Ultralaufen als dynamische Meditation

Extremläufer Wolfgang Schwerk

... ist unter die Barfußläufer gegangen

von Christian Werth im Dezember 2015 

Wo man hinblickt stehen selbst gefertigte Musikinstrumente und esoterisch anmutende Holzskulpturen. Im alten Solinger Fachwerkhaus ist nur der Fluss der Wupper zu hören, die unmittelbar am Grundstück vorbeifließt, ehe einen der Weg in den Garten in nicht allzu weiter Ferne das imposante "Schloss Burg" und die herrliche Natur des Bergischen Landes erspähen lassen. Es ist das kleine, gemütliche Domizil von Wolfgang Schwerk. Hieraus schöpft der 60-Jährige seine Kraft für Weltklasse-Leistungen und kann sein Laufhobby als Naturerlebnis verbinden. Der gebürtige Kaarster lebt seit 25 Jahren in Solingen und ist als wahrer Lebenskünstler bekannt. So hat der mit einer renommierten Opernsängerin Cornelia Berger-Schwerk verheiratete Familienvater nach seinem eigenen Operngesang-Studium bereits als Einzelhandels-Kaufmann, Geflügel-Züchter, Landwirt, Landschaftsbauer und Zimmermann gearbeitet. Der Esoteriker hat in seiner stolzen Laufkarriere unzählige Ultrasiege errungen und zahllose Weltrekorde aufgestellt. Inzwischen lässt es Schwerk ein wenig ruhiger angehen. Doch obwohl er seine Trainingsumfänge inzwischen deutlich zurückgefahren hat, gehört er nach wie vor zu den weltweit besten seiner Altersklasse. So stellte er noch vor vier Jahren Weltrekorde in der M55 über 48 Stunden, 1.000 km und 6 Tage auf. Auch sein diesjähriger Start in die nationale M60 glückte, indem er zuletzt beim Iserlohner 24-Stunden-Lauf mit gut 202 km für Furore sorgte.

 

"Rekorde habe ich nie geplant, sondern die sind immer eher beiläufig dabei herausgesprungen. Schließlich kann man solche Leistungen nur erzielen, wenn man sich wohlfühlt und alles in Harmonie ist", weiß Schwerk. Um diese Harmonie zu erfahren, geht er gewöhnlich auch der Marathon-Distanz aus dem Weg, die für den Unterburger angesichts einer Bestzeit von 2:28 h eher als Sprintdistanz zu sehen ist. "Marathon ist nicht gesund.

Schließlich bringt solch eine Veranstaltung für mich Stress ohne Ende", meint Schwerk und ergänzt, dass dies schon damit anfange, dass sich dort viel zu viele Menschen tummelten und die ganze Atmosphäre für seinen Geschmack viel zu leistungsbezogen sei.

Selbst die 100-km-Distanz bringt für ihn noch nicht den gewünschten Wohlfühlfaktor mit sich. Auch das geht ihm zu schnell vorbei - schließlich hat er diese Distanz schon in 6:44 h zurückgelegt. "Multi-Days-Wettbewerbe sind mein Ding und entsprechen meiner Mentalität am meisten", offenbart Schwerk seine Vorliebe für Rennen, die über mehrere Tage gehen. "Das ist für mich dynamische Meditation und bringt für mich immer eine andere Schwingungsebene mit sich", begründet der Extremläufer seine Faszination. So liebt Schwerk auch die Tatsache, dass bei einer Wettkampfdauer von mindestens 24 Stunden unweigerlich Probleme auftreten und er sich der Herausforderung annehmen kann, diese erfolgreich zu überstehen. "Die Aufs und Abs und die Überwindung eines Tiefs sind das Schöne am Multi-Days-Ultra. Grade das Ausprobieren, was jenseits des Unmöglichen schaffbar ist und das Über sich selbst hinaus wachsen, machen für mich den Reiz aus. Schließlich gibt es kein Limit, solange der Geist stärker ist als der Körper", meint der Solinger. So würde er einen rauschartigen "Lauf-Flow" auch erst auf diesen "Mammut-Distanzen" erleben und hätte so manch einen Extremlauf regelrecht als Neugeburt empfunden, ergänzt er. Ferner schwärmt Schwerk von der familiären Atmosphäre während eines mehrtägigen Ultras. "Man unterstützt sich gegenseitig und kämpft miteinander, nicht gegeneinander", erklärt der Dauerläufer, relativiert jedoch, dass die Atmosphäre bei solchen Veranstaltungen heutzutage längst nicht mehr so angenehm sei wie früher. So gebe es inzwischen nicht nur weniger Events und weniger Ultraläufer, sondern würde die junge Ultralauf-Generation auch kaum noch miteinander interagieren: "Die schlafen sehr viel und wenn sie nicht schlafen, sind sie direkt wieder weg und rennen. Man sieht die gar nicht und kann sich auch nicht mit denen unterhalten", hadert Schwerk.

 

Dabei schwärmt der Bergische grade vom Zwischenmenschlichen, vom regen Austausch mit Gleichgesonnenen sowie von interkulturellen Begegnungen mit Ultraläufern aus anderen Nationen. Schließlich ist er für seinen Sport schon in aller Herren Länder gewesen. Wie es in der Sri-Chinmoy-Bewegung üblich ist, hat Schwerk 1983 von einem esoterischen Guru sogar einen spirituellen Namen erhalten und trägt seitdem den Zweitnamen Madhupran, was übersetzt "Süße Seele" bedeutet.

Wolfgang Schwerk spielt Okulele

Wolfgang Schwerk ist anders als die meisten anderen seiner Laufzunft und geht auch andere Wege. Er lebt sehr bescheiden und kommt mit nur wenig aus - bezogen auf Finanzielles und Materielles, aber auch auf die Ernährung. Nach einer radikalen Ernährungsumstellung setzt er inzwischen komplett auf Obst- und Gemüse-Smoothies, Reismilch sowie auf Bio-Ernährung, bezieht seine Produkte ausschließlich vom Bauernhof und aus dem eigenen Anbau. Einen Supermarkt habe er, seit er in Solingen wohnt, noch nie betreten. Bereits mit Anfang 20 beschloss er spontan Vegetarier zu werden. "Als Metzgerssohn sollte auch ich eines Tages ein Kaninchen schlachten, doch hab ich es einfach nicht übers Herz gebracht. Und wenn ich ein Tier nicht töten kann, dann muss ich auch keins essen", folgerte Schwerk für sich selbst. Der Verzicht auf Fleisch habe ihm auch als Hochleistungssportler zu keinem Zeitpunkt einen Mangel spüren lassen, stellt er klar. Der 60-Jährige ist Verzicht erprobt und weiß, dass der Körper nicht wirklich viel, sondern möglichst Gutes zum Leben braucht. "Einen leichten Mangel zu haben ist besser als einen Überfluss", meint der Vegetarier. So fastet er regelmäßig und ist zur "Reinigung seines Körpers" sogar schon mal drei Wochen lang komplett ohne feste Nahrung ausgekommen. Bei seinen Ultraläufen zerrt er von dieser Fähigkeit und ist nach seiner Ernährungsumstellung noch leistungsfähiger geworden. Zweimal lief Schwerk beim Self-Transcendence von New York mit, mit einer Länge von rund 5.000 km und rund 50 Wettkampftagen der längste Laufwettbewerb der Welt. Hierbei laufen immer wieder viele Teilnehmer Gefahr, zwangsweise aus dem Rennen genommen zu werden, weil sie zu viel Gewicht verlieren. "Ich hatte dieses Problem nicht, sondern hab als einziger im Ziel sogar drei Kilogramm mehr gewogen als beim Start", verblüfft der Laufkünstler. Dabei gehört der zähe Solinger während eines Mehrtages-Ultras zu denen, die am meisten laufen und den wenigsten Schlaf benötigen. Fünf Stunden reichen ihm und bevorteilen ihn gegenüber vielen anderen Läufern. Mit 70 kg bei 1,76 m gehört der Solinger zu den schwereren Läufern, hat jedoch für sich die Erfahrung gemacht, dass er sich bei einem Gewicht von unter 70 kg "saft- und kraftlos" fühle. Neben dem Verzicht aufs Auto hält der Naturliebhaber auch von so manchem laufspezifischen Schnickschnack nichts. Als Gefühlsläufer verzichtet er seit jeher auf eine Pulsuhr und verlässt sich stattdessen auf sein Körpergefühl. Dass die meisten Deutschen heutzutage im Überfluss leben, sieht Schwerk nicht nur als grundsätzliches Gesellschaftsproblem, sondern auch als Grund für die gegenüber früheren Zeiten stark abfallenden Marathon-Leistungen und gibt zu bedenken, dass 2:29 h beim Hamburg-Marathon 1988 grade mal zu Platz 95 gereicht hätten. "Laufen ist nun mal eine Quälerei. Doch die meisten sind sich heutzutage dafür zu bequem und machen lieber Party", kritisiert der Lebenskünstler.

Von den Erlebnissen während seiner Mehrtages-Ultras könnte Schwerk ganze Bücher füllen und hat auch spontan so manche Kuriosität parat. "Im Ziel von New York sagte man mir, dass ich nicht nur einen neuen Weltrekord über 5.000 km aufgestellt habe, sondern auch einen Weltrekord im Bananen-Essen", blickt der "Extrem-Ultra" schmunzelnd zurück und erinnert sich bei jener 52-tägigen Herausforderung auch an so manch ein "Extrem-Problem": So hatte in New York nach vielen Wochen der Enthaltsamkeit die unmittelbare Verfolgung einer gut gebauten Dame zu einem besonders peinlichen, mannesspezifischem Problem geführt, erinnert sich Schwerk.

Ein nicht so schnell zu lösendes Problem stellte die ständige Nahrungsaufnahme dar, die ein adäquates Zähneputzen unmöglich machte und letztlich zu schweren Zahnschäden geführt hat. "Irgendwann kam man gar nicht mehr mit dem Zähneputzen hinterher und ist dann mit einem ständigen Belag auf den Zähnen herumgelaufen", berichtet der Ultra. In seiner langen Laufbahn hat sich Schwerk auch im Triathlon versucht, jedoch schnell gemerkt, dass das nichts für ihn ist. Vor allem aufgrund seiner Schwimmschwäche ist er hier nicht über eine Zeit von 11 h auf der Ironman-Distanz hinausgekommen.

 
Wolfgang Schwerk am Klavier

In seiner Jugend hatte Schwerk wie die meisten Kinder der 60er Jahre mit Fußball angefangen. Während es an der Technik haperte, tat er sich schon hier als Lauftalent hervor. Allerdings war er zunächst für seine Sprintfähigkeit bekannt und lief die 100 Meter in 11,5 sek. Kontakt mit dem Ausdauersport entstand erst zu Bundeswehr-Zeiten. "Hier bin ich ohne Training 5 km in 17:30 min gelaufen und direkt in die Sportkompanie geschickt worden", erinnert sich Schwerk. Zum leistungsorientierten Langstreckenlauf hat ihn kurze Zeit ein Buch über Olympia gebracht. "Als ich das las, dachte ich: Das ist es", beschloss er kurzerhand Marathonläufer zu werden und brach dafür sogar sein Musik-Studium ab. "Ich war damals ein talentierter Bariton-Sänger, doch hat das intensive Lauftraining mit der Zeit die Stimme angegriffen", erklärt der Musikliebhaber. Da er jedoch nicht aufs geliebte Laufen verzichten wollte und zum anderen die damals fremdbestimmten Gesangsvorgaben nicht seinem Freiheitsdenken entsprachen, schmiss er das Studium und machte stattdessen eine Lehre als Einzelhandelskaufmann. Der Musik ist er dennoch seit jeher verbunden, arbeitete zwischenzeitlich als Musiktherapeut und beherrscht Geige, Gitarre, Banjo, Okulele sowie Klavier. Doch mit "nur" 2:54 h war Schwerk bei seinem Marathon-Debüt deutlich langsamer als erhofft, hatte die für ihn damals enorme Distanz zunächst unterschätzt. "Ich bin einfach mal so gelaufen, ohne mich groß vorzubereiten. Das war pures männliches Ego-Verhalten", schmunzelt der Extremläufer über seine Marathon-Anfänge. Doch das Langstrecken-Talent hatte trotz der Enttäuschung Gefallen an seinem neuen Hobby gefunden und begann nun, ambitioniert zu trainieren. So steigerte sich Schwerk von Mal zu Mal und kann heute auf eine Bestleistung von 2:28 h zurückblicken, 1985 in Kaarst erzielt.

Im Laufe der Jahre wuchs nicht nur die Begeisterung fürs Laufen, sondern auch die Distanzen. 1981 wagte er sich an seinen ersten 100er, lief in Husum 8:58 h. Auch hier probierte der Naturläufer in den Folgejahren viele Trainingsansätze aus und entdeckte das Fahrtspiel als seine liebste Trainingsmethode. 1983 knackte er erstmals die 8-Stunden-Marke und erreichte schließlich 1987 seinen Bestwert von 6:44 h. Ende der 80er Jahre entdeckte Schwerk dann auch Talent und Begeisterung für noch längere Strecken und stellte fortan unzählige Ultrarekorde auf, auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene. 1987, mit 32 Jahren, erzielte er in Köln mit 276,2 km den noch heute gültigen deutschen Rekord im 24-Stunden-Lauf. Im gleichen Jahr schaffte er in der doppelten Zeit 420 km und absolvierte die 200-km-Distanz in 16:20:51 h. 1.010 km beim 6-Tage-Lauf in Erkrath bedeuten noch heute einen Bahn-Weltrekord. Die 1.000-km-Distanz meisterte er in 5 Tagen und 22 Stunden, was bis heute ebenfalls deutschen Rekord bedeutet. Auch die 1.000-Meilen-Distanz hat noch kein Deutscher schneller hinter sich gebracht. Angesichts dieser herausragenden Leistungen wurde man Ende der 80er Jahre auch bei der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung auf Schwerk aufmerksam und lud ihn zu einem internationalen Vergleichskampf im 24-Stunden-Lauf ein. Doch ein Zerwürfnis sollte dafür sorgen, dass es bei nur einem Einsatz im Nationaltrikot blieb. Als er während dieses Laufs zur Hälfte abgeschlagen zurücklag und als vierter deutscher Läufer nicht mehr in die Mannschafts-Wertung zu kommen schien, habe ihm ein DUV-Verantwortlicher zugerufen, dass er auch vorzeitig aufhören könne. Doch der empörte Solinger lief weiter, holte gewaltig auf und sammelte zur Überraschung aller einen nach dem anderen Gegner ein. "Jetzt jubelte mir der DUV-Mann plötzlich zu und lobte mich für meinen Lauf. Doch riss ich mir vor seinen Augen die Startnummer hab und beendete das Rennen", berichtet Schwerk von seiner Retourkutsche, die in der Ultraszene für großes Aufsehen gesorgt hatte.

Nach vielen herausragenden Mehrtages-Leistungen folgte von 1989 bis 1995 eine siebenjährige Pause, in der sich der Familienvater ganz dem Eigenheim und der Erziehung seiner 1985 geborenen Tochter Lena widmete. Trotz der langen Pause und fortgeschrittenen Alters feierte er mit 40 Jahren ein glanzvolles Comeback. So folgten zahlreiche Extremläufe auf allen Kontinenten, unter anderem das "Big Race" in New York, das "Race of Fire" mit 4.600 km langer Australien-Durchquerung von Perth bis Canberra sowie auch der rund 5.000 km lange Transeuropalauf von Moskau nach Lissabon.

 
Seit er barfuß läuft, seien die Probleme komplett verschwunden, bestätigt Schwerk, der inzwischen Rentner ist und hier und da als Restaurator von Musikinstrumenten arbeitet.

Die meisten Rekorde sammelte der Tausendsassa jedoch nicht etwa bei Durchquerungen von Kontinenten, sondern auf einer 845-Meter-Runde rund um den Häuserblock: So stellte Schwerk 2002 beim New Yorker Self-Transcendere insgesamt 74 Weltrekorde auf Distanzen zwischen 1.400 Meilen und 5.000 km auf, ehe er selbst diese Bestleistungen 2006 mit 51 Jahren unterbot und seinen eigenen 5.000-km-Rekord deutlich von 52 auf nur noch 41 Tage toppte. Diese Bestleistung entspricht durchschnittlich rund 120 km pro Tag und ist erst im vergangenen Sommer durch den Finnen Ashprihanal um 23 h unterboten worden.

Schwerk verfolgt auch mit inzwischen gebremstem Trainingsschaum und sich selbst auferlegter Entschleunigung nach wie vor sportliche Ziele. So ist der 60-Jährige seit drei Jahren als Barfußläufer unterwegs und will sich auch hierbei neuen Herausforderungen stellen. So will er im kommenden Jahr sowohl die 100-km-Distanz, als auch einen 24-Stunden-Lauf auf Asphalt ohne Schuhe meistern. Zur Vorbereitung läuft er in den Wäldern um Schloss Burg je nach Belag komplett barfuß oder aber auf mit Steinchen versetzten Böden mit so genannten Huaraches, einer Art Sandalen mit nur ganz dünner Sohle. "Das ist ein ganz anderes Laufen und lässt einem zur natürlichen Art des Laufens zurückkehren", beschreibt der Dauerbrenner sein "Back-to-the-roots-Experiment" und ergänzt, dass das natürliche Laufen deutlich gesünder und gelenkschonender sei. "Da merkt man erst, was man mit Schuhen an den Füßen falsch macht", lobt er die alternative Laufmethode und gibt zu bedenken, dass das konservative Laufen durch die steife Hüfthaltung bei ihm zu Hüft- und Knieproblemen geführt hätten. Seit er barfuß läuft, seien die Probleme komplett verschwunden, bestätigt Schwerk, der inzwischen Rentner ist und hier und da als Restaurator von Musikinstrumenten arbeitet.

Das Porträt "Wolfgang Schwerk" erstellte Christian Werth
Fotos © Christian Werth

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