Diesel angetriebene Verwandtschaft ersetzt zu werden. Fast alle Linien beginnen in der Nähe der City Hall und verlaufen von dort sternförmig entlang der Hauptausfallrouten aus der Stadt hinaus.
Hinter der Station und der Bahnüberführung senkt sich die Straße nicht wirklich ab. Denn kaum hundert Meter später läuft man schon auf die nächste Brücke. Diesmal führt sie über den "Lagan", den bei Belfast das Meer erreichenden Fluss. Diese Mündung - auf Irisch "Béal" - hat der Stadt auch den ersten Teil ihres Namens gegeben. Für die Herkunft des zweiten gibt es dagegen zwei denkbare Varianten, bei denen sich die Sprachforscher bisher noch nicht endgültig auf eine von ihnen einigen konnten.
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Über die mehr als hundertfünfzig Jahre alte Queen's Bridge geht es zurück in die Innenstadt |
Denn zum einen könnte die ursprüngliche Form "Béal Feirste" ungefähr "Mündung an der Furt" oder "Mündung an der Sandbank" bedeuten und von einem alten Flussübergang an dieser Stelle stammen. Oder aber die Bezeichnung leitet vom Flüsschen "Farset" ab, das einst im Bereich der Innenstadt in den "River Lagan" mündete, inzwischen aber in einem Tunnel unter Belfast hindurch fließt. Allerdings würde man sich dann trotzdem indirekt auf die Furt beziehen, denn höchstwahrscheinlich ist der Farset seinerseits wieder nach ihr benannt.
Die Albert Bridge ist genauso alt wie der St George's Market und zumindest das verzierte Stahlgeländer sowie die nicht minder verschnörkelten Straßenlaternen lassen das sogar vermuten. Zwar sind die Aussichten, die man - auch dank der scharfen Kehre, die der Fluss an dieser Stelle vollführt - von ihr über den Lagan und seine Ufer hat, in beide Richtungen recht beeindruckend.
Doch wirklich hoch ist die Brücke nicht. Ihre drei Bögen eignen sich maximal für die Passage kleinere Boote und nicht für Frachtschiffe. Allerdings ist dies auch gar nicht nötig. Der an dieser Stelle noch recht breite Lagan wird sich nämlich nur wenige Kilometer stromaufwärts deutlich verengen und überhaupt nicht mehr schiffbar sein.
Hinter den modernen Wohnanlagen, die man vor noch nicht allzu langer Zeit an den Brückenköpfen errichtet hat, erreichen die Marathonis bald eine der für die britischen Inseln so typischen Reihenhaussiedlungen. Mehrere irische Fahnen flattern von den Laternenmasten und zeigen an, dass dieses Viertel katholisch und nationalistisch gesinnt ist. Die Stadt ist diesbezüglich in vielen Gegenden nämlich anhand ziemlich klar definierter Grenzen aufgeteilt.
Schon vor Beginn der Troubles waren beide Bevölkerungsteile bei der Ansiedlung weitgehend unter sich geblieben. Als die Situation Ende der Sechzigerjahre dann eskalierte und Schießereien oder Bombenexplosionen fast schon zur Tagesordnung gehörten, wurden auch die letzten, die sich im "falschen" Wohngebiet niedergelassen hatten durch massive Einschüchterung - Schmierereien waren dabei noch das harmloseste Mittel, durch Fensterscheiben geworfenen Steine oder Brandsätze absolut üblich - gezwungen in "ihre" Gebiete umzuziehen.
Die scharfe Trennung führt dazu, dass die unterschiedlichen Gruppen weitgehend in separaten Welten nebeneinander her leben, ohne mit der jeweils anderen in Kontakt zu kommen. Man hat eigene Kindergärten und Schulen, eigene Sportvereine und Musikkapellen. So werden die jeweiligen Ansichten, der nur einseitige und eingeschränkte Blick auf die eigentlich viel komplexere Historie, die Geschichten und Legenden von "heldenhaften Freiheitskämpfern" auf der einen und "Terroristen" auf der anderen Seite verfestigt und von Generation zu Generation weiter gegeben.
Obwohl man meist sogar das gleiche Bier trinkt - nämlich das ursprünglich aus Dublin stammende, inzwischen aber von einem britischen Konzern vertriebene "Guinness" - besucht man natürlich auch eigene Pubs, in denen man Politik stets nur aus einer Perspektive diskutiert. Englische Besucher berichten manchmal sogar davon, dass die Stimmung dabei bedrohlich gekippt wäre, als sie versehentlich für ein Bier in einer irisch-nationalistischen Kneipe gelandet seien und man ihren Dialekt erkannt hätte.
Das katholische Viertel ist allerdings schnell passiert. Bald darauf lassen Union Jacks am Straßenrand erkennen, dass man auf "protestantisches Territorium" hinüber gewechselt ist, zu dem der größte Teil von East Belfast gehört. Obwohl sowohl in Nordirland insgesamt als auch in der Stadt Belfast beide Bevölkerungsgruppen jeweils etwa gleich stark sind, ist ihre Verteilung nämlich ziemlich unterschiedlich.
In den städtisch geprägten Gemeinden und Bezirken rund um Belfast leben verstärkt unionistische Protestanten. Manchmal ist ihre Zahl mehr als doppelt so hoch wie die der Katholiken. Umgekehrt sind die ländlichen Gebiete im Süden und Westen dagegen irisch-nationalistisch dominiert. Würde man die Grenze zwischen der Republik und dem Königreich anhand der wahren demografischen Verhältnisse ziehen, müssten die mit einer katholischen Mehrheit ausgestatteten früheren Countys Fermanagh und Tyrone eindeutig dem Süden zugeschlagen werden.
Noch wesentlich deutlicher - man könnte auch sagen "aggressiver" - markieren die Unionisten ihr Gebiet. In einigen Ecken flattert tatsächlich fast von jedem Laternenmast und vor jedem Haus die Flagge des Vereinigten Königreiches. Selbst die Randsteine der Bürgersteige oder Absperrpfosten sind manchmal in Farben des Union Jack angestrichen. Die Botschaft ist klar. "No surrender" - "Wir werden von hier nicht weichen".
In katholischen Vierteln entdeckt man dagegen dann auch schon einmal, dass einer der tonnenartigen und eigentlich roten Briefkästen nachträglich grün lackiert wurde. Mit etwas gutem Willen könnte man das vielleicht großzügig unter "Folklore" abtun. Doch schon alleine das "königlich" in der Bezeichnung "Royal Mail" stellt für einige besonders fanatische Sturköpfe eben eine gewaltige Provokation dar.
Wie wenig Spaß und wie viel Ernst all diese Aktionen beinhalten, wird bald darauf klar. Denn nachdem die Alberbridge Road in die Newtownards Road eingemündet ist, hat die Laufstrecke wenig später gleich wieder in die Holywood Road - wohlgemerkt mit einem "l" und benannt nach einer benachbarten Vorstadt, auf die sie zuführt - abgedreht. Und dort tauchen an den Laternenmasten zwischen all den Union Jacks nämlich nun auch Fahnen in lila mit der Aufschrift "U.V.F 1913" auf.
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Nicht immer sind die murals wirklich politisch | doch viele von ihnen zeigen erschreckend militante Motive |
Sie beziehen sich auf den hundertsten Gründungstag der "Ulster Volunteer Force" - eine protestantische Miliz, die ins Leben gerufen wurde um die Einführung der Home Rule im Norden Irlands zu verhindern. Einige Wochen zuvor hatten mehrere tausend Menschen diesem Ereignis mit einer Parade gedacht. Angeblich sollten die Fahnen nur zu diesem Zweck entlang des Zugweges aufgehängt werden. Doch sie flattern noch immer und niemand entfernt sie.
Wirklich brisant wird die Angelegenheit, weil eine unionistische Terrororganisation, die während der Unruhen für den Tod mehrerer hundert Menschen verantwortlich war, den gleichen Namen trägt und sich auch auf die alte UVF beruft. Die automatische Gleichsetzung der beiden und das damit gemachte Bekenntnis zur Anwendung von Gewalt, die von Seiten der Initiatoren natürlich offiziell stets zum "totalen Missverständnis" erklärt werde würde, ist selbstverständlich insgeheim vollkommen beabsichtigt.
Dass sich laut Zeitungsberichten sogar schon Anwohner der zum Teil keineswegs herunter gekommenen Viertel über den ungewollten "Schmuck" beschwert hätten, ist bezeichnend. Doch nicht darauf zu warten, dass jemand die Fahnen abhängt, sondern sie einfach herunter zu holen, traut man sich beim Ordnungsamt auch nicht. Das Abhängen selbst wäre möglich, notfalls auch unter Polizeischutz.
Doch würde vielleicht genau das die nach dem Rathausfahnenstreit gerade etwas beruhigte Stimmung erneut anheizen und weitere Straßenschlachten auslösen. Und auch die beteiligten Arbeiter - insbesondere die Protestanten unter ihnen - wären nach der Rückkehr in ihre Wohngebiete durch Racheakte gefährdet. Sowohl in Belfast als auch in Nordirland ist jede politische Entscheidung ein echter Balanceakt zwischen hartem Durchgreifen, der Bereitschaft zum Kompromiss und dem Einknicken vor den Extremisten.
All dies hört sich jetzt ziemlich dramatisch an. Doch als Besucher - gerade wenn man weder aus Großbritannien noch aus Irland kommt - hat man eigentlich keinerlei Einschränkungen, kann sich überall vollkommen frei und ungefährdet bewegen. Und längst sind die markantesten Orte der Unruhen und die ethnisch aufgeteilten Viertel fast so etwas wie eine Touristenattraktion geworden, die sich bei einer der in Belfast angebotenen Stadtrundfahrten mit dem Taxi sogar mit sachkundiger Führung besuchen lassen.
Erwähnt sei in dieser Hinsicht auch die verbürgte Geschichte eines - um es vorsichtig auszudrücken - etwas stärker pigmentierten, also farbigen Läufers, der bei einer dieser Touren den Fahrer fragte, ob es in gewissen Gebieten für ihn aufgrund seines Aussehens nicht ein wenig ungemütlich werden könnte. Sein Begleiter hätte augenblicklich verneint und nicht ohne Sarkasmus hinzugefügt: "We only kill each other." - "Wir bringen uns nur gegenseitig um".
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Eine lange Reihe von Wandmalereien zieht sich ein Stück der Falls Road hinauf |
Seit dem Einbiegen auf die Holywood Road einen Kilometer zuvor hat die Strecke rund dreißig Höhenmeter gewonnen. Wirklich flach ist der Belfast City Marathon nämlich nicht. Doch bleibt den Streckenplanern bei ihrer Arbeit eigentlich auch gar keine andere Wahl, als beim Zusammenbasteln des zweiundvierzig Kilometer langen Kurses die eine oder andere Kuppe einzubauen.
Schließlich ist die Stadt selbst abgesehen von einem schmalen Streifen am Mündungstrichter des Lagan, auf dem auch das Zentrum zu finden ist ebenfalls keineswegs eben, sondern vielmehr zwischen drei- bis vierhundert Meter hoch aufragenden Bergen im Westen und einer knapp zweihundert Meter erreichenden Hügelkette im Osten eingeklemmt, die ihre Ausläufer nach Belfast hinein schicken.
Nach knapp drei Meilen - Markierungen gibt es nur in dieser Maßeinheit - besetzt eine Kirche den höchsten Punkt dieser ersten wirklich nennenswerten Steigung. Und bald darauf kommt bereits wieder im Gefälle die zweite Getränkestelle ins Blickfeld. Insgesamt gibt es fünfzehn von ihnen entlang des Kurses, so dass sich rein rechnerisch ein Durchschnittsabstand von nicht einmal zwei Meilen, also drei Kilometern ergibt. Doch sind sie alles andere als gleichmäßig verteilt. Zwischen gerade einmal einem und mehr als fünf Kilometern betragen die Abstände.
Und wie an diesem zweiten Posten gibt es an mehr als der Hälfte von ihnen auch nichts als Wasser. Erst in der Nähe der Halbmarathonmarke entdeckt man erstmals etwas anderes - nämlich Elektrolytgetränke - in den Bechern. Auf feste Nahrung müssen die Läufer ebenfalls weitestgehend verzichten, insbesondere wenn man die pappig süßen Gels, die an zwei Stellen in der zweiten Hälfte verteilt werden, nicht mitrechnen möchte.
Ungewöhnlich ist das alles aber eigentlich nicht. Bei vielen anderen Veranstaltungen auf den britischen Inseln kann man ähnliches erleben. Manchmal gibt es sogar während des gesamten Rennens tatsächlich nichts anderes als Wasser zu trinken. Bananen scheint man ohnehin nicht zu kennen, andere Obstsorten genauso wenig.
Und während sich französische, italienische und spanische Organisatoren nahezu immer und manchmal fast schon sklavisch genau an den vom internationalen Verband vorgegebene Fünf-Kilometer-Abstand zwischen den Getränkestellen halten, ist er den Briten meist vollkommen egal. Wie bei vielen Dingen - zum Beispiel dem für Kontinentaleuropäer fast undurchdringlichen Dschungel von Maßeinheiten - ist man im Vereinigten Königreich eben auch in Bezug auf die Laufverpflegung etwas eigen.
Fast alle gewonnenen Höhenmeter gehen schnell wieder verloren. Als die Straße wieder eben verläuft, wird das Umfeld deutlich grüner. Denn auf der linken Seite übernimmt nun ein größerer Park die Begleitung. Und rechts lockert die Bebauung ebenfalls auf und weicht außerdem etwas von der Straße zurück. Weniger Wohnhäuser als vielmehr Gewerbebauten bestimmen von nun an das Bild.
Auch diese enden irgendwann und gleichzeitig teilt nun ein Grünstreifen die Straße in der Mitte. Nur noch die linke Seite ist jetzt den Läufern vorbehalten. Denn eigentlich befinden sie sich schon auf einer Art Autobahnzubringer, zu dem sich die Holywood Road langsam aber konstant gewandelt hat. Und wenig später ist man mit einer lang gezogenen Kurve dann tatsächlich auf einer vielspurigen Schnellstraße gelandet, über die der Kurs nun wieder auf das Stadtzentrum zusteuert.
Direkt daneben rollen Autos in die gleiche Richtung. Denn die rechte Fahrbahn ist weiter für den Verkehr geöffnet, nur die linke Spur hat man mit Hütchen für den Marathon abgesperrt. Rund drei Kilometer lang muss man sich nun den "Sydenham By-Pass" - die Umgehung für den auf dem Hinweg gerade erst passierten durchlaufen Stadtteil Sydenham - teilen.
Noch einige weitere Male im Verlauf des Rennens werden die Läufer in ähnlicher Form mit Kraftfahrzeugen aufeinandertreffen. In einer stark auf den Straßenverkehr ausgelegten Stadt wie Belfast ist eine Komplettsperrung der Marathonstecke schließlich kaum möglich, ohne alles zusammenbrechen zu lassen. Selbst dort, wo man die Strecke für sich alleine haben wird, ist manchmal zu spüren, wie die Kurssetzer regelrecht nach Schlupflöchern gesucht haben, um die Hauptachsen nicht zu blockieren.
Hinter einer Brücke, mit der die Schnellstraße die parallel zu ihr verlaufende Bahnlinie kreuzt, taucht der Belfast City Airport vor den Marathonis auf. Benannt ist er seit einigen Jahren nach dem Fußballer George Best, der in Belfast geboren wurde und in nur wenigen Kilometern Entfernung vom Flughafen aufwuchs. Seine großen Erfolge feierte der Nordire, der oft als einer der besten Fußballer seiner Zeit bezeichnet wird, allerdings mit dem englischen Club Manchester United.
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Durch eine Öffnung in der peace line wechselt man hinüber ins protestantische Viertel Shankill Road |
Schon zu seiner aktiven Zeit hatte er jedoch massive Probleme mit Alkoholismus und Glücksspiel, die ihn am Ende seine Karriere kosteten. Obwohl er sicher nicht schlecht verdient hatte, war er zudem hoch verschuldet. Auf die Frage wie es dazu gekommen sei, soll er den legendären Satz "Ich habe viel Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben, den Rest habe ich einfach verprasst", gesagt haben.
Sein Lebenswandel, der eine Lebertransplantation nötig machte, nach der er aber trotzdem weiter trank, ließ ihn schließlich nur neunundfünfzig Jahre alt werden. Die sechs Monate später anlässlich seines sechzigsten Geburtstages vorgenommene Umbenennung des Flughafens, war in der Bevölkerung durchaus umstritten. Doch immerhin ist der Fußballer George Best politisch vollkommen unverfänglich.
Einen guten Kilometer später wird auch das Stadion des Glentoran FC passiert, bei dem man George Best in der Jugend als "zu klein" aussortiert hatte, weshalb er dann bereits mit fünfzehn Jahren zu Manchester United wechselte. Der Club ist Gründungsmitglied der "Irish League", die 1890 den Spielbetrieb aufnahm und trotz ihres Namens eigentlich nur aus Teams der Region um Belfast bestand.
Später spielten dort dann zwar auch Mannschaften aus Dublin. Doch bei der Spaltung des Landes wurde im Süden dann die "Irish Free State League" neu gegründet, in die einige Clubs hinüber wechselten, während man im Norden einfach ohne die übergetretenen Teams unter dem alten Namen weiter machte. Deswegen gilt die nordirische Fußball-Liga nach der englischen als zweitälteste der Welt.
Wie wenig Bedeutung Alter alleine allerdings im Profisport hat, lässt sich daran ablesen, dass die inzwischen "IFA Premiership" heißende Klasse von der UEFA bezüglich der Spielstärke auf einem der letzten Plätze und sogar noch hinter den Ligen von Luxemburg und Liechtenstein eingestuft wird. Die mit in England und Schottland aktiven Spielern bestückte Nationalmannschaft ist in ihrer Rangliste immerhin noch vor diesen beiden platziert. Und gleich in beiden Wertungen lässt man solche "Großmächte" wie Andorra, San Marino und die Färöer hinter sich.
Erst seit einigen Jahren können Fußballspiele in Nordirland auch sonntags stattfinden. Aufgrund einer hauptsächlich von Protestanten hartnäckig verfochtenen "Sabbatregelung" war zuvor jede Art von Sportveranstaltungen an diesem Wochentag untersagt. Das ist auch der eigentliche Grund, warum der Belfast Marathon immer am Feiertagsmontag stattfindet. Denn so konnte man diese strenge Regelung umgehen. Zuvor wurden die nordirischen Marathonmeisterschaften aus dem gleichen Grund stets samstags ausgetragen.
Noch immer gültig ist dagegen ein ebenfalls auf ähnlich fundamentalistische Ansichten zurückgehendes Gesetz, dass es verbietet Alkohol in öffentlichen Bereichen zu trinken. Überall in den Straßen von Belfast kann man kleine Schilder entdecken, die daran erinnern. Getrunken wird in Nordirland natürlich trotzdem, nur eben in den Pubs oder zu Hause.
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Auch am zweiten Staffelwechselpunkt nach knapp zehn Meilen herrscht noch ein ziemliches Gewimmel |
Gegenüber sind inzwischen zwei riesige gelbe Portalkräne ins Blickfeld gekommen, die von den Belfastern die Spitznamen "Samson" und "Goliath" bekommen haben und längst als Wahrzeichen der Stadt gelten. Die beiden von der Firma Krupp gelieferten, 96 und 106 Meter hohen Kolosse stehen auf dem Gelände der Werft "Harland & Wolff", die während ihrer Blütezeit einst der größte Arbeitgeber der Stadt war und dreißigtausend bis vierzigtausend Menschen beschäftigte.
Das wohl berühmteste Schiff, das in dieser Fertigungsstätte vom Stapel lief, steht allerdings für eine der größten Katastrophe der Seefahrtshistorie. Es handelt sich nämlich um die "Titanic". Dennoch wird der Name natürlich in Belfast reichlich touristisch ausgeschlachtet. Alles was auch nur entfernt etwas mit Wasser zu tun hat, nennt sich nach dem untergegangenen Passagierdampfer, um sein Angebot zu bewerben. Und natürlich werden auch reichlich Souvenirs verkauft, die das Schiff oder seinen Namen zeigen.
Neueste Attraktion der Stadt ist zudem das "Titanic Belfast" - ein Museum, das sich mit verschiedensten Aspekten der Geschichte des Schiffes beschäftigt. Bereits jetzt gehört das im letzten Jahr fast auf den Tag genau ein Jahrhundert nach der Fertigstellung der Titanic auf einem Teil der früheren Werftgeländes eröffnete Ausstellungsgebäude zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Die anvisierte jährliche Besucherzahl von vierhunderttausend hat man jedenfalls in den ersten zwölf Monaten um volle hundert Prozent übertroffen
Und man muss es nicht einmal betreten, um fasziniert zu sein. Denn selbst von außen hat das neue Museum etwas Unverwechselbares und könnte Belfast tatsächlich - wie von den Stadtvätern erhofft - ein wesentlich moderneres und weniger von Bürgerkrieg geprägtes Image verpassen. Je nachdem, was man in die Architektur hinein interpretieren möchte, lässt sich in dem fast vierzig Meter hohen, aluminiumverkleideten Bau entweder ein Eisberg oder aber ein Schiffsbug erkennen.
Schon fast ein Jahrzehnt zuvor war mit den Planungen begonnen worden, auf der Industriebrache des ehemaligen Hafengeländes rund um das Titanic ein völlig neues Viertel, das "Titanic Quarter" - auch hier hat man auf den bekannten Schiffsnamen zurück gegriffen - zu errichten. Neben Apartmenthäusern direkt am Wasser sind dort inzwischen mehrere Bürogebäude, ein Hotel und ein Schulungszentrum des "Belfast Metropolitan College" entstanden. Doch ist bisher erst ein kleiner Teil der insgesamt projektierten Fläche bebaut.
Ein knappes Jahrzehnt älter, nun aber ebenfalls Bestandteil des Titanic Quarter, ist die "Odyssey Arena", eine mehr als zehntausend Zuschauer fassende Mehrzweckhalle inklusive einem noch einmal fast genauso großen Nebentrakt mit Restaurants, Bars und Kinos. Da sich in Nordirland keine größere Multifunktionsarena findet, geben praktisch alle großen Stars, die sich überhaupt in diesen Teil der grünen Insel verirren, dort ihre Konzerte.
Außerdem handelt es sich beim Odyssey um die Heimspielstätte der "Belfast Giants". Die Überraschung ist groß, wenn man erfährt, dass es sich bei den "Riesen" um ein Eishockey-Team handelt. Denn im ersten Moment kann man diese Sportart nicht im Geringsten mit Großbritannien in Verbindung bringen.
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Einige private Getränkestellen bieten Wasserbecher an | doch auch die meisten der fünfzehn offiziellen Verpflegungspunkte haben nichts anderes als Wasser im Angebot |
Ganz so exotisch, wie man es im ersten Moment vermutet ist Eishockey für das Vereinigte Königreich allerdings nicht. Denn in den letzten beiden Jahren spielte das in der Weltrangliste auf Rängen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig eingestufte Nationalteam immerhin bei den B-Weltmeisterschaften mit. Im diesjährigen Turnier musste man allerdings wieder in die C-Gruppe absteigen.
Selbst wenn man es kaum glauben mag, die Briten waren sogar einmal Eishockey-Olympiasieger. In Garmisch-Partenkirchen standen sie 1936 nämlich ganz oben auf dem Treppchen. Da dies gleichzeitig auch als Weltmeisterschaft galt und zudem in den Begegnungen der europäischen Mannschaften untereinander noch der Europameister ermittelt wurde, gewann man so mit einem Schlag gleich drei Titel. Aus den Dreißigerjahren stehen zudem noch einige weitere Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften in den Listen.
Die großen Zeiten sind längst vorbei. Und rund die Hälfte der Spieler in der zehn Mannschaften umfassenden "Elite Ice Hockey League" stammt deswegen auch aus Nordamerika. Doch füllen die Begegnungen der Giants die Halle jedes Mal mit mehreren tausend Anhängern, die - in Nordirland ist das besonders erwähnenswert - tatsächlich sowohl aus der protestantischen wie auch aus der katholischen Bevölkerungsgruppe kommen.
Andererseits ist Sport vielleicht tatsächlich noch einer der Bereiche, in denen man am unvoreingenommensten miteinander umgehen kann. So gibt es im Rugby im Gegensatz zum Fußball eine gesamtirische Nationalmannschaft, die sowohl Spieler aus der Republik als auch aus Nordirland hat und auch auf beiden Seiten der Grenze Unterstützung findet. Und der Verband der "Irish Rugby Football Union" ist nach wie vor für beide Landesteile zuständig.
Zudem beteiligt sich an der "Celtic League" der gleichen Sportart neben walisischen und schottischen Profi-Mannschaften sowie Auswahlen aus den drei irischen Provinzen Munster, Leinster und Connacht auch ein Team, das Ulster insgesamt - und damit nicht nur den britischen Teil sondern auch die drei zur Republik gehörenden Grafschaften - vertritt. Beim Marathon selbst lässt sich ohnehin nichts von irgendwelchen Spannungen bemerken. Und im Feld entdeckt man eigentlich auch keine politischen Symbole auf den Trikots.
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Zwischen Meilen elf und Meile vierzehn führt die Strecke langsam aber stetig bergan |
Dass in Belfast überhaupt der Platz zur Verfügung steht, ein komplettes Viertel neu zu errichten, hängt auch mit dem Niedergang der einst so bedeutenden Werft Harland & Wolff zusammen. Denn ausgerechnet in den Sechzigern und Siebzigern, als die beiden Riesenkräne aufgestellt wurden, ging es mit dem Schiffbau in Belfast deutlich bergab. Zehntausende Arbeitsplätze gingen dabei verloren. Die sozialen Verwerfungen, die es dabei unter den nahezu ausschließlich protestantischen Arbeitern gab, trugen sicher ihren Teil zur Eskalation während der Troubles bei.
Inzwischen ist die Zahl der Beschäftigten auf der einst so bedeutenden Werft nicht einmal mehr vierstellig. Und seit rund zehn Jahren hat man auf ihr kein einziges neues Schiff mehr gebaut. Außer mit Reparatur- und Umrüstungsarbeiten verdient man bei Harland & Wolff heutzutage hauptsächlich mit Windparks und Turbinen für Gezeitenkraftwerke sein Geld. Immerhin hat man damit endlich wieder den Fuß in einem Wachstumsmarkt.
Kurz bevor die Schnellstraße endgültig auch offiziell zur - direkt am Stadtzentrum vorbei führenden - Autobahn "M3" wird, verabschiedet sich die Marathonstrecke von ihr. Bergan führt eine Zufahrtsrampe die Läufer ein weiteres Mal über die Bahnlinie, wo nach längerer Zeit nun auch wieder einmal ein paar Zuschauer an der Strecke stehen. Selbst wenn man den natürlich wenig bevölkerten Abschnitt, den man gerade hinter sich gelassen hat, außen vor lässt, ist das Publikum in Belfast nämlich recht ungleich verteilt.
Einigen wenigen Schwerpunkten in der Innenstadt oder in den Zentren der jeweiligen Viertel, bei denen sich die Menschen manchmal regelrecht am Straßenrand drängeln, stehen viele andere Passagen gegenüber, auf denen man nahezu vollkommen alleine unterwegs ist. In der Regel sind jedenfalls abgesehen von den zahlreichen Helfern nur wenige neugierige Anwohner als Zaungäste anwesend. Doch ist dies im internationalen Vergleich keineswegs unüblich, vielmehr ist man im deutschsprachigen Raum diesbezüglich einfach nur ziemlich verwöhnt.
Die Zufahrten zum Verkehrskreisel, in den die Rampe jenseits der Brücke einmündet, sind von der Polizei abgesichert. Und im Vorbeilaufen kann man erkennen, dass der "Police Service of Northern Ireland" nicht nur über gepanzerte Fahrzeuge sondern auch über ganz normale Streifenwagen verfügt. Ganz langsam wandelt sich die Einheit in eine ganz normale Polizeitruppe, die sich nicht mehr in festungsähnlich ausgebauten Stationen verbarrikadieren muss, um sich vor Anschlägen der IRA oder einer ihrer Abspaltungen zu schützen.
Auch der Name hat sich geändert. Denn bis zur Jahrtausendwende firmierte die nordirische Polizei unter "Royal Ulster Constabulary" und hatte beim irisch-nationalistisch gesinnten Teil der Bevölkerung einen alles andere als guten Ruf. Denn sie bestand einst nahezu ausschließlich aus Protestanten und galt schon deswegen während der Unruhen nicht als neutraler Schlichter sondern eher als Konfliktpartei, die eindeutig auf Seite der Unionisten stand.
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Rund hundert Meter über dem praktisch auf Meereshöhe liegenden Startpunkt befindet man sich am Ende der Steigung |
Neben der üblichen Bevorzugung von protestantischen Bewerbern bei der Einstellung in den Staatsdienst, war diese einseitige Zusammensetzung auch darin begründet, dass kaum ein Katholik der Einheit beitreten konnte, ohne von seinem gesellschaftlichen Umfeld geschnitten oder gar bedroht zu werden. Die Strukturen verfestigten sich dadurch natürlich nur umso stärker und die RUC verlor in den irisch-nationalistischen Wohngebieten schließlich jegliche Akzeptanz.
Umgekehrt verstärkten sich damit auch die extrem unionistischen Tendenzen bei der Einheit, die sich als Verteidiger des Status Quo betrachtete. Gegen katholische Proteste wurde mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und zum Teil auch großer Brutalität durchgegriffen, während man bei Aktionen der Protestanten oft mehr als nur ein Auge zudrückte. Spätere Untersuchungen förderten sogar einige Fälle von zum Teil ziemlich intensiver Zusammenarbeit mit paramilitärischen Milizen wie der UVF ans Tageslicht.
So wurde es von katholischer Seite anfangs sogar begrüßt, als britische Soldaten zur Befriedung der Unruhen nach Nordirland beordert wurden. Denn diese wurde deutlich neutraler eingeschätzt als die unionistisch-loyalistisch dominierte Polizei. Später empfand man allerdings auch die Armee - insbesondere nachdem sie am sogenannten "Bloody Sunday" bei einem Demonstrationszug in der Stadt Derry das Feuer eröffnet und dabei dreizehn Unbewaffnete getötet hatte - als reine Besatzungsmacht.
Mit dem Karfreitagsabkommen wurde dann nicht nur die Umbenennung der nordirischen Polizei - insbesondere das "Royal" war den republikanisch gesinnten Iren natürlich ein Dorn im Auge - beschlossen. Zukünftig soll bei der Rekrutierung auch darauf geachtet werden, dass beide Bevölkerungsgruppen jeweils zur Hälfte berücksichtigt sind. Deswegen liegt der Anteil von Polizisten katholischer Herkunft inzwischen immerhin bei fast einem Drittel.
Doch wie üblich in Nordirland, wo man meist nur sehr langsam seine extremen Positionen verlässt, um sich mit dem Begriff "Kompromiss" anzufreunden, gehen den einen die Beschlüsse längst noch nicht weit genug - schließlich untersteht die Polizei zum Beispiel weiterhin der britischen Regierung in London - und für die anderen stellen sie bereits eine Kapitulation vor völlig übertriebenen Forderungen der Gegenseite und die Preisgabe eines weiteren Teiles der eigenen Identität dar.
Hinter dem Kreisel wird es am Straßenrand plötzlich ziemlich voll. Nach sechs Meilen ist nämlich die erste von vier Übergabestellen für die Staffeln erreicht. Um wenigstens ein bisschen Ordnung ins Gewimmel der rund zweitausend Wechselwilligen zu bringen, hat man dabei mit großen Tafeln nach Startnummern aufgeteilte Zonen festgelegt, in der die Läufer dann ihre jeweilige Ablösung suchen sollten. Insgesamt zieht sich der Bereich, in dem es trotzdem gelegentlich drunter und drüber geht, über zwei- bis dreihundert Meter.
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In einem zum Teil relativ steilen Gefälle gehen ein großer Teil der Höhenmeter schnell wieder verloren |
Bunt sind die Trikots, die man in diesem Durcheinander zu Gesicht bekommt. Und viele unter ihnen gehören nicht zu einem der auch hierzulande üblichen Vereins- oder Firmenteam sondern zu einer der vielen "charity" genannten Wohltätigkeitsorganisationen, für die man im angelsächsischen Sprachraum gerne startet, um in Verbindung mit dem Rennen Spenden zu sammeln.
Wie tief verankert dieses System in der britischen Marathonszene ist, lässt sich daran ermessen, dass es in Belfast sogar eigene Formulare gibt, mit denen man sich für seine jeweilige Institution offiziell registrieren lassen kann. Wirklich logisch nachvollziehen lässt sich allerdings nicht, warum man erst einmal eine Startgebühr bezahlt, um bei einer Laufveranstaltung mitzumachen, nur damit man anschließend wieder irgendwo Spenden abliefern kann, die man angeblich nur wegen der Bewältigung der Distanz bekommen hat.
Auf den Gedanken, dass man diese Gelder vielleicht einfach in der Familie und der Nachbarschaft sammeln und sie dann an die gewünschte Organisation schicken könnte, ohne dafür eine vermeintliche "Heldentat" zu vollbringen, kommt anscheinend niemand. Jedenfalls wirkt es so, als ob Briten grundsätzlich für irgendetwas Bestimmtes laufen müssten. Man tritt für die Krebshilfe an oder für die Alzheimer-Forschung, für Blindenhunde oder den Seenotrettungsdienst.
Und im Zweifelsfall rennt man - wie auf etlichen T-Shirts zu lesen ist und oft zudem mit einem Foto verdeutlicht wird - eben "for Dad", "for Mam" oder auch für die eigenen Kinder. Ein wenig gewöhnungsbedürftig ist dies alles schon. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, dass diejenigen, die einfach nur "für sich" starten, weil sie Spaß daran haben, und die Teilnahme deswegen nicht zum idealistischen Akt hochstilisieren, inzwischen schon zu einer Minderheit im Feld geworden sind.
Vor der "Queen's Bridge", auf der die Marathonis den Lagan zum zweiten Mal überqueren und von East Belfast wieder ins Stadtzentrum hinüber wechseln, wird es dann erst einmal etwas ruhiger. Sie ist die älteste Brücke der Stadt, stammt aus dem Jahr 1849 und wurde somit noch einmal mehr als vierzig Jahre vor der einen halben Kilometer flussaufwärts liegenden Albert Bridge erbaut.
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Nach zwei bergab führenden Kilometern ist man bereits fast wieder auf dem Ausgangsniveau angekommen |
Während die eine nach Königin Victoria benannt ist und auch von ihr eröffnet wurde, trägt die andere den Namen ihres Enkels Albert Victor, der seinerseits bei der Grundsteinlegung anwesend war. Direkt neben der nur als Einbahnstraße zu befahrenden "Königinnenbrücke" gibt es für die Gegenrichtung auch noch die in den Sechzigerjahren eröffnete "Queen Elizabeth II Bridge". Und die Lösung auf das Rätsel, wer bei der Einweihung dabei war, kann man fast erahnen.
Mit dem Überschreiten der Brücke hat man nun den Abstecher in das County Down beendet und erneut das County Antrim betreten. Denn traditionell wird meist der Lagan als Grenze zwischen den beiden früheren Grafschaften betrachtet, die schon lange bestanden, bevor Belfast sich über den Fluss ausdehnte.
Die Stadt war allerdings auch bereits vor der vorletzten Jahrhundertwende zum "County Borough" gemacht worden und ist damit formal seit weit über hundert Jahren keiner Grafschaft mehr unterstellt. Die bei dieser ersten Verwaltungsreform übrig gebliebenen Countys haben administrativ jedoch ebenfalls keine Bedeutung mehr, denn seit den Siebzigern ist Nordirland verwaltungsmäßig in sechsundzwanzig Distrikte unterteilt.
Dennoch ist die alte Einteilung in vielen Köpfen auch weiterhin verwurzelt. Und die "Gaelic Athletic Association", die nicht nur in der Republik sondern auch in Nordirland für die Sportarten Gaelic Football - eine Mischung aus Elementen von Fußball, Rugby und Handball - und Hurling - grob gesprochen Hockey, bei dem man den Ball mit dem Schläger auch durch die Luft drischt - zuständig ist, trägt seine "All-Ireland-Championships" nicht mit Vereinsmannschaften sondern mit County-Teams aus.
Sechsundzwanzig von ihnen kommen aus "Southern Ireland" - ein Begriff der eigentlich nur in Großbritannien benutzt wird, dort aber in der Umgangssprache recht häufig auftaucht. Sechs werden im Norden der Insel zusammengestellt. Übrigens war eine der - allerdings vermutlich weniger wichtigen - Übereinkünfte des Friedensabkommens von 1998, dass die stark irisch-nationalistisch geprägte GAA nun auch die bisher kategorisch ausgeschlossenen Angehörigen der britischen Polizei und Streitkräfte an ihrem Spielbetrieb teilnehmen ließ.
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Die St Mary's Star of the Sea Church bildet den nördlichsten Punkt der Marathonstrecke | Wenig später können die Staffeln im Park "Gideons Green" zum dritten Mal wechseln |
Bald nach dem Überqueren der Brücke schwenkt der Kurs im wilden Stilmix der Belfaster Innenstadt nach rechts und steuert damit genau auf einen Uhrenturm zu, der aus der Ferne ein wenig seinem am Londoner Parlament stehenden Gegenstück ähnelt, in dem Big Ben schlägt - entgegen einer weit verbreiteten Ansicht bezieht sich die Bezeichnung nämlich nicht auf den Turm sondern auf die größte der dort hängenden Glocke.
Am Palace of Westminster erreicht man mit der Spitze dann allerdings doch fast die dreifache Höhe des "Albert Memorial Clock Tower" in Belfast. Und der Spitzname, den man diesem in der Bevölkerung oft gibt, erinnert auch an einen ganz anderen Turm. Er lautet nämlich "leaning tower of Belfast" - der "schiefe Turm von Belfast". Denn weil sich der Untergrund auf einer Seite abgesenkt hat, ist er ein wenig zur Seite geneigt.
Trotz des gleichen Namens ist der Turm einer anderen Person gewidmet als die zehn Kilometer zuvor passierte Brücke. Bei diesem Albert handelt es sich nämlich um den Ehemann von Königin Viktoria, Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, also den Großvater des zuvor erwähnten Albert Victor. Als lebensgroße Statue blickt der von seiner Frau um volle vier Jahrzehnte überlebte Prinzgemahl den Marathonis hinterher, nachdem sie zu seinen Füßen erneut die Richtung gewechselt haben und nun wieder nach Westen laufen.
Mitten hinein ins Zentrum und die Haupteinkaufszone von Belfast stößt der Kurs nun vor. Geschäfte und Kaufhäuser reihen sich entlang der High Street aneinander. Und dort wo diese unter dem neuen Namen Castle Place auf den von der City Hall herüber kommenden Donegall Place - beides keineswegs Plätze sondern ganz normale Straßen - trifft, ist vermutlich auch ohne Marathon die tagsüber belebteste Stelle der ganzen Stadt.
Entlang des Donegall Place steht eine Reihe von leicht gebogenen Beleuchtungsmasten, auf denen die wichtigsten der bei Harland & Wolff für die "White Star Line" gebauten Großdampfer genannt sind. Neben der Titanic und ihren Schwesterschiffen "Britannic" und "Olympic" sind dort noch einige weitere Namen verzeichnet. Und alle haben die Endung "-ic", die so etwas wie ein Markenzeichen der Reederei war. "Laurentic", "Celtic" oder "Oceanic" kann man dort zum Beispiel lesen.
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Immer entlang der Küste geht es wieder der Stadt entgegen |
Nur wenige Schritte die Straße in die entgegengesetzte Richtung hinauf, findet man eine der ungewöhnlichsten Sehenswürdigkeiten, die Belfast zu bieten hat. Es ist nämlich ein Supermarkt des britischen Lebensmittelkonzerns "Tesco". Doch ist dieser eben in ein ehemaliges, schon von außen markantes Bankgebäude eingezogen, in dem eine bunt bemalte Gewölbedecke inklusive hoher Kuppel über Angestellten und Käufern schwebt.
Schon weil das Rathaus, vor dem sie gestartet waren, gerade einmal zweihundert Meter entfernt liegt, treffen die Marathonis an dieser Kreuzung natürlich auch auf ein ziemlich dichtes Zuschauerspalier. Doch schon in der wesentlich engeren und zudem auch weit weniger exklusiven Castle Street, die sich anschließt, wird dieses deutlich dünner. Und als sie einen halben Kilometer später - auf einer nun wieder erheblich breiteren Brücke - die Stadtautobahn überqueren, sind die Läufer längst weitgehend unter sich.
Irische Trikoloren - wie üblich mit Kabelbindern an zweckentfremdeten Straßenlampen befestigt - zeigen, dass man jenseits dieser klar definierten Grenze des Zentrums ein katholisch-republikanisches Viertel betritt. Vermutlich ist es sogar das bekannteste überhaupt. Und obwohl darunter auch die seitlich angrenzenden Wohnstraßen verstanden werden, heißt es nach der Hauptachse, die es durchzieht und auf der man nun einen leichten Hügel hinauf läuft, einfach "Falls Road".
In dieser Gegend nahm Ende der Sechziger die anfangs friedliche Bürgerrechtsbewegung ihren Anfang, die sich nach amerikanischem Vorbild gegen die massive Benachteiligung von Katholiken auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie gegen die Zuschnitte der Wahlkreise, die trotz annähernd gleicher Bevölkerungsanteile stets für eine eindeutige und sichere protestantisch-unionistische Mehrheit bei den Abgeordneten sorgten. Mit etwas Kompromissbereitschaft wäre vieles der späteren Entwicklung vielleicht zu verhindern gewesen.
Hardliner lehnten allerdings schon damals jedes Entgegenkommen ab. Und immer wieder attackierten unionistische Schlägertrupps die Demonstrationen. Da die Polizei dabei kaum eingriff, formierten sich auch bei den Katholiken gewaltbereite Gruppen. Innerhalb kürzester Zeit schaukelten sich beide Seiten zu regelrechten Straßenschlachten hoch, die schließlich auch mit Schusswaffen ausgetragen wurden. Während der schlimmsten Phase des Bürgerkrieges in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre kamen dabei jährlich mehrere hundert Menschen ums Leben.
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Eine kurze aber steile Rampe bringt die Läufer nach einigen grünen Kilometern mitten ins Hafengelände, in dem man anschließend ebenfalls mehrere Kilometer absolviert |
Immer wieder entdeckt man deswegen an den Häusern von Belfast Gedenktafeln, die an Opfer der Unruhen erinnern. Für den neutralen Beobachter noch wesentlich erschreckender sind allerdings jene fahnen- und blumengeschmückten Ehrenmäler, mit denen man auf beiden Seiten jener "Volunteers" gedenkt, die bei der Verteidigung ihrer Viertel und dem Beschützen von deren Bewohnern "im Kampf gefallen" seien.
Dass es sich bei diesen als Helden verehrten "Freiwilligen" um Angehörige von paramilitärischen Organisationen wie der IRA oder der UVF handelt, die zum Teil wohl nichts anderes als simple Terroristen, Mörder und Bombenleger waren, lässt ein schnelles Aufbrechen der verhärteten Fronten und eine wirkliche Versöhnung in Nordirland noch immer ziemlich unwahrscheinlich erscheinen.
Bei Umfragen bezeichnet jedenfalls jeweils etwa ein Drittel der Befragten sich selbst eindeutig als "Briten" oder "Iren". Es sind genau jene Extrempositionen zweier nebeneinanderher existierenden Gesellschaften, die eine Lösung des Konfliktes so schwierig machen. Noch immer nur etwa ein Viertel ordnet sich dagegen in die Kategorie "Nordire" ein. In Wales oder Schottland reicht der Identifikationsgrad mit dem eigenen Landesteil zum Vergleich je nach der genauen Fragestellung von mehr als der Hälfte bis zu drei Vierteln der Bevölkerung.
Wesentlich bunter, aber zum Teil kaum weniger militant sind die vielen Wandmalereien, auf die man in den jeweiligen Vierteln stößt. Es sind keineswegs simple Graffiti-Schmierereien sondern oft regelrechte Kunstwerke, die jedoch den manchmal ziemlich bedrückenden Inhalt kaum verschleiern können. Von der Herausarbeitung der eigenen Opferolle durch Erinnerung an Taten der Gegenseite und der massiven Zurschaustellung von Wehrhaftigkeit durch Abbilden von bewaffneten Kämpfern reicht dabei die Bandbreite.
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Kurz nach dem letzten Staffelwechsel bei Kilometer fünfunddreißig | führt der Kurs am Gebäude der Hafenverwaltung vorbei |
Eine lange Reihe von Wandmalereien zieht sich auch eine Mauer in der leicht ansteigenden Falls Road hinauf. Dass ausgerechnet bei den Katholiken dabei hauptsächlich sozialistische Parolen auftauchen, mit denen zum Kampf gegen den Kapitalismus und Imperialismus aufgerufen oder die Solidarität mit Kuba, Nicaragua, Venezuela und insbesondere Palästina beschworen wird, überrascht im ersten Moment schon etwas. Doch ist eine solche Parteinahme beim Blick auf die Geschichte zumindest ein wenig nachvollziehbar.
Eines der sicher am meisten fotografierten und abgebildeten Gemälde ist wenig später an einer Hauswand zu sehen. Es zeigt Bobby Sands, der sich wie neun andere inhaftierte IRA-Mitglieder Anfang der Achtzigerjahre im Gefängnis zu Tode hungerte, um die Anerkennung als politischer Gefangener durchzusetzen. Da Sands als Erster von ihnen starb und zudem während seines Hungerstreiks als Abgeordneter ins Parlament gewählt wurde, machte ihn zur republikanischen Ikone. Der "hunger strike" ist ohnehin eines der beliebtesten Motive für die murals.
Wohl auch um von all dem ein wenig weg zu kommen, hat man die Gegend um die Falls Road inzwischen zum "Gaeltacht Quarter" erklärt. In diesem Gebiet soll die ohnehin in ihm verbreitete irisch-keltische Sprache weiter gefördert und über dazu passende Kulturveranstaltungen auch touristisch aufgewertet werden.
Ein wenig übertrieben ist der Name vielleicht schon. Denn unter "Gaeltacht" werden eigentliche jene Gebiete Irlands verstanden, in denen das Gälische noch als Muttersprache benutzt wird. Es sind fast ausschließlich abgelegene Küstenregionen im Westen der grünen Insel. In Belfast und Nordirland wächst man wie in großen Teilen der Republik dagegen auch als Ire in der Regel mit Englisch auf. Immerhin sollen aber etwa hunderttausend der knapp zwei Millionen Nordiren dieser keltischen Sprache in irgendeiner Form mächtig sein.
Dass Irisch als Minderheitensprache in Nordirland formal anerkannt wurde, ließ bei den Unionisten - vielleicht ein wenig aus Trotz - Forderungen aufkommen, auch ihrem "Ulster Scots" offiziellen Status zu verleihen. Diese Sprache, die von vielen Linguisten nicht mehr als Dialekt des Englischen sondern bereits als eigenständig betrachtet wird, stammt ursprünglich aus Schottland und wurde von den schottischen Siedlern im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nach Irland mitgebracht.
Vom "schottischen Englisch", das in gesprochener Form mit seinem rollender "r" auch für nicht Angelsachsen noch recht gut zu erkennen ist, geschrieben aber nur wenige Abweichungen vom Standardenglischen hat, muss das deutlich weiter entfernte Scots klar unterschieden werden. Die Versuche, es zu einer echten Schriftsprache auszubauen, werden allerdings selbst von Scots-Sprechern nicht unbedingt gut angenommen.
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Die dritte Passage der Innenstadt zeigt den Marathonis das modernisierte Lagan-Ufers |
Ein wenig sonderbar ist es jedenfalls schon, dass sie ausgerechnet in Nordirland nun besonders gefördert wird und man inzwischen zwei- oder gar dreisprachige Schilder entdeckt. Mit deutlich weniger als hunderttausend Sprechern ist Ulster Scots im Land allerdings noch etwas weniger verbreitet als Irisch.
Doch auch wenn sie nicht Scots oder Irisch sprechen, tut man sich als Besucher manchmal ziemlich schwer damit, die Leute in Ulster zu verstehen. Denn deren Dialekt unterscheidet sich sowohl vom Standardenglisch, das man aus der Schule kennt, als auch vom sogenannten "Hiberno-English", das weiter im Süden benutzt wird, recht deutlich.
Nach einem Kilometer verlässt die Marathonstrecke fast genau an der - wie alle anderen mit einer Fahne markierten - Meile acht, die Falls Road nach rechts. Doch in der Seitenstraße geht es erst einmal sogar noch etwas spürbarer bergan. Wie schon in der Holywood Road markiert auch diesmal eine Kirche, die zum Kloster "Clonard Monastery" gehörende "Church of the Holy Redeemer" den höchsten Punkt des Anstieges.
Als sich die Strecke dahinter wieder ein wenig absenkt, erkennt man hinter den Häusern auf die man direkt zuläuft, weil die Straße dort an einer Einmündung endet, eine hohe Metallwand. Es handelt sich um eine sogenannte "peace line" - ein weiterer verharmlosender Begriff, bei dem man an das "Neusprech" George Orwells denken muss - mit denen die "neighbourhoods" der verfeindeten Bevölkerungsgruppen seit den Unruhen immer öfter voneinander getrennt wurden.
Viele Kilometer von ihnen ziehen sich durch Belfast und andere Städte des Landes. Insgesamt sind es mehrere Dutzend. Es gibt in der nordirischen Hauptstadt sogar einen Park, der in zwei Hälften geteilt ist. Und selbst wenn zuletzt immer wieder einmal darüber diskutiert wurde, ist seit dem Friedensschluss noch keine einzige von ihnen verschwunden. Spätestens beim Anblick dieser Schutzwälle fragt man sich als Besucher unwillkürlich, ob man sich denn tatsächlich in einer westeuropäischen Demokratie und im einundzwanzigsten Jahrhundert befindet.
Die oben noch durch Gitter erhöhte Mauer, die das Falls Road Viertel nach Norden abgrenzt, ist vermutlich die prominenteste "Friedenslinie". Doch nicht nur weil sie in ihrer Massivität - andere bestehen durchaus auch einmal nur aus festen Zäunen - an das längst verschwundene Berliner Gegenstück erinnert, ist sie bekannt. Sie trennt auch die beiden exemplarischsten Beispiele für die Zerrissenheit Nordirlands. Denn jenseits von ihr liegt mit Shankill Road einer der am stärksten protestantisch-unionistisch geprägten Stadtteile in Belfast.
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Auch hinter dem Stadtzentrum verläuft die Strecke erst einmal immer weiter flussaufwärts |
Bis zu zehn Meter ragt die Wand auf und verhindert so, dass Brand- oder Sprengsätze über sie hinweg geworfen werden können. Wie nötig das zumindest einmal war, wird dann klar, wenn man hört, dass protestantische Extremisten einst mehrere Straßen des katholischen Viertels nahezu vollständig niederbrannten und umgekehrt auch in "the Shankill" einige Häuser in Flammen aufgingen.
Einen großen Haken müssen die Marathonis schlagen und dabei dreimal abbiegen, um eine der wenigen Lücken im "peace wall" zu erreichen, an der man früher einmal bestehende Straßenverbindungen nicht zerschnitten hat. Ein Tor aus festen Metallplatten lässt allerdings jederzeit eine Sperrung zu. Und nachts wird es tatsächlich auch geschlossen, so dass die nächste Möglichkeit von einer Seite auf die andere zu wechseln, der mehrere Kilometer lange Umweg durch die Innenstadt wäre.
Wirklich anders sieht die Welt - abgesehen natürlich von der Beflaggung - im Gebiet der Shankill Road nicht aus. Man läuft durch fast die gleichen Reihenhaussiedlungen wie jenseits der Mauer erneut bergauf. Doch wenn man genauer hinsieht, wirkt das Ganze irgendwie ein wenig herunter gekommener als in der Falls Road. Das mag eventuell Zufall sein und an den für den Marathonkurs ausgewählten Straßen liegen.
Doch haben die Troubles und der dahinter stehende gewaltsame Kampf um die eigenen Privilegien den wirtschaftlichen Abstieg der traditionellen protestantischen Arbeiterschaft eher noch beschleunigt als - wie von den Unionisten erhofft - aufgehalten. Gut ausgebildete Katholiken haben neue, wesentlich modernere Berufsfelder erschlossen. Die Arbeitsplätze in der für die Stadt einst so wichtigen Industrie, die sich die Protestanten früher untereinander aufteilten, sind dagegen längst weitgehend weggebrochen.
Fünfhundert Meter nachdem man das Viertel durch das Loch im Zaun betreten hat, erreicht man die Straße, die ihm den Namen gegeben hat. Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Benennung einer der größten Unionisten-Hochburg von Belfast von einem irisch-gälischen Begriff abgeleitet ist. Er lautet "Sean Cill" und bedeutet übersetzt etwa so viel wie "Alte Kirche".
Genau gegenüber der Einmündung befindet sich wieder einmal ein "Garden of Remembrance". Und dieser erinnert einmal nicht an Opfer oder Täter bei den Unruhen der vergangenen Jahrzehnte sondern soll die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten der "Ulster Division" ehren. Doch was sich erst einmal unpolitisch anhört, wird ganz schnell wieder zu einem wichtigen Bestandteil des Nordirlandkonfliktes.
Denn praktisch die gesamte Division, die offiziell die Nummer sechsunddreißig führte, setzte sich aus Angehörigen der nur ein Jahr vor Kriegsausbruch gegründeten Ulster Volunteer Force zusammen. Sie hatten sich gemeinsam zum Militärdienst gemeldet. Und so wurden die bestehenden Milizeinheiten einfach in die reguläre Armee eingegliedert und schon im Herbst 1914 an die Front verlegt.
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Knapp fünf Kilometer vor dem Ziel bricht eine kleine Brücke noch einmal der Rhythmus |
Als entscheidender Moment für die Unionisten gilt allerdings der erste Juli 1916, an dem die Schlacht an der Somme begann. Nach langem Artilleriebeschuss auf die deutschen Schützengräben gingen an diesem Tag dreizehn britische und sechs französische Divisionen mit weit über zweihunderttausend Mann auf einer dreißig Kilometer breiter Front zum Angriff über. Auch die Soldaten aus Ulster waren beim Angriff dabei.
Da die militärische Führung der Briten ihre Taktiken noch immer nicht auf die veränderte Waffentechnik angepasst hatte und man zudem irrtümlich glaubte, durch das Bombardement seien die gegnerischen Stellungen vollkommen zerstört, ließ man die Infanteristen mit aufgepflanztem Bajonett in dichten Reihen vorrücken. Sie marschierten so mitten ins Feuer der deutschen Maschinengewehre hinein, das ihnen aus den zum Teil noch ziemlich intakten Unterständen entgegen schlug.
Innerhalb eines einzigen Tages fielen bei diesem katastrophalen Fehlschlag mehr als neunzehntausend Briten, rund die Hälfte davon alleine in der ersten Stunde. Der "First day of the Somme" gilt als blutigstes Datum der britischen Geschichte. Auch mehrere Tausend Soldaten aus Ulster ließen dabei ihr Leben. Und von den Freiwilligen aus dem Shankill Road Bezirk, die 1914 nach Frankreich aufgebrochen waren, kam vier Jahre später gerade einmal ein Zehntel wieder zurück.
Die Unionisten interpretieren dies als ihren ganz speziellen Opfergang für das Königreich, aufgrund dessen man ihnen auch weiterhin zu Dank verpflichtet sei und sie nun nicht alleine lassen dürfe. Bei fast jeder Diskussion über Nordirland wird deshalb der erste Juli 1916 wieder und wieder hervor geholt. Aus ihm bezieht man Legitimation für die eigenen Forderungen. So schrecklich dieser Blutzoll auch gewesen sein mag, wird dabei allerdings gerne einmal vergessen, dass die Ulster-Protestanten im Ersten Weltkrieg nicht alleine für das Empire kämpften.
Auch irisch-katholische Regimenter wurden aufgestellt. Und die Nationalisten bildeten sogar gleich zwei Divisionen, die allerdings nicht an der Somme dabei waren. Zum Teil tat man dies mit dem gleichen Hintergedanken wie die Ulster Volunteers, um nämlich nach einem vermeintlich kurzen Feldzug gut ausgebildet und erfahren bei den sich abzeichnenden Kämpfen um die Umsetzung "Home Rule" in Irland antreten zu können. Doch wollte man eben auch Freiheit und Demokratie in Belgien und Frankreich verteidigen.
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Tendenziell zwar bergab, aber mit leichten Wellen geht es auf den letzten beiden Kilometern dem Ziel entgegen |
Zudem wurden andere Einheiten am "First day of the Somme" noch viel dramatischer zusammen geschossen. Das - bevölkerungsmäßig - kleine, damals noch nicht mit Kanada verbundene sondern als eigenständiges Dominion dem Empire angehörende Neufundland hatte zum Beispiel ebenfalls Soldaten über den Atlantik an die europäische Front geschickt, die als "Newfoundland Regiment" eingegliedert in eine britische Division an diesem Angriff teilnahmen.
Und von jenen achthundert Neufundländern, die mit der ersten Welle ihre Gräben verließen, waren nach dem Angriff ungefähr fünfhundert tot und viele weitere verwundet. Ganze achtundsechzig Soldaten traten am nächsten Tag noch zum Appell an. Das Regiment hatte praktisch aufgehört zu existieren. Davon dass Neufundland daraus aber ewige Dankbarkeit und das Recht nicht an Kanada angegliedert zu werden, abgeleitet hätte, hat man noch nie etwas gehört.
Nur wenige hundert Meter läuft man auf der Shankill Road kurzzeitig der Innenstadt entgegen, dann schwenkt der Kurs wieder nach links und strebt wieder langsam aber stetig den Hügel hinauf. Dort wo die Straße nach fast einem Kilometer geraden Verlaufens in eine Rechtskurve übergeht, befindet sich nach knapp zehn Meilen in einem Gewerbegebiet der zweite Staffel-Wechselpunkt, an dem es kaum weniger hektisch zugeht als am ersten.
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Das in Hörweite kommende Ziel lässt manche schon jubeln und bringt ein Lächeln auf die meisten Gesichter |
Hinter der Einmündung, an der Straße und Werkshallen enden und wieder Wohnhäuser auftauchen, flattern nun wieder irische Fahnen an den Straßenlampen. Sie markieren den Stadtteil "Ardoyne", dessen Grenzen an dieser Stelle zwar deutlich weniger verbarrikadiert sind wie zwischen der Falls Road und der Shankill Road. Doch wirklich friedlich ist die Gegend keineswegs.
In der Hochphase der Unruhen hatte es immer wieder Feuergefechte zwischen der IRA und britischen Soldaten sowie Attentate von katholischen Extremisten auf die im Viertel patrollierenden Sicherheitskräfte und Racheakte der protestantischen Paramilitärs von UVF und UDA mit einer ganzen Reihe von Toten gegeben. Und selbst nach dem Friedensschluss gilt Ardoyne noch immer als ein Brennpunkt des Nordirlandkonfliktes.
Fast jedes Jahr am zwölften Juli eskalierte dort zuletzt nämlich die Lage während des Vorbeimarsches des "Orange Order" und endete in schweren Krawallen. An diesem Tag oder in seinem Vorfeld ziehen die in der Organisation des "Orange Institution" vereinten radikalen Protestanten überall in Nordirland mit Musik und Fahnen durch die Straßen, um an die - aus ihrer Sicht siegreiche - "Battle of the Boyne" zu erinnern.
Bei der Schlacht am Fluss Boyne unterlag nämlich im Jahr 1690 der wieder zum katholischen Glauben gewechselte und vom Parlament deswegen abgesetzte englische König James II seinem protestantischen Schwiegersohn Wilhelm von Oranien, der als William III den Thron bestiegen hatte. Als James mit französischer Hilfe in Irland gelandet war, um seine Herrschaft zurück zu erobern, schlugen sich die katholischen Iren auf seine Seite.
Die Protestanten in Ulster hielten dagegen zu Wilhelm, dessen Hausfarbe im Nachhinein zu einem ihrer wichtigsten Symbole wurde. Das Orange in der ihnen inzwischen so verhassten irischen Trikolore sollte einer weit verbreiteten Erklärung zufolge angeblich ursprünglich ebenfalls für sie stehen und ein von allen Konfessionen gemeinsam aufgebautes Land. Einige der bekanntesten irischen Nationalisten im neunzehnten Jahrhundert waren sogar protestantischer Herkunft. Erst später wurde die Religionszugehörigkeit zur entscheidenden Bruchlinie.
Selbst wenn die in der "Marching Season" im Sommer durchgeführten Umzüge im Sommer meist als harmloses "Brauchtum" ausgegeben werden, sollen sie natürlich auch die Überlegenheit der Protestanten zeigen. Insbesondere wenn man dabei auf "traditionellen" Routen durch katholische Viertel marschiert, wird dies von der irisch-republikanischen Seite regelmäßig als Provokation ausgelegt und mit entsprechenden Gegendemonstrationen beantwortet.
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Ganz falsch liegt das Verbotsschild nicht, denn in den letzten Kurven muss man jeweils nach links abbiegen |
Während in der Vergangenheit die Aufmärsche der "Orangemen" mit ihren Schärpen und Bannern eigentlich stets in der gewünschten Form genehmigt wurden, bemüht sich nun eine eigens eingerichtete "Parades Commission" um Deeskalation und versucht für beide Seiten akzeptable Kompromisse im Hinblick auf die Zugwege zu finden. Doch ganz egal wie die Entscheidungen ausfallen, sieht sich dabei wie üblich meist eine der Gruppen benachteiligt.
Für Unbeteiligte stellt sich ohnehin die Frage, warum man einem über drei Jahrhunderte zurück liegenden Gefecht noch immer in dieser Form gedenken muss. Die Vorstellung, dass hierzulande Aufmärsche wegen einer vor so vielen Jahren geschlagenen Schlacht stattfinden, erscheint jedenfalls reichlich abstrus. Doch in Nordirland ist der Blick auch weiterhin wohl häufiger in die Vergangenheit als in die Zukunft gerichtet.
Die Straße klettert leicht kurvig und in wechselnden Steilheitsgraden stetig weiter nach oben. Man bewegt sich schon rund sechzig Meter oberhalb der Ausgangshöhe an der City Hall, als man einen kleinen Kreisel erreicht, um den sich ein Zuschauerschwerpunkt gebildet hat. An ihm verlässt die Strecke die relativ breite Oldpark Road, der sie für mehr als einen Kilometer gefolgt war, und dreht nach rechts in ein wesentlich schmaleres Wohnsträßchen ab.
Mit ziemlich viel Schwung stürzt man es anfangs hinunter, bevor das Gefälle wenig später dann doch etwas abflacht. Die Fahnen an den Lampen sind nun wieder Union Jacks, als es auf der anderen Seite der Senke wieder den Hügel hinauf geht. Doch immerhin hat man dieses Mal den Übergang zwischen dem katholischen Cliftonville und dem protestantischen Chichester Park gar nicht wirklich bemerkt. Nicht überall muss ein "interface area" wie eine Festung ausgebaut sein.
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Immer entlang der Ormeau Parks schlägt die Marathonstrecke einen letzten Bogen |
Nach etwa achtzehn absolvierten Kilometern mündet die Strecke, die schon seit dem Verlassen der Falls Road tendenziell in nördliche Richtung verlaufen war in die nun wirklich fast exakt nach Norden führende Antrim Road ein. Die am Start noch ziemlich dunklen Wolken kommen schon seit einiger Zeit deutlich weniger bedrohlich daher. In einigen kurzen Momenten lässt sich sogar einmal die Sonne blicken.
Und selbst das Umfeld wirkt irgendwie nun weit weniger trist und bedrohlich als zuvor. Je weiter man die auch weiterhin leicht ansteigende Straße hinauf läuft, umso mehr bestimmen individuell gestaltete Einfamilienhäuser mit großen grünen Gärten das Bild, die sich deutlich von den immer gleichen Baumustern in den Reihenhaussiedlungen der konfessionell so streng getrennten Arbeiterviertel unterscheidet.
Die dort überall zu entdeckenden Markierungen des eigenen Territoriums fehlen. Auch murals lassen sich schon aufgrund des Baustils keine entdecken. Da passt es ziemlich gut ins Bild, dass an einem Sportplatz nicht nur der allgegenwärtige Union Jack und die ebenfalls häufig im Stadtbild präsente Trikolore am Zaun hängen sondern zudem ein Dutzend weiterer Nationalflaggen aus mehreren Kontinenten. So wie die Antrim Road aussieht, könnte sie sich in jeder britischen oder irischen Stadt befinden. An Bürgerkrieg erinnert hier wenig.
Praktisch direkt hinter den Häusern ragt der Cavehill steil nach oben auf. Von der Spitze dieses fast vierhundert Meter hohe Basaltbergs, an dessen Flanke sich die Straße hinauf zieht, kann man bei gutem Wetter angeblich nicht nur die Isle of Man sondern auch Schottland erkennen. Als stadtnahes Ausflugziel bietet die markante Kuppe Wanderern neben weiten Ausblicken auch eine ganze Reihe zum Teil recht anspruchsvoller Routen.
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Mit mehr als ein Viertel aller Teilnehmer ist der Frauenanteil beim Marathon verglichen mit deutschen Rennen relativ hoch |
Von der Antrim Road bietet sich im unteren Teil dagegen aufgrund der Bebauung praktisch überhaupt keine Sicht. Und als in der Nähe der Halbmarathonmarke immer häufiger Parks und Grünanlagen am Rand auftauchen, stellen sich Hecken und Bäume in den Weg. Nur selten kann man eine kleine Lücke entdecken. Doch um das Panorama der längst weit unterhalb der Läufer liegenden Stadt komplett genießen zu können, reichen diese nicht aus.
Im letzten Abschnitt der rund vier, meist ansteigenden Kilometer, die man auf der Straße absolviert, läuft man sogar durch ein regelrechtes Wäldchen. In ihm verbirgt sich noch ein Stück weiter hangaufwärts der Zoo von Belfast, der damit sicher eine der am attraktivsten gelegenen Zoologischen Gärten sein dürfte. Schon etwas früher hatte man zudem die Zufahrt zum Belfast Castle passiert, das trotz gleichen Namens wie die früher im Stadtzentrum stehende Burg und mittelalterlichem Aussehens erst im späten neunzehnten Jahrhundert als Schloss erbaut wurde.
Rund einhundert Meter über dem Meer haben die Marathonis erreicht, als sie nach ziemlich genau vierzehn zurück gelegten Meilen mit einer Spitzkehre von der noch weiter bergan führenden Antrim Road herunter und in den ziemlich steilen Abstieg hinein geleitet werden. Innerhalb eines einzigen Kilometers gehen dabei mehr als die Hälfte der im Laufe des Rennens gewonnen Höhenmeter verloren.
Erst als man aus dem gerade durchgelaufenen Wohngebiet auf eine Autobahn stößt und diese auch sogleich auf einer Brücke überquert, verliert das Gefälle langsam einige Prozentpunkte. Jenseits der Ausfallstrecke gibt es wieder einmal zu trinken. Und außerdem können die Läufer auch zum ersten Mal nach Gel-Päckchen greifen. Das was ihnen einige Helfer, die sich bei genaueren Hinsehen als Sanitäter entpuppen auf Holzstäbchen entgegen strecken, sollten sie allerdings tunlichst nicht in den Mund stecken. Es handelt sich nämlich um Vaseline.
Mit dem Wechsel auf die andere Seite des "motorways" mischen sich nun nicht nur immer häufiger Werkshallen und später auch die Großmärkte eines "Retail Parks" zwischen die Wohnhäuser, man bewegt sich zudem auch gar nicht mehr auf Belfaster Grund und Boden sondern ist in der nördlichen Nachbargemeinde Newtownabbey unterwegs, in der ebenfalls einige Kilometer absolviert werden.
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In einer lang gezogene Linkskurve erreicht man die letzte Meilenmarkierung, keine vierhundert Meter sind nun noch zu laufen |
Erst einmal geht es dabei auf der von Belfast kommenden Shore Road, auf die man im Bereich des Einkaufszentrums getroffen ist, erneut nach Norden. Dabei bleiben auch noch die letzten verbliebenen Höhenmeter auf der Strecke. Allerdings verharrt der Kurs nur kurz auf diesem niedrigen Niveau und strebt dann wieder etwas höher hinaus. Nach drei nahezu permanent bergab führenden Kilometern fällt die Umstellung jedoch schwer.
Bis ganz hinauf muss man die Kuppe allerdings nicht laufen. Etwa auf halber Höhe markiert die St. Mary's Star of the Sea Church den nördlichsten Punkt der Marathonstrecke. Gleich hinter dem Gotteshaus mit seinem hohen schmalen Turm dreht man in ein kleines Seitensträßchen ab. Und die anschließende Brücke über die Bahnlinie nach Derry und Larne macht klar, dass dieser Anstieg vielleicht doch nicht ganz sinnlos war.
Zwischen großen Gärten und kleinen Häusern windet sich das idyllische Sträßchen wieder ein wenig bergab. Praktisch auf Meereshöhe erreicht es den kleinen Park "Gideons Green", der den dritten Wechselpunkt darstellt. Während die ersten beiden Ablösestellen direkt an der Straße gelegen hatten und das Ein- und Auswechseln der Staffelläufer sozusagen "im laufenden Betrieb" stattfand, bietet die Grünfläche wesentlich mehr Platz.
Und so werden Marathonis und Teams an ihrem Eingang sorgfältig auseinander sortiert. Für die Staffelteilnehmer wartet rechts die Übergabe an den Mannschaftskameraden. Die Langstreckler können diesen Bereich dagegen links umlaufen. Erst am anderen Ende der Anlage treffen beide Untergruppen des Feldes dann nach erfolgtem Wechsel an einer Autobahnunterführung wieder zusammen. Hinter dem Tunnel stößt man ziemlich unvermittelt auf Wasser.
Denn die Schnellstraße führt genau am Belfast Lough - dem sich zur Irischen See hin öffnenden Mündungstrichter des Lagan - entlang. Dazwischen bleibt nur noch Platz für einen schmalen Radweg, dem die Marathonroute nun fast vier Kilometer lang folgen wird. Die erste Hälfte davon verläuft direkt am Meer, auf der zweiten zwängt sich ein Streifen aufgefüllten Landes dazwischen, der in Zukunft zu einem Park werden soll. Zumindest einige Baumreihen entlang des Radweges lassen ihn schon ziemlich grün erscheinen.
Eine kurze, aber relativ steile Rampe bringt die Läufer nach diesen grünen Kilometern - auch die Landseite entlang der Autobahn war zumeist mit Hecken bewachsen, so dass man den Verkehr zwar oft hörte, jedoch nur selten sah - mitten ins Hafengelände hinein, in dem - diesmal erst fünf Kilometer nach der letzten - die nächste Verpflegungsstelle wartet.
Nachvollziehbar mag es schon sein, dass man den schmalen Grünstreifen am Belfast Lough nicht mit Bechern übersäen will. Und eigentlich ist ein solcher Abstand auch gar nicht so ungewöhnlich. Doch nachdem das Versorgungsnetz bis zu diesem Zeitpunkt ziemlich dicht war und man sich inzwischen auch jenseits der Dreißig-Kilometer-Marke befindet, lassen die Tische wirklich extrem lange auf sich warten.
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Je näher man dem Ziel kommt, umso mehr Zuschauer stehen am Streckenrand |
Genauso lange wie man auf dem Radweg unterwegs war, läuft man im Anschluss nun vorbei an kleinen Industriebetrieben und größeren Speditionen, entlang von Containerabstellplätzen, Lagerhallen und Tankanlagen. Fast alle verstecken sich hinter hohen Zäunen. Und abgesehen von den Helfern an den Verpflegungsstellen und Kreuzungen sind die Läufer genau in jenem Bereich, in dem ein Marathon anfängt, richtig hart zu werden, auch ziemlich alleine auf weiter Flur.
Erst nach ungefähr fünfunddreißig Kilometern und einigen Haken kommt am letzten Wechselpunkt erneut etwas Stimmung auf. Kurz danach schließt die Passage des etwas an einen Renaissancepalast erinnernde Gebäude der Hafenverwaltung den - vorsichtig ausgedrückt - nur mäßig faszinierenden Ausflug in den "Port of Belfast" ab. Mit dem Unterqueren der Autobahn, die den Hafenbereich klar vom Rest der Stadt abtrennt, wechselt man ins Zentrum hinüber, um ihm einen dritten und letzten Besuch abzustatten.
Hinter der Autobahn belegt der erst vor wenigen Jahren fertig gestellte Obel Tower das Flussufer. Abgesehen von einigen noch etwas weiter in den Himmel ragenden Kirchtürmen sowie - eigentlich außer Konkurrenz laufenden - Funkmasten und Windrädern ist er trotz seiner gerade einmal fünfundachtzig Metern das höchste Bauwerk auf der gesamten grünen Insel. Rund zwanzig Meter niedriger, aber dank der einigen Fenstern vorgelagerten bunten Metallrahmen noch auffälliger ist "The Boat", das sich etwas weiter auf der gegenüber liegenden Straßenseite erhebt.
Dazwischen steht als Kontrastprogramm das altehrwürdige "Custom House", in dem man im einst blühenden Hafen Belfast seine Ein- und Ausfuhrzölle zu entrichten hatte. Deutlich erkennbar ist in diesem Bereich der Versuch, die lange Zeit wenig einladenden Ufer des River Lagan mit Neubauten, Promenaden und Kunstobjekten wie dem zehn Meter langen "Big Fish", der auf dem Platz vor dem Zollgebäude ein ziemlich beliebtes Fotoobjekt darstellt, attraktiver zu gestalten und damit neu zu beleben.
Dazu beigetragen hat sicher auch das an dieser Stelle quer über den Fluss erbaute "Lagan Weir", mit dem der Einfluss der Gezeiten begrenzt und der Pegel einigermaßen konstant gehalten wird. Die zuvor bei Ebbe freiliegenden und nicht unbedingt geruchsarmen Schlammflächen, bleiben so unter dem Wasserspiegel. Vom ungeliebten Hinterhof ist die "Laganside" zu einem Aushängeschild der Stadt geworden, an dem man mit dem Titanic Quarter am anderen Ufer längst eifrig weiter arbeitet.
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Auf den letzten Metern sorgen dann wieder Absperrgitter für gebührenden Abstand zwischen Publikum und Läufern |
An der rund fünfundzwanzig Kilometer zuvor bereits einmal überquerten Queen's Bridge kreuzen die sich immer parallel zum Fluss haltenden Marathonis ihre eigenen Spuren. Nur noch ein Teil der Fahrbahn steht ihnen zur Verfügung. Auf dem Rest der Uferstraße rollt der Verkehr. Dafür ist allerdings der für die Zuschauer ziemlich günstige, weil gleich doppelt durchlaufene Punkt durchaus belebt.
Vorbei an der ebenfalls neu erbauten Waterfront Hall, dem mit mehr als zweitausend Plätzen größten Konzertsaal Nordirlands und den einen Straßenblock weiter schon einmal passierten Gerichtsgebäuden führt die Strecke, bevor sie dank der inzwischen erreichten Halbinsel an der Flussschleife nach links in ein Seitensträßchen abbiegen kann und den "Riverside Tower", das Hochhaus der British Telekom ins Visier nimmt.
Genau dieses Büroviertel hatte man gleich zu Anfang von der Albert Bridge aus schon einmal betrachten können. Nun sucht sich die Marathonroute in einem recht verwirrenden Zickzack ihren Weg zwischen den Verwaltungsgebäuden, unter der Bahnlinie und Brücke sowie vorbei an der Central Station hindurch. Für die in der Luftlinie kaum halb so lange Entfernung schlägt man dabei einen Kilometer lang praktisch einen Haken nach dem anderen.
Ein Parkplatz neben dem Bahnhof bietet gut fünf Kilometer vor dem Ziel die letzte große Verpflegungsstelle mit erweitertem Angebot. Danach stößt die Strecke wieder an den Fluss vor, dessen weiten Bogen sie ein wenig abgeschnitten hatte. Ein Fuß- und Radweg führt die Läufer einen guten Kilometer lang flussaufwärts. Vom gegenüber liegenden Ufer ist der Zielsprecher bereits gut zu vernehmen. Doch die Fahne am Rand trägt erst die "23". Noch sind also drei Meilen zu laufen.
An der Brücke, die das Marathonfeld auf die andere Seite bringt, ist nach dem eher unbelebten Abschnitt auf der dafür allerdings optisch recht ansprechenden Promenade wieder mit einem dichten Zuschauerspalier gefüllt. Statt gleich nach links zu schwenken und dem Ziel direkt entgegen zu streben, müssen die Läufer danach allerdings erst einmal weiter geradeaus, um die zur Gesamtdistanz noch fehlenden vier Kilometer heraus zu schinden.
Gleich aus drei Gründen ist dieser Abschnitt unangenehm. Man läuft zum einen natürlich wieder vom eigentlich schon recht nahen Ziel weg. Zum anderen hat man wieder nur eine Spur zur Verfügung, während nur wenige Meter daneben Autos und Busse unterwegs sind. Und zum dritten führt der Kurs, der schon seit geraumer Zeit kaum Höhenunterschiede hatte noch einmal bergan und gewinnt in einer langen Gerade zwanzig bis dreißig Meter.
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Als man endlich in den Ormeau Park einbiegt, hat man ihn praktisch einmal komplett umrundet |
Als die Straße in einem ziemlich spitzen Winkel auf eine andere trifft, ist nach mehr als einem Kilometer Anstieg dann aber doch der südlichste Punkt des Schlenkers erreicht. Scharf wechselt man die Richtung und läuft fast genau entgegengesetzt wieder zurück. Tendenziell führt die Strecke nun natürlich bergab. Doch tut sie das keineswegs gleichmäßig sondern in mehreren Wellen, die sogar noch den einen oder anderen neuen Höhenmeter bringen.
Noch wesentlich länger - nämlich rund zwei Kilometer - ist diese zweite Gerade, die größtenteils entlang des Ormeau Parks führt, der zwar verglichen mit anderen Großstadtparks nicht wirklich riesig ausfällt, aber im Stadtbereich von Belfast trotzdem die größte geschlossenen Grünanlage darstellt. In ihm befindet sich das Ziel, womit der Marathon von Belfast also durchaus etwas mit dem großen Bruder in New York gemeinsam hat.
Die letzte, nicht mehr allzu lange Seite des fast geschlossenen Dreiecks, das man zum Ende noch einmal absolvieren muss, ist deutlich geschwungener. Immer am Zaun des Parks entlang läuft man dem Ziel entgegen, von dem man allerdings selbst an der Sechsundzwanzig-Meilen-Marke wenig sieht. Nur etwa hundert Meter lang ist schließlich die am Parkeingang beginnende, nicht wirklich spektakuläre Zielgerade.
Doch dafür finden die Marathonmacher bezüglich der Logistik fast perfekte Voraussetzungen. Platz für Aufbauten, Zielverpflegung und Familienzusammenführung ist reichlich vorhanden. Und im zum Park gehörenden Sportzentrum findet man sogar - gerade bei internationalen Rennen durchaus nicht immer üblich - Umkleiden und Duschen. Für die Gepäckausgabe hat man eine Tennishalle vorgesehen, in der sich die Taschen und Kleiderbeutel fast verlieren. Im benachbarten Kabinentrakt kann man sich anschließend den Schweiß vom Körper spülen.
Ganz ohne Schwitzen ist es nach einem eher kühlen Morgen nämlich dann doch nicht abgegangen. Selbst wenn der Marathon weit von einer Hitzeschlacht entfernt ist, sind die Temperaturen mit etwa fünfzehn Grad zum Ende hin - zumindest für britisch-irische Verhältnisse - durchaus angenehm und zum Laufen fast ideal.
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Nur noch kurz und nicht wirklich spektakulär ist die Zielgerade in der Grünanlage |
Dass die Siegerzeit von Joel Kipsang aus Kenia mit 2:19:28 nur knapp unter zwei Stunden und zwanzig Minuten bleibt, lässt sich dann wohl auch eher auf das keineswegs einfache Streckenprofil als auf schlechte Witterung zurück führen. Erst kurz vor Schluss kann er sich von seinem Landsmann James Roitich lösen, mit dem er lange Zeit zusammen gelaufen war und der in 2:19:57 Rang zwei belegt.
Der dritte Kenianer Freddy Sittuk hatte dagegen schon früh den Anschluss verloren und liegt nach 2:24:39 relativ klar zurück. Weit weniger deutlich ist sein Abstand nach hinten. Denn nicht einmal zwei Minuten nach ihm überquert der 2:26:24 laufende Thomas Frazer als schnellster Nordire und Gesamtvierter die Ziellinie.
Ähnlich wie bei den Herren, sind auch im Frauenrennen drei Laufprofis aus dem Ausland vorne, bevor mit Julie Balmer, die in 3:00:29 knapp an der Dreistundenmarke scheitert, die schnellste Einheimische folgt. Allerdings liegt mit Nataliya Lehonkova in 2:36:50 keine Ostafrikanerin sondern eine Ukrainerin in Front. Die Prämien für die Ränge zwei und drei gehen mit Helen Cherono (2:37:08) und Sarah Kerubo (2:40:13) dann aber wieder ins kenianische Hochland.
Zumindest in dieser Hinsicht ist Belfast also eigentlich ein ziemlich normaler Marathon wie viele andere in seiner Größenklasse. Auch bezüglich der Organisation und Abwicklung unterscheidet er sich nicht wirklich von anderen britischen oder irischen Rennen. Ansonsten findet in der nordirischen Hauptstadt aber eben doch ein Marathon der etwas anderen Art statt.
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Platz für die Zielaufbauten hat man allerdings im Ormeau Park genug |
Kreuz und quer durch eine noch immer ziemlich zerrissene Stadt ist man dabei nämlich unterwegs. Das mag nicht immer unbedingt schön sein. Und manchmal hat das Ganze sogar etwas ziemlich bedrohliches. Doch wird man dabei eben auch ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurück geholt und erkennt, wie gut man es eigentlich hat und wie gering - verglichen mit gar nicht so weit entfernten Orten in Europa - die politischen Probleme hierzulande doch sind.
Es ist ein durchaus lehrreicher Ausflug, der anschaulich zeigt, was passieren kann, wenn man die Welt nur in "wir" und "die" aufteilt und immer stur auf seinen eigenen Positionen beharren will, ohne die Argumente der Gegenseite zu hören und ein wenig Entgegenkommen zu zeigen. Schon alleine deswegen ist ein Start beim Belfast Marathon eine interessante und ziemlich eindrückliche Erfahrung, die weit über die Teilnahme an einer Laufveranstaltung hinaus geht.
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Info & Ergebnisse www.belfastcitymarathon.com Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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