Naoko Takahashi

Olympiasiegerin, Weltrekordlerin,
Volks- und Comic-Heldin

von Ralf Klink im November 2020 

Wenn eine erfolgreiche Marathonläuferin zur Titelheldin eines Comics wird, dann kann das eigentlich fast nur in Japan passieren. Zum einen gibt es wohl kaum ein anderes Land, in dem es zu wirklich jedem Thema irgendwelche Bildergeschichten - in Japan heißen sie "Manga"- gibt. Zum anderen ist man vermutlich auch nirgendwo auf der Welt marathonverrückter als im Land der aufgehenden Sonne.

Von den fünfzig größten Rennen auf dieser Distanz findet inzwischen ziemlich genau die Hälfte in Japan statt. Und nicht nur in Tokyo sondern auch in vielen Städten sind die Veranstaltungen häufig mehrfach überbucht, so dass die vorhandenen Startplätze unter den Bewerbern verlost werden.

Keineswegs sind es dabei internationale Lauftouristen wie in New York, London, Paris oder Berlin, von denen die Zahlen nach oben getrieben werden. Bei den meisten dieser Läufe sind die Einheimischen weitgehend unter sich und Teilnehmer mit nichtasiatischen Gesichtszügen vom Publikum viel bejubelte Exoten.

Oft gibt es den Internetaufritt der Marathons sogar einzig und allein in japanischen Schriftzeichen - ein aus einer Symbol- und zwei verschiedenen Silbenschriften gebildetes System, das als das wohl komplizierteste der Welt gilt und es damit ausländischen Startern von vorne herein fast unmöglich macht, überhaupt an die benötigten Informationen heran zu kommen oder sich anzumelden.

Doch schon bevor die Massenläufe in den letzten beiden Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden schossen, war das Publikumsinteresse bei den zuvor fast ausschließlich als reine Eliterennen ausgetragenen Marathons enorm. Und zwar sowohl direkt am Streckenrand als auch vor den Fernsehgeräten. Hinter Baseball landet das Laufen über lange Distanzen in Japan bei der Zuschauergunst auf Rang zwei und kann mit Einschaltquoten aufwarten, die hierzulande nur vom Fußball erreicht werden.

Nachdem nun in praktisch jeder größeren japanischen Stadt mindestens eine Veranstaltung fünfstellige Läuferzahlen auf die Straßen bringt, können noch viel mehr Menschen Marathon direkt vor Ort erleben. Und sie tun es in Massen, von Kleinkindern im Kinderwagen bis zu Senioren im Rollstuhl. Dass Achtjährige den Sportlern ihre Hände zum Abklatschen entgegenstrecken, kann man überall auf der Welt erleben. Dass Achtzigjährige das Gleiche tun, vermutlich nur in Japan.

Auch ist es eine regelrechte Ehre, bei einem Marathon als Helfer tätig zu sein. Was anderswo mühsam gesucht werden muss, gibt es in Fernost im Überfluss. So werden zum Beispiel Wegweiser, Hinweisschilder und Kilometermarken, die man in Europa einfach irgendwo befestigen oder aufstellen würde, in Japan vor, während und nach den Rennen fast immer von einem der unzähligen Freiwilligen gehalten. Manche Veranstaltungen können es sich sogar erlauben, nicht nur ihre Start- sondern auch ihre Helferplätze zu verlosen.

 

Unter solchen Voraussetzungen hatte Naoko Takahashi damit schon aufgrund ihrer sportlichen Leistungen als Olympiasiegerin und ehemalige Weltrekordhalterin das Zeug zur nationalen Heldin. Und dass sie nicht nur auf der Straße sondern anschließend auch im Umgang mit den Medien eine ziemlich gute Figur machte, ließ sie zum absoluten Superstar werden. Bis heute - rund zwei Jahrzehnte nach ihren größten Erfolgen - ist die Popularität nahezu ungebrochen.

Dabei war die am 6. Mai 1972 in Gifu - eine Großstadt unweit der Millionenmetropole Nagoya und damit im drittgrößten Ballungsraum des Inselstaates - geborene Takahashi keineswegs von Anfang an eine Senkrechtstarterin, die dank ihres Talents alle anderen in Grund und Boden laufen konnte. Sie war vielmehr als Jugendliche und Juniorin eine zwar gute, aber keineswegs herausragende Mittelstrecklerin.

Naoko Takahashi läuft 2002 zu ihrem zweiten Sieg beim Berlin Marathon
Foto © LaufReport

Nach ihrer Schulzeit an dem als Talentschmiede bekannten Wirtschaftsgymnasium ihrer Heimatstadt, für das sie über 800 Meter immerhin Präfekturmeisterin - Japan ist verwaltungsmäßig in 47 Präfekturen aufgeteilt - werden, sich aber nie für nationale Titelkämpfe qualifizieren konnte, wechselte Takahashi zum Studium an die Osaka Gakuin Universität, wo sie sich weiter verbesserte.

In den Jahren 1993 und 1994 wurde sie zweimal nacheinander jeweils Zweite über 1500 Meter und Dritte über 3000 Meter bei den Hochschulmeisterschaften ihres Landes. Takahashi Naoko - wie es in der korrekten japanischen Namensfolge, bei der man stets den Familiennamen voranstellt, heißt - gewann damit die ersten nationalen Medaillen überhaupt für die nicht allzu große Universität.

Regionale Titel in Kansai, das alleine schon zwanzig Millionen Einwohner zählende Ballungsgebiet um die Städte Osaka, Kyoto und Kobe, räumte sie auf den Strecken zwischen 800 und 3000 Metern sogar fast schon in Serie ab. Aber dass hier eine kommende Olympiasiegerin und Weltrekordlerin heranreifte, war trotz dieser ersten kleinen Erfolge noch immer nicht zu erkennen.

Der nächste Sprung kam, als Takahashi nach Abschluss ihres Studiums 1995 zum bekannten Trainer Yoshio Koide in die Mannschaft von "Recruit" - eine Firma für Personalvermittlung und -förderung - wechselte. Das japanische Sportsystem setzt nämlich weniger auf die in Europa üblichen Vereine, sondern beruht neben den Säulen Schule und Universität hauptsächlich auf den "Rennställen", die viele große Konzerne aus Gründen des Marketings unterhalten.

Neben etlichen Einzelrennen, bei denen die Angehörigen der Teams die Farben ihres Unternehmens vertreten, gibt es zudem noch die im Land der aufgehenden Sonne enorm populären Ekiden-Läufe - Langstreckenstaffeln über unterschiedliche Distanzen, die sich an den im alten Japan einst existierenden Postläuferketten orientieren. Es gibt dabei Wettbewerbe, bei denen Stafetten von Schulen, Universitäten oder Präfekturen gegeneinander antreten.

Doch findet eben auch eine Rennserie für Betriebsmannschaften statt, bei denen man sich über regionale Ausscheidungen für die landesweiten Meisterschaften zum Abschluss qualifizieren kann. Bei den Herren geht es dabei seit mehr als sechzig Jahren um nationale Titel. Frauenstaffeln sind immerhin schon seit vier Dekaden auf der Strecke.

Da diese Ekiden-Rennen in der Publikumsgunst der Fernsehzuschauer bei der Jahresendabrechnung zwar hinter Baseball und Marathon, aber eben dennoch meist auf einem der vordersten Ränge liegen, ist dies für die Konzerne natürlich eine grandiose Werbemöglichkeit. Und so unterhält praktisch jedes größere Unternehmen ein eigenes Sportteam mit Voll- oder zumindest Teilzeitprofis - ein weiterer Grund, warum immer wieder japanische Läufer in die Weltspitze vorstoßen

Anfangs lehnte Yoshio Koide das Ansinnen von Takahashi, in seine Trainingsgruppe - zu der unter anderem Yuko Arimori, die Olympia-Silbergewinnerin von Barcelona und die spätere Weltmeisterin von 1997 Hiromi Suzuki gehörten - aufgenommen zu werden, sogar ab. Aber schließlich wurde sie doch zu einigen Probeeinheiten eingeladen und konnte den Erfolgscoach mit ihrem Ehrgeiz, ihrem Willen und ihrem Einsatz überzeugen.

Naoko Takahashi schaffte es auch gleich, für die Ekiden-Staffel aufgestellt zu werden. Dass der nationale Endlauf zwischen 1983 und 2010 stets in ihrer Heimat Gifu stattfand, war dabei natürlich ein zusätzlicher Anreiz. Doch im Gegensatz zu den Jahren 1993 und 1994, in denen Recruit die Firmenmeisterschaft gewinnen konnte, sprangen in den beiden Folgejahren, in denen Takahashi dem Team angehörte, jeweils nur der zweite Platz heraus.

Aus der Mittelstrecklerin wurde unter der Führung von Yoshio Koide eine Läuferin für längere Distanzen, die anfangs sowohl auf der Bahn als auch auf der Straße unterwegs war. So wurde sie Anfang 1996 beim Halbmarathon von Las Vegas beim Sieg ihrer Teamkollegin Yuko Arimori genauso Fünfte wie im Sommer bei den japanischen Meisterschaften über 10000 Meter, wo mit Hiromi Suzuki eine andere Läuferin aus der Recruit-Gruppe vorne lag.

Während ihre Halbmarathonzeit von 1:12:54 auf der ohnehin aufgrund ihres Gefälles nicht bestenlistenfähigen Strecke in der amerikanischen Glücksspielmetropole gerade einmal für einen Platz unter den besten hundert Leistungen des Jahres ausreichte, war sie mit 31:48,23 auf der Bahn immerhin die sechszehntschnellste Läuferin der Saison.

Im Januar 1997 lief Takahashi dann in Osaka beim Internationalen Frauenmarathon zum ersten Mal über jene Strecke, die bald darauf zu ihrer Paradedisziplin werden sollte. Ihr Trainer Koide, der inzwischen große Stücke auf sie hielt, sprach im Vorfeld sogar schon davon, dass er da ein neues Juwel und eine legitime Nachfolgerin für die sechs Jahre ältere Yuko Arimori unter seinen Fittichen hatte.

Doch die Premiere auf der Marathondistanz endete angesichts solch starker Worte sowohl für die japanische Öffentlichkeit als auch für die Athletin selbst erst einmal mit einer kleinen Enttäuschung. Denn nachdem sie anfangs in der Spitzengruppe mitgelaufen war, musste die Debütantin auf der zweiten Rennhälfte ordentlich Federn lassen und verlor gegenüber der in 2:25:57 siegreichen Katrin Dörre-Heinig noch fast sechs Minuten. Als Gesamtsiebte und vierte Japanerin kam sie nach 2:31:32 ins Ziel.

Auch wenn es einige Wochen später beim Halbmarathon in Matsue für Takahashi mit einem deutlichen Erfolg und neuem Streckenrekord von 1:10:35 wesentlich besser lief, konzentrierte sie sich im Sommer wieder mehr auf Bahnrennen. Zuvor war sie gemeinsam mit ihrem Trainer Yoshio Koide von Recruit zum Firmenteam des Chemieunternehmens Sekisui gewechselt.

Obwohl Naoko Takahashi eigentlich schon auf längere Strecken vorbereitet wurde, waren dabei diesmal erstaunlicherweise die fünf Kilometer ihre bessere Disziplin. Sie steigerte im Verlauf der Saison mehrfach ihre Bestzeit auf schließlich 15:23,64 und wurde mit einer Nominierung für die Weltmeisterschaften in Athen belohnt.

Als Fünfte ihres Vorlaufes qualifizierte sie sich in der griechischen Hauptstadt auch fürs Finale, konnte sich im Endlauf aber nicht mehr steigern und landete beim Sieg der Rumänin Gabriela Szabo in 15:32,83 über eine halbe Minute hinter den Medaillenrängen nur auf dem dreizehnten und damit dem drittletzten Platz.

Am gleichen Tag hatte ihre Trainingskameradin Hiromi Suzuki, mit der sie im Mai und Juni im Höhentrainingslager im amerikanischen Boulder gewesen war, auf der klassischsten aller Marathonstrecken zwischen dem Städtchen Marathon und dem altehrwürdigen Olympiastadion von 1896 die portugiesische Titelverteidigerin Manuela Machado entthront und war in einem Hitzerennen mit 2:29:48 nach Yunko Asari 1993 die zweite japanische Weltmeisterin auf dieser Distanz geworden.

Takahashi wurde dadurch nur noch zusätzlich motiviert, diese Lieblingsdistanz der Japaner nun wirklich ernsthaft in Angriff zu nehmen - zumal auch die japanischen Stadion-Meisterschaften im Oktober einem eher enttäuschenden Ausgang für sie hatten. Über 5000 Meter wurde sie nämlich nur Siebte und über 10000 Meter kam sie sogar nicht einmal ins Ziel.

Ende November folgte noch ein Einsatz beim internationalen Ekiden-Lauf in Chiba - einer Stadt mit einer knappen Million Einwohner, die aber als Teil der riesigen, komplett miteinander verwachsenen Metropolregion von Tokyo nahezu unbekannt ist. Takahashi führte als Schlussläuferin nicht nur die japanische Mannschaft gegen ein Dutzend weitere Nationalteams zum Sieg, sondern lieferte zusätzlich auch auf ihrem Abschnitt die schnellste Zeit ab.

Danach bereitete sie gemeinsam mit Koide ihren zweiten Marathonstart vor, der im März 1998 in Nagoya anstand. Damals war der Lauf noch ein reines Eliterennen mit hohen Qualifikationsstandards. Inzwischen ist er zwar zu einer Massenveranstaltung geworden, doch teilnahmeberechtigt sind weiterhin nur Frauen. Dass das Feld trotzdem jährlich rund fünfzehn- bis zwanzigtausend Köpfe zählt, ist sicher ein weiterer Beleg für die japanische Marathonbegeisterung.

Unweit ihrer Heimatstadt zeigte Naoko Takahashi diesmal, dass ihr Trainer vielleicht doch nicht damit übertrieben hatte, sie als den kommenden japanischen Marathon-Stern zu bezeichnen. Nachdem sie lange in der Spitzengruppe mitgeschwommen war, die in nicht allzu hohem Tempo auf eine Zeit knapp unter zweieinhalb Stunden zusteuerte, trat Takahashi bei Kilometer dreißig auf einmal energisch an und ließ die Konkurrenz regelrecht stehen.

Über die nächsten fünf Kilometer flog sie in 16:06 hinweg. Zwischen den Marken fünfunddreißig und vierzig folgte direkt anschließend noch eine 16:21. Und auch auf dem Schlussabschnitt wurde Takahashi bei einer Zeit von 7:10 nicht mehr langsamer. Nach 2:25:48 gewann sie mit eineinhalb Minuten Vorsprung vor der Russin und Vorjahressiegerin Madina Biktagirova.

Ganz nebenbei verbesserte Naoko Takahashi damit auch den japanischen Landesrekord, den vier Jahre zuvor Miyoko Asahina bei ihrem Sieg in Rotterdam aufgestellt hatte, um vier Sekunden. Zu jenen 2:21:06, auf die Ingrid Kristiansen beim London Marathon 1985 die Latte gelegt hatte, fehlten aber noch ziemlich viel.

Und sechs Wochen nach Takahashis Erfolg von Nagoya schraubte die Kenianerin Tegla Loroupe durch ihre ebenfalls in Rotterdam erzielte 2:20:47 den Abstand zwischen der japanischen Bestleistung und dem Marathon-Weltrekord sogar auf volle fünf Minuten nach oben.

Eine angesichts der enormen Leistungsdichte in Japan - damals kam fast ein Viertel der hundert schnellsten Marathonläuferinnen aus dem Land der aufgehenden Sonne - doch recht erstaunliche Tatsache, die sich aber ein wenig mit der Konzentration auf die heimischen, oft eher taktisch geprägten Frauen-Eliterennen begründen lässt. Bei den großen europäischen und amerikanischen Stadtmarathons mit gemischten Feldern waren japanische Spitzenläuferinnen zu jener Zeit eher selten zu Gast.

Die entthronte Rekordlerin Miyoko Asahina, hieß als sie die Bestmarke abgeben musste, aufgrund ihrer Hochzeit übrigens inzwischen mit Familiennamen auch "Takahashi". Doch bestand keinerlei familiäre Beziehung zwischen ihrem Ehemann und ihrer Nachfolgerin. Vielmehr ist Takahashi - was sich ungefähr mit "hohe Brücke" übersetzen ließe - einer der häufigsten japanischen Namen überhaupt.

Als Naoko Takahashi im Mai 1998 ihre Bestzeit über fünf Kilometer durch einen Erfolg beim internationalen Meeting von Osaka auf 15:21,15 verbesserte, belegte hinter ihr zum Beispiel die ebenfalls nicht verwandte Zehntausend-Meter-Spezialistin Chiemi Takahashi den zweiten Platz. Bei den japanischen Firmenmeisterschaften über die gleiche Distanz siegte hingegen Chiemi und Naoko wurde einen Tag nach einem Vizetitel auf der doppelt so langen Strecke nur Dritte.

Selbst wenn sie auch bei allen anderen Bahnrennen des Sommers auf den Treppchen landete, zeigten die Ergebnisse trotzdem, dass Naoko Takahashi und ihr Trainer Koide zurecht eher auf den Marathon setzten. Denn während sie sich mit ihren Bestleistungen in der ewigen Weltbestenliste über zehn Kilometer gerade so unter den ersten Hundert und über 5000 Meter sogar noch weiter hinten fand, waren auf der Straße bisher gerade einmal zwei Dutzend Läuferinnen schneller gewesen.

Erstmals war Takahashi nach ihrem Auftritt in Nagoya zudem für den Marathon bei einer großen Meisterschaft nominiert worden. Anfang Dezember 1998 standen die Asienspiele in Bangkok für sie auf dem Plan. Nur eine Woche zuvor lief sie allerdings noch beim nationalen Ekiden-Endlauf eine 11,6 Kilometer lange Teilstrecke für ihr Sekisui-Werksteam.

Nachdem Takahashi bereits in der regionalen Vorausscheidung einen Monat zuvor ihren Abschnitt dominiert hatte, legte sie auch beim Endlauf in ihrer Heimatstadt Gifu mit 36:31 die beste Zeit auf dem entsprechenden Teilstück hin und war damit sogar etwas schneller als bei ihrem Hausrekord über 10000 Meter auf der Bahn. Für den Mannschaftssieg reichte es allerdings nicht. Eine Minute hinter der Auswahl der Tokai Bank kam die Staffel von Sekisui Chemical als Dritte ins Ziel.

Dieser trainingsmethodisch vielleicht nicht unbedingt lehrbuchmäßige Einsatz zeigte jedoch auf, in welch guter Verfassung sich Naoko Takahashi zu diesem Zeitpunkt befand. Beim Marathon in der thailändischen Hauptstadt, zu dem sich am frühen Morgen bei schwülwarmen Bedingungen gerade einmal ein Dutzend Sportlerinnen am Start versammelten, übernahm sie dann auch im wahrsten Wortsinn vom ersten Meter die Führung

Schon nach wenigen Sekunden des Rennens hatte Takahashi in ihren unverkennbaren Laufstil mit kurzer, hochfrequenter Schrittfolge sowie eher seitlich als auf und ab schwingenden Armen eine merkliche Lücke zwischen sich und den Rest des kleinen Feldes gelegt. Bis zum Ziel sollte sich an ihrer Führungsposition auch nichts mehr ändern.

Bei fünf Kilometern war der Abstand zur Konkurrenz bereits auf mehr als eineinhalb Minuten angewachsen. Und er wurde größer und größer. Nur umgeben von den Führungsfahrzeugen spulte Takahashi auf schnurgeraden, breiten und oft völlig menschenleeren Ausfallstraßen wie ein Uhrwerk Kilometer um Kilometer in einem weltrekordverdächtigen Tempo herunter.

Bei Halbmarathon zeigte die Uhr eine - insbesondere angesichts der Witterungsverhältnisse - kaum glaubliche 1:09:15 an. Nur Ingrid Kristiansen war ein gutes Jahrzehnt zuvor einige ihrer Marathons in einem ähnlich hohen Tempo angelaufen. Selbst Tegla Loroupe hatte bei ihrem Rekord im Frühjahr zwei gleichmäßige Hälften knapp über der Siebzig-Minuten-Marke absolviert.

Und auch nach der Halbzeitmarke bleib der nach einem solchen Husarenritt und den inzwischen auf dreißig Grad gestiegenen Temperaturen von vielen erwartete Einbruch aus. Als sie Kilometer dreißig in 1:39:02 passierte, schien weiterhin alles möglich. Sie habe an diesem Tag "ein wenig mit dem Weltrekord geflirtet" war Takahashis blumige Aussage in einem Interview nach dem Lauf - eine Formulierung, die in Japan schnell zu einem geflügelten Wort wurde.

Erst auf den letzten zehn Kilometern wurde sie bei ihrem einsamen Rennen gegen die Uhr tatsächlich etwas langsamer und die lange Zeit vorstellbare neue Bestmarke geriet schließlich immer mehr außer Reichweite. Doch als sie nach der letzten Runde im fast leeren Stadion die Ziellinie überquerte, hatte Takahashi mit 2:21:47 den viertschnellsten Marathon aller Zeiten hingelegt - und das mit einem Sololauf bei tropischer Hitze, also unter den wirklich denkbar schlechtesten Voraussetzungen.

Nur die amtierende Weltrekordlerin Loroupe, Kristiansen und Joan Benoit Samuelson waren zuvor jeweils einmal schneller über diese Distanz gelaufen. Die noch weniger als ein Jahr zuvor außerhalb Japans nicht einmal Fachleuten wirklich bekannte Naoko Takahashi war plötzlich eine der besten Marathonläuferinnen der Welt.

Wie dominant der Sieg der neuen Inhaberin des Japan- und des Asienrekords an diesem Tag ausfiel, lässt sich an den Zeiten der beiden anderen Medaillengewinner ablesen. Denn Kim Chung-Ok aus Nordkorea holte in 2:34:55 Silber knapp vor der zweiten Japanerin Kai Tomoko, die 2:35:01 benötigte. Takahashi hatte also auf die Nächstbesten über dreizehn Minuten und damit rund vier Kilometer Vorsprung herausgelaufen.

Während die Konkurrenz noch weit vom Ziel entfernt war, gab die Siegerin im Stadion schon zwar verschwitzt, aber ohne große Zeichen der Erschöpfung bereits mit strahlendem Lächeln dem japanischen Fernsehen Auskunft. Spätestens nach diesem - zu Hause in voller Länge live übertragenen - Auftritt war Naoko Takahashi im Land der aufgehenden Sonne nun wirklich in aller Munde.

Nahezu jedem Japaner war jetzt auch klar, dass bei Erwähnung von "Q-Chan" nicht unbedingt die in den Siebzigern und Achtzigern bekannte Comic- und Zeichentrickfigur eines kleinen Gespenstes gemeint sein musste, sondern es eben viel wahrscheinlicher um Naoko Takahashi ging. Die Läuferin trug nämlich genau diesen Spitznamen, seit sie einmal bei einem Fest in der entsprechenden Verkleidung aufgetaucht war.

Nach den Asienspielen machte Takahashi erst einmal eine komplette Trainingspause und fiel - auch weil sie dabei das eine oder andere Kilogramm zulegte - leistungsmäßig in ein kleines Loch. Die 1:16:20, mit denen sie Ende Januar bei einem Halbmarathon in Chiba Zweite wurde, wollten schließlich so gar nicht zur keine zwei Monate zuvor erzielten Marathonzeit passen.

Doch die Qualifikation für die Weltmeisterschaften in Sevilla hatte Takahashi durch den Rekordlauf von Bangkok bereits sicher in der Tasche. So machte sie sich auch in den Folgemonaten bei Wettkämpfen ziemlich rar und bereitete sich gemeinsam mit Trainer Koide vielmehr längere Zeit in der Höhenlage von Boulder in Colorado gründlich auf die anstehenden Titelkämpfe vor.

Eine 1:10:58 beim im Mai als Vorbereitungsrennen voll aus dem Training heraus gelaufenen Halbmarathon in der japanischen Kleinstadt Kurobe sah dann auch schon wieder deutlich besser aus. Und selbst wenn eine Woche später auf den zehn Kilometern von Bolder Boulder in einem mit Weltklasse gespickten Feld nur Platz zwölf heraussprang, gab es aus dem Kreis der am Rand der Rocky Mountains versammelten Laufelite bald Gerüchte, Takahashi sei in herausragender Form.

In einem Interview erklärte Yoshio Koide, dass er ihr nach den Trainingseindrücken eine Zeit unter 2:20, vielleicht sogar eine 2:18 zutrauen würde. Doch in Sevilla wurde daraus nichts. Kurz vor der Abreise nach Spanien stellten sich bei Takahashi, die lieber etwas zu viel als zu wenig trainierte, massive Knieprobleme ein. Die Hoffnung, dass diese vielleicht doch noch rechtzeitig vor dem Rennen verschwinden könnten, trog. Hinter dem Namen "Naoko Takahashi" wurde am Wettkampftag ein "DNS" vermerkt.

Die Pechsträhne wurde mit einem gebrochenen Arm durch einen Sturz während eines Halbmarathons im Herbst und mit einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt wegen einer leichten Lebensmittelvergiftung im Winter komplettiert. Dazwischen war Takahashi in Chiba zwar eine 1:08:55 gelaufen, doch von einer perfekten Vorbereitung auf den Nagoya Marathon, bei dem sie sich für Olympia qualifizieren wollte, konnte keine Rede sein.

Dabei stand Naoko Takahashi nach über einem Jahr ohne nennenswerte Ergebnisse unter enormen Zugzwang. Denn neben der für Sydney von vorne herein fest gesetzten Sevilla-Silbermedaillengewinnerin Ari Ichihashi hatten inzwischen Eri Yamaguchi im November in Tokyo eine 2:22:12 und Harumi Hiroyama im Januar in Osaka eine 2:22:56 vorgelegt.

Nachdem "Q-Chan" die Tür einmal aufgestoßen hatte, waren also binnen kürzester Zeit nun auch weitere Japanerinnen in diese Zeitbereiche vorgedrungen. Auf der Rangliste der schnellsten Marathonläuferinnen aller Zeiten tauchte die Flagge mit der roten Sonne im Frühjahr 2000 nun als einzige gleich dreimal unter den ersten Zehn auf.

Wie schon zwei Jahre zuvor schwamm Takahashi auch im März 2000 erst einmal in der Spitzengruppe mit, die an der in 1:12:40 passierten Halbzeitmarke nur noch aus ungefähr einem halben Dutzend Japanerinnen bestand. Eineinhalb Kilometer später schaltete sie dann jedoch - auch wieder vergleichbar mit ihrer ersten Teilnahme - einen Gang nach oben und löste sich schnell vom verbliebenen Rest der Konkurrenz.

Einzig die dreiundzwanzigjährige Reiko Tosa - später bei Weltmeisterschaften je einmal mit Silber und Bronze dekoriert - versuchte bei ihrem allerersten Marathon kurzzeitig noch mitzugehen. Doch bald musste sie angesichts des von Naoko Takahashi angeschlagenen Tempos ebenfalls abreißen lassen. In 2:24:36 wurde sie immerhin mit Platz zwei belohnt.

Nach dem angesichts ihrer eigentlichen Zielvorgabe ziemlich verhaltenen Beginn ließ Takahashi diesmal eine in Weltrekordtempo gelaufene zweite Hälfte folgen. Gerade einmal 1:09:39 benötigte sie für den abschließenden Halbmarathon. Zwischen den Kilometern fünfundzwanzig und dreißig wurde sogar eine 16:16 gestoppt. Als sie nach 2:22:19 im Stadion von Nagoya das Zielband durchriss, hatte sie die benötigte Zeit geliefert und ihren Hausrekord nur um eine gute halbe Minute verfehlt.

Nur Tegla Loroupe, die in Herbst zuvor in Berlin den Weltrekord noch einmal um einige Sekunden auf 2:20:43 gedrückt hatte, konnte diese Leistungsdichte noch übertreffen. Und da die kleine Kenianerin zudem als einzige der vor Takahashi in der ewigen Weltrangliste platzierten Läuferinnen noch aktiv war, stand "Q-Chan" bei der Aufzählung der Olympiafavoriten wieder weit oben auf allen Zetteln.

Erneut ging Takahashi zur Vorbereitung im Frühjahr längere Zeit nach Boulder, um dort auf Höhen zwischen 1500 und 2000 Meter zu trainieren. Nur beim Halbmarathon in Sapporo im Juli, den sie in 1:09:10 vor der Südafrikanerin Elena Meyer gewinnen konnte, stand noch ein Leistungstest in Form eines Wettkampfes auf dem von Koide ausgearbeitetem Programm.

Zusammen mit gut fünfzig anderen Läuferinnen traten Takahashi und Loroupe am Morgen des 24.September an die Startlinie in der Nähe der berühmten Sydney Harbour Bridge, um von dort nach der Überquerung der Brücke und einer längeren Wendeschleife im Stadtzentrum hinaus zum im Vorort Homebush liegenden Olympiastadion zu laufen.

Ganz so heiß und schwül wie in Bangkok war es zwar nicht, doch auch in der australischen Millionenmetropole zeigte das Thermometer bereits zum Start um neun Uhr deutlich über zwanzig Grad an. Diesmal war es nicht Takahashi sondern die Belgierin Marleen Renders, Berlin-Siegerin von 1998 und mit einer 2:23:43 bei ihrem Erfolg in Paris im April eine der nominell Schnellsten im Feld, die von Beginn an die Spitze übernahm und ein enorm hohes Tempo anschlug.

Als es nach einem anfänglichen Gefälleabschnitt bei knapp zwei Kilometern zur Brücke hinauf ging hatte sie mit langem, raumgreifendem Schritt bereits einen Vorsprung von rund fünfzig Metern vor der gesamten Konkurrenz, an deren Spitze die drei Japanerinnen lagen und dabei mit ihrer hochfrequenten Lauftechnik stilistisch ein komplettes Kontrastprogramm zur Belgierin boten.

Kilometer fünf passierte Renders trotz der Passage der gut fünfzig Meter hohen Brücke und der Wärme in 16:42, was auf eine Endzeit knapp über dem Weltrekord hinausgelaufen wäre. Aber auch für das an dieser Stelle immerhin schon über fünfzehn Sekunden zurück liegende Feld war das Anfangstempo noch enorm hoch. Von einem abwartenden Beginn, wie man ihn gerade bei Meisterschaftsrennen sonst so oft beobachten kann, war nichts zu erkennen.

Der Versuch, das Rennen von Anfang an zu dominieren und allen anderen uneinholbar davon zu laufen, war für Marleen Renders nicht von Erfolg gekrönt. Der Abstand blieb in der Folge relativ konstant. Und nach der von ihr in 34:08 passierten Zehn-Kilometer-Marke ging der Belgierin langsam der Sprit aus. Fast exakt vierzig Minuten nach dem Startschuss hatte Maura Viceconte aus Italien die schon etwas ausgedünnte Verfolgergruppe wieder herangeführt.

Auch in der Folge bestimmte erst einmal hauptsächlich die Italienerin sowie Adriana Fernandez aus Mexico das zwar nicht mehr weltrekordverdächtige, aber weiterhin recht hohe Tempo. Naoko Takahashi und ihre Teamkolleginnen Eri Yamaguchi und Ari Ichihashi liefen auch dann noch konstant in der zweiten Reihe, als nach einer Stunde am Wendepunkt der Rückweg ins Stadtzentrum begann.

Nicht nur die später auf Platz vierundzwanzig ins Ziel kommende Sonja Oberem - einzige Deutsche im Feld - war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit vorne dabei. Auch die Mitfavoritin Tegla Loroupe hatte sich bereits aus dem Pulk an der Spitze verabschiedet. Sie hatte sich am Tag zuvor massiv den Magen verdorben und konnte so geschwächt die von ihr erhoffte Leistung nicht abrufen. Trotz der Beschwerden biss sich die Weltrekordlerin durch und wurde in 2:29:45 Dreizehnte.

Wenig später zog Takahashi allerdings urplötzlich an und zerlegte die bis dahin noch rund zwanzigköpfige Gruppe innerhalb kürzester Zeit in ihre Einzelteile. Nur Ari Ichihashi ging erst einmal mit. Dann schlossen auch die Rumänin Lidia Simon und Kim Chang-ok aus Nordkorea sowie Esther Wanjiru aus Kenia die Lücke. Einige Meter zurück kämpften Viceconte und Fernandez verbissen um Anschluss, kamen aber nicht mehr vollständig heran.

Und Takahashi drückte mit Kilometerzeiten von 3:20 weiter kräftig aufs Gaspedal. Nach der Hälfte der Strecke hatte sie nur noch Ichihashi und Simon im Schlepptau. Die Lücke zu den Nachfolgenden wurde beständig größer. Als es im Central Business District durch dichte Zuschauerreihen, die hauptsächlich mit japanischen Flaggen wedelten, nach 1:24:48 an Kilometer fünfundzwanzig vorbei ging, lag das Führungstrio schon über eine Viertelminute vor Wanjiru und Fernandez auf den nächsten Plätzen.

Und auch in dieser Dreiergruppe hatte Takahashi die erste Position seit dem Beginn ihrer Attacke praktisch nie abgegeben. Beim Anstieg zur ANZAC Bridge, dem neben der Harbour Bridge zweiten hohen Ausschlag des auch sonst ziemlich welligen Profils, konnte dann auch Ari Ichihashi nicht mehr mithalten, musste reißen lassen und wurde schließlich noch auf Platz fünfzehn durchgereicht.

Praktisch nebeneinander - aber eben doch fast durchgängig mit einem Schrittchen Vorsprung für die Japanerin - absolvierten die verbliebenen beiden Läuferinnen an der Spitze die nächsten sieben Kilometer über breite Ausfallstraßen und durch Wohnvororte. Dann kurz nach dem Passieren des Schildes mit der "34" warf Naoko Takahashi auf einmal ihre bis dahin getragene Sonnenbrille zur Seite, schaltete noch einen Gang nach oben und löste sich von der Rumänin.

Die letzten acht Kilometer in Richtung Stadion absolvierte sie im Alleingang und baute den Vorsprung dabei zwischenzeitlich auf fast eine halbe Minute aus. Doch Lidia Simon hatte noch nicht komplett aufgegeben und kämpfte sich tatsächlich noch einmal etwas näher an die sich mehrfach umblickende Führende heran. Beim Einlauf ins Olympiastadion betrug der Abstand ziemlich genau hundert Meter.

Und er wurde zunehmend kleiner. Statt den Jubel des vollen Stadions genießen zu könne, holten beide auf dem halben Kilometer über die Tartanbahn noch einmal alles aus sich heraus. Zwar kam Simon noch bis auf acht Sekunden heran. Aber Naoko Takahashi verteidigte ihre Position bis zu Ende und gewann in einem neuen olympischen Rekord von 2:23:14 die Goldmedaille.

Als Dritte kam über eine Minute später die Kenianerin Joyce Chepchumba mit 2:24:45 vor ihrer 2:26:17 laufenden Teamkameradin Esther Wanjiru ins Ziel. Eri Yamaguchi wurde als zweitbeste Japanerin Siebte. Takahashis Vorgängerin als Olympiasiegerin Fatuma Roba aus Äthiopien schaffte immerhin noch Rang neun, während die anfangs führende Marleen Renders im Verlauf des Rennens ausstieg.

Naoko Takahashi hatte mit ihrem Sieg von Sydney für ihr marathonverrücktes Heimatland das erste Olympiagold überhaupt auf dieser Distanz geholt. Zwar wird bei den Spielen von Berlin 1936 ein gewisser "Kitei Son" als Marathon-Gewinner geführt. Doch handelte es sich dabei in Wahrheit um Sohn Kee-chung aus dem damals japanisch besetzten Korea. Auch in Japan wird diese Goldmedaille nicht mehr wirklich in die Erfolgsstatistik eingerechnet.

Obwohl es danach eigentlich stets japanische Athleten in der absoluten Weltspitze gegeben hatte, standen ansonsten zuvor nur Silber für Kenji Kimihara 1968 und Koichi Morishita 1992 bei den Herren sowie Silber und Bronze 1992 und 1996 von Yuko Arimori zu Buche. Diese konnte den im ganzen Land erhofften Sieg ihrer früherer Trainingskameradin Naoko Takahashi übrigens live im japanischen Fernsehen kommentieren und analysieren.

Entsprechend groß war nach einer jahrzehntelangen Wartezeit dann auch die Begeisterung, die der Erfolg von "Q-Chan" im Land der aufgehenden Sonne auslöste. In den nächsten Monaten wurde sie in Fernsehsendungen und auf Galas regelrecht herumgereicht. Und als erste - und noch immer einzige - Marathonläuferin erhielt sie den extrem selten vergebenen nationalen Ehrenpreis für herausragende Leistungen in Sport oder Kultur.

Erneut kam dabei das Training deutlich zu kurz. Der nächste sportliche Auftritt Takahashis endete dann knapp fünf Monate nach dem Olympiasieg beim Marugame Halbmarathon - eines der traditionsreichsten Rennen Japans, dessen Geschichte auf wechselnden Distanzen bis ins Jahr 1947 zurück reicht - auch nur mit einem achten Platz in schwachen 1:12:40.

Zwei Wochen später lieferte die Olympiasiegerin dann allerdings beim ebenfalls traditionsreichen und auch international bekannten Dreißiger von Ome - einer Stadt, die ganz im Westen des Großraumes Tokyo direkt am Übergang der dichtbesiedelten Küstenebene ins weit über zweitausend Meter aufragende zentrale Bergland liegt - mit 1:41:57 einen neuen Streckenrekord ab.

Der Start in Ome blieb für ein halbes Jahr dann auch schon wieder der letzte Wettkampf im Kalender der neuen japanischen Volksheldin. Denn danach verabschiedete sie sich wieder nach Boulder, um sich in der Höhe Colorados für eine Attacke auf die Weltbestzeit von Tegla Loroupe zu präparieren.

Als Schauplatz dieses Rekordversuches hatten sich Naoko Takahashi und ihr Trainer nicht etwa eines der heimischen Eliterennen ausgewählt. Sie setzten vielmehr auf den Marathon von Berlin, bei dem auch die Kenianerin im Jahr 1999 die gültige Marke aufgestellt hatte

Rund einhundert japanische Journalisten waren eigens aus Ostasien angereist, um diesen Lauf vor Ort zu beobachten. Und das nationale Fernsehen übertrug den Berlin Marathon in voller Länge live. Dank der Zeitverschiebung konnte sich das Publikum in der Heimat dabei sogar zur besten Sendezeit am Sonntagabend vor den Bildschirmen versammeln. Dass die Einschaltquoten in Japan die deutschen um ein Vielfaches übertrafen, ist da fast logisch. Sie lagen bei fast fünfzig Prozent.

Loroupe trat ebenfalls wieder in der deutschen Hauptstadt an. Und so kam es zu einem direkten Aufeinandertreffen der beiden schnellsten Marathonläuferinnen der Welt, was dem Ganzen noch mehr Würze verlieh. Während es die Kenianerin absolut gewohnt war mit männlichen Tempomachern auf Rekordjagd zu gehen, war Takahashi bisher stets in reinen Frauenmarathons gelaufen, startete also erstmals überhaupt bei einer Massenveranstaltung gemeinsam mit den Herren.

Doch schon bald nach dem Startschuss wurde ersichtlich, dass aus dem erhofften spannenden Duell zweier sich gegenseitig zu Höchstleistungen treibenden Superstars nichts werden würde. Auch bei der zweiten direkten Begegnung mit Takahashi hatte Tegla Loroupe einen rabenschwarzen Tag erwischt und konnte der Japanerin bereits in der Anfangsphase nicht mehr folgen.

Dabei begann Takahashi das Rennen gar nicht einmal übermäßig schnell und lag mit ihrer Durchgangszeit von 16:46 sowohl hinter der Vorgabe der Kenianerin bei ihrem Weltrekord als auch einige Sekunden über der für eine neue Bestmarke theoretisch nötigen Marschtabelle. Die amtierende Weltrekordinhaberin hatte aber trotzdem schon eine halbe Minute Rückstand.

Deutlich abgeschlagen kämpfte sich Tegla Loroupe nach 2:28:03 mit vierundzwanzig Sekunden Vorsprung vor Kathrin Weßel als Zweite ins Ziel. Obwohl die kleine Kenianerin - mit 156 cm Körpergröße und weniger als 40 kg Wettkampfgewicht noch etwas zierlicher gebaut als die 1,63 m große und etwa 46 Kilogramm wiegende Takahashi - fast ein Jahrzehnt weiter aktiv war, kam sie auch in der Folge nie wieder annähernd an ihre besten Zeiten aus den späten Neunzigern heran.

Takahashi war dagegen nach einer leichten Tempoverschärfung bei zehn Kilometern mit 33:11 wieder auf Rekordkurs. Obwohl sie zwischenzeitlich sogar einmal etwas zu stark aufs Gaspedal gedrückt hatte, lag die Japanerin zur Hälfte der Distanz in 1:09:49 genau im Plan. Und Kilometer dreißig, passierte sie nach 1:39:05 und damit in fast exakt der gleichen Zeit wie drei Jahre zuvor in Bangkok. Allerdings waren die Wetterbedingungen diesmal wesentlich läuferfreundlicher.

Wenig später verabschiedete sich der Leverkusener Mario Kröckert als letzter verbliebener Hase. Trotzdem hatte die Japanerin in der Folgezeit noch einen männlichen Begleiter. Denn der Südtiroler Hermann Achmüller, der bei seiner eigenen Bestzeitjagd ein Stück zuvor vom Takahashi-Zug aufgelesen worden war, lief für viele weitere Kilometer neben ihr her.

Nach dieser eher zufälligen Begegnung wurde er in späteren Jahren immer wieder von Anfang an als Tempomacher für schnelle Frauen eingesetzt und erwarb sich dabei aufgrund seiner Zuverlässigkeit einige Reputation. Doch als Marathonsieger in München und an der Jungfrau sowie als Gewinner des Hunderters von Biel war der Mann aus dem Pustertal durchaus selbst recht erfolgreich. Die Zusammenarbeit zahlte sich für beide aus. Achmüller blieb mit 2:19:52 erstmals unter 2:20.

Und Naoko Takahashi? Die zog diesmal das hohe Tempo nahezu ohne Zeitverlust bis zum Ende durch. Alleine - der Südtiroler hielt nach dezentem Hinweis aus den Begleitfahrzeugen zum Schluss einen gewissen Achtungsabstand ein - eilte sie die letzten Meter über den Kurfürstendamm dem damals noch an der Gedächtniskirche aufgebauten Ziel entgegen und lief nach 2:19:46 über die Linie.

Die Japanerin verbesserte damit nicht nur den Weltrekord um siebenundfünfzig Sekunden. Sie durchbrach dabei zudem die psychologisch wichtige Barriere von zwei Stunden und zwanzig Minuten, an der sich seit den ersten Versuchen von Ingrid Kristiansen in den Achtzigern bisher alle die Zähne ausgebissen hatten. Außerdem absolvierte sie - zumindest bei einem gewissen Faible für Zahlen interessant - als Erste auch bei einem Marathon im Schnitt jeden Kilometer schneller als 3:20.

Naoko Takahashi ist damit zusammen mit der US-Amerikanerin Joan Benoit-Samuelson - übrigens mit einer in Los Angeles gelaufenen 2:24:52 auch ihre Vorgängerin als Olympiarekord-Halterin - bis heute auch eine von gerade einmal zwei Läuferin, die über die Marathonstrecke sowohl Olympiasiegerin werden als auch einen Weltrekord erzielen konnten.

Doch die Japanerin hält noch eine andere Bestmarke. Keine andere Rekordhalterin wurde nämlich auch so schnell wieder entthront wie sie. Nur eine Woche nach Takahashis Erfolg in Berlin erzielte Catherine Ndereba in Chicago eine 2:18:47 und nahm damit eine weitere Minute von der Uhr herunter. Doch der Ruhm, als Erste eine sportliche Schallmauer unterboten und damit Sportgeschichte geschrieben zu haben, blieb.

Takahashis, von der halben japanischen Bevölkerung vor den Bildschirmen verfolgter Rekordlauf, steigerte die schon nach dem Olympiasieg enorme "Q-Chan"-Euphorie im Land der aufgehenden Sonne nur noch weiter. Zu jener Zeit entstand dann auch jenes Manga-Buch mit Namen "Der Weg zum Weltrekord", in dem Naoko Takahashi die Titelheldin war.

Aus sportlicher Sicht gab es hingegen lange Zeit überhaupt nichts zu vermelden. Denn abgesehen von einem Auftritt beim Sydney Marathon vier Wochen später, wo die Olympiasiegerin am Ort ihres großen Triumphes aus Marketinggründen einige Kilometer mittrabte, tauchte Takahashi nach dem Weltrekord ein komplettes Jahr nicht bei einem Wettkampf auf.

Erst beim Berlin Marathon 2002 stand sie wieder an einer Startlinie. Selbst wenn Takahashi im Vorfeld keineswegs angekündigt hatte, einen Versuch zu unternehmen, sich den Weltrekord zurück zu erobern, übertrug der Sender Fuji TV das Rennen trotzdem erneut in voller Länge. Und mehrere japanische Firmen stiegen dank der enormen Popularität der Olympiasiegerin sogar als Veranstaltungssponsoren mit ein.

Aufgrund mehrere kleinerer Verletzungsprobleme in der Vorbereitung lief die - mit der Nummer "F3" und nicht mit der "F1" startende - Vorjahressiegerin diesmal eher auf Platz als auf Zeit. Gemeinsam mit Adriana Fernandez aus Mexiko passierte sie die Zehn-Kilometer-Marke nach 33:26 und den Halbmarathon nach 1:10:36 in hohem, aber nicht weltrekordverdächtigem Tempo.

Rund zwei Drittel der Strecke bleiben die beiden nicht nur auf dem Papier stärksten Sportlerinnen des Rennens zusammen. Dann konnte sich Naoko Takahashi ein wenig lösen. Dazu musste sie allerdings nicht einmal wirklich beschleunigen, sondern nur den angeschlagenen Schritt beibehalten. Denn der Mexikanerin wurden die Beine zu diesem Zeitpunkt merklich schwerer.

Bis zum Ziel verlor Fernandez noch über zwei Minuten auf die konstant laufende Titelverteidigerin. Doch mit 2:24:11 verpasste sie ihre drei Jahre zuvor in London aufgestellte persönlich Bestzeit trotzdem nur um wenige Sekunden. Vor ihr lieferte Naoko Takahashi als Siegerin in 2:21:49 erneut eine Weltklasseleistung ab, hatte damit gleich für vier der zwanzig schnellsten je gelaufenen Zeiten gesorgt und zudem ihren sechsten Marathon in Folge gewonnen.

Nachdem im Jahr 2000 bereits Kazumi Matsuo in Berlin gewonnen hatte, setzte sich an der Spree auch nach Takahashis Doppelerfolg die Serie japanischer Frauen auf der obersten Stufe des Siegertreppchens fort. Yasuko Hashimotos eher durchschnittliche 2:26:32 im Folgejahr ging im Jubel über Paul Tergats Weltrekord weitgehend unter. Doch 2004 steigerte Yoko Shibui den Landesrekord von Naoko Takahashi auf nun 2:19:41 - übrigens mit Hermann Achmüller als Tempomacher.

Und ein Jahr darauf setzte Mizuki Noguchi mit 2:19:12 noch einen drauf. Diese Zeit ist nun schon seit fünfzehn Jahren die gültige japanische Bestmarke und war auch viele Jahre Streckenrekord in Berlin. Der Weltrekord lag aber damals schon in weiter Ferne. Denn nur zwei Wochen nach Takahashis zweitem Sieg in Berlin hatte Paula Radcliffe diesen in Chicago auf 2:17:18 gedrückt und ihn einige Monate danach dann in London für mehr als eine Dekade bei 2:15:25 zementiert.

Schon für November, keine zwei Monate nach Berlin hatten Takahashi und Koide eigentlich schon wieder den Tokyo Marathon ins Auge gefasst. Dort wollte sie sich gleich bei der ersten der drei als Nominierungsrennen festgelegten Veranstaltungen in Tokyo, Osaka und Nagoya für die Weltmeisterschaften im kommenden Sommer in Paris qualifizieren.

Nach der gewohnt langen Vorbereitung sollte dann eine herausragende Leistung - am besten natürlich mit WM-Titel oder zumindest Medaille - in Frankreich schon das Olympiaticket für Athen bringen, um so der Belastung durch erneute Qualifikationswettkämpfe im folgenden Winter aus dem Weg zu gehen.

Doch schon mit dem ersten Schritt des mehrstufigen Plans wurde es nichts. Kurz vor dem Lauf in Tokyo wurde bei der recht verletzungsanfälligen Takahashi nämlich ein Ermüdungsbruch diagnostiziert, der sie längere Zeit außer Gefecht setzte. Nicht nur das Rennen in der Hauptstadt sondern auch die übrigen Marathons der Saison - die in Japan mit seinen warmen und ziemlich feuchten Sommern traditionell im Winterhalbjahr liegt - mussten ohne sie stattfinden.

In Paris liefen dann hinter der neuen Weltmeisterin Catherine Ndereba die drei nominierten Japanerinnen Mizuki Noguchi, Masako Chiba und Naoko Sakamoto auf den Plätzen zwei, drei und vier ein. Die nationale Konkurrenz war also extrem stark. Und selbst einem Idol wie Naoko Takahashi wurde die Olympiaqualifikation nicht auf dem Silbertablett präsentiert.

Mizuki Noguchi erhielt als Silbermedaillengewinnerin der WM den ersten der drei verfügbaren Startplätze garantiert. Die übrigen beiden wurden wie üblich anhand der Ergebnisse bei den heimischen Frauenmarathons von Tokyo im November, Osaka im Februar und Nagoya im März vergeben.

Naoko Takahashi, die inzwischen ihrem Trainer Yoshio Koide zum Werksteam von Skynet Asia Airlines gefolgt war, entschied sich erneut für Tokyo. Trotz den für diese Jahreszeit deutlich zu warmen fünfundzwanzig Grad und spürbarem Gegenwind auf der ersten Hälfte ging sie das Rennen angesichts des Drucks, gegen die innerjapanische Konkurrenz mit einer guten Leistung in Vorlage treten zu müssen, extrem schnell an.

Die ersten fünf Kilometer absolvierte Takahashi in weltrekordnahen 16:14 und lag damit natürlich deutlich in Front. Nur die WM-Sechste Elfenesh Alemu aus Äthiopien hielt noch dagegen. Auch wenn die folgenden Fünfer-Abschnitte etwas langsamer wurden, blieb das Tempo weiterhin hoch.

Und als nach der Wende - die traditionellen japanischen Eliteläufe fanden und finden fast immer mit Beginn und Ende im Stadion auf einem Wendepunktkurs statt, aber auch bei den inzwischen entstandenen Massenläufen gibt es trotz oft getrennter Start- und Zielorte aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen nahezu überall eine oder mehrere dieser Spitzkehren - der Wind nun von hinten kam, beschleunigte die Olympiasiegerin wieder und setzte sich endgültig ab.

Doch bald darauf wurden die Kilometerzeiten Takahashis wieder höher. Anfangs waren es nur wenige Sekunden, die verloren gingen. Zwischen Kilometer dreißig und fünfunddreißig lief sie allerdings nur noch 17:44 und brach anschließend sogar vollständig ein. Während die ehemalige Weltrekordlerin auf eine Kilometerschnitt von weit über vier Minuten zurückfiel, zog die zwischenzeitlich bereits klar abgehängte Elfenesh Alemu bei Kilometer neununddreißig wieder an ihr vorbei.

Bis zum Ziel verlor Naoko Takahashi noch zweieinhalb Minuten auf die in 2:24:47 siegreiche Äthiopierin. Für die erstmals seit fast sieben Jahren wieder bei einem Marathon geschlagene Zweite wurde nur 2:27:21 gestoppt. Obwohl sie damit in Tokyo immer noch eindeutig schnellste Japanerin wurde, war schon klar, dass eine Nominierung für Olympia nicht unbedingt wahrscheinlicher geworden war.

Die Bronzemedaillengewinnerin von Paris Masako Chiba lief als Zweite in Osaka zwar nur eine 2:27:38 und war damit aus dem Rennen. Doch die gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alte Naoko Sakamoto gewann diesen Marathon in 2:25:29, hatte nun also eine bessere Zeit stehen. Als Reiko Tosa bei ihrem Sieg Nagoya dann auch noch eine 2:23:57 ablieferte, wurde es eng für Takahashi.

Die Funktionäre waren in diesem Fall wirklich nicht um ihre Auswahl zu beneiden. Sollten sie die Volksheldin wirklich zu Hause lassen? Wie hierzulande bei der Aufstellung der Fußballnationalmannschaft diskutierten Medien und Öffentlichkeit über die Selektionskriterien. War Takahashis 2:27 bei Wärme und Wind denn so viel schlechter zu bewerten als die 2:25 von Sakamoto in eisiger Kälte? Wäre nicht die Routine der Zweiunddreißigjährigen in Athen wichtiger als jugendliche Spritzigkeit?

Man entschied sich tatsächlich gegen Takahashi, was in den meisten Zeitungen auf dem Titelblatt erschien und auch in vielen Nachrichtensendungen die allererste Meldung war. Die Olympiasiegerin von 2000 musste tatenlos aus der Entfernung zusehen, wie auf der klassischen Strecke zwischen Marathon und Athen ihre Nachfolgerin gekürt wurde.

Nach dem olympischen Rennen im August konnte aber trotz aller Diskussionen im Vorfeld niemand mehr den Verbandsoffiziellen einen völligen Fehlgriff vorwerfen. Denn Mizuki Noguchi holte nach 2:26:20 das zweite japanische Gold in Folge. Und auch Reiko Tosa als Fünfte in 2:28:44 und Naoko Sakamoto als Siebte in 2:31:43 liefen auf vorderen Plätzen ins historische Olympiastadion.

Noguchis Popularität bekam durch diesen Sieg natürlich noch einmal einen gewaltigen Schub, selbst wenn sie nicht ganz an die ihrer Vorgängerin herankam. Auch sie wurde von Ehrung zu Ehrung und Fernsehsendung zu Fernsehsendung gereicht. Takahashi verschwand hingegen erst einmal von der Bildfläche. In Boulder versuchte sie sich auf einen Herbstmarathon mit dem Ziel einer weiteren zeitlichen Verbesserung vorzubereiten.

Doch erneut machten ihr eine Reihe von Verletzungen einen Strich durch die Rechnung. Über ein Jahr lang lief Takahashi kein einziges Rennen. Und ob man jene 1:26:16, die sie im Januar 2005 beim Halbmarathon von Chiba erzielte, als ernsthaften Wettkampf bezeichnen sollte, ist angesichts ihres eigentlichen Leistungsvermögens durchaus zu diskutieren.

Nach einem Jahrzehnt erfolgreicher Zusammenarbeit trennte sich Takahashi im Frühjahr zudem in beiderseitigem Einvernehmen von ihrem Trainer Yoshio Koide, da dieser inzwischen zu viele weitere Läufer betreute und sich nicht mehr so intensiv wie früher um sie kümmern konnte. Inzwischen auch erfahren genug, um alleine weiter arbeiten zu können, bildete sie ihr eigenes "Team Q" und warb dazu einen Athletiktrainer und einen Ernährungsberater.

Zudem unterschrieb sie einen Vier-Jahres-Vertrag, um zukünftig für Phiten zu starten. Selbst wenn es vermutlich beide Seiten gar nicht so beabsichtigt hatten, war das eine ziemlich passende und beinahe schon symbolhafte Partnerschaft für die zuletzt beinahe häufiger verletzte als gesunde Takahashi. Schließlich handelt es sich um eine Firma, die sportmedizinische Produkte wie Bandagen und Tapes herstellt.

Auch alleine ging Naoko Takahashi wieder nach Boulder zu einem langen Höhentraining und trat dann erst im September wieder in den USA zu den beiden Halbmarathons von Virginia Beach und Philadelphia an. Mit zwei vierten Plätzen nach 1:10:30 und 1:11:28 lieferte die ehemalige Weltrekordlerin dabei zwar solide, aber alles andere als herausragende Leistungen ab.

Doch beim Tokyo Marathon im November ließ sie noch einmal etwas von ihrer alten Klasse aufblitzen. Dabei ging sie auch in dieses Rennen gegen ärztlichen Rat leicht angeschlagen und mit einer von Tape-Bändern verklebten Wade. Deswegen hielt sie auch erst einmal nur ohne groß aufzufallen in der sich nach und nach ausdünnenden Führungsgruppe auf.

Kurz nach der Halbzeit war vorne nur noch ein Trio übriggeblieben. Neben Takahashi bestand die Spitze aus der Äthiopierin Elfenesh Alemu, gegen die sie zwei Jahre zuvor unterlegen gewesen war, und Zivile Balciunaite aus Litauen - in Barcelona 2010 zuerst als Europameisterin geehrt, später dann aber disqualifiziert und wegen Dopings zwei Jahre lang gesperrt.

Kurz nachdem der fünfunddreißigste Kilometer in exakt zwei Stunden passiert worden war, trat Naoko Takahashi in ihrer üblichen Manier trocken an und schüttelte damit die beiden anderen innerhalb weniger Sekunden ab. Auf einem einzigen Kilometer lief sie rund hundert Meter Abstand auf ihre Verfolgerinnen heraus. Und auch danach wurde die Lücke immer größer - wenn auch längst nicht mehr so schnell wie zu Beginn.

Mit sicherem Vorsprung kam Takahishi im Olympiastadion an und konnte auf der Schlussrunde sogar einige Male ins Publikum winken, bevor sie nach 2:24:39 den siebten von neun gelaufenen Marathons als Siegerin beendete. Die Litauerin Balciunaite folgte in neuer persönlicher Bestzeit von 2:25:15 als Zweite. Schon deutlich abgeschlagen landete Elfenesh Alemu in 2:26:50 auf Rang drei.

Weit weniger erfolgreich war dann allerdings der Auftritt ein Jahr darauf an gleicher Stelle, wo die weiterhin extrem selten bei Wettkämpfen startende Takahashi sich wieder für ein Großereignis - diesmal waren es die Weltmeisterschaften im heimischen Osaka - empfehlen wollte und erneut in der internen Qualifikation hängen blieb. Dabei waren diesmal sogar nicht nur drei sondern fünf Plätze zu vergeben, weil neben der Einzel- auch eine Teamwertung ausgeschrieben war.

Gemeinsam mit Reiko Tosa hatte sich Noako Takahashi schon relativ früh vom restlichen Feld gelöst. Und bei der Wende lagen die beiden schon so weit vorne, dass es aussah, als würde das Rennen ziemlich sicher in einem Zweikampf zwischen ihnen entschieden werden.

Auf dem Rückweg wurde der Regen dann immer stärker. Hatte es anfangs nur leicht genieselt, öffnete der Himmel schließlich wirklich alle vorhandenen Schleusen. Da auch die Temperaturen ziemlich herbstlich waren, mussten die Läuferinnen in der zweiten Rennhälfte mit extrem unangenehmen und kräftezehrenden Bedingungen zurechtkommen.

Knapp zwölf Kilometer waren noch zu laufen, als Takahashi nicht mehr mit Tosa mithalten konnte und zurückfiel. Wie schon drei Jahre zuvor brach sie regelrecht ein und wurde nach neununddreißig Kilometern noch von Akemi Ozaki aufgesammelt, die hinter der in 2:26:15 siegreichen Reiko Tosa mit einer Zeit von 2:28:51 auf Platz zwei einlief. Die Vorjahressiegerin trottete nach 2:31:22 deutlich geschlagen als Dritte ins Ziel.

Da der japanische Verband eigentlich eine Zeit unter 2:26 als Mindestleistung für eine WM-Nominierung gefordert hatte, war es anfangs sogar fraglich, ob Gewinnerin Tosa noch einen Startplatz bekommen würde. Für Takahashi war die Sache angesichts der noch ausstehenden weiteren Qualifikationswettkämpfen in Osaka und Nagoya sowie bei den Asienspielen in Doha dagegen praktisch schon erledigt.

Und tatsächlich waren Yumiko Hara und Mari Ozaki mit 2:23:48 bzw. 2:24:39 in Osaka deutlich schneller. Die bei den Asienspielen mit Silber dekorierte Kiyoko Shimahara hatte ihre Position ebenfalls sicher. Reiko Tosa wurde trotz der knapp verpassten Norm ins Team berufen und bedankte sich dafür mit einer Bronzemedaille. Der letzte freie Platz ging an Yasuko Hashimoto, die als Nagoya-Siegerin in 2:28:49 zeitlich auch vor Takahashi lag.

Diesmal fielen die öffentlichen Diskussionen weit kleiner aus als drei Jahre zuvor. Die erste Marathon-Olympiasiegerin konnte sich zwar weiterhin enormer Beliebtheit erfreuen, doch näherte sich die Karriere der inzwischen Fünfunddreißigjährigen unverkennbar dem Ende. Die jüngere Konkurrenz machte der einstigen Überfliegerin längst die Position streitig.

Das letzte große Ziel Takahashis blieb eine erneute Olympiateilnahme. Doch erneut übertrieb sie das Training. Nach der Trennung von Koide hatte sie die in Japan ohnehin traditionell enorm hohen Umfänge - auch Übungseinheiten von fünfzig und mehr Kilometer sind dort für Marathonläufer absolut keine Seltenheit - noch einmal erhöht und lief prompt in die nächste Verletzung hinein, die nun im Sommer sogar eine Operation erforderlich machte.

Weder für den ersten Qualifikationswettkampf in Tokyo noch für den Marathon in Osaka im Februar reichte die danach noch verbliebene Zeit zum erneuten Formaufbau. So blieb im März einzig und allein das Rennen von Nagoya, bei dem Takahashi neun Jahre zuvor ihren ersten Landesrekord gelaufen war, als letzte Möglichkeit übrig, sich einen Startplatz bei den Spielen von Peking zu sichern.

Ihr ehemaliger Trainer mahnte noch, dass sich Körper und insbesondere die Muskulatur im Laufe der Jahre natürlich verändert hätten und die nun sechsunddreißigjährige Takahashi nicht mehr die gleiche wie eine Dekade zuvor sei. Doch sei sie eben auch gereift und habe ihr Trainingsprogramm entsprechend modifiziert. Wer genau hinhörte, konnte jedoch in seinen Aussagen schon einige Zweifel am Erfolg des Vorhabens erkennen.

Der Versuch der Qualifikation scheiterte - und zwar ziemlich deutlich. Schon relativ früh im Rennen konnte Naoko Takahashi der Konkurrenz nicht mehr folgen und lief den Rest der Distanz einsam hinter der immer weiter enteilenden Spitzengruppe her. Rang siebenundzwanzig in 2:44:18 waren in den Augen der meisten Beobachter der endgültige Schwanengesang einer großen Karriere.

Takahashis erste Reaktion war etwas zwiespältig. Einerseits suchte sie keinerlei Ausreden, sondern stand nach alter japanischer Tradition zu ihrer enttäuschenden Vorstellung. Sie habe alles probiert, aber so sei eben ihr aktuelles Leistungsvermögen. Andererseits wollte sie aber auch noch nicht vom Ende ihrer Laufbahn sprechen. Wenn man nicht aufgebe, könne man sich weiterhin Träume erfüllen, gab sie fast schon ein wenig trotzig zu Protokoll.

Für Olympia wurden Mizuki Noguchi, Reiko Tosa und die erst zweiundzwanzigjährige Yurika Nakamura, die in Nagoya mit 2:25:51 gewonnen hatte, nominiert. Doch nach zwei Goldmedaillen in Folge lief es in Peking überhaupt nicht für die japanische Mannschaft. Die Athen-Siegerin Noguchi trat wegen einer Verletzung gar nicht an. Reiko Tosa stieg aus. Und die als Letzte übrig gebliebene Nakamura kam beim Sieg der Rumänin Constantina Tomescu nur als Dreizehnte ins Ziel.

Naoko Takahashi war zu dieser Zeit längst schon wieder zum Training in ihrer zweiten Heimat Boulder. Im Juni lief sie beim Mount Evans Ascent - einem Rennen entlang der höchstgelegenen Straße der USA, die erst auf dem Gipfel eines Viertausenders endet - einen neuen Streckenrekord. Und auch beim Boulder Backroads Marathon über jene Schotterpisten, auf denen sie über die Jahre so viele Trainingskilometer abgespult hatte, war sie im September noch einmal erfolgreich.

Doch die Siegerzeit von 3:06:57 war schon ein deutlicher Fingerzeig. Einen Monat später verkündete die erste japanische Olympiasiegerin in einer großen Pressekonferenz ihren Rücktritt vom Leistungssport. Nahezu alle Fernsehanstalten des Landes waren mit einer Live-Schaltung dabei. Falls man Belege für die Bedeutung des Marathonlaufens und die enorme Popularität Naoko Takahashis in Japan sucht, diese immerhin einstündige Veranstaltung gehört sicher dazu.

Im darauffolgenden März lief Takahashi in Nagoya ihr offizielles Abschiedsrennen und ließ sich dabei noch einmal 2:52:23 Zeit, um die Ovationen der Zuschauer an der Strecke zu genießen und sich ihrerseits bei ihnen für die langjährige Unterstützung zu bedanken, bevor im Stadion dann die formalen Ehrungen vorgenommen wurden.

Takahashis wurde bei ihrem Einlauf kaum überraschend fast mehr Aufmerksamkeit von Journalisten und Fotografen zuteil als der Siegerin Yoshiko Fujinaga eine knappe halbe Stunde zuvor. Das in Japan nach jedem Marathon an die Teilnehmer ausgeteilte Handtuch bekam die Olympiasiegerin übrigens als schöne Geste im Ziel von genau jener Lidia Simon umgehängt, mit der sie sich in Sydney ein so hartes Duell geliefert hatte. Die Rumänin war ebenfalls in Nagoya am Start gewesen.

Nagoya 2009 war zwar der endgültige Abschluss von Takahashis leistungssportlicher Laufbahn. Doch ganz Ade sagte sie dem Sport keineswegs, sondern blieb weiterhin ein wenig im Training. So wurden zum vierzigsten Jubiläum des Berlin-Marathons im Jahr 2013 alle Sportler eingeladen, die an der Spree Weltrekorde erzielt hatten. Und prompt taucht eine gewisse "Naoko Takahashi" mit einer Endzeit von 3:25:55 in der Ergebnisliste auf.

Auch sonst blieb sie in der Laufszene aktiv. So rief sie zum Beispiel in ihrer Heimatstadt Gifu einen Halbmarathon ins Leben und dient nicht nur als Werbefigur, sondern ist auch in die Organisation eingebunden. Der japanische Laufboom und die ungebrochene Beliebtheit der Olympiasiegerin ließen die Teilnehmerzahlen schnell in die Fünfstelligkeit wachsen. Und dank vieler Spitzenläufer hat der "Takahashi Naoko Cup" inzwischen auch den Silber-Label-Status des Weltverbandes.

Daneben ist gelegentlich als Kommentatorin bei Marathonübertragungen aktiv. Sie gibt ihre Kenntnisse in Laufseminaren weiter und besucht regelmäßig Schulen, um Kinder zum Sport zu motivieren. Selbst wenn diese Schüler Takahashis aktive Zeit gar schon nicht mehr mitbekommen haben, ist die erste japanische Marathon-Olympiasiegerin auch für sie ein echtes Idol.

Natürlich ist Takahashi Ehrengast bei vielen Laufveranstaltungen, gibt dort Startschüsse ab oder spricht bei Podiumsdiskussionen - nicht selten auch einmal zusammen mit Mizuki Noguchi und Yuko Arimori. Alle drei üben auch viele Jahre nach ihren großen Erfolgen bei Auftritten noch eine enorme Faszination bei Publikum und Presse aus. Gemeinsam ist die Zugkraft nur noch stärker.

Takahashi Worte haben immer noch Gewicht. Wenn sie dann - wie schon geschehen - einmal öffentlich das in Japan nicht immer wirklich transparente Nominierungsverfahren für die Marathons bei internationalen Großereignissen kritisiert, mit dem auch sie im Laufe ihrer Karriere die eine oder andere Erfahrung gemacht hat, darf man sich eines großen Echos in den Medien sicher sein.

Allerdings kann Naoko Takahashi inzwischen eben auch selbst bei solchen Entscheidungen ein Wörtchen mitreden. Denn mittlerweile ist sie Mitglied im Exekutivausschuss des Nationalen Olympischen Komitees. Als typische Funktionärin sieht sie in Japan trotzdem wohl wirklich niemand. Vielmehr ist die fast immer strahlende Takahashi auch zwanzig Jahre nach ihrer Goldmedaille einer der Superstars des japanischen Sports und der absolute Liebling der heimischen Marathonfans.

Das Portrait über Naoko Takahashi zur Serie Heroes erstellte Ralf Klink
Grafik Ursula Güttsches

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