Paul Tergat

Fast wie bei Hase und Igel

von Ralf Klink im September 2020 

Es war fast wie in der alten Geschichte von Hase und Igel, in der der arme Hase so schnell rennen konnte wie wollte und doch jedes Mal im Ziel ein "ich bin schon da" vom Igel zu hören bekam. Nur dass im ewigen Duell zwischen Paul Tergat und Haile Gebrselassie der Äthiopier eben nicht wie der Igel auf den Trick zurückgreifen musste, sich mit seiner Frau abzuwechseln, sondern wirklich stets einen Schritt weiter vorne war.

Zwischen 1995 und 2000 gab es fast jeden Sommer das Aufeinandertreffen dieser beiden großen Läufer bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen. Und bei keiner einzigen dieser insgesamt fünf Begegnungen in einem Endlauf über 10.000 Meter ging Paul Tergat als Sieger von der Bahn. Stets holte Gebrselassie Gold. Dem Kenianer blieb viermal Silber und einmal Bronze.

Exakt zwanzig Jahre liegt nun das letzte und knappste dieser Duelle bei den Spielen von Sydney zurück. Gerade einmal neun Hundertstelsekunden entschieden dabei über die Farbe der Medaille. Enger als diese Wimpernschlagentscheidung war ein Olympiafinale über zehn Kilometer Distanz nie.

Trotz aller Bemühungen holte Paul Tergat WM-Titel nur im Cross und auf der Straße. Und ein Olympiasieg blieb ihm während seiner kompletten Karriere verwehrt. In den Geschichtsbüchern des Langstreckenlaufes steht er natürlich trotzdem - spätestens nachdem er 2003 in Berlin als erster Mensch einen Marathon unter 2:05 lief.

Im letzten Jahr gelang dies - selbst ohne den unter irregulären Bedingungen stattgefundenen Wiener Zwei-Stunden-Lauf von Eliud Kipchoge - alleine siebzehn Mal. Gerade eineinhalb Dekaden zuvor war das Durchbrechen dieser Schallmauer jedoch noch eine regelrechte Sensation. Ironischerweise verlor Tergat auch diesen Weltrekord einige Jahre später an Gebrselassie.

Ganz ähnlich wie über zehn Kilometer auf der Bahn, wo sich der Kenianer den Rekord zwischendurch für ein knappes Jahr holen und dann wieder an den großen Rivalen zurückgeben musste. Doch wer glaubt, all dies hätte zu einem schlechten Verhältnis zwischen den zwei Athleten geführt, täuscht sich. Die beiden - ohnehin als faire Sportsleute bekannt - bezeichnen sich bei aller Konkurrenz während der Rennen als gute Freunde.

Obwohl Paul Tergat - zumindest offiziell, denn bei Geburtsdaten afrikanischer Läufer gibt es ja immer wieder einmal das eine oder andere Fragezeichen - vier Jahre älter als sein äthiopischer Dauerbezwinger ist, tauchten beide in den frühen Neunzigern praktisch gleichzeitig in der internationalen Spitze auf. Denn der am 17. Juni 1969 geborene Kenianer war eher ein Spätberufener.

Im Gegensatz zu den meisten seiner erfolgreichen Landsleute begann er nämlich nicht schon im Schüleralter mit dem Langstreckenlaufen. Erst als sich der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Tergat bei der kenianischen Luftwaffe verpflichtete, um mit dem dort verdienten Geld seine Familie unterstützen zu können, erkannte ein Vorgesetzter sein Talent und ermunterte ihn ernsthaft zu trainieren.

Im Alter von mehr als zwanzig Jahren lief der spätere Weltrekordler seine ersten richtigen Rennen, wurde 1991 bei den traditionell extrem gut besetzten nationalen Militärmeisterschaften im Crosslauf auf Anhieb gleich einmal Fünfzehnter und absolvierte die 10.000 Meter auf der Bahn unter dreißig Minuten - und das wohlgemerkt im auf mehr als sechzehnhundert Meter Höhe gelegenen Nairobi.

Ein Jahr später kam er im Crosswettkampf der Streitkräfte dann als Dritter schon aufs Siegerpodest. Doch damit war der rasante Aufstieg des hochgewachsenen Luftwaffensoldaten noch nicht beendet. Denn nur zwei Wochen danach zeigte er in Nairobi bei den nationalen Meisterschaften im Gelände der kompletten kenianischen Elite die Hacken und verwies dabei Läufer wie Richard Chelimo, Paul Bitok und William Sigei auf die Plätze.

Am Wochenende darauf wiederholte er das Kunststück beim Rennen, das im Rahmen der zehn Jahre lang existierenden IAAF Cross Serie in der kenianischen Hauptstadt ausgetragen wurde. Neben den vielen einheimischen Assen und einer Reihe von Sportlern aus den Nachbarländern waren auch einige Athleten aus Europa am Start, die sich in Kenia auf die Spiele von Barcelona vorbereiteten.

Dazu gehörte zum Beispiel auch Stephan Freigang, der angesichts der zahlreichen und leistungsstarken Konkurrenz am Ende gerade einmal Fünfundvierzigster wurde. Der Brite Richard Nerurkar war auch nur drei Positionen besser rangiert. Von den zwanzig ersten Plätzen gingen an diesem Tag neunzehn nach Kenia und einer nach Tansania. Jedes andere Ergebnis würde bei einem Wettkampf in Kenia allerdings auch eine absolute Sensation sein.

Doch im Gegensatz zu Stephan Freigang, der auf dem Mont Juic von Barcelona im Marathonlauf Bronze erkämpfte und damit die bis zum heutigen Zeitpunkt letzte deutsche Herrenmedaille bei einer großen internationalen Meisterschaft auf dieser Distanz gewann, konnte Paul Tergat bei Olympia erst einmal nur aus der Ferne zuschauen.

Und für die Cross-WM in Boston wurde der Seiteneinsteiger ebenfalls nicht nominiert. Aber auch ohne ihn sicherten sich Kenia mit John Ngugi, der seinen fünften Titel holte, Silbermedaillengewinner William Mutwol, Richard Chelimo, Dominic Kirui und William Sigei - bis auf Ngugi alle von Tergat innerhalb einer Woche gleich doppelt geschlagen - fünf der ersten acht Plätze.

Immerhin durfte Paul Tergat im September bei der Weltmeisterschaft im Halbmarathon starten, die im Rahmen des Great North Run in England ausgetragen wurde. Dass der spätere Marathonweltrekordler erst nach seiner Bahnkarriere auf die Straße wechselte, ist also ein absoluter Irrtum. Vielmehr hatte er sogar seinen ersten internationalen Auftritt im Nationaltrikot auf dem Asphalt. Als Fünfter in 1:01:03 verkaufte er sich beim Sieg seines Landsmannes Benson Masya ziemlich gut.

Nicht ganz so weit vorne wie im Jahr zuvor landete Tergat dann 1993 bei den kenianischen Crossrennen. Platz fünf bei den Militärmeisterschaften wurde gefolgt von Platz drei bei den nationalen Meisterschaften und Platz sechs beim IAAF-Cross. Doch inzwischen hatte er sich etabliert und wurde folgerichtig auch für die ins spanische Amorebieta vergebene Cross-WM nominiert.

Als Zehnter enttäuschte er dabei keineswegs. Allerdings war er damit trotzdem nur der sechstschnellste Läufer des kenianischen Aufgebots. Denn die ersten fünf Plätze gingen sämtlich an seine Landsleute. William Sigei gewann vor Dominic Kirui - ein Ergebnis, das es in den Wochen davor in genau der gleichen Form auch bei allen drei genannten Wettkämpfen in Nairobi gegeben hatte - und Ismail Kirui.

Nur 1988, als sie ebenfalls alle Medaillen und acht der ersten zehn Plätze holten waren die Kenianer ähnlich erfolgreich. Doch zwischen 1986 und 2003 ging die Mannschaftswertung bei den Herren achtzehnmal in Folge nach Kenia. Und auch danach konnten nur Äthiopien und zuletzt Uganda mit ähnlich breit aufgestellten Teams ab und zu in diese kenianische Domäne einbrechen. Im Einzel ist dann aber doch der Äthiopier Kenenisa Bekele mit sechs Titeln der Rekordhalter.

Bei der Weltmeisterschaft im Baskenland traf Tergat erstmals auf seinen späteren Dauerkonkurrenten Haile Gebrselassie. Und schon in diesem Rennen war der Äthiopier vor ihm im Ziel, als Siebter des Einlaufes mit fast einer halben Minute Abstand zum Bronzerang aber auch nicht wirklich viel näher an den Medaillen dran.

Schon eine Woche danach startete Paul Tergat in Mailand beim traditionellen Halbmarathon Stramilano und verbesserte seine persönliche Bestmarke als Dritter auf 1:00:45. Wirklich Aufmerksamkeit konnte er damit aber nicht erregen. Diese galt vielmehr vollständig seinem Landsmann Moses Tanui. Der Vierte der Cross-WM durchbrach an diesem Tag nämlich die Barriere von einer Stunde und erzielte mit 59:47 einen neuen Weltrekord.

Tergat lief im Frühjahr und Sommer in Europa noch weitere Straßenläufe - hauptsächlich in Italien, aber zum Beispiel auch beim Luzerner Stadtlauf - und trat erstmals auch bei einigen internationalen Sportfesten über fünf und zehn Kilometer auf der Bahn an. Während er dabei auf der Straße praktisch immer auf dem Treppchen landete und meist sogar siegte, blieben bei den Bahnrennen für ihn anfangs nur Plätze im Mittelfeld.

So war die WM 1993 in Stuttgart dann auch noch kein Thema. An jenem Abend, an dem Haile Gebrselassie den ersten seiner vier Weltmeistertitel über 10.000 Meter vor Moses Tanui und Richard Chelimo gewann, siegte Paul Tergat zum zweiten Mal beim Straßenlauf zwischen den italienischen Örtchen Amatrice und Configno - einem zwar meist wirklich gut besetzten, aber außerhalb Italiens völlig unbekannten und mit einem WM-Finale natürlich absolut nicht zu vergleichenden Rennen.

Immerhin sind die 23:37, die Paul Tergat damals über den 8,4 Kilometer langen Kurs lief, noch immer Streckenrekord. Und das obwohl sich mit den Olympiasiegern Stefano Baldini und Gelindo Bordin, dem australischen Marathonweltmeister Rob de Castella, dem neunfachen ukrainischen Cross-Europameister Sergei Lebid, dem zweifachen New-York-Gewinner Germán Silva aus Mexiko sowie Moses Tanui und vielen weiteren Kenianern noch etliche andere klangvolle Namen in den Siegerlisten entdecken lassen.

Das erste wirklich international beachtete Ausrufezeichen auf der Bahn setzte Tergat dann zwei Wochen später, als er beim Meeting in Brüssel über 10.000 Meter nur um wenige Zehntelsekunden vom Marokkaner Khalid Skah und Moses Tanui geschlagen wurde und seine persönliche Bestmarke dabei um rund eine Dreiviertelminute auf 27:18,43 steigern konnte - immerhin die sechszehntbeste je erzielte Zeit.

Mit zwei Straßenrennen über zehn Meilen - einem Sieg bei den Diecimiglia del Garda in Italien und einem zweiten Platz beim Dam-tot-Dam-Loop zwischen Amsterdam und Zaandam - beendete Paul Tergat bereits Mitte September die Saison und stieg erst Anfang des folgenden Jahres mit Crossläufen wieder ins Wettkampfgeschehen ein.

Ein dritter Platz bei den "Kenyan Armed Forces Championships" reichte für einen Platz im Nationalteam für die WM in Budapest. Weit mehr als 250 Teilnehmer zählte das Herrenfeld, das auf der Pferderennbahn der ungarischen Hauptstadt zwölf Kilometer zu absolvieren hatte. Bei der letzten Austragung dieses Wettbewerbs im Jahr 2019 im dänischen Aarhus waren es hingegen nur noch etwas mehr als die Hälfte.

Schon früh hatte sich in Budapest eine kleine und komplett afrikanisch besetzte Spitzengruppe gebildet, in der sich neben Titelverteidiger William Sigei unter anderem noch Khalid Skah, Haile Gebrselassie und eben auch der von der Körpergröße alle überragende Paul Tergat befanden. Noch zu sechst gingen sie in die vorletzte von fünf Runden. Dann verlor zuerst der Äthiopier Addis Abebe und schließlich auch Skah den Anschluss.

Es blieben Sigei, Tergat, Gebrselassie sowie Simon Chemoiywo als dritter Kenianer übrig, die als kompaktes Quartett die abschließenden knapp zweieinhalb Kilometer in Angriff nahmen. Als Sigei kurz vor der Zielgeraden das Tempo weiter verschärfte, verlor Tergat als erster der vier langsam den Kontakt. Und während der Titelverteidiger von der Spitze zu seinem zweiten WM-Gold lief, spurtete auch Chemoiywo dem Äthiopier davon.

Sieben Sekunden hinter dem Sieger musste sich Paul Tergat mit dem undankbaren vierten Rang begnügen und nicht zum letzten Mal in seiner Karriere Haile Gebrselassie vor sich ins Ziel laufen sehen. Doch immerhin war er erneut - und diesmal sogar maßgeblich - am Mannschaftsgold der Kenianer beteiligt.

Im Frühjahr lief Tergat dann erst einmal wieder Straßenrennen. Die meisten davon gewann er auch - unter anderem bei Stramilano in neuer persönlicher Bestzeit von 1:00:13. Im französischen La Courneuve - einer Vorstadt von Paris - lief der lange Kenianer dabei die fünfzehn Kilometer in 42:12 dabei so schnell wie niemand zuvor. Erst siebeneinhalb Jahre später wurde diese Bestmarke schon im neuen Jahrtausend von seinem Landsmann Felix Limo unterboten.

Nur im kleinen Tessiner Dörfchen Dongio musste er eine Niederlage hinnehmen. Ein Jahr zuvor hatte Paul Tergat unweit des Lukmanierpasses noch sicher triumphiert. Doch diesmal hatten die Schweizer für ihren Zehner tatsächlich die vier Erstplatzierten der Cross-WM verpflichten können. Und beim Sieg von William Sigei blieb Tergat nur Platz drei. Wenn man nun erfährt, dass Tergat dabei Simon Chemoiywo hinter sich lassen konnte, ist auch klar, wer als Zweiter vor ihm ins Ziel lief - Haile Gebrselassie.

So erfolgreich Paul Tergat auf der Straße unterwegs war, auf der Bahn blieb er - obwohl natürlich ein Weltklasseathlet - weiterhin kein Siegläufer. Meist vierte, fünfte oder sechste Ränge sammelte er in der Sommersaison auf den europäischen Sportfesten ein. Auch zu Hause war ein Vizemeistertitel beim Fünftausender der Armed Forces Championships die beste Platzierung. Bei den nationalen Meisterschaften wurde er auf der gleichen Strecke Vierter.

Dass Tergat in den Folgejahren eine fast schon sichere Medaillenbank über 10.000 Meter werden könnte, war den Ergebnissen dieses Sommers noch nicht anzusehen. Bei den kenianischen Militärmeisterschaften sprang nur ein siebter Platz für ihn heraus. Und als William Sigei in Oslo den Weltrekord auf 26:52,23 drückte, lief Tergat weit über eine halbe Minute später als Fünfter ein.

In Brüssel reichte es für den langen Kenianer ebenfalls nur zu Rang vier. Gut drei Sekunden vor dem mit 27:23,89 immerhin seine bisher zweitbeste Zeit auf dieser Distanz erzielenden Paul Tergat überquerte der amtierende Weltmeister Haile Gebrselassie als Sieger die Ziellinie.

Nach dem Abschluss der Bahnsaison wandte sich Tergat sofort wieder der Straße zu und wurde Mitte September hinter seinen Landleuten Benson Masya und Moses Tanui Dritter beim Great North Run von Newcastle nach South Shields. Ein wenig hatten die kenianischen Asse ihr Blatt damit aber doch überreizt.

Denn nur sechs Tage später stand mit der Halbmarathon-WM in Oslo schon das nächste Rennen über diese Distanz im Kalender. Und in der norwegischen Hauptstadt gingen die erfolgsverwöhnten Ostafrikaner ein wenig überraschend, aber doch irgendwie folgerichtig vollkommen leer aus.

An der Spitze lieferten sich Khalid Skah und Germán Silva einen harten Zweikampf, den der Marokkaner beim Zieleinlauf im legendären Bislett-Stadion knapp für sich entscheiden konnte. Erst hinter dem Brasilianer Ronaldo da Costa, der einige Jahre später in Berlin einen Marathonweltrekordlaufen sollte, kam mit dem eher unbekannten Godfrey Kiprotich Chirchir der erste Kenianer als Vierter ins Ziel.

Der hoch gewettete Weltrekordler Tanui wurde hingegen über eine Minute nach dem Sieger nur Neunter, Paul Tergat knapp dahinter Elfter. Zumindest in der Teamwertung wurde Kenia mit Gold bedacht. Doch weder Tanui noch Tergat wurden dazu aufs Podest gebeten. Denn in die Wertung gingen nur die drei schnellsten Läufer einer Nation ein. Und die beiden vom Papier her besten Athleten waren an diesem Tag Nummer vier und fünf in der Mannschaft.

Im folgenden Winter lief Paul Tergat nicht mehr nur in Kenia Crossrennen sondern trat auch bei mehreren Veranstaltungen in Europa an. Zwar gewann er kein einziges von ihnen. Doch dafür siegte er nach einem zweiten Platz bei den Militärtitelkämpfen mit einem für kenianische Verhältnisse extrem großem Vorsprung von einer Viertelminute bei den nationalen Titelkämpfen. Eine Woche darauf legte er beim internationalen Cross gleich noch einmal mit einem weiteren Sieg nach.

Tergat schien gut für die WM gerüstet, die diesmal im nordenglischen Durham - unweit von Newcastle mit dem Great North Run - stattfinden sollte. In Abwesenheit des verletzten Vorjahressiegers William Sigei hatte ihn sogar der eigene Teamchef Mike Kosgei zum Favoriten erklärt.

Und alles verlief auf den feuchten und welligen zwölf Kilometern auf dem Gelände der Universität tatsächlich wie vom Chefcoach geplant. Wie üblich hatten die Kenianer mit hohem Tempo das Feld früh zerrupft. Kurz vor Beginn der letzten Runde setzte sich dann Tergat, der in einem kurzen, harten Spurt am verwundbarsten gewesen wäre, langsam von seinen verbliebenen Konkurrenten ab.

Ganz alleine lief er seinem ersten internationalen Titel entgegen und holte bis zum Ziel einen soliden Vorsprung von acht Sekunden auf Ismael Kirui heraus, der den Marokkaner Salah Hissou.im Kampf um Silber davon spurten konnte. Noch einmal zwölf Sekunden später kam Haile Gebrselassie ins Ziel, der als Vierter diesmal mit der "Holzmedaille" vorlieb nehmen musste. Nicht immer war der Äthiopier also im direkten Duell mit Paul Tergat vorne.

Nur eine Woche nach seinem Titelgewinn siegte der Kenianer erneut bei Stramilano und knackte mit 59:56 ebenfalls die Ein-Stunden-Marke. In Dongio blieb ihm aber der oberste Platz auf dem Podest erneut versagt. Diesmal wurde Tergat im Tessiner Dörfchen Zweiter. Und wieder einmal war es Haile Gebrselassie, der vor ihm die Ziellinie überquerte.

Nach seinen ersten beiden Bahnerfolgen auf internationalen Meetings bei Fünftausendern in Moskau und Sevilla schaffte Paul Tergat als Dritter der kenianischen Meisterschaften über 10.000 Meter hinter den eher unbekannten Josephat Machuka und Joseph Kimani die Qualifikation für die Weltmeisterschaften in Göteborg.

Der einige Tage zuvor von Gebrselassie entthronte Ex-Weltrekordler William Sigei scheiterte als Fünfter genau wie Moses Tanui, der bei der WM in Stuttgart noch Silber und vier Jahre zuvor in Tokyo sogar Gold gewonnen hatte, diesmal aber in den nationalen Ausscheidungen nur auf Platz acht landete. Wohl nirgendwo in der Welt des Langstreckenlaufens sind vergangene Erfolge für neue Nominierungen weniger wert als in Kenia.

Selbst wenn er bei seinen weiteren Starts im europäischen Meeting-Zirkus wieder eher Mittelfeldplätze belegte, schaffte Tergat in Schweden als Zweiter seines Vorlaufes problemlos den Sprung ins Finale. Zwölf Hundertstelsekunden vor dem Kenianer hatte Haile Gebrselassie als Sieger der Qualifikation die elektronische Zeitmessung ausgelöst.

Im Endlauf ließ man einen frühen Solo-Ausreisversuch der Amerikaner Todd Williams im zwanzigköpfigen Feld erst einmal unbeantwortet, bevor dann nach drei Kilometern das Tempo schlagartig verschärft wurde. Es formierte sich eine Spitzengruppe mit Gebrselassie, den drei Kenianern, den Marokkanern Skah und Hissou sowie Stéphane Franke vom SV Salamander Kornwestheim.

Nachdem zuerst der Deutsche hatte abreißen lassen müssen, ging unter dem Tempodiktat von Paul Tergat auf dem vorletzten Kilometer auch sein Landsmann Joseph Kimani verloren. Auf der vorletzten Runde übernahm Salah Hissou die Führung und auch Josephat Machuka, der sich schon mehrfach kleine Lücken mit hohem Kraftaufwand wieder geschlossen hatte, konnte endgültig nicht mehr mitgehen.

Ausgangs der Gegengerade begann der Äthiopier mit seinem gefürchteten Spurt und setzte sich sofort mehrere Meter ab. Der gerade eben noch führende Hissou platze augenblicklich nach hinten weg, während Skah und Tergat sich einen heftigen Zweikampf um die beiden übrigen Medaillenplätze lieferten.

Denn Gebrselassie war inzwischen rund zwanzig Meter enteilt und holte in 27:12,95 - sicherer als die bloßen Zahlen aussagen - sein zweites Gold. Gegen Khalid Skah konnte Tergat auf den letzten Schritten ebenfalls nicht mehr bestehen. So holte der Marokkaner mit 27:14,53 die Silbermedaille. Siebzehn Hundertstel später hatte Paul Tergat den dritten Platz erlaufen und nebenbei auch eine neue persönliche Bestzeit erzielt.

Hissou, Machuka und Stéphane Franke, der hinter dem zweiten Marokkaner und den beiden übrigen Kenianern tatsächlich Platz sieben ins Ziel brachte, knackten alle im bis dahin schnellsten Meisterschaftsrennen aller Zeiten ebenfalls ihre bestehenden Hausrekorde. Und Khalid Skah hatte im Kampf um Silber nebenbei sogar eine neue marokkanische Bestmarke aufgestellt.

Acht Tage später trafen sich eine ganze Reihe dieser Läufer - nämlich Tergat, Gebrselassie, Machuka und Franke - an einem denkwürdigen Leichtathletikabend in Zürich bei einem Fünftausender wieder. Nur eine gute Stunde vor dem Start war Moses Kiptanui als erster Mensch die Hindernistrecke unter acht Minuten gelaufen und nun sollte der Weltrekord über fünf Kilometer fallen.

Diesen hielt bis dahin ebenfalls Moses Kiptanui. Doch Gebrselassie pulverisierte die alte Bestmarke mit einer Verbesserung um elf Sekunden auf nun 12:44,39 regelrecht. Paul Tergat trudelte hingegen nach 13:07,49 nur als Achter ins Ziel und lag damit nicht nur hinter seinem Landsleuten Ismael Kirui und Josephat Machuka sondern auch hinter Dieter Baumann, der als Zweiter mit 13:01,72 deutschen Rekord lief, und Stéphane Franke.

In Brüssel verbesserte Tergat anschließend seine noch ziemlich frische Bestmarke über 10.000 Meter erneut um einige Zehntelsekunden, wurde allerdings beim Sieg von Worku Bikila, der sich mit 27:06,44 auf Platz vier der ewigen Weltbestenliste setzte, nur Fünfter. Und während der ersten internationalen Militärweltspiele in Rom blieb bei einem kenianischen Dreifacherfolg über 5000 Meter ebenfalls nur Silber hinter seinem Teamkollegen Shem Kororia.

Auf der Straße und im Gelände lief es für den langen Kenianer dagegen deutlich besser. Bis zum Jahresende gewann er fünf von sechs Rennen, darunter beim niederländischen Dam tot Dam und beim Silvesterlauf in São Paulo. Die einzige Niederlage während dieser Serie musste er beim Elite-Einladungsrennen über zehn Kilometer im sizilianischen Scicli hinnehmen, wo wieder einmal Haile Gebrselassie vor ihm über die Linie lief.

Nach einem dritten Platz bei einem Crosslauf im italienischen San Giorgio su Legnano im Januar legte Paul Tergat dann auch im neuen Jahre eine regelrechte Siegesserie hin, wurde Militärmeister, gewann erneut die "National Cross Country Championships" und anschließend auch den IAAF-Cross in Nairobi.

Und schließlich entschied er noch die damals bereits vierundsechzigste Auflage des Traditionsrennen "Cinque Mulini" in der Nähe von Mailand für sich - ein 1933 erstmals ausgetragener Crosslauf, der nicht nur durchs Gelände sondern eben auch mitten durch die fünf namensgebenden Mühlen führt und dessen historische Ergebnislisten sich wie eine nahezu endlose Aufzählung von Langstreckenstars der Vergangenheit lesen.

Der Titelverteidiger befand sich damit für die Cross-WM endgültig in der Favoritenrolle. Diesmal ging es im südafrikanischen Städtchen Stellenbosch um die Medaillen, selbst wenn offiziell das nahe gelegene Kapstadt als Austragungsort genannt wurde. Den Zieleinlauf hatte man dabei zuschauerfreundlich ins Rugbystadion der Universität gelegt, das zudem auch auf jeder Runde einmal durchquert wurde.

Wie erwartet setzte sich schon relativ früh fast ausschließlich Afrikaner an die Spitze. Neben Kenianern, Äthiopiern und Marokkanern wollten sich schließlich auch die Läufer aus dem Veranstalterland vorne zeigen. Wirklich erfolgreich sollte dieser Versuch für die Südafrikaner jedoch nicht ausgehen.

Shadrack Hoff wurde als bester Einheimischer am Ende nur Fünfzehnter. Und auch in der Mannschaftswertung sprang nicht mehr als Rang sieben heraus. Mit zwölf Kilometern war die Distanz für eine vom Ultramarathon geprägte Nation wie Südafrika aber vielleicht auch einfach nur viel zu kurz.

Titelverteidiger Tergat lief die ersten Runden erst einmal defensiv und überließ die Führung der sich langsam reduzierenden Gruppe anderen. Meist drückten insbesondere seine Teamkameraden Paul Koech, Joseph Kimani und Ismail Kirui - der Doppelweltmeister von 1993 und 1995 über 5000 Meter- aufs Tempo.

Zwei Runden vor dem Ziel waren dadurch nur noch sechs Läufer an der Spitze übrig geblieben. Neben Koech, Kirui, Kimani und Tergat noch Salah Hissou aus Marokko und eben Haile Gebrselassie. Noch immer lief Paul Tergat praktisch immer am Ende dieser Gruppe, manchmal öffnete sich sogar eine kleine Lücke. Doch verlor er eben nicht er als nächster den Anschluss sondern erst einmal Joseph Kimani.

Und als es nach dem letzten Stadiondurchlauf über den Tribünenwall wieder hinaus auf die Runde ging, trat Tergat plötzlich an und setzte sich innerhalb kürzester Zeit zwanzig, dreißig, vierzig Meter von seinen Begleitern ab. Haile Gebrselassie, der im Stadion an einem Baumstamm-Hindernis hängen geblieben und beinahe gestürzt war, platze sofort nach hinten weg. Auch Koech musste sich schnell geschlagen geben. Nur Salah Hissou und Ismael Kirui versuchten noch nachzusetzen.

Trotz des welligen Terrains knallte Tergat den vorletzten Kilometer allerdings im Bereich von annähernd zweieinhalb Minuten herunter, baute seinen Vorsprung weiter aus - und wirkte dabei dennoch vom Laufstil keineswegs verkrampft sondern noch immer ziemlich locker. Im Ziel lag der Kenianer schließlich zwölf Sekunden vor Hissou, der Ismail Kirui im Spurt hinter sich lassen konnte.

Hinter Paul Koech wurde Haile Gebrselassie nur Fünfter. Zum zweiten und letzten Mal hatte Paul Tergat ihn bei einer internationalen Meisterschaft hinter sich gelassen. Es war der letzte Auftritt des kleinen Äthiopiers bei einer Crosslauf-WM. In späteren Jahren lief er dann lieber in der Halle als querfeldein, wo abgesehen von einer Bronzemedaille bei Titelkämpfen nicht viel für ihn herausgesprungen war. Es ist die vielleicht einzige kleine Lücke in seiner fast unglaublichen Erfolgsbilanz.

Paul Tergat eilte auch in den Wochen nach seinem zweiten Titelgewinn von Erfolg zu Erfolg. Nur sieben Tage nach der WM lief er in Mailand mit 58:51 bei Starmilano einen vermeintlichen neuen Halbmarathon-Weltrekord. Doch leider stellte sich die Strecke bei einer Nachvermessung als etwa fünfzig Meter zu kurz heraus und die neue Marke wurde nicht anerkannt.

Ohne seinen Dauerkonkurrenten konnte er zudem seinen zweiten Sieg in Dongio einfahren. Und zum Abschluss seiner Straßenlaufserie im Frühjahr gewann Tergat Ende April im direkten Duell mit Khalid Skah noch die "Corrida de Heillecourt"- ein weiteres hierzulande eher unbekanntes, aber finanzstarkes Rennen in der Nähe von Nancy in Lothringen, bei dem er in den nächsten beiden Jahren ebenfalls erfolgreich sein sollte.

Da die Olympischen Spiele in Atlanta bereits im Juli anstanden, wechselte Tergat danach zügig auf die Bahn. Bei den "Armed Forces Championships" siegte er fast erwartungsgemäß über 10.000 Meter. Doch einen Monat später wurde er bei den nationalen Meisterschaften auf der gleichen Distanz hinter Josephat Machuka, Paul Koech und William Kiptum Muigei nur Vierter.

Nach dem in Kenia eigentlich üblichen Verfahren, nur die jeweils ersten drei der nationalen Ausscheidung für das anstehende Großereignis zu nominieren, wäre der Crosslauf-Doppelweltmeister damit durchs Raster gefallen. Stattdessen ließ man jedoch gegen alle Gepflogenheiten den relativ unerfahrenen und international bisher wenig in Erscheinung getretenen Kiptum Muigei zu Hause und nahm Paul Tergat trotzdem ins Olympiateam.

Aus nationaler Sicht erwies sich die Entscheidung im Nachhinein als durchaus richtig. William Kiptum Muigei kam hingegen während seiner kompletten Karriere nie zu einer großen internationalen Meisterschaft auf der Bahn. Einzig vier Einsätze im Cross stehen für ihn zu Buche. Doch landete er dort in der Regel auf Positionen zwischen zwanzig und dreißig und schaffte dabei nicht einmal immer den Sprung unter die am Ende fürs Team gewerteten Läufer.

In Atlanta tat Paul Tergat im Vorlauf erst einmal nicht mehr als nötig, um sich hinter dem Äthiopier Worku Bikila zu qualifizieren. Salah Hissou ließ es als Fünfter sogar noch ein ganz klein wenig lockerer angehen. Im zweiten, noch etwas langsameren Qualifikationsrennen, setzten sich auch die beiden anderen Kenianer und Khalid Skah sowie - man ist geneigt "selbstverständlich" zu sagen - Haile Gebrselassie durch.

Auch im Finale war das Tempo anfangs nicht übermäßig hoch, so dass das Feld lange Zeit relativ geschlossen blieb. In etwas weniger als vierzehn Minuten wurde die Halbzeitmarke passiert. Dann übernahmen die drei Kenianer das Kommando und drückten die Zeit für den nächsten Kilometer gleich einmal um zehn Sekunden nach unten.

Ziemlich schnell flog durch diese Verschärfung der bis dahin dicht gestaffelte Pulk auseinander und nur noch sechs Läufer konnten sich als neue Spitze formieren. Neben Tergat, Machuka, Koech waren wie schon bei der Cross-WM in Stellenbosch Salah Hissou und Haile Gebrselassie in der Verlosung. Dazu kam noch Aloÿs Nizigama aus Burundi, ein Sportler der praktisch ein ganzes Jahrzehnt immer in der Weltspitze mitlief, aber eben nie ganz oben auf dem Treppchen landen konnte.

Mit einer ganz ähnlichen Taktik wie einige Monate zuvor in Südafrika trat Tergat in Atlanta etwa zwei Kilometer vor dem Ende noch heftiger aufs Gaspedal. Und auch diesmal wurde er fast alle Konkurrenten damit los. Doch Gebrselassie schaffte es mitzugehen. Und so liefen die beiden gemeinsam in hohem Tempo über die nächsten Runden, während Salah Hissou verzweifelt versuchte, irgendwie den Anschluss wieder her zu stellen.

Mit der Schlussglocke überholte der Äthiopier seine kenianische Lokomotive und trat zu einem seiner gefürchteten Spurts an. Bis zur Gegengerade hatte sich die Lücke schon ein wenig geöffnet. In der Zielkurve betrug der Vorsprung mehr als zehn Meter. Doch Tergat gab nicht auf und versuchte mit langem Schritt, wieder näher heran zu kommen. Selbst wenn ihm das sogar ein bisschen gelang, blieb Gebrselassie vorn und hatte im Ziel knapp eine Sekunde Vorsprung.

Mit 27:07,34 erzielte er dabei einen neuen Olympischen Rekord und das sechstschnellste Ergebnis aller Zeiten. Paul Tergats 27:08,17 bedeuteten Rang acht der ewigen Weltbestenliste. Erst siebzehn Sekunden nach dem Sieger trudelte Salah Hissou als Dritter ins Ziel. Vierter wurde der wieder einmal an einer Medaille vorbei schrammende Aloÿs Nizigama.

Das nächste Aufeinandertreffen der beiden Erstplatzierten von Olympia fand bereits gute zwei Wochen später beim Fünftausender im Züricher Letzigrund statt. Doch konnte dabei weder Gebrselassie noch Tergat das Rennen für sich entscheiden. Vielmehr lief Daniel Komen, der bei der Nominierung für Olympia nicht berücksichtigt worden war und nun bei den europäischen Sportfesten auf die Jagd nach Preisgeldern und Rekorden ging, als klarer Sieger ins Ziel.

Mehr als sieben Sekunden Vorsprung lief der gerade erst zwanzigjährige Kenianer bei seiner 12:45,09 auf das Weltklassefeld heraus. Haile Gebrselassie, der als Zweiter wieder einmal seinen Dauerkonkurrenten Paul Tergat hinter sich ließ, konnte froh sein, dass er seinen erst ein Jahr zuvor an gleicher Stelle aufgestellten Weltrekord von 12:44,39 behalten durfte. Tergat lief als Dritter mit 12:54,72 immerhin persönliche Bestzeit und die achtschnellsten fünf Kilometer aller Zeiten.

Und auch bei seinem nächsten Rennen über 10.000 Meter in Brüssel ging der lange Kenianer trotz einer absoluten Weltklasseleistung nicht als Sieger von der Bahn. Mit 26:54,41 schaffte er es zwar in den handverlesenen Kreis der - nach diesem Lauf gerade einmal sechs - Athleten, die zehn Kilometer unter siebenundzwanzig Minuten gelaufen waren. Doch eilte an diesem Tag noch ein ganzes Stück vor ihm eben Salah Hissou in 26:38,08 zu einem neuen Weltrekord.

Wie ein Jahr zuvor verlor Tergat auch 1996 im Oktober in Scicli auf Sizilien erneut auf der Straße gegen den äthiopischen "Igel" Gebrselassie. Im zweiten Halbjahr hatte er nach seiner Frühjahressiegesserie wieder in die bekannte Rolle des ewigen Zweiten hinüber gewechselt. Immerhin gewann er zum Jahresabschluss ein weiteres Mal den Silvesterlauf von São Paulo.

Auch in der beginnenden Crosslauf-Saison war Tergat erst einmal weit weniger dominant wie ein Jahr zuvor. Nachdem er den Cross in San Giorgio su Legnano diesmal gewinnen konnte, folgten dafür umgekehrt mit Rang drei in Sevilla sowie den Plätzen vier (Armed Forces), zwei (Kenia-Meisterschaft) und drei (IAAF Cross) beim Nairobi-Triple gerade im Hinblick auf die Zeitabstände zum Sieger eher durchwachsene Ergebnisse.

Doch zur WM in Turin präsentierte sich Tergat dann doch wieder in Topform, auch wenn er dieses Mal wirklich alles geben musste, um den Titel ein weiteres Mal zu gewinnen. Fast mitten im Zentrum der norditalienischen Metropole ging es für annähernd dreihundert Herren aus weit über fünfzig Nationen - allerdings trotz eigentlich kurzer Anreise wieder einmal ohne deutsche Beteiligung - auf sechs zwei Kilometer langen Runden durch den Parco del Valentino.

Fast im Stile eines Ausreißers bei einem Radrennen lief Tom Nyariki die ersten vier dieser Schleifen weit vor dem Feld her, während seine kenianischen Teamkollegen an der Spitze der sich von Kilometer zu Kilometer weiter ausdünnenden Verfolgergruppe das Tempo kontrollierten. Lange blieb der Abstand deswegen einigermaßen konstant.

Erst drei Kilometer vor dem Ziel wurde der Solo-Ausreißversuch beendet, als mit Paul Tergat, Salah Hissou und Paul Koech die stärksten drei Läufer aus den zuletzt noch verbliebenen halben Dutzend Jäger die Lücke endgültig schlossen. Nyariki wurde aber nach dem Einfangen keineswegs durchgereicht sondern lief weiter mit und drückte dabei sogar meist selbst von vorne aufs Tempo.

Eingangs der letzten Runde setzte sich dann aber doch Paul Tergat an die Spitze. Salah Hissou blieb allerdings wie ein Schatten weiter in seinem Rücken und ging auf dem Schlusskilometer schließlich sogar selbst in die führende Position, um den sich anbahnenden Sprint zum Ziel von vorne zu bestreiten. Eine kleine Lücke konnte der Marokkaner kurzzeitig tatsächlich reißen.

Aber Tergat schob sich wieder heran und trat seinerseits auf den letzten Metern heftig an, um sich am Ende doch noch um einige Schritte vom Marokkaner abzusetzen. Die zwei Sekunden, die schließlich als Abstand in die Ergebnisliste eingetragen wurde, drücken nicht wirklich aus, wie eng dieser Zweikampf war, der Tergat seinen dritten Cross-Titel in Folge bescherte. Tom Nyariki wurde als Dritter vor Paul Koech dahinter noch mit Bronze für seinen Mut belohnt.

Der alte und neue Weltmeister blieb vorerst in Europa, absolvierte einige Rennen auf die Straße, siegte dabei wieder einmal in Dongio sowie zum vierten Mal in Folge in Mailand - wo er mit 1:00:23 seine bisher "schlechteste" Siegerzeit lief - und wechselte dann wieder auf die Bahn, wo im Sommer die nächsten Weltmeisterschaften in Athen auf dem Wettkampfprogramm standen.

Als Dritter der nationalen Meisterschaften über 10.000 Meter hinter Paul Koech und Dominic Kirui sicherte Tergat sich seinen Platz im Team ohne dabei wirklich heraus zu ragen. Und auch siebte Plätze bei - zugegeben für Paul Tergat eher kurzen - Dreitausendern in Sevilla und Oslo oder ein vierter Rang bei den 5000 Metern des kenianischen Militärs schienen nur bedingt überzeugend.

Doch wieder einmal war der inzwischen ziemlich routinierte Paul Tergat zu einem wichtigen Wettkampf in Höchstform. Im Vorlauf tat er als Siebter nicht mehr als nötig, um sicher ins Finale zu kommen. Auch Carsten Eich - der einzige Deutsche, der auf dieser Strecke gemeldet war - kam so noch vor dem Kenianer ins Ziel. Salah Hissou, ein weiterer Mitfavorit, ließ sich hingegen auf Rang acht dieses Laufes wie üblich sogar noch einige Zehntelsekunden mehr Zeit als Tergat.

Das Finale verlief dann über die erste Hälfte der Distanz weitgehend ruhig. Nach fünf Kilometern lagen deswegen noch mehr als ein Dutzend Läufer dicht zusammen. Dann begannen erste kurze, meist von den Kenianern angezettelte Tempowechsel, die dafür sorgten, dass sich die Spitze langsam aber sicher weiter reduzierte. Aber auch Salah Hissou testete zwischendurch schon einmal mit kurzen Antritten die Konkurrenz an.

Das verbliebene kleine Grüppchen zog sich mehrfach zu einer langen Kette auseinander und schnurrte anschließend wieder zu einem relativ geschlossenen Pulk zusammen. Nach sieben Kilometern blieben noch sieben Athleten übrig. Die großen Favoriten Gebrselassie, Tergat und Hissou, Paul Koech, die beiden Äthiopier Assefa Mezgebu und Habte Jifar sowie als einziger Europäer Domingos Castro aus Portugal.

Die nächsten zweieinhalb Kilometer lief fast ausschließlich Paul Koech an der Spitze. Doch blieb das Tempo weiter völlig unrhythmisch. Habte Jifar verlor als nächster den Anschluss und fiel zurück. Sein Landsmann Assefa Mezgebu stand mehrfach kurz davor, schob sich aber in kleinen Ruhephasen immer wieder ans Ende der Gruppe heran.

Fünfhundert Meter vor dem Ziel trat Gebrselassie zu seinem typischen langen Endspurt an. Tergat, der in diesem Moment taktisch unklug relativ weit hinten in der Gruppe lief, hatte sofort einen deutlichen Rückstand. Gemeinsam mit Hissou setzte er fast schon verzweifelt dem Äthiopier hinterher. Zwar konnte Paul Tergat die Lücke noch einmal etwas verkleinern. Doch abfangen ließ sich der enteilte Haile Gebrselassie nicht mehr.

Mit 27:24,58 war der nun schon dreifache Zehn-Kilometer-Weltmeister ziemlich exakt eine Sekunde schneller als sein 27:25,62 laufender Dauerkonkurrent. Noch einmal drei Sekunden später kam Salah Hissou als Dritter ins Ziel. Wenn Paul Tergat das Pech hatte, mit Haile Gebrselassie einen im entscheidenden Moment immer einen Schritt schnelleren Konkurrenten zu besitzen, so musste sich Hissou gleich mit zwei solchen Gegnern abfinden.

Paul Koech blieb als Vierter wie so oft in seiner Karriere knapp hinter den Medaillenrängen. Für Assefa Mezgebu auf Rang fünf sollten diese hingegen zu einem späteren Zeitpunkt noch folgen. Domingos Castro, der bereits zehn Jahre zuvor über 5000 Meter Vizeweltmeister gewesen war, blieb auf Platz sechs der kleine Erfolg, bester Nichtafrikaner geworden zu sein.

Die Revanche fand wie schon in den Jahren zuvor in Zürich statt, wo nur eine Woche nach dem Endlauf Tergat und Gebrselassie über 5000 Meter an die Startlinie traten. Mit 12:49,87 katapultierte sich Paul Tergat auf Platz sechs der ewigen Weltbestenliste und wurde zum bis zu diesem Zeitpunkt drittschnellsten Läufer über diese Distanz.

Sein Pech war, dass mit dem amtierenden Weltmeister Daniel Komen und Haile Gebrselassie auch die zwei vor ihm liegenden Athleten in diesem Rennen dabei waren und beide ebenfalls "lieferten". Komen verbesserte sich mit 12:44,90 ein bisschen gegenüber dem Vorjahr. Doch Gebrselassie war noch schneller und erzielte mit 12:41,86 sogar einen neuen Weltrekord. Dieser sollte allerdings nur neun Tage Bestand haben. Dann hatte Komen in Brüssel auch schon eine 12:39,74 nachgelegt.

Am gleichen Tag und am gleichen Ort konnte sich dann aber auch Paul Tergat als Weltrekordler feiern lassen. Es war das einzige Mal in der Geschichte der Leichtathletik, dass beide Bahnlangstreckenrekorde bei der gleichen Veranstaltung gebrochen wurden. Tergat unterbot dabei nicht nur die gerade einmal eineinhalb Monate alte Gebrselassie-Bestmarke von 26:31,32, er blieb mit 26:27,85 auch als erster Mensch unter sechsundzwanzigeinhalb Minuten.

Noch heute ist dies die fünftbeste Leistung aller Zeiten. Nur Haile Gebrselassie und der aktuelle Weltrekordler Kenenisa Bekele waren später noch schneller. Und die gerade einmal zehn Sekunden besseren 26:17,54 von Bekele stehen nun schon seit 2005. Verglichen mit der rasanten Entwicklung in den Neunzigern herrscht auf der längsten olympischen Bahntrecke im Moment eher Stagnation.

Im Schatten von Paul Tergat lief Paul Koech in Brüssel übrigens weitgehend unbemerkt mit 26:36,26 den bis dahin drittschnellsten Zehntausender. Auch für den bereits vor einigen Jahren früh verstorbenen Koech gilt, dass er wohl einfach in der genau falschen Zeitperiode mit einigen übermächtigen Konkurrenten seine absolute Höchstform erreichte.

Bis zum Ende des Jahres lief Tergat dann wie gewohnt noch einige Straßenrennen, von denen er unter anderem die zehn Kilometer von Prag gewinnen konnte. Am Jahresende musste er allerdings beim Silvesterlauf von São Paulo zum ersten und einzigen Mal eine Niederlage gegen den weitgehend unbekannten Brasilianer Émerson Iser Bem einstecken, für den dieser sensationelle Sieg gegen den Weltstar der mit Abstand größte Erfolg blieb.

Tergat revanchierte sich dafür einige Tage später mit dem Erfolg bei einem Zehner in Punta del Este in Uruguay, wo Émerson Iser Bem ebenfalls am Start war und Sechster wurde, und konzentrierte sich anschließend wieder auf die Cross-Saison und die erneute Titelverteidigung bei den Weltmeisterschaften.

Er siegte in Sevilla, wurde sowohl bei den Militär- als auch bei den Landesmeisterschaften Zweiter hinter seinem langjährigen Wegbegleiter Paul Koech, den er beim diesmal in Mombassa ausgetragenen IAAF-Cross auf Rang zwei verwies, und gewann zum Abschluss seiner Vorbereitung zum zweiten Mal beim Traditionsrennen Cinque Mulini.

Bei der WM im marokkanischen Marrakesch hätte man eigentlich mit einer hoch motivierten Heimmannschaft rechnen müssen. Doch weder Salah Hissou noch Khalid Skah waren am Start. Und so wurden die Titelkämpfe zu einer ziemlich kenianischen Angelegenheit.

Von der achtköpfigen Spitzengruppe, die sich nach gut der Hälfte des Rennens gebildet hatte, kamen alleine sechs Läufer aus Kenia. Nur Assefa Mezegebu aus Äthiopien und der Marokkaner Elarbi Khattabi trugen nicht die schwarzen Trikots der dominierenden Crosslauf-Nation.

Auch der Einheimische ließ abreißen, als Paul Koech nach etwa acht Kilometern wieder einmal von vorne aufs Tempo drückte, und kam am Ende nur als Elfter an. Nur noch Tergat und Mezegebu gingen mit. Doch bald darauf waren die beiden Kenianer auch ihren verbliebenen Begleiter losgeworden. Dieser fiel in die bis dahin rein kenianische Gruppe mit Tom Nyariki, Ismail Kirui, dem Hindernisweltmeister Wilson Boit Kipketer sowie dem eher unbekannten Christopher Kelong zurück.

An der Spitze zogen Koech und Tergat alleine ihre Kreise. Paul Koech führte dabei praktisch die komplette Zeit. Erst als es auf die lange Zielgerade ging, übernahm der "Chef" selbst das Kommando und ging vorbei, um mit fünf Sekunden Vorsprung vor seinem "Edelhelfer" zum vierten Titel zu laufen. Für Koech war diese Silbermedaille neben einer Afrikameisterschaft über 5000 Meter jedoch trotzdem der bisher größte Erfolg. Im Herbst 1998 wurde er dann in Zürich noch Halbmarathon-Weltmeister.

Erst mehr als zwanzig Sekunden hinter Koech kam mit Assefa Mezegebu der Dritte ins Ziel, der damit allerdings zumindest den kompletten kenianischen Durchmarsch verhinderte. Denn die nächsten Plätze gingen an Tom Nyariki, Wilson Boit Kipketer, Christopher Kelong und Ismael Kirui. Um den Gewinner der Mannschaftwertung zu ermitteln, bedurfte es angesichts dieses Zieleinlaufes keiner wirklich großen Rechnerei.

Zwei Wochen nach der Crosslauf-WM holte sich Tergat seinen zweiten Weltrekord. Diesmal war die Strecke bei Stramilano korrekt vermessen und jene 59:17, die der Kenianer bei seinem bereits fünften Sieg in Mailand lief, erhielt die offizielle Anerkennung. Während seine Marke über 10.000 Meter nur noch zwei Monate stehen sollte, bevor Haile Gebrselassie sie auf 26:22,75 schraubte, hielt der Halbmarathonrekord bis zur Verbesserung durch Sammy Wanjiru sieben Jahre.

Große Meisterschaften standen im Sommer nicht auf dem Programm. Trotzdem gab es auch 1998 auf der Bahn wieder zwei Aufeinandertreffen zwischen Gebrselassie und Tergat. In Monaco über drei Kilometer blieb dem Kenianer beim Sieg Gebrselassies nur Platz neun. Und auch beim Fünfer in Zürich war der Äthiopier erfolgreich, während Tergat nur auf Rang vier einlief.

Immerhin hatte er zuvor bei Meetings in Stuttgart und Sheffield zwei Rennen über genau diese Distanzen für sich entscheiden können. Und auch das letzte Rennen der Bahnsaison, die 10.000 Meter von Brüssel gingen an Tergat, der mit 26:46,44 bereits zum dritten Mal unter siebenundzwanzig Minuten blieb und wieder einmal Paul Koech auf den zweiten Platz verwies.

Im Herbst folgte auf einen Sieg gegen Moses Tanui, der inzwischen als zweimaliger Boston-Sieger ein erfolgreicher Marathonläufer geworden war, beim Zehner in Prag über die gleiche Distanz noch ein zweiter Platz in Scicli. Und wieder einmal hatte der Kenianer in Sizilien gegen seinen ewigen Konkurrenten Haile Gebrselassie das Nachsehen.

Nach mehr als zwei Monaten Rennpause ließ Tergat zum Jahreswechsel einen südamerikanischen Doppelsieg in São Paulo und Punta del Este folgen. Und auch danach blieb der Kenianer weitgehend bei seinem bewährten Wettkampfmuster. Zwei Siegen bei Crossläufen in Spanien folgten zweite Plätze bei Militär- und Kenia-Crossmeisterschaften in Nairobi, wo jeweils der bei internationalen Rennen stets unterlegene Paul Koech die Nase vorn hatte.

Auch die üblichen drei oder vier wettkampffreien Wochen zur Crosslauf-Weltmeisterschaft - diesmal in Belfast ausgetragen- wiederholten sich praktisch jährlich. Doch warum sollte man etwas vollständig ändern, das schon mehrfach funktioniert hatte? Die Favoritenrolle hatte Tergat nach vier Siegen ohnehin.

Im Gegensatz zu den staubtrockenen Strecken in Stellenbosch oder Marrakesch oder auch den weitgehend über gut zu belaufende Rasenflächen führenden Kurse in Turin, Durham oder Budapest kam das Geläuf in Belfast deutlich nasser und tiefer daher. Spätestens durch die vorangegangenen Rennen von Frauen und Junioren war es an etlichen Stellen regelrecht matschig und damit auch ziemlich rutschig. Ein wirklich schwerer, eigentlich typisch britischer Crossparcours.

Schnell hatten sich an der Spitze fünf Sportler im schwarzen Laufdress vom Rest des Feldes abgesetzt. Neben Paul Tergat noch der fast unvermeidliche Paul Koech, Patrick Ivuti, Joshua Chelanga und Evans Rutto. Dazu kam noch ein Läufer, der sich nicht nur wegen eines andersfarbigen Trikots von seinen Begleitern abhob, Paulo Guerra aus Portugal.

Nach der Hälfte des Rennens hatte sich auch diese Gruppe in Einzelteile aufgelöst. Ganz vorne liefen Tergat und ausnahmsweise einmal nicht Koech sondern Patrick Ivuti. Dahinter versuchte Joshua Chelanga den Anschluss nicht ganz zu verlieren. Rutto und Guerra bildeten das nächste Pärchen vor dem sich alleine durch den Matsch kämpfenden Paul Koech.

Während Chelanga, bei seinem Versuch mit seinen beiden Teamkollegen zugehen, ein wenig über seine Verhältnisse gelaufen war, hatte der Portugiese sich die Kräfte gut eingeteilt und ging dann schon als Dritter in die letzte Runde. Die ein ganzes Stück enteilten Tergat und Ivuti bekam er allerdings nicht mehr wirklich zu Gesicht.

Fast wie im Jahr zuvor blieb der Titelverteidiger, der diesmal jedoch auch einiges an Führungsarbeit verrichtete, bis kurz vor dem Ziel mit seinem Landsmann zusammen, um sich dann in einem längeren Spurt noch einige Sekunden abzusetzen. Doch auch Ivuti riss im Ziel jubelnd die Arme nach oben.

Am meisten freute sich allerdings der mehrfache Cross-Europameister Paulo Guerra, der knapp zwanzig Sekunden nach dem Sieger Kusshände verteilend als Dritter über die Linie lief. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte ein Nichtafrikaner überhaupt wieder eine Einzelmedaille bei einer Cross-WM gewonnen.

Mit großen Abständen folgten die übrigen Kenianer Chelanga, Rutto und Koech auf den nächsten Plätzen. Schon Paul Koech als Sechster hatte fast eineinhalb Minuten Rückstand auf den Fünffach-Weltmeister Tergat, was durchaus die Schwere der Strecke zeigt. Als weiterer Beleg kann man auch heran ziehen, dass trotz gleicher Distanz von zwölf Kilometern die Siegerzeit rund vier Minuten langsamer war als in den Vorjahren.

Tergat ließ dem fünften Sieg bei den Crosslauf-Weltmeisterschaften seinen sechsten bei Stramilano folgen. Wieder blieb er dabei unter einer Stunde und verpasste mit 59:22 seinen eigenen Rekord um gerade einmal fünf Sekunden. Nur er selbst war jemals schneller gelaufen. Und dies sollte auch noch einige Jahre lang so bleiben. Paul Tergat war nicht nur der überragende Cross- sondern wohl auch der beste Halbmarathonläufe der späten Neunziger.

Obwohl er bei den kenianischen Meisterschaften über zehn Kilometer gar nicht lief und über fünf Kilometer nur Vierter wurde, bekam Paul Tergat seine Nominierung für die Weltmeisterschaften in Sevilla. Trotz eines wahrlich riesigen Reservoirs an talentierten Läufern in Kenia hatte sich Tergat mit seinen Erfolgen inzwischen eine gewisse Sonderstellung erarbeitet.

Einige wenige Starts bei europäischen Sportfesten in Lausanne, Rom und Saint Denis über kürzere Distanzen - alle drei Rennen wurden übrigens von Daniel Komen gewonnen - reichten Paul Tergat als Einstimmung. Der diese Phase abschließende Zehntausender beim Meeting in Stockholm - mit einer 27:10 als Siegerzeit von Tergat allerdings durchaus schnell gelaufen - war in diesem Sommer eigentlich der einzige wirkliche Auftritt auf der geplanten Meisterschaftsstrecke.

Trotz immerhin zweiunddreißig Meldungen gab es in Sevilla keine WM-Vorläufe. Das komplette Feld startete gleich zum Finale, was für ziemlichen Betrieb auf der Bahn sorgte. Einer den man in Vorfeld sehr wohl weit oben auf dem Zettel haben konnte, fehlte allerdings diesmal. Salah Hissou zog nach mehreren schmerzlichen Niederlagen gegen Gebrselassie und Tergat in Sevilla die 5000 Meter vor, wo er sich dann auch prompt den Titel holen konnte.

In einem eher langsamen und wenig ereignisreichen Rennen lag immer noch ein Dutzend Läufer zusammen, als es auf die letzten zwei Kilometer ging. Neben drei Kenianern und vier Äthiopiern - Gebrselassie als Titelverteidiger hatte durch sein persönliches Startrecht eine weitere Position frei gemacht - auch noch Khalid Skah, der Südafrikaner Hendrick Ramaala, der Spanier Enrique Molina, der Niederländer Kamiel Maase sowie der Europameister und -rekordler Antonio Pinto aus Portugal.

Fünfhundert Meter später beschleunigte Tergats Landsmann David Chelule spürbar. Die ersten Opfer waren Skah und Molina. Und eine halbe Runde später waren auch Maase und Ramaala nicht mehr dabei. Genau an der Neun-Kilometer-Marke trat dann Antonio Pinto heftig an, Gebrselassie setzte sofort hinterher, Tergat schloss die Lücke ebenfalls wieder, aber deutlich langsamer.

Und schließlich kamen auch die übrigen drei Äthiopier Mezgebu, Tolla und Jifar sowie der Kenianer Benjamin Maiyo erneut halbwegs heran. Doch Pinto hielt das Tempo so hoch, das sich die siebenköpfige Läuferkette nun auf fast zwanzig Meter erstreckte.

Fast schon standardmäßig begann der bis dahin an zweiter Position laufende Haile Gebrselassie beim Erklingen der Schlussglocke seinen eigenen Schlussspurt, wodurch innerhalb von Sekunden nur noch Pinto, Tergat, Mezgebu und Tolla als direkte Verfolger übrig blieben. Als Erster musste der Portugiese davon auf der Gegengerade die Segel streichen. Und Tergat, der letzte verbliebene Kenianer, lag eingangs der letzten Kurve hinter drei Läufern in grünen Trikots nur auf Rang vier.

Doch auf der Zielgeraden war Tergat wieder gleichauf und konnte Assefa Mezgebu und Girma Tolla noch davon sprinten. An den schon ein Stück enteilten Haile Gebrselassie kam er allerdings wieder einmal nicht mehr heran. Gebrselassie holte mit 27:57,27 zum vierten Mal hintereinander den Weltmeistertitel über zehn Kilometer. Paul Tergat blieb nach 27:58,56 erneut nur Silber.

Bronze ging an Assefa Mezgebu, dahinter folgten Tolla und Pinto als bester Europäer. Da mit Habte Jifar auch der vierte Äthiopier noch vor dem zweiten Kenianer Benjamin Maiyo im Ziel war, ging das traditionelle ostafrikanische Duell diesmal eindeutig zugunsten der Grünhemden aus - insbesondere da David Chelule auch noch von Kamiel Maase überholt und am Ende nur Neunter wurde.

Sechs Wochen nach der vierten Spurtniederlage im vierten Meisterschaftsfinale gegen Haile Gebrselassie durfte sich Tergat dann jedoch ebenfalls eine Goldmedaille umhängen lassen. Erstmals seit vielen Jahren nahm er in Palermo wieder an der Halbmarathon-WM teil. Doch viel hätte nicht gefehlt und Paul Tergat wäre auch dieser Titel - und zwar nicht aufgrund eines noch stärkeren Gegners sondern wegen einem unaufmerksamen Funktionär - verlustig gegangen.

Tergat hatte sich nach einem taktisch geprägten Rennen mit einem langen Spurt gerade ein wenig aus einer insgesamt achtköpfigen Spitzengruppe gelöst, als ihm etwa hundert Meter vor dem Ziel plötzlich ein Offizieller in den Weg lief. Mit Mühe verhinderte der Kenianer gerade noch den Sturz. Der Rhythmus war allerdings verloren.

Er musste erneut antreten, schaffte es aber sich einen Schritt vor dem in 1:01:50 zeitgleichen Hendrick Ramaala über die Linie zu retten. Eine Sekunde später war mit dem Äthiopier Tesfaye Jifar auch schon der Dritte im Ziel. Und bis zu dessen Landsmann als Achten vergingen bei dieser Entscheidung im Massenspurt nur weitere fünf Sekunden.

Der Südafrikaner Ramaala, der bereits in Zürich im Vorjahr hinter Paul Koech mit dem zweiten Platz vorlieb nehmen musste, war bei aller Enttäuschung fair genug zuzugeben, dass er auf einen Titelgewinn unter diesen Umständen nicht wirklich hätte stolz sein können. Später sollten sich die Beiden übrigens noch weitere, genauso enge Duelle liefern, die insgesamt fast schon an die Rennen gegen Gebrselassie erinnerten.

Mit seinen Mannschaftskollegen Abner Chipu auf Rang sechs und Mluleki Nobanda auf Platz zehn konnte sich Ramaala immerhin über Gold in der Teamwertung freuen. Auch hier ging es wirklich hauchdünn zu. Denn Südafrika lag in der Addition der drei besten Zeiten gerade einmal zwei Sekunden vor Äthiopien, die ihrerseits sogar zeitgleich mit den drittplatzierten Kenianern waren.

Sechs Wochen nach seinem Titelgewinn lief Paul Tergat im November gleich noch einen weiteren Halbmarathon in Palermo und siegte dabei in für ihn ziemlich lockeren 1:06:25, bevor es ihn zum Jahreswechsel wieder nach Südamerika zog. Mit Erfolg Nummer vier bei der "Corrida de São Silvestre" in São Paulo und Nummer drei bei der "Carrera de San Fernando" in Punta del Este ein durchaus erfolgreicher Ausflug.

Natürlich waren die Olympischen Spiele von Sydney für Paul Tergat das Hauptziel des Jahres 2000. Doch zuvor standen eben erneut Crosslauf-Weltmeisterschaften im Kalender, bei denen der Kenianer seinen ebenfalls insgesamt fünfmal siegreichen Landsmann John Ngugi bei einem sechsten Titelgewinn übertreffen und zum alleinigen Rekordhalter werden konnte.

Zweite Plätze bei Rennen in Sevilla, Catania auf Sizilien, Albufeira in Portugal sowie beim Cinque Mulini - dreimal war Tergat dabei knapp Charles Waweru Kamathi, einmal hauchdünn David Chelule unterlegen - und ein Sieg gegen praktisch die komplett versammelte heimische Elite in Nairobi waren für dieses Vorhaben durchaus vielversprechend.

In Vilamoura an der portugiesischen Algarve gab es nach dem Matschrennen von Belfast wieder einen trockenen Rasenkurs, der allerdings mit einigen Steigungen durchaus anspruchsvoll abgesteckt war. Bereits nach gut zehn Minuten hatte sich die kenianische Armada an der Spitze endgültig formiert und praktisch alle Konkurrenten abgeschüttelt. Neben sechs Läufer in Schwarz hielten sich nur noch Assefa Mezegebu und der in Belgien eingebürgerte Marokkaner Mohammed Mourhit vorne.

Abgesehen davon, dass Abraham Cherono irgendwann unterwegs verloren ging, änderte sich an diesem Bild bis zur Schlussrunde wenig. Als das Tempo in Vorbereitung auf den Spurt immer schärfer wurde, konnten dann auch Charles Kamathi und schließlich Paul Koech den Anschluss nicht mehr halten. Doch noch immer waren die Kenianer zahlenmäßig in der Überzahl.

Zu fünft ging man auf die Zielgerade, wo Mezegebu versuchte, das Rennen im Stil seines Landsmannes Gebrselassie mit einem langen Spurt von vorne zu entscheiden. Doch war es nicht etwa Paul Tergat, der irgendwann neben ihm auftauchte sondern Mohammed Mourhit. Auf den letzten Metern konnte der Neu-Belgier dann sogar vorbei ziehen und das Rennen für sich entscheiden.

Titelverteidiger Tergat, dem bei den ganz schnellen, kurzen Sprints stets ein wenig die absolute Spritzigkeit fehlte, blieb nur Bronze. Die übrigen Kenianer kamen in der Reihenfolge Patrick Ivuti, Wilberforce Talel, Paul Koech und Charles Kamathi auf den Rängen vier bis sieben ins Ziel.

Was vielerorts als großer Erfolg und Beleg hoher Leistungsdichte verstanden worden wäre, musste den erfolgsverwöhnten Ostafrikanern wie eine krachende Niederlage vorkommen. Dass man auf der zwei Jahre zuvor eingeführten Kurzstrecke mit Platz eins bis fünf einen kompletten Durchmarsch hinlegte und insgesamt sieben von zwölf möglichen Titeln holte, war da eher ein schwacher Trost.

Auch im Folgejahr gab es bei der Cross-Weltmeisterschaft einen Sieg von Mohammed Mourhit. Später wurde er allerdings wegen EPO-Dopings mehrere Jahre aus dem Verkehr gezogen, was auch hinter seinen beiden Titelgewinnen doch ein gewisses Fragezeichen hinterlässt.

Danach begann dann die große Ära von Kenenisa Bekele. Dem Äthiopier gelang es bis 2008 tatsächlich jenen sechsten Titel auf der Langstrecke zu gewinnen, den Paul Tergat nicht holen konnte. Zu allem Überfluss siegte er auch noch fünfmal auf der Kurzdistanz, was wohl durchaus dazu beitrug, diese Disziplin nach nicht einmal einem Jahrzehnt wieder abzuschaffen.

Paul Tergat bestritt zwar weiterhin gelegentlich ein Crossrennen, bei einer WM trat er allerdings nie wieder an. Eine Woche später lief er sich zweihundert Kilometer weiter im Norden wohl auch ein bisschen Frust von der Seele, als er beim Halbmarathon in Lissabon eine 59:06 auf den Asphalt zauberte.

Als Weltrekord wurde diese Leistung jedoch erneut nicht anerkannt. Denn mit dem Start auf der Tejo-Hängebrücke und einem Ziel praktisch auf Meereshöhe hatte die Strecke zu viel Gefälle. Während der Kurs für alle Breitensportler bis heute so beibehalten wurde, gibt es für das Elitefeld in der portugiesischen Hauptstadt inzwischen einen eigenen Startbereich, der nun alle Bedingungen für einen Rekord erfüllt.

Nach nur noch einem weiteren Straßenlauf in Argentinien bereitete sich der entthronte Cross-König zwei Monate konzentriert auf Olympia vor und bestritt dann im Juni und Juli eine ganze Serie von Bahnrennen über fünf Kilometer. Abgesehen von den Militärmeisterschaften, bei denen sich der offiziell immer noch bei der Luftwaffe beschäftigte Weltstar weiterhin regelmäßig sehen ließ, konnte er zwar kein einziges davon gewinnen. Doch schlechter als Dritter war er auch nie.

Abschluss und Höhepunkt der Fünfer-Serie war das Rennen in Zürich, in dem Tergat wieder einmal auf Haile Gebrselassie traf. Die beiden erfüllten die von den Veranstaltern in sie gesetzten Erwartungen und lieferten sich ein weiteres spannendes Duell und die ersten zwei Plätze, das - es überrascht eigentlich nicht - erneut der Äthiopier mit 12:57,95 zu 12:58,21 knapp für sich entscheiden konnte.

Ein Sieg bei den 10.000 Meter von Brüssel bildete für Tergat wie üblich den letzten Test vor dem Großereignis. Genau einen Monat später, am 25.September, war dann der Olympia-Endlauf in Sydney angesetzt, für den sich der Kenianer drei Tage vorher problemlos mit neunzehn anderen Läufern qualifizieren konnte.

Vom Start weg übernahm Aloÿs Nizigama die Führung und sorgte für ein relativ hohes Tempo, mit dem das Feld schnell auseinander gezogen und bald in zwei Gruppen aufgespalten war. Als der Mann aus Burundi nach drei Kilometern ausscherte, übernahm Patrick Ivuti die Arbeit an der Spitze und brachte die Spitze unter elf Minuten über die ersten vier Kilometer. Danach sackte das Tempo plötzlich ab und die verbliebenen vierzehn Läufer schoben sich wieder dichter zusammen.

Als sich sogar die zweite Gruppe wieder von hinten näherte, ging erneut Nizigama nach vorne und drückte die nächste Rundenzeit in diesem völlig unrhythmische Lauf wieder kurzzeitig nach unten. Bei Kilometer sechs setze der dritte Kenianer John Korir die nächste Tempospitze, nur um auf den nächsten Runde das Tempo wieder völlig zu verschleppen. Bis zu zehn Sekunden schwankten die Rundenzeiten hin und her.

Nach gut sieben Kilometern übernahm Tergat selbst das Kommando und innerhalb kürzester Zeit hatte er die zwischenzeitlich sogar durch von hinten aufschließende Läufer wieder gewachsene Gruppe halbiert. Drei Kenianer, drei Äthiopier, der Marokkaner Saïd Bérioui und Mohammed Mourhit blieben übrig. John Korir drückte noch heftiger aufs Gaspedal und sorgte dafür, dass Mourhit und Girma Tolla wegplatzten.

Drei Runden vor Schluss war es dann auch um den Marokkaner geschehen, so dass mit Korir, Tergat und Ivuti drei Kenianer sowie Gebrselassei und Assefa Mezgebu aus Äthiopien übrig blieben, die in schönem Wechsel der Trikots hintereinander aufgereiht ihre Kreise um die Bahn zogen.

Diesmal trat der Top-Favorit Haile Gebrselassie nicht so früh wie üblich zum Spurt an. Fast schien es als würde das Tempo zu Beginn der letzten Runde sogar noch einmal herunter fallen. Dann übernahm Paul Tergat die Initiative und startete ausgangs der Gegengerade seinerseits eine energische Attacke, die ihm einige Schritte in Front brachte.

Nun war es an Gebrselassie nachzusetzen und die Lücke mit allem, was er an Restenergie hatte, zu schließen. Es dauerte bis etwa zwanzig Meter vor dem Ziel, bevor der Äthiopier einigermaßen auf gleicher Höhe war. Doch das verbleibende Stück bis zur Linie reichte ihm noch, um seine Brust an Tergat vorbei zu schieben und tatsächlich wieder als Erster die Zeitmessung auszulösen.

Erst in der zweiten Nachkommastelle unterscheiden sich die beiden Zeiten 27:18,20 und 27:18,29 - ein Abstand, den man eher auf Sprintstrecken vermuten würde. Genau genommen hatte in Sydney der Goldmedaillengewinner über hundert Meter Maurice Greene sogar mit elf Hundertstelsekunden noch einen größeren Vorsprung auf den Zweiten Ato Boldon als Gebrselassie auf Tergat.

Dass Assefa Mezgebu in 27:19,75 Dritter und Patrick Ivuti Vierter wurden, war nach diesem epischen Duell fast schon Nebensache. Nie zuvor war es bei einem Kampf um Olympisches Gold auf den Langstecken so eng geworden. Dieser Zielsprint stellte den absoluten Höhepunkt des harten, aber immer sportlich fairen Zweikampfes um die Vorherrschaft über die 10.000 Meter dar, der Freunde des Langstreckenlaufens ein halbes Jahrzehnt fasziniert hatte.

Für den inzwischen einunddreißigjährigen Paul Tergat, der schon vorher einen Wechsel auf die Marathonstrecke angekündigt hatte, war es das letzte Bahnrennen seiner Karriere. Haile Gebrselassie konzentrierte sich noch vier weitere Jahre auf die zehn Kilometer. Doch fast schien es, als ob ohne seinen großen Konkurrenten auch ihm die allerletzte Motivation ein wenig verloren gegangen war.

Bei der WM 2001 in Edmonton wurde er beim Sieg von Charles Waweru Kamathi, - dem das gelang, was sein Landsmann Tergat jahrelang vergeblich versucht hatte - nur Dritter. Zwei Jahre darauf gewann er hinter Kenenisa Bekele in Paris Silber. Und bei Olympia in Athen blieb Gebrselassie leicht angeschlagen als Fünfter sogar vollkommen ohne Medaille.

Im November trat Paul Tergat dann im mexikanischen Veracruz an, um bei der Halbmarathon-WM seinen im Vorjahr gewonnen Titel zu verteidigen. Bis Kilometer fünfzehn blieben in der Küstenstadt am Golf von Mexico eine große Führungsgruppe von fast zwanzig Läufern zusammen, bevor das dort vertretene kenianische Quartett aufs Tempo drückte, so dass nur noch Tesfaye Jifar aus Äthiopien, Faustin Baha und Zebedayo Bayo aus Tansania und der Spanier Oscar Fernández folgen konnten.

Nachdem man irgendwann auch noch den Iberer abgeschüttelt hatte gingen sieben Ostafrikaner in breiter Front auf den letzten Kilometer. Paul Tergat erhöhte vorne weiter das Tempo und nacheinander verloren Bayo, David Ruto und John Gwako den Anschluss. Auch Joseph Kimani fiel schließlich einige Meter zurück.

Während die letzten beiden verbliebenen Konkurrenten aus Tansania und Äthiopien verbissen kämpften, um überhaupt folgen zu können, schien Paul Tergat immer noch ziemlich locker zu sein und kontrollierte das Rennen von vorne. Nach 1:03:47 durchriss er das Zielband und gewann seinen zweiten Halbmarathon-WM-Titel in viel sichererer Manier, als es die eine Sekunde Vorsprung vor dem jungen Faustin Baha auf dem Papier aussagt.

Hinter dem ebenfalls nur drei Sekunden nach dem Sieger einlaufenden Tesfaye Jifar folgten die drei weiteren Kenianer, so dass auch die Mannschaftwertung sicher an die Läufer aus dem Rift Valley ging. Trotz eines Medaillengewinners und eines weiteren Läufers auf Platz sieben ging Tansania wegen des fehlenden dritten Mannes dabei übrigens leer aus. Überraschend gewann Belgien hinter Äthiopien Bronze.

Durch seinen dritten Doppelsieg in São Paulo und Punta del Este machte sich Tergat bei beiden Rennen zum Rekordsieger. In San Juan auf Puerto Rico besiegte er bei einem Zehner mit dem wenig bescheidenen Namen "World's Best" den amtierenden Marathonweltrekordler Khalid Khannouchi.

Und drei Woche vor seinem ersten Marathon in London unterlag er beim Halbmarathon in Lissabon um eine Sekunde Hendrick Ramaala, der damit den Spieß diesmal umdrehen konnte. Die ersten Reaktionen von Gentleman Tergat waren ein freundliches Lächeln und ein anerkennendes Schulterkolpfen für den direkt vor ihm im Zielkanal stehenden Südafrikaner.

In der britischen Hauptstadt lief Paul Tergat dann lange ohne Probleme in der Spitzengruppe mit. Als der Marokkaner Abdelkader El Mouaziz sich jenseits der dreißig Kilometer von der verbliebenen Handvoll Läufer löste, war Tergat sogar der einzige, der versuchte die Lücke wieder zu schließen, während zum Beispiel Vorjahressieger Antonio Pinto - der am Ende immerhin Dritter werden konnte - schnell zurück fiel.

Mehrere Minuten lief Tergat zehn bis zwanzig Meter hinter dem sich immer wieder nach ihm umdrehenden und danach weiter beschleunigenden Marokkaner her, ohne wirklich vollständig heran zu kommen. Und irgendwann wurde der Abstand dann langsam größer. Bis zum Ziel verlor Tergat noch mehr als eine Minute auf den 2:07:09 laufenden El Mouaziz, der nach 1999 zum zweiten Mal an der Themse gewann, wurde aber genauso ungefährdet in 2:08:15 Zweiter.

Zwei Halbmarathons mit einem fünften Platz im Juli in Sapporo und einem Sieg beim Great North Run im September waren die beiden einzigen Wettkampfauftritte, bevor Tergat in Chicago sein zweites Rennen über 42,195 Kilometer in Angriff nahm. Die auf dem Papier größten Konkurrenten schienen dabei der zweifache Boston-Sieger Moses Tanui, der 1999 als Zweiter am Michigansee eine 2:06:16 gelaufen hatte, sowie Ondoro Osoro, der 1998 an gleicher Stelle mit 2:06:54 erfolgreich war, zu sein.

Aber Tanui wurde am Ende weit abgeschlagen nur Zwanzigster. Und auch Osoro blieb als Siebter in 2:11:44 unter seinen Möglichkeiten. Doch trotz weit offener Tür wurde es wieder nichts mit dem Sieg bei einem großen Marathon für Tergat. Denn ausgerechnet ein Mann, der eigentlich nur als Tempomacher verpflichtet worden war, sich nach getaner Arbeit aber entschloss einfach weiter zu laufen, um vielleicht noch eine gute Zeit zu erzielen, schnappte ihm den Sieg weg.

Der bis dahin höchstens einigen Experten bekannte Benedict Muli Kimondiu lieferte an diesem Tag das wohl beste Rennen seiner kompletten Karriere ab, erzielte in 2:08:52 eine neue - auch später nie wieder erreichte - persönliche Bestzeit und gewann damit seinen einzigen großen Marathon vor dem vier Sekunden später ins Ziel laufenden Weltstar Paul Tergat, der am Ende nichts mehr zuzusetzen hatte, als sein Begleiter kurz vor Schluss wieder die Führung übernahm.

Erst im Februar trat Tergat nach dieser überraschenden Niederlage in San Juan wieder zu einem Rennen an und wurde von seinem alten Bekannten Hendrick Raamala und dessen Landsmann Shadrack Hoff auf Rang drei verwiesen. Fünf Wochen später in Lissabon traf er dann nicht nur erneut auf den Südafrikaner, der viele Jahre lang einer der besten Straßenläufer der Welt war, aber trotzdem nie wirklich im Fokus stand, sondern auch auf Haile Gebrselassie.

Und obwohl das Feld mit etlichen weiteren großen Namen gespickt war, machten genau diese drei die ersten Plätze schließlich unter sich aus. Gebrselassie, der 2001 Tergat als Halbmarathonweltmeister nachgefolgt war, sorgte trotz hoher Temperaturen für ein so hohes Tempo, dass schließlich nur noch Tergat und Ramaala folgen konnten.

Im Schlussspurt gab sich der Kenianer - vielleicht auch aufgrund vieler bereits erlebter ähnlicher Situationen - früh geschlagen, während der Mann aus Südafrika noch einen Gegenangriff versuchte, aber vom 59:41 laufenden Gebrselassie um eine Sekunde auf Distanz gehalten werden konnte. Vier Sekunden danach folgte Weltrekordler Tergat als Dritter. Auch auf "seiner" Distanz hatte er sich nun eine Niederlage gegen den Freund und Konkurrenten aus Äthiopien eingefangen.

Drei Wochen später hatte er in London die Chance auf Revanche. Denn auch Gebrselassie wollte nun seinen ersten Marathon versuchen. Doch neben ihnen war mit Khalid Khannouchi, der zwei Jahre zuvor ich Chicago mit 2:05:42 eine neue Weltbestzeit gesetzt hatte, sowie den Doppel- bzw. Dreifachsiegern Abdelkader El Mouaziz und António Pinto einige weitere absolute Topleute am Start.

Bei nahezu perfekten Bedingungen ohne Wind und Temperaturen knapp unter zehn Grad legten die Herren von Anfang an Weltrekordtempo vor. In 62:47 passierte rund ein Dutzend Läufer die Halbmarathonmarke. Langsamer wurde es auch danach nicht mehr. Nur die Kopfgruppe wurde immer kleiner, bis nach gut eineinhalb Stunden Ausscheidungsrennen nur noch drei Athleten übrig waren - Tergat, Gebrselassie und Khannouchi.

Kilometerlang lief das Trio zusammen entlang der Themse dem Ziel entgegen. Hauptsächlich der inzwischen mit einem US-Pass ausgestattete gebürtige Marokkaner sorgte dabei für ein konstant hohes Tempo. Weniger als drei Kilometer waren noch zu laufen, als Gebrselassie plötzlich ein wenig zurück fiel und den beiden anderen nicht mehr folgen konnte.

Tausend Meter später, kurz bevor es an Big Ben nach rechts von der Themse weg ging, war es dann auch um Paul Tergat geschehen. Aus den zwei Schritten, die er schon länger hinter Khannouchi her lief wurden erst drei, dann fünf und zehn. Irgendwann riss der Kontakt endgültig ab. Tergat blieb zumindest stets in Sichtweite, doch sein sonst so eleganter langer Schritt wirkte deutlich schwerfälliger als gewohnt.

Nach 2:05:38 konnte Khannouchi über einen neuen Weltrekord jubeln. Zehn Sekunden später hatte Tergat den bis dahin drittbesten Marathon aller Zeiten gelaufen. Nur der alte und neue Rekordmann war zweimal schneller. Haile Gebrselassie blieb als Dritter mit 2:06:35 ebenfalls noch unter dem bisherigen Streckenrekord des Portugiesen António Pinto und lief sich auf Rang sieben der ewigen Bestenliste.

Paul Tergat hatte sich mit diesem Rennen nun auch im Marathon in der absoluten Weltspitze etabliert und zudem seinen ewigen Rivalen Gebrselassie ausnahmsweise einmal hinter sich gelassen. Doch dafür hatte ihm diesmal ein anderer zum ganz großen Triumph im Weg gestanden.

Mit diesem Khalid Khannouchi kreuzte Tergat bereits ein halbes Jahr später in Chicago erneut die Klingen, nachdem er in der Vorbereitung unter anderem einen Halbmarathon in Virginia Beach und zum dritten Mal den Zehner in Prag gewonnen hatte. Und bei kühlen aber sonnigen Verhältnissen war erneut der Weltrekordmann der Stärkere.

Paul Tergat blieb in keineswegs schlechten 2:06:18 sogar nur Rang vier. Knapp vor ihm lagen noch der Japaner Toshinari Takaoka, der nach längerem Sololauf erst auf dem vorletzten Kilometer von Khannouchi überholt wurde, als Dritter und Tergats Landmann Daniel Njenga auf Platz zwei.

Im auch ohne Weltrekord bis zu diesem Zeitpunkt schnellsten jemals gelaufenen Marathon, der vier der besten neun Ergebnisse der ewigen Bestenliste produzierte, knackte Sieger Khalid Khannouchi dagegen mit 2:05:56 nun schon zum dritten Mal die 2:06 - eine Leistung, die bis dahin ansonsten nur Tergat in London gelungen war.

Im folgenden Frühjahr sah es fast so aus, als ginge die große Ära von Paul Tergat langsam zu Ende. Ein fünfter Platz beim Zehner in San Juan - gewonnen von Hendrick Ramaala - und ein siebter Rang beim Halbmarathon in Lissabon - wo der Kenianer Martin Lel siegte und Ramaala Zweiter wurde - passten genauso wenig ins Bild von absoluter Weltklasse wie die doch recht deutlichen Rückstände.

In London, wo Tergat erneut seinen Frühjahrsmarathon absolvierte, ging es nach der Rekordhatz des Vorjahres deutlich langsamer zu, selbst wenn das Starterfeld mit unter anderem Abdelkader El Mouaziz, Hendrick Ramaala, dem Olympiasieger und Weltmeister Gezahegne Abera, dem Ex-Europameister Stefano Baldini sowie dem Olympia-Silbermedaillengewinner von 1996 Lee Bong-ju aus Korea alles andere als schlecht besetzt war.

Bis auf den schon etwas zurück hängenden Südafrikaner waren alle Genannten noch dabei, als es unweit des Parlamentsgebäudes auf die letzte Meile ging. Dazu kam noch Joseph Ngolepus, dem in Jahr 2001 in Berlin ebenfalls das Kunststück gelungen war, einen großen Marathon als Tempomacher zu gewinnen, und Samson Ramadhani aus Tansania.

Am Buckingham Palast keine fünfhundert Meter vor dem Ende lagen Tergat, Abera, El Mouaziz, Baldini und Ngolepus immer noch gleichauf und liefen Brust an Brust dem Ziel entgegen. Es kam zum kurzen, harten Sprint wie bei einem Bahnrennen, in dem zuerst El Mouaziz nicht mehr mitgehen konnte. Er wurde sogar noch vom auch nur wenige Schritte zurück liegenden Tansanier Ramadhani überholt.

Dann gab allerdings überraschend Paul Tergat den Kampf als Nächster auf und trabte in 2:07:59 drei Sekunden hinter dem Sieger ins Ziel. Zeitgleich mit seinem späteren Nachfolger als Olympiasieger Stefano Baldini gewann Abera diesen ziemlich ungewöhnlichen Marathoneinlauf in 2:07:56.

Eine Sekunde später wurde Joseph Ngolepus mit persönlicher Bestzeit Dritter. Die ersten sechs Läufer lagen innerhalb von gerade einmal sieben Sekunden. Der routinierte Lee Bong-ju - unter anderem auch noch zweifacher Asienmeister im Marathon und früherer Boston-Sieger - war weitere sieben Sekunden später als Siebter im Ziel.

Auch im fünften Marathon seiner Karriere hatte es Paul Tergat nicht auf die oberste Stufe des Siegertreppchens geschafft und es zum zweiten Mal in Folge sogar komplett verpasst. Und insbesondere die letzten beiden Ergebnisse zeigten, dass seine einst so gefürchtete Dynamik zumindest am Ende eines Marathons nicht oder nicht mehr vorhanden war. Fast schien es, als sei der Kenianer endgültig über seinen Zenit hinaus. Und dann kam der Berlin Marathon am 28. September 2003.

Die äußeren Bedingungen waren mit weitgehender Windstille, Sonne und Temperaturen zwischen zehn und fünfzehn Grad an diesem Tag nahezu ideal. Und im Vergleich mit Chicago oder insbesondere London war das Rennen auch in der Breite längst nicht so prominent besetzt sondern wie auch in den Folgejahren so oft in Berlin eher auf einen einzigen absoluten Spitzenläufer, nämlich Paul Tergat zugeschnitten.

Neben Superstar Tergat, dem mit Sammy Korir und Titus Munji zwei persönliche Schrittmacher zur Seite standen, und Vorjahressieger Raymond Kipkoech Chemwelo war Andres Espinosa der wohl bekannteste Name in der Startliste. Doch dessen Sieg in New York lag bereits zehn Jahre zurück. Der Mexikaner hatte sogar schon die vierzig überschritten und lief seit dem Frühjahr 2003 in der Mastersklasse.

Für einen Rekordlauf nicht wirklich optimal war das Tempo auf der ersten Rennhälfte ein wenig unruhig. Einigen zu schnellen Kilometern am Anfang folgten später einige zu langsame in Zeiten klar über drei Minuten. Die Halbzeitmarke wurde in fast exakt dreiundsechzig Minuten passiert. Und auch danach änderte sich erst einmal wenig am angeschlagenen Schritt.

Erst ab Kilometer fünfundzwanzig wurde es schneller. Tergat selbst sorgte für eine Verschärfung, der Raymond Kipkoech Chemwelo schließlich zum Opfer fiel. Nur noch Tergat, Korir und Munji lagen an der Spitze und legten von nun an durchgehend Abschnitte um 2:55 oder schneller auf den Berliner Asphalt.

Spätestens weit nach dreißig Kilometern hätten die beiden Tempomacher ihre Aufgabe erfüllt gehabt. Doch beide entschieden sich beim Blick auf die Uhr, die Chance beim Schopf zu ergreifen, ihre Hausrekorde deutlich verbessern und eventuell auch gutes Preisgeld abgreifen zu können. Im Gegensatz zu Chicago 2001 kannte Tergat seine Begleiter diesmal immerhin und war auch nicht wirklich überrascht, als beide weiter liefen.

Titus Munji fiel bei Kilometer sechsunddreißig zurück, schaffte es mit 2:06:15 aber am Ende unter die Top-Ten der ewigen Bestenliste und konnte zudem einen fünfstelligen Euro-Betrag mit nach Kenia nehmen. Sammy Korir war eine noch viel härtere Nuss. Erst kurz vor dem Brandenburger Tor, das zur dreißigsten Auflage erstmals als Hintergrund für den Zieleinlauf diente, konnte Tergat ihn abschütteln.

Allerdings wählte er dann den etwas längeren Weg durch den mittleren Durchlass, während Korir die optimale Linie durch einen Bogen weiter außen nahm und damit wieder deutlich näher heran kam. Ganz schließen konnte er die Lücke dann aber doch nicht mehr, selbst wenn es tatsächlich noch einmal richtig knapp wurde. Mit 2:04:55 unterbot Paul Tergat nicht nur deutlich den Weltrekord von Khalid Khannouchi sondern blieb auch als Erster unter der Schallmauer von 2:05.

Der Zweite, dem dies gelang war Sammy Korir, der gerade einmal eine Sekunde dahinter mit 2:04:56 gestoppt wurde. Keiner der ersten Drei lief jemals wieder schneller. Doch während Titus Munji diese Leistung in der Folge nicht mehr bestätigen konnte, erzielte Sammy Korir in den nächsten Jahren noch einige Zeiten im Bereich von 2:06 und 2:07 und gewann auch mehrere internationale Marathons - unter anderem in Rotterdam.

Nach dem Weltrekord hatte Paul Tergat hauptsächlich ein großes Ziel. Vielleicht konnte er ja doch noch Olympiasieger werden - nun eben über die Marathondistanz. Ohne einen Frühjahrsmarathon lief er Anfang des Jahres wieder einige Crossrennen und sicherte sich dabei unter anderen trotz etlicher vergangener Starts bei diesem Wettbewerb erst seine zweite kenianisch Militärmeisterschaft.

Beim Olympia-Lauf Ende August auf der klassischen Strecke von Marathon nach Athen schwamm Tergat erst einmal unauffällig im lange Zeit ziemlich großen Feld mit. Nur bei einer kleinen Tempoverschärfung des alten Bekannten Hendrick Ramaala nach gut fünfzehn Kilometern stiefelte er einmal selbst hinterher und führte den Pulk wieder an den einige Dutzend Meter vorweg laufenden Südafrikaner heran.

Beim zweiten Angriff Ramaalas einige Minute später hielt er dann aber doch die Füße still und so lief der Mann vom Kap eine Zeit lang alleine vor dem Feld her, ohne wirklich mehr als zehn bis fünfzehn Sekunden wegzukommen. Nachdem Ramaala - der nicht ins Ziel im alten Olympiastadion von 1896 kommen sollte - noch vor der Halbzeitmarke wieder eingefangen worden war, setzte der Brasilianer Vanderlei de Lima praktisch direkt eine Gegenattacke.

Und den eher unbekannten Mann aus Südamerika ließ die noch immer rund zwanzig Läufer starke Favoritengruppe ziehen, um auf dem welligen Parcours und bei hohen Temperaturen das eigene Pulver nicht zu früh zu verschießen. Bei Kilometer dreißig war der Vorsprung auf die verbliebenen Verfolger mit unter anderem Tergat und seinem Teamkollegen Eric Wainaina, Stefano Baldini, dem Amerikaner Mebrahtom Keflezighi und dem Briten Jon Brown auf fast eine Minute gewachsen.

Als dieser Vorsprung auch danach partout nicht kleiner werden wollte, setzten schließlich Tergat, Baldini und Keflezighi doch etwas energischer nach, sprengten damit die Verfolgergruppe in mehrere Teile und waren fünf Kilometer später auch wieder bis auf dreißig Sekunden an Vanderlei de Lima heran gerückt.

Dann verlor zum einen Tergat plötzlich den Kontakt zu seinen beiden Begleitern - später gab er an, Magenprobleme bekommen zu haben, weil er zuvor seine eigene Flasche verpasst und sich an einem allgemeinen Stand bedient hatte. Zum anderen wurde der führende Brasilianer von einem Zuschauer von der Straße gezerrt, verlor dadurch den Rhythmus und wertvolle Sekunden.

Der nach diesem Zwischenfall tapfer weiter kämpfenden Brasilianer wurde vor dem Ziel zuerst von Baldini und dann auch von Keflezighi noch abgefangen, die sich damit den Olympiasieg und die Silbermedaille sicherten, konnte aber den - von ihm immer noch bejubelten - dritten Platz über die Linie retten. In seiner Heimat bekam er durch die dramatischen Umstände fast schon Heldenstatus. Zwölf Jahre später durfte da Lima in Rio dann das Olympische Feuer entzünden.

Paul Tergat wurde dagegen auf den letzten Kilometern noch auf Platz zehn durchgereicht und trabte enttäuscht die letzte Runde um die altehrwürdige Arena, in der die Olympischen Spiele einst ihren noch recht bescheidenen Anfang genommen hatten. Dass er selbst im Stadion noch mehrere Plätze verlor, schien ihm ziemlich egal zu sein. Seine wohl letzte Chance auf eine Goldmedaille war schließlich gerade dahin gegangen.

Tergat rappelte sich nach diesem Rückschlag allerdings noch einmal auf und lief bei seinem zweiten Erfolg in Lissabon mit 59:10 bis auf wenige Sekunden an seinen Streckenrekord und die eigene persönliche Bestzeit heran. Einen Monat später folgte beim London Marathon jedoch gleich der nächste Dämpfer. Mehr als vier Minuten hinter Sieger Martin Lel und drei Minuten hinter dem Dritten Hendrick Ramaala wurde Paul Tergat in 2:11:38 nur Achter.

Sieben Monate später - Tergat war seit London keinen einzigen Wettkampf mehr gelaufen - sollte er sich aber in New York mit Ramaala einen Zweikampf um den Sieg liefern, der an die legendären Duelle mit Gebrselassie erinnerte. Erst weit nach der Halbmarathonmarke, als es bereits im Stadtteil Manhattan die First Avenue hinauf ging, hatte der gewohnt offensiv laufende Südafrikaner mit einer Attacke die große Spitzengruppe gesprengt.

Einzig Meb Keflezighi, Robert Kipkoech Cheruiyot und schließlich Paul Tergat setzen nach und schlossen zum Vorjahressieger auf. Cheruiyot, der bereits einmal in Boston gewonnen hatte und in späteren Jahren noch drei weitere Male siegen sollte, musste bei Kilometer siebenunddreißig abreißen lassen. Der Amerikaner Keflezighi begann gute zwei Kilometer später ebenfalls langsam den Anschluss zu verlieren.

Die letzten zweitausend Meter rannten Ramaala und Tergat fast ununterbrochen auf einer Linie nebeneinander durch den Central Park, dann am Südende aus ihm hinaus und zum Schluss wieder in ihn hinein. Keiner schien auch nur einen Zentimeter Boden preisgeben zu wollen.

Selbst als Tergat sich eingangs der langen - und in Wahrheit ziemlich gebogenen - Zielgerade schließlich doch einen leichten Vorsprung heraus gearbeitet hatte, konnte er den verbissen kämpfenden Südafrikaner nicht endgültig abschütteln. Ramaala saugte sich noch einmal heran. Und erneut Brust an Brust spurteten beide dem Ziel entgegen.

Kurzzeitig schien Ramaala sogar das bessere Ende für sich zu haben und lag einen Schritt weiter vorne. Allerdings hatte er seine finale Attacke ein klein wenig zu früh eingeleitet, denn die Kraft ging ihm endgültig aus. Tergat schob sich auf den letzten Metern doch wieder vorbei und war doch noch als Erster am Zielband. Der völlig entkräftete Südafrikaner stolperte über die Zeitmessmatte und fiel neben dem Kenianer auf den Boden.

Nicht einmal vier Zehntelsekunden lagen nach 2:09:30 zwischen den beiden Erstplatzierten. Erneut hatte Paul Tergat bei einem großen Wettkampf für den engsten Einlauf aller Zeiten gesorgt. Allerdings hatte er im Gegensatz zu Olympia in Sydney dieses Mal das bessere Ende für sich.

Im Folgejahr machte sich der inzwischen siebenunddreißigjährige Paul Tergat noch ein bisschen rarer. Nach einem weiteren Start in Lissabon, wo er trotz einer Zeit von 59:42 hinter Martin Lel, Robert Cheruiyot und Samuel Wanjiru nur Vierter - die Konkurrenz hatte aufgeholt und Zeiten unter einer Stunde waren längst normal - werden konnte, war der New York Marathon erst der zweite Wettkampf.

Das im Frühjahr geplante Duell gegen Haile Gebrselassie in London fiel wegen einer Verletzung aus. Doch auch sein äthiopischer Langzeitrivale hatte an der Themse nicht den besten Tag und wurde klar abgeschlagen nur Neunter. In Berlin kam der Doppelolympiasieger dann weit besser klar, siegte von 2006 bis 2009 viermal in Folge und lief dabei zwei Weltrekorde. Nach dem ersten habe er angeblich seinen durch ihn entthronten Freund Tergat angerufen und sich bei ihm entschuldigt.

Dieser gelang in New York ebenfalls kein weiterer Sieg. Als sich nach gut dreißig Kilometern der Brasilianer Marilson Gomes dos Santos an die Spitze setzte und einen kleinen Vorsprung heraus arbeitete, ließen ihn die Favoriten mit den früheren Gewinnern Tergat, Ramaala und Rodgers Rop sowie Olympiasieger Baldini erst einmal von der Leine.

Doch wider Erwarten hielt der Südamerikaner den einmal erarbeiteten Abstand konstant und brach nicht ein. Bis man am Eingang zum Central Park merkte, dass der Außenseiter, der zwar einige gute, aber noch keine herausragenden Ergebnisse vorzuweisen und zuvor noch nie einem Marathon gewonnen hatte, tatsächlich siegen könnte, war es schon zu spät.

Tergat jagte zwar mit seinem Landsmann Stephen Kiogora noch einmal hinterher und verkleinerte den Vorsprung deutlich. Doch die wenigen verbleibenden Kilometer reichten nicht mehr, diesen wieder vollständig schmelzen zu lassen. Gomes dos Santos schaffte es in 2:09:58 ins Ziel. Kiogora folgte in 2:10:06 als Zweiter. Paul Tergat bleib nach 2:10:10 nur Platz drei.

Obwohl er beim Crosslauf um die Ruinen der alten römischen Stadt Italica bei Sevilla inzwischen nicht mehr bei der Elite starten musste, sondern in der Klasse der "Veteranen" laufen durfte und diese nun ebenfalls gewinnen konnte, hatte Paul Tergat immer noch nicht genug vom Laufen auf höchstem Niveau. Erneut trat er im Frühjahr 2007 nämlich in London an.

Und irgendwie ähnelte der Verlauf des Rennens jenem des Jahres 2003. Denn erneut bogen am Parlamentsgebäude sechs Läufer gemeinsam von der Themse in Richtung Buckingham Palast ab. Auch Paul Tergat war - komplett in leuchtendem Gelb gekleidet und damit unübersehbar - noch mit dabei. Doch hing er schon am Ende der Gruppe und hielt nur noch mit Mühe Anschluss.

Vor ihm machten seine rund zehn Jahre jüngeren Landsleute Martin Lel und Felix Limo sowie die beiden Marokkaner Abderrahim Goumri und Jaouad Gharib ein so hohes Tempo, dass Hendrick Ramaala - wieder einmal mit Tergat im gleichen Rennen - sich ebenfalls ziemlich schwer tat, noch Kontakt zu halten. Auf dem Weg zum Königschloss ging erst der "Altmeister" aus Kenia und dann auch der Südafrikaner verloren.

Doch erneut kam es auf der Mall zu einem Vierersprint, bei dem sich schließlich Lel in 2:07:41 vor Goumri in 2:07:44 und Limo in 2:07:47 durchsetzen konnte. Gharib wurde am Ende mit 2:07:54 doch fast wieder vom zwei Sekunden zurück liegenden, großen Kämpfer Hendrick Ramaala abgefangen. Und Paul Tergat nahm nach 2:08:06 immerhin ein bisschen Revanche an Marilson Gomes dos Santos, der über eine halbe Minute hinter ihm Achter wurde.

Sein alter Kumpel und Rivale Haile Gebrselassie, gegen den Tergat inzwischen seit einer halben Dekade nicht mehr gelaufen war, stand übrigens ebenfalls erneut in London an der Startlinie, lief lange auch in der Spitzengruppe mit, stieg dann aber nach dreißig Kilometern wegen Atembeschwerden vorzeitig aus.

Selbst wenn man diesen "DNF" mitrechnet war es nur einer von vier Erfolgen des Kenianers im direkten Duell. Mehr als zwanzig Mal hatte hingegen Gebrselassie in den sich über eineinhalb Jahrzehnte erstreckenden Begegnungen das bessere Ende für sich. Das Rennen in London markierte dann auch das wirklich letzte sportlich Aufeinandertreffen der beiden Laufikonen.

Tergat lief weder im Herbst 2007 noch im Frühjahr 2008 einen weiteren Marathon. Und auch die leisen Hoffnungen vielleicht doch noch einmal für die Olympischen Spiele von Peking nominiert zu werden, erfüllten die kenianischen Verbandsfunktionäre nicht.

Angesichts eines regelrechten Überangebotes von Weltklasseläufern gab es trotz aller sportlichen Verdienste in der Vergangenheit auch gar keinen Grund eine inzwischen doch recht verletzungsanfälligen Neununddreißigjährigen ins Team zu nehmen. Und die in neuem olympischem Rekord sicher gewonnene Goldmedaille von Sammy Wanjiru bestätigte dies nur.

Noch einmal trat Paul Tergat im November dann allerdings zum New York Marathon an. Und obwohl er bis Kilometer dreißig noch vorne mitlief, hatte er schließlich mit dem Ausgang des Rennens nichts mehr zu tun. Als Marilson Gomes dos Santos und Abderrahim Goumri forcierten, konnte der Kenianer nicht mehr mithalten. Die beiden machten den Sieg unter sich aus und lagen im Ziel über zwei Minuten vor Daniel Rono auf Rang drei und sogar mehr als vier Minuten vor Tergat, der mit 2:13:10 immerhin Vierter wurde.

Nachdem er bei einer weiteren Attacke des Marokkaners bei Kilometer fünfunddreißig hatte abreißen lassen müssen, sammelte der nun gar nicht mehr so unbekannte Brasilianer seinen deutlich einbrechenden Konkurrenten auf dem letzten Kilometer wieder ein. Innerhalb kürzester Zeit gewann Gomes dos Santos einen satten Vorsprung und lief in 2:08:43 sicher zu seinem zweiten Erfolg. Goumri, der den Sieg fast schon vor Augen hatte, folgte in 2:09:07 als enttäuschter Zweiter.

Der "alte Mann" Paul Tergat konnte da zwar nicht mehr mithalten, hatte aber doch wieder dem einen oder anderen die Hacken gezeigt - unter dem Dauerkonkurrenten Hendrick Ramaala, der diesmal nur Zwölfter wurde.

Mit fast vierzig Jahren lief Paul Tergat dann im März 2009 doch noch einmal zu einem Sieg bei einem internationalen Marathon. Im japanischen Otsu gewann er den traditionsreichen - es war die vierundsechzigste Auflage - Lauf am Biwa-See in 2:10:22 gegen starke, aber bis auf wenige Ausnahmen hauptsächlich japanische Konkurrenz. Nach diesem gelungen Abschluss ließ er seine fast zwei Jahrzehnte andauernde Karriere als aktiver Leistungssportler dann aber wirklich ausklingen.

Dem Sport blieb Tergat jedoch in anderer Funktion erhalten. Seit 2013 ist er Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees. Und als Nachfolger der Legende Kipchoge Keino wurde er - inzwischen doch mit etwas dickeren Backen als zu seiner aktiven Zeit - im Oktober 2017 auch zum Präsident des kenianischen NOK gewählt.

Wie sich "Gentleman" Tergat im Haifischbecken nationaler und internationaler Sportfunktionäre behaupten kann, wird man sicher abwarten müssen. Zumindest mehrere Initiativen gegen das in Kenia verbreitete Doping-Unwesen hat er bereits angestoßen. Unter anderem soll ein entsprechender Straftatbestand geschaffen werden.

Auch hierbei gibt es übrigens wieder eine Gemeinsamkeit mit seinem Freund und Rivalen aus Äthiopien. Denn Haile Gebrselassie war in seiner Heimat mehrere Jahre lang Chef des nationalen Leichtathletikverbandes.

Obwohl sowohl Kenia als auch Äthiopien in den letzten Jahrzehnten unzählige erfolgreiche Athleten hervor gebracht haben, von denen einige sogar hinsichtlich Zahl und Farbe der Medaillen auf dem Papier erfolgreicher sind, zeigen gerade auch solche Posten, dass Haile Gebrselassie und Paul Tergat in ihren jeweiligen Ländern ein ganz besonderes Ansehen genießen.

Es sind natürlich herausragende sportliche Leistungen und unvergessliche Zweikämpfe, die dazu beigetragen haben. Aber eben auch die Art und Weise, in der die beiden mit Sieg oder Niederlage umzugehen wussten. Dass Hase und Igel am Ende gute Freunde werden, berichtet die alte Geschichte jedenfalls nicht. Dazu muss man sich dann doch schon die neuere Variante betrachten.

Das Portrait über Paul Tergat zur Serie Heroes erstellte Ralf Klink
Grafik Ursula Güttsches

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