Johnny Kelley

Er lief und lief und lief

von Ralf Klink im März 2021 

Ein Lauf wie der Boston Marathon mit einer bis ins Jahr 1897 zurück reichenden praktisch lückenlosen Geschichte - erst im Vorjahr musste das Rennen wegen Corona erstmal überhaupt komplett abgesagt werden - bringt natürlich in dieser Zeit eine ganze Reihe von "Helden" hervor.

Weit oben in der Gunst der marathonbegeisterten Bevölkerung der Stadt und des Bundesstaates Massachusetts steht zum Beispiel Lokalmatador Bill Rodgers. Zwar wurde er in Hartford im Nachbarstaat Connecticut geboren, startete aber praktisch während seiner gesamten Karriere für den "Greater Boston Track Club".

Viermal zwischen 1975 und 1980 bekam "Boston Billy" im Ziel den traditionellen Lorbeerkranz für den Sieg aufgesetzt. Zweimal lief er auf dem nahezu von Beginn an unveränderten Kurs vom Vorort Hopkinton hinein ins Zentrum von Boston zudem einen neuen Streckenrekord. Und auch in New York war er viermal erfolgreich.

In den Vierzigern - nicht einmal der Zweite Weltkrieg konnte nämlich verhindern, dass der Marathon ausgetragen wurde - ebenfalls viermal erfolgreich war der Québecquois Gérard Côté. Nach seinem ersten Sieg 1940 wurde er in Kanada sogar als erster Frankokanadier überhaupt zum Sportler des Jahres gewählt. Nicht nur in den USA sondern auch beim nördlichen Nachbarn hat der Boston Marathon eben einen enormen Stellenwert.

In den späten Achtzigern und frühen Neunziger begannen dann langsam die Afrikaner die Nordamerikaner als Seriensieger zu ersetzen. Je dreimal lassen sich Ibrahim Hussein und Cosmas Ndeti in den Listen finden. Robert Kipkoech Cheruiyot schaffte im neuen Jahrtausend dann wie Côté und Rodgers gleich vier Siege.

Noch ein weiterer Kenianer ist definitiv zu nennen. Denn Geoffrey Mutai lief 2011 mit 2:03:02 den damals schnellsten Marathon aller Zeiten. Bis heute wurde diese Leistung nur siebenmal unterboten. Doch als Weltrekord galt sie nie. Denn die Strecke des Boston Marathons ist als Punkt-zu-Punkt-Kurs mit mehr als hundert Metern Gefälle gleich aus zwei Gründen nicht bestenlistenfähig.

Die jüngste der vielen spannenden Geschichten rund um den Urvater aller Stadtmarathons ist sicher der Sieg des Japaners Yuki Kawauchi im Jahr 2018. Der Vielstarter unter den Eliteläufern hat inzwischen beinahe schon einhundert Marathons unter der Marke von 2:20 absolviert und ist dafür weltweit bekannt und beliebt.

Mit 2:08:14 kann auch der Mann aus dem Land der aufgehenden Sonne eine durchaus beachtliche Bestleistung vorzeigen. Doch gegen drei, vier oder fünf Minuten schnellere Afrikaner war er nicht mehr als ein absoluter Außenseiter. Und dennoch gewann er das Rennen nach 2:15:58 ziemlich überraschend - wenn auch in der schlechtesten Zeit seit mehr als vier Jahrzehnten.

Denn bei grausamen äußeren Bedingungen mit heftigem Gegenwind, Dauerregen und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt war einem nach dem anderen der Äthiopier und Kenianer der Sprit ausgegangen. Der eisenharte Kämpfer Kawauchi biss sich hingegen durch die Unbilden des Wetters, sammelte die einbrechenden Läufer vor ihm auf den letzten Kilometern alle ein und lief schließlich ziemlich unangefochten zum größten Erfolg seiner Karriere.

Bei den Frauen gibt es ebenfalls etliche Siegesserien. Dreimal taucht zum Beispiel Rosa Mota auf, die damit neben Olympiagold, Welt- und Europameistertitel eben auch den traditionsreichsten Marathon der Welt gleich mehrfach in ihren Palmarès hat. Ebenfalls Olympiasiegerin und dreifache Boston-Gewinnerin ist Fatuma Roba aus Äthiopien.

Sogar viermal war die Doppelweltmeisterin und Ex-Weltrekordlerin Catherine Ndereba in der Hauptstadt von Massachusetts erfolgreich, womit sie auf Frauenseite den Rekord hält. Und dann wäre dann ja auch noch Uta Pippig zu nennen, die nicht nur aufgrund ihrer drei Siege, sondern auch wegen des dabei gezeigten strahlenden Lächelns Mitte der Neunziger zum absoluten Publikumsliebling aufstieg.

Sogar geradezu ikonisch ist die Bilderserie aus dem Jahr 1967, auf der ein Fotograf den Moment festgehalten hat, in dem der damalige Organisationschef John "Jock" Semple versuchte Kathrine Switzer aus dem Rennen zu drängen, aber von Mitläufern daran gehindert wird. Zu jener Zeit waren eigentlich nur Männer zugelassen. Doch die zwanzigjährige Switzer hatte sich einfach unter "K. V. Switzer" angemeldet und eine Startnummer erhalten.

Obwohl bereits im Vorjahr Roberta "Bobbi" Gibb das Rennen inoffiziell bestritten hatte, auch 1967 wieder dabei und deutlich schneller als Switzer war, gilt diese trotzdem als erste Frau, die den Boston Marathon als offizielle Starterin gelaufen war. Und die Aufnahmen gingen um die Welt und verstärkten die Diskussionen um die Teilnahme von Frauen bei Marathons.

In Boston schrieb man 1972 schließlich erstmals eine eigene Wertung aus. Und inzwischen wird auch Roberta Gibb mit dem Zusatz "Women's Pioneer Era" vom Veranstalter für die Jahre 1966 - 1968 als - also ebenfalls dreimalige - Siegerin geführt. Kathrine Switzer und der wütende Jock Semple wurden übrigens später sogar wirklich gute Freunde.

Herausragende Persönlichkeiten gibt es also mehr als genug in den Büchern des ältesten Marathons. Doch fragt man die Bostonians, gibt es einen, der alle anderen weit überstrahlt. Auf dem Papier erster Anwärter wäre sicher Clarence DeMar, der den Lauf 1911 zum ersten Mal und schließlich 1930 mit einundvierzig Jahren - als bis heute ältester Sieger - zum siebten Mal gewann.

Eine nette Anekdote am Rande ist, dass er als Drucker dann gelegentlich selbst daran beteiligt war, dass die Leute am nächsten Tag von seinem Erfolgen in der Zeitung lesen konnten. Dreimal 1912, 1924 und 1928 nahm er an Olympischen Spielen teil und kam aus Paris auch mit einer Bronzemedaille zurück. Eine echte Legende und dennoch nicht der größte Held des Boston Marathons.

Diese Ehre wird eindeutig John Adelbert "Johnny" Kelley zuteil. Doch woher kommt diese Popularität? Nun Kelley hat Boston immerhin auch zweimal gewonnen, war siebenmal Zweiter, landete insgesamt fünfzehnmal unter den besten Fünf und noch weitere dreimal unter den besten Zehn.

Was ihn allerdings von allen anderen unterscheidet ist, dass er bei insgesamt einundsechzig Boston Marathons am Start stand und bei achtundfünfzig davon ins Ziel kam. Nur ein einziges Mal in sechs Jahrzehnten fand der Boston Marathon ohne Johnny Kelley statt, weil er wegen eines Leistenbruchs passen musste. Die letzte Medaille holte der Dauerläufer unter den Dauerläufern sich 1992 im Alter von stolzen vierundachtzig Jahren ab.

Mehr als sieben Jahrzehnten zuvor war der am 6. September 1907 im Bostoner Vorort West Medford als ältester Sohn einer aus Irland stammenden Familie geborene Kelley erstmals mit jenem Lauf in Verbindung gekommen, der sein Leben prägen sollte. Sein Vater hatte dem damals Dreizehnjährigen versprochen ihn am Patriot's Day mit zum Marathon zu nehmen, wenn er sich zuvor gut benehmen würde.

Seit seinem Bestehen findet das Rennen nämlich fast immer an diesem Feiertag des Staates Massachusetts statt, an dem man dem Beginn des Aufstandes der Amerikaner gegen die britische Kolonialherrschaft gedenkt. Denn an diesem 19. April fanden 1773 im Raum Boston die ersten Scharmützel des Unabhängigkeitskrieges statt.

Bis 1968 wurde der Marathon fast stets an diesem Datum ausgerichtet. Nur wenn der eigentliche Termin des Feiertags auf einem Sonntag landete, wurde dieser - und mit ihm auch des Rennen - nach bester angelsächsischer Tradition auf den folgenden Montag, also den 20. April verschoben. Im Jahr 1969 wurde für den Patriot's Day dann der dritte Montag im April als Datum festgelegt.

Auch der Marathon springt nun ein paar Tage mehr im Kalender hin und her. Doch man konnte sich die Termine schon viele Jahre fix notieren. Bisher fand der Lauf fast nie an einem anderen Datum als dem "Tag der Patrioten" und definitiv Mitte April statt. Erst durch Corona wurde die Serie unterbrochen. Denn nach dem Totalausfall im Vorjahr ist der Boston Marathon 2021 erst für den Herbst ausgeschrieben.

Hundert Jahre zuvor hatte Johnny Kelley zusammen mit seinem Vater erstmals an der Lauftrecke gestanden und war schnell begeistert von der Atmosphäre. Eine für Boston wahrlich nicht unübliche Geschichte - abgesehen davon, dass der zukünftige Publikumsliebling mit dreizehn fast schon ein bisschen alt für seine erste Begegnung mit dem Rennen war.

In der Hauptstadt von Massachusetts wächst man mit dem Marathon auf und in ihn hinein wie bei kaum einem anderen Lauf weltweit. Man wird als Kind von den Eltern an die Strecke mitgenommen und klatscht die Läufer ab. Irgendwann wird man zum Helfer. Oder man geht selbst auf die Strecke. Zumindest als Zuschauer am Straßenrand lässt man sich aber das Ereignis nicht entgehen.

Kaum irgendwo sonst ist das Publikum fachkundiger. Anderswo kann man durchaus schon einmal auf ziemliches Erstaunen stoßen, wenn man den Marathon erwähnt, der am Folgetag in der Stadt stattfinden wird, und muss erst einmal die Frage beantworten, wie lang denn so ein Marathon eigentlich ist.

In Boston und Massachusetts hingegen wird man, wenn man sich einmal als Läufer zu erkennen gegeben hat, meist schon lange vor dem eigentlichen Termin in Diskussionen über Favoriten, Trainingsumfänge und persönliche Bestzeiten verstrickt. Der dritte Montag im April ist in Stadt, Region und Staat vielleicht wirklich der höchste Feiertag - und das längst nicht mehr hauptsächlich wegen des Gedenkens an einige Patrioten aus dem Unabhängigkeitskrieg.

Und diese Beziehung zum "Marathon Monday" hält meist ein ganzes Leben. Viele, viele Jahrzehnte nachdem man erstmals mit dem Rennen in Kontakt gekommen ist, kommt man als echter Bostonian auch in hohem Alter noch jedes Mal mit dem Klappstuhl an die Strecke, um bei diesem Fest dabei zu sein - wenn man nicht "John Adalbert Kelley" heißt und auch weit jenseits der Achtzig noch weiter selbst mitläuft.

Einige Zeit nach diesem Erlebnis begann Kelley mit der Leichtathletik-Mannschaft seiner Schule an Mittelstreckenrennen und Geländeläufen teilzunehmen. Er zeigte dabei durchaus Talent und wurde bei den in den USA üblichen Team-Wettkämpfen zwischen den Schulen zu einem der besten Athleten der "Arlington High".

Nach dem Abschluss hatte Kelley erst einmal Schwierigkeiten eine dauerhafte Anstellung zu finden. Die Wirtschaftskrise der "Great Depression" stand vor der Tür. Und so fand er zwischen seinen Gelegenheitsjobs immer wieder ausreichend Zeit, um weiter zu trainieren und an seinen ersten Straßenläufen über fünf und zehn Meilen teilzunehmen.

Damals waren Massachusetts und die übrigen Neuenglandstaaten nämlich das absolute Zentrum für diese Veranstaltungen in den USA. Deswegen finden sich heute neben dem Boston Marathon, der natürlich für die Entwicklung mitverantwortlich war, noch einige weitere der ältesten und traditionsreichsten amerikanischen Rennen in dieser Region.

Ziemlich populär waren zu jener Zeit Handicap-Rennen. Doch im Gegensatz zu der Verfolgungsvariante, die man heute aus dem nordischen Skisport kennt, durften damals die schwächeren Läufer und weniger bekannte Neueinsteiger mit entsprechenden Zeitabständen vor den guten und erfahrenen Athleten starten.

Dadurch machte man den Wettkampf noch ein wenig spannender. Listen wurden dabei sowohl nach der Einlaufreihenfolge als auch nach der reinen Laufzeit erstellt. Und all diese Ergebnisse berücksichtigte man dann wieder für die Berechnung der Startzeiten in späteren Rennen.

Nach und nach wurden die Distanzen für Kelley - bei für einen Langstreckenläufer idealen Maßen von nicht einmal 1,70 Größe und weniger als sechzig Kilo Gewicht blieb er auch als Erwachsener stets "Johnny" und nicht etwa "John" - länger. Und im Jahr 1928 trat er dann in Pawtucket im Nachbarstaat Rhode Island erstmals zu einem Marathon an.

Dass diese Premiere des irischstämmigen Kelley ausgerechnet am St. Patrick's Day stattfand, passte irgendwie. In der ersten Hälfte noch in der Spitzengruppe liegend brach der zwanzigjährige Neuling auf dem Rückweg vom Wendepunkt in Woonsocket allerdings heftig ein und wurde in 3:17 schließlich Siebzehnter.

Einen Monat später stand er dann auch erstmals beim Boston Marathon an der Startlinie. Nachdem man inzwischen die Streckenlänge endgültig auf 42,195 Kilometer - oder im britisch-amerikanischen Maßsystem auf 26 Meilen und 385 Yards - festgelegt hatte, befand diese sich nun in Hopkinton und nicht mehr wie in den Anfangsjahren im etwas näher an Boston liegenden Ashland.

Ein Rekordfeld von mehr als zweihundertfünfzig Läufern hatte sich versammelt, aus dem Clarence DeMar mit seinem sechsten Erfolg wieder einmal als Sieger hervor ging. Wie schon in Pawtucket reichten Energie und Ausdauer bei Kelley nur für etwas mehr als zwanzig Meilen. Am Cleveland Cyrcle - eine der bekannten Wegmarken des Traditionskurses - begann er schließlich zu wandern.

Als ihm irgendwann ein Zuschauer anbot, ihn mit dem Auto zum Ziel zu fahren, griff der erschöpfte Kelley zu und beendete das Rennen vorzeitig. Nach diesem Rückschlag konzentrierte er sich dann vorerst wieder auf kürzere Straßenläufe und sollte erst vier Jahren später erneut zum Boston Marathon antreten.

Auf wirkliche Zustimmung in der Familie stieß Kelley mit seiner Laufbegeisterung nicht. In den Augen seiner Eltern hätte sich ein junger gesunder Mann wie er eher um jede verfügbare Arbeit kümmern sollen, um in der schweren Wirtschaftskrise wenigstens etwas Geld zu verdienen. Doch genau diese war während der "Great Depression" ja extrem knapp und schwer zu finden. Johnny Kelley war froh, sich mit dem Training überhaupt irgendwie beschäftigen und ablenken zu können.

Bei den kürzeren Rennen machte er sich mit der Zeit einen ziemlich guten Namen. Und bei den von ihm geliebten Handicap-Wettbewerben gehörte Kelley irgendwann zu jenen Favoriten, die dem Rest des Feldes hinterher hetzen durften. Doch ihm wurde auch klar, dass der wirklich große Ruhm nur beim Boston Marathon zu erlangen war.

Geld gab es in jenen Jahren aufgrund der strengen Amateurregeln zwar auch mit Siegen und vorderen Plätzen nicht zu verdienen. Erst Jahrzehnte später öffnete sich das Portemonnaie der Veranstalter für Eliteläufer. Aber zumindest konnte man sich ins Gespräch bringen - und vielleicht damit sogar die eigenen Chancen auf dem leeren Arbeitsmarkt verbessern.

Allerdings endete der zweite Start beim Heimrennen im Jahr 1932 für Kelley erneut mit einem vorzeitigen Ausstieg. Trotz nun doch schon einiger Jahre Lauferfahrung hatte er sich den Anfängerfehler erlaubt, in dicken Wollsocken zu laufen. Bereits bei Halbzeit in Wellesley hatte er deswegen mehrere Blutblasen an jedem der beiden Füße.

An weitere einundzwanzig Kilometer war nicht zu denken. Kelley ging noch deutlich früher als bei seiner Premiere von der Strecke. Der Sieg ging an den in der USA lebenden Deutschen Paul de Bruyn, der damit der zweite nicht ursprünglich aus Nordamerika stammende Gewinner in der Geschichte des Boston Marathons war.

Und selbst wenn Johnny Kelley im Folgejahr tatsächlich erstmals in Ziel kam, stand auch dieser Lauf unter keinem guten Stern. Denn diesmal hatte er eine Erkältung und in diesem Zustand natürlich keine Chance auf eine vordere Platzierung. Kelley trat dennoch an und wurde nach 3:03:56 Siebenunddreißigster.

Sieger Les Pawson lief beim ersten seiner drei Erfolge in 2:31:01 über eine halbe Stunde schneller als Johnny Kelley, mit dem er im folgenden Jahrzehnt noch etliche Male die Klingen kreuzen sollte und später gut befreundet war. Trotz heftigen Gegenwinds erzielte der Mann aus Rhode Island dabei einen neuen Streckenrekord und eine der weltweit schnellsten je gelaufenen Zeiten.

Doch im Jahr darauf schaffte es der inzwischen sechsundzwanzigjährige Kelley tatsächlich erstmals aufs Treppchen. Einen Monat zuvor hatte er mit den zwanzig Meilen von Medford, die fast allen Läufern der Region als Vorbereitung dienten, bereits sein erstes wirklich bedeutendes Rennen gegen starke Konkurrenz gewonnen.

Als Favorit für den Marathon galt in Abwesenheit von Les Pawson der nach Sudbury in Kanada ausgewanderte Finne Taavi "Dave" Komonen, der Zweite der vergangenen Auflage. Im Vorjahr hatte er außerdem sowohl die Meisterschaften in seiner Heimat als auch bei den US-Titelkämpfen gewonnen, denn beide Rennen waren offen ausgeschrieben. Und tatsächlich ging der Mann aus dem Läuferland in Nordeuropa kurz vor Halbzeit in Wellesley an die Spitze.

Schon damals standen die Studentinnen des Wellesley College - bis heute eine reine Frauenhochschule - in Massen an der Strecke und sorgten mit ihren lauten Schreien, die man schon einen Kilometer vorher und noch einen Kilometer später wahrnimmt, für eine Gänsehautatmosphäre. Da dieser Teil des Kurses wie fast die gesamte erste Hälfte abfällt, läuft dann auch so mancher in Wellesley den schnellsten Marathonteilabschnitt seiner Karriere.

Als Einziger ging Kelley in diesem Moment mutig mit dem Finnen mit. Der erstaunte Komonen blickte den ihm völlig Unbekannten an und fragte erst einmal, wer er denn überhaupt sei und was er da täte. Doch Kelley lieferte dem Favoriten bis weit hinter die Dreißig-Kilometer-Marke einen harten Kampf. Erst als es am letzten der vier Hügel, die sich am Ende des dritten und am Beginn des letzten Viertels den Läufern entgegenstellen, konnte sich der Favorit endlich doch lösen.

Bis zum Ziel holte der in 2:32:53 siegreiche Komonen noch rund vier Minuten auf den erneut von Blasen geplagten Kelley heraus. Doch dieser hatte in 2:36:50 seinerseits fast vier Minuten vor dem Dritten William Steiner. Von diesem Tag an dürfte Johnny Kelley von definitiv niemandem mehr beim Boston Marathon unterschätzt worden sein.

Im Jahr darauf gewann er im März erneut die Zwanzig Meilen von Medford - ein Rennen, das Kelley in der Folgezeit regelrecht dominieren sollte. Fünf Siege in ununterbrochener Reihe und acht insgesamt schaffte er innerhalb einer Dekade. Zum einen steigerte das seine Zuversicht, zum anderen aber auch die öffentlichen Erwartungen. Kelley, der inzwischen übrigens einen dauerhaften Job in einem Blumenladen gefunden hatte, wurde endgültig zum Mitfavoriten.

Auch Komonen war wieder am Start. Der ebenfalls gemeldete Leslie Pawson - der Sieger von 1933 - war hingegen nach einer Verletzung nicht in Bestform und wurde schließlich nur Achtundzwanzigster. So erwarteten viele einen mindestens genauso spannenden Zweikampf wie bei der Auflage zuvor. Und natürlich hoffte man in Boston auf eine Revanche des Lokalmatadors.

Wie zwölf Monate zuvor übernahmen tatsächlich Komonen und Kelley am Wellesley College gemeinsam die Führung. Doch lange blieb das Duo nicht zusammen. Denn schon bald darauf fiel der Finne wieder zurück, musste wenig später sogar gehen, stieg schließlich aus und ließ sich nach Boston zurückfahren. In seiner Enttäuschung trat Komonen direkt die Heimreise an, ohne auf die Ankunft der anderen Läufer zu warten.

Allerdings war er überzeugt davon, dass Kelley gewinnen würde, und hinterließ eine kurze schriftliche Nachricht, um ihm als seinem Nachfolger zu gratulieren. Aber gewonnen hatte Johnny trotz der Aufgabe des Finnen noch lange nicht. Denn während Komonen bereits im Auto saß, schloss nun Frank "Pat" Dengis zu ihm auf und zog zeitweilig auch an ihm vorbei.

Als dieser jedoch Seitenstiche bekam, ging Kelley zum zweiten Mal in Führung. Und diesmal gab er sie auch nicht mehr her, selbst wenn er sich etwa zwei Kilometer vor dem Ziel übergeben musste, weil er unterwegs zu viele Glukose-Tabletten zu sich genommen hatte und der Magen rebellierte. Pat Dengis, der sich wieder gefangen hatte, konnte seinen Rückstand in diesem Moment zwar verkleinern, die Lücke aber nicht mehr ganz schließen und wurde in 2:34:11 Zweiter.

Kelley lief hingegen nach 2:32:07 als überglücklicher Sieger über die Linie. Dass diesmal weniger Zuschauer als sonst an der Strecke waren, weil der Patriot's Day ausgerechnet auf den Karfreitag gefallen war und viele den Kirchgang dem Marathon vorzogen, konnte seine Freude nicht im Geringsten trüben. Im Ziel wurde Kelley von seinem Vater empfangen, der Johnnys sportliche Ambitionen früher so skeptisch beurteilt hatte, nun aber ebenfalls fast vor Stolz platze.

Nur um etwas mehr als eine Minute hatte Johnny Kelley trotz seines Zwangstopps den Streckenrekord von Les Pawson für den neuen, verlängerten Kurs verfehlt. Und ein halbes Jahr später ließ er im November in Yonkers - einer Stadt nördlich von New York City - gleich seinen zweiten Sieg bei einem Marathon folgen. Allerdings reichte beim zweitältesten Rennen des Landes über diese Distanz eine 2:38:43 zum Erfolg.

Seit 1907 wird auch in Yonkers Marathon gelaufen. Und selbst wenn man im Gegensatz zu Boston keine lückenlose Geschichte hatte, waren bis 2019 immerhin fünfundneunzig Austragungen zusammengekommen. Doch während in Boston inzwischen dreißigtausend Teilnehmer an den Start gehen, sind es im inzwischen längst in den läuferfreundlicheren September gewechselten Yonkers weiterhin nur zwischen ein- und zweihundert.

Natürlich waren im Folgejahr in Boston nun wirklich alle Augen auf den lokalen Helden Johnny Kelley gerichtet. Allerdings übernahm vom Startschuss weg ein anderer energisch die Führung. Ellison Brown - ein zweiundzwanzigjähriger Narraganset-Indianer aus Rhode Island - begann so schnell, dass das Pressefahrzeug erst einmal die falschen Läufer begleitete, bevor man bemerkte, dass ein anderer Athlet noch wesentlich weiter vorbei unterwegs war.

Brown, den alle seit seiner Jugend nur "Tarzan" nannten, weil er früher so gerne auf Bäumen herum geklettert war, passierte alle Kontrollpunkte auf den ersten zwei Dritteln der Strecke in neuen Rekordzeiten. Erst als es in der Vorstadt Newton in die berühmt-berüchtigten "hills" - vier kurze Anstiege mit jeweils zwanzig bis dreißig Höhenmetern - hinein ging, wurden seine Beine langsam schwerer.

Johny Kelley, der sich inzwischen in der Verfolgung befand, bemerkte dies und versuchte energisch zu ihm aufzuschließen. Am letzten der Hügel war er dann endgültig an Brown herangelaufen. Nach einem freundlichen Klopfen auf "Tarzans" Schulter zog er vorbei. Doch die Führung dauerte nur kurz. Denn Brown hatte durch Kelleys eigentlich gutgemeinte Geste noch einmal neue Motivation bekommen und überholte wieder.

Nun begann Kelley seinerseits die Auswirkungen seiner wilden Aufholjagd zu spüren und musste Brown wieder ziehen lassen. Wenig später wurde er auch von William McMahon passiert. Und da Kelley am Ende erneut gehen musste, fiel er sogar noch weiter zurück. Mit 2:38:49 landete der Vorjahressieger schließlich nur auf dem fünften Rang.

Der kaum weniger angeschlagene und fast in Trance laufende "Tarzan" fiel auf den letzten Meilen ebenfalls mehrfach in den Wanderschritt. Doch McMahon konnte diese Schwäche nicht nutzen, da auch er Gehpausen einlegen musste. So verteidigte Ellison Brown seine Führung bis ins Ziel. Bei 2:33:40 blieb die Uhr für ihn stehen. Knapp zwei Minuten später wurde Willam McMahon Zweiter vor Mel Porter auf Platz drei.

Der Marathon des Jahres 1936 brachte aber noch etwas anderes hervor. Denn Jerry Nason, ein Reporter des "Boston Globe", hatte vom Presseauto die Situation genau beobachtet, bei der Kelley nach seinem Schulterklopfer vom konternden Brown wieder passiert wurde. In blumigen Worten beschrieb er die Situation für seine Zeitung. In diesem Moment sei "Kelleys Herz zerbrochen".

Und dieser Artikel ist in Wahrheit die Basis für die Bezeichnung "Heartbreak Hill", die der vierte der vier Newton Hills von nun an trug. Die schöne Geschichte, die Kuppe hätte ihren Namen bekommen, weil sie sich genau zu jenem Zeitpunkt jenseits Kilometer dreißig vor den Läufern aufbaut, in dem das Rennen ohnehin besonders schwer ist, hat sich zwar längst verselbständigt, wird immer wieder aufgeschrieben und weiterverbreitet. Doch sie trifft so eigentlich nicht zu.

Der Boston Marathon 1936 war ganz nebenbei noch der erste Selektionswettkampf für die Olympischen Spiele von Berlin gewesen. Ellison Brown hatte sich durch seinen Sieg damit auch den ersten Platz im Team erobert. Johnny Kelley hingegen war als Fünfter erst einmal klar an einer Nominierung vorbeigelaufen.

Sechs Wochen später fand das zweite Ausscheidungsrennen bei den nationalen Meisterschaften in der Hauptstadt Washington statt. Und Kelley versuchte es dort erneut. Zwar musste er sich dort dem Boston-Zweiten McMahon geschlagen geben, der nach zwei Spitzenpositionen nun ebenfalls seinen Start für Berlin sicher hatte. Doch kam Kelley als nächster in Ziel und wurde am Ende doch noch mit einer Nominierung belohnt.

Für alle drei verlief der Olympische Marathon im August, der auf einem Wendepunktkurs im Grunewald ausgetragen wurde, wenig erfolgreich. Tarzan Brown hielt sich gut die Hälfte der Distanz unter den besten Fünf, bekam dann aber massive Probleme in den Beinen. Darüber, ob es sich um die Auswirkungen eines Leistenbruches handelte, die ihn von Zeit zu Zeit quälten, oder "nur" um Krämpfe, gibt es weiterhin widersprüchliche Angaben.

Jedenfalls ging Brown auf dem Rückweg irgendwann von der Strecke und wurde später zudem noch von der Jury disqualifiziert, weil er sich wegen seiner Beschwerden von einem Zuschauer massieren ließ. Auch Billy McMahon kam nicht ins Ziel. Ein Schicksal, dass er übrigens mit dem deutschen Boston-Sieger Paul de Bruyn bei dessen zweiten Olympischen Marathon nach Los Angeles 1932 teilte.

Und Johnny Kelley landete in enttäuschenden 2:49:32 nur auf Rang achtzehn. Der Sieger Sohn Kee-chung aus Korea, der wegen der japanischen Besetzung seiner Heimat als "Kitei Son" unter der Flagge mit der aufgehenden Sonne antreten musste und diese dann bei der Siegerehrung ganz bewusst keines Blickes würdigte, war in 2:29:19 volle zwanzig Minuten schneller gewesen.

Bei seinen Heimrennen im Folgejahr lief es hingegen wieder deutlich besser für Kelley. "Tarzan" Brown laborierte nach seinem Ausstieg in Berlin weiter an seinen Beinproblemen, hatte kaum trainieren können und war absolut nicht in der Verfassung, um in den Kampf um den Sieg eingreifen zu können. Er stand aber trotzdem am Start. Zumindest nominell wollte der Vorjahressieger nicht auf die Titelverteidigung verzichten.

Und selbst wenn mit Paul de Bruyn, Leslie Pawson und "Dave" Komonen auch die übrigen Sieger des letzten halben Jahrzehnts gemeldet waren, wurde Kelley deswegen von der Presse im Vorfeld erneut am höchsten gehandelt. Auch Kelley selbst fühlte sich in der Form seines Lebens, sah die Uhr als seinen größten Gegner und plante dem Rennen ein Tempo aufzuzwingen, das wohl keiner seiner Konkurrenten mitgehen könnte.

Nachdem er anfangs in der Spitzengruppe mitgeschwommen war, übernahm er nach etwa zehn Meilen in Natick - der vierten an der Strecke liegenden Ortschaft nach Hopkinton, Ashland und Framingham - die Führung. Doch zu seiner Überraschung konnte Walter Young, ein arbeitsloser Schreiner aus Verdun bei Montréal, die Tempoverschärfung mitgehen.

Noch einige Wochen zuvor beim Zwanzig-Meilen-Lauf in Medford hatte er dem Mann aus Québec rund drei Minuten abgenommen. Und auch beim Boston Marathon war Young noch nie unter den besten Zwanzig gewesen. Selbst wenn ihm der Kanadier nicht ganz unbekannt war, ähnelte die Situation also schon ein wenig jener zwischen Kelley und Komonen drei Jahre zuvor.

Die nächsten rund zwanzig Kilometer lieferten sich Kelley und Young ein heftiges Duell. Insgesamt sechzehn Mal wechselte die Führung. Immer wieder versuchte Johnny den Kanadier in den Hügeln vor Boston mit Antritten abzuschütteln oder zumindest zu zermürben. Ohne Erfolg. Am Ende sog er sich an diesem relativ warmen und sonnigen Apriltag damit nur sich selbst die Energie aus dem Körper.

Am Cleveland Cyrcle, dort wo er einige Jahre zuvor einmal ausgestiegen war, musste er Walter Young endgültig ziehen lassen. Einige Kilometer später begann Kelley sogar wieder einmal zu wandern. Fast sechs Minuten verlor er auf dem letzten Abschnitt noch auf den neuen Sieger aus Québec, der schließlich mit 2:33:20 gestoppt wurde. Kelley rettete sich in 2:39:02 aber immerhin noch sicher vor dem 2:41:46 laufenden Les Pawson als Zweiter ins Ziel.

Durch seinen Erfolg in Boston und dem dadurch entstandenen Bekanntheitsgrad bekam der bis dahin arbeitslose Walter Young tatsächlich eine Stelle bei der Polizei seiner Heimatstadt Verdun, wo er dann auch die nächsten vier Jahrzehnte bis zu seiner Pensionierung beschäftigt bleiben sollte.

In 2:48:13 als Neunter des Marathons im Jahr 1937 steht übrigens ein gewisser "John Duncan Semple" in der Liste. Es ist genau jener "Jock", der - wenn überhaupt - den meisten nur als verbohrter Funktionär bekannt ist. Allerdings war der gebürtige Schotte eben auch ein ziemlich guter Läufer. Selbst wenn es nie für ganz vorne reichte, kam er in Boston mehrfach unter die ersten Zehn und lief dabei oft auch Endzeiten mit einem Kilometerschnitt von unter vier Minuten.

Noch immer war die Zeit der Wirtschaftskrise nicht vorbei. Der "New Deal" von Präsident Franklin D. Roosevelt zeigte nur langsam Wirkung. Kelley hatte inzwischen seinen Job im Blumenladen verloren und nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit eine Stelle als Wachmann und Pförtner beim Bostoner Stromversorgungsunternehmen gefunden. Eine körperlich relativ einfache, meist sogar sitzende Tätigkeit, die ihm für das Training genug Raum und Kraft ließ.

So zählte Kelley auch 1938 zu den am höchsten gewetteten Favoriten für den Boston Marathon - insbesondere da Vorjahressieger und Neu-Polizist Walter Young von seinen Vorgesetzten keine freien Tage für den Marathon erhalten hatte und auf die Teilnahme verzichten musste.

Ähnlich gute Quoten hatten aber auch Les Pawson und Pat Dengis bekommen. Letzterer hatte innerhalb der letzten zwölf Monate immerhin drei Marathons gewonnen und war bei einem weiteren Rennen über diese Distanz Zweiter geworden. Ebenfalls hoch gehandelt wurde inzwischen Gérard Côté, der nach seinem siebten Platz im Vorjahr von Kelley in Medford gerade noch auf Distanz gehalten werden konnte.

Selbst für Jock Semple standen die Quoten bei eins zu fünfzehn. Immerhin eins zu hundert sollte es für einen Sieg der inzwischen fast fünfzigjährigen Altmeisters Clarence DeMar geben, der weiterhin jedes Jahr an der Startlinie auftauchte und damit schon einmal ein Vorbild für Johnny Kelleys Serie lieferte. Auch DeMar lief zwischen 1910 und 1954 weit über dreißig Mal in Boston. Bei seiner letzten Teilnahme war er knapp sechsundsechzig.

An einem außergewöhnlich warmen Tag mit Temperaturen weit über der Zwanzig-Grad-Marke hatten sich mehr als eine halbe Million Zuschauer an der Strecke eingefunden. Wenn Veranstalter hierzulande mit solchen Zahlen hausieren gehen, sollte man sie gelinde gesagt mit großer Vorsicht genießen. Im Schnitt fünf bis sechs Zuschauer auf jedem Meter Straßenrand sind eigentlich unrealistisch, im marathonverrückten Boston hingegen tatsächlich bei gutem Wetter absolut möglich.

Fast vom Start weg liefen Kelley und Pawson gemeinsam. Und in Natick übernahmen sie dann auch zusammen die Spitze. Der als Langsamstarter bekannte Dengis lag hingegen zu diesem Zeitpunkt noch in Bereichen jenseits von Position zwanzig. Und auch von Côté war zu diesem Zeitpunkt nichts zu sehen. Die beiden konnten sich immer deutlicher absetzen und schienen den Sieg unter sich auszumachen.

Johnny Kelley, der seine große Familie - er hatte immerhin neun Geschwister - entlang der Strecke verteilt hatte, um Wasser und Früchte anzureichen, teilte diese bereitwillig mit seinem Kumpel Leslie. In den Hügeln von Newton ging Kelley dann langsam der Sprit aus, während Pawson sich irgendwann lösen konnte und den gewonnenen Vorsprung auf den letzten acht Meilen eigentlich nur noch verwalten musste.

Doch inzwischen hatte Dengis aufgedreht. Auf der langen Gerade hinein ins Zentrum von Boston sammelte er zuerst den erschöpften Kelley ein und nahm anschließend den nun ebenfalls langsamer werdenden Les Pawson ins Visier. Vier Kilometer vor dem Ziel ging auch beim Führenden praktisch nichts mehr. Nur noch schleppend kam er voran.

Aber Pat Dengis hatte ein klein wenig zu lange gewartet, um seine Aufholjagd zu starten. Wäre die Strecke einen Kilometer länger gewesen, hätte er wohl noch eine Chance gehabt, auch Pawson abfangen zu können. So schaffte dieser es aber, seine Führung in 2:35:34 ins Ziel zu bringen. Dengis folgte eine gute Minute danach in 2:36:43 auf Platz zwei. Kelley gab sich diesmal nicht auf und kämpfte sich mit 2:37:34 als sicherer Dritter durch die Hitzeschlacht.

Vielleicht noch beeindruckender war allerdings die Leistung von Clarence DeMar. Denn der Routinier lief mitten zwischen nur etwa halb so alter Konkurrenz nach 2:43:30 als Siebter ins Ziel und ließ dabei Läufer wie Côté und Komonen hinter sich. Ellison Brown wurde nach über dreieinhalb Stunden sogar nur auf Rang vierundfünfzig registriert. Ohne realistische Siegchance hatte er sich angesichts der Hitze unterwegs allerdings auch erst einmal in einem See abgekühlt.

Nachdem DeMar 1930 seinen siebten Erfolg einfahren konnte, hatte es sieben verschiedene Boston-Sieger gegeben. Nun war Les Pawson der erste von ihnen gewesen, dem es zum zweiten Mal gelang, ganz oben auf dem Treppchen zu stehen. Und neben dem unverwüstlichen Clarence DeMar standen vier weitere Sieger der Dreißiger 1939 wieder an der Startlinie in Hopkinton.

Es waren die vier letzten Gewinner - Pawson, Young, der diesmal einen zusätzlichen freien Tag von der Polizei in Verdun bekommen hatte, Brown und Kelley. Dazu kamen Pat Dengis, der im Vorjahr beim Marathon von Salisbury Beach mit 2:30:27 weltweit die schnellste Zeit des Jahres gelaufen war, und Gérard Côté, der diesmal in Abwesenheit von Seriensieger Kelley in Medford als Erster ins Ziel gekommen war.

Johnny war so schlecht vorbereitet wie lange nicht mehr. Der Boston Marathon sollte sogar überhaupt erst das erste Rennen in diesem Jahr sein. Aufgrund seines Trainingsrückstandes musste er zudem zwei oder drei Kilogramm mehr als in den Rennen zuvor über die Strecke schleppen, was bei einem Leichtgewicht wie ihm durchaus von Bedeutung war.

Statt warm und heiß wie im Vorjahr war der Patriot's Day 1939 kühl, trüb und verregnet. Das Ganze wurde noch dadurch gesteigert, dass an diesem Tag eine partielle Sonnenfinsternis stattfand, was dem Lauf zumindest zeitweise eine fast gespenstische Atmosphäre gab. Sicher nicht allzu viele Marathons dürften jemals während eines solchen astronomischen Ereignisses stattgefunden haben.

Den Anfang dieses wahrlich außergewöhnlichen Rennens prägte erst einmal Les Pawson. Doch nach etwa einem Drittel der Distanz übernahm Ellison "Tarzan" Brown energisch das Kommando. Die anderen in der Führungsgruppe - außer Pawson auch noch Young, Dengis und Côté - ließen ihn ziehen. Wirklich mitgehen konnten und wollten sie das Tempo nicht. Sie setzte darauf, dass Brown am Ende einbrechen und zurückfallen würde.

Im Gegensatz zu seinem Lauf 1936, als er anfangs sämtliche Zwischenbestzeiten regelrecht pulverisiert hatte, übertrieb es Tarzan aber diesmal nicht. Er lief ziemlich, aber eben nicht zu schnell. Und prompt lag er auch dann noch auf Rekordkurs, als die Stadtgrenze von Boston längst erreicht war. Das kühle und feuchte Wetter spielte ihm zusätzlich in die Karten.

Brown brach nicht ein, wurde nicht langsamer, fiel nicht zurück, sondern zog das Tempo bis zum Ziel durch. Seine Konkurrenten hatten sich mit ihrer abwartenden Taktik vertan. Sie bekamen ihn nie wieder zu Gesicht. Mit 2:28:51 verbesserte er Pawsons alte Bestmarke um mehr als zwei Minuten.

Überraschend auf Platz zwei lief der vierundzwanzigjährige Don Heinicke, der wie der diesmal viertplatzierte Pat Dengis aus Baltimore stammte und von diesem auch ein wenig unter die Fittiche genommen worden war. In 2:31:24 blieb Heinicke ebenfalls noch unter dem alten Rekord. Walter Young wurde nach 2:32:41 schließlich Dritter. Les Pawson kam als Fünfter ins Ziel.

Johnny Kelley hatte hingegen erstmals seit Jahren mit dem Ausgang des Rennens nicht das Geringste zu tun. Eine 2:41:03 reichte nur für Rang dreizehn. Einen guten Monat danach wurde er in Salisbury Beach in 2:37:07 immerhin schon wieder Zweiter. Im November lief er in Yonkers nur eine Sekunde langsamer und kam auf Platz drei.

Im nächsten Jahr wollte er es natürlich besser machen. Und auch abgesehen von Kelley waren gewohnte Namen, die von den immerhin fast zweihundert gemeldeten Läufern als Favoriten gehandelt wurden. Tarzan Brown, Les Pawson, Walter Young, Gérard Côté sowie nach seiner überzeugenden Leistung bei der letzten Auflage nun auch Don Heinicke. Einer fehlte allerdings in der Liste - Pat Dengis.

Der ehemalige Weltjahresbeste war nämlich im Dezember ums Leben gekommen, als er als Mechaniker einen Testflug für seinen Arbeitgeber, den Flugzeugbauer "Glenn L. Martin Company" begleitete, auf dem der Pilot die Kontrolle über die Maschine verlor und diese abstürzte. Beide Insassen überlebten den Unfall nicht. Nur wenige Wochen zuvor hatte Dengis noch mit einem Sieg in Yonkers seinen US-Titel erfolgreich verteidigt.

Abgesehen von Young, der schon früh nicht mehr in der Spitzengruppe lief, waren auch mehr oder weniger genau die Genannten, die das Rennen während der ersten Hälfte bestimmten. Nur der Kanadier Scotty Rankine hielt als Außenseiter noch mit. Mehrfach wechselte die Führung, Doch wirklich von der Konkurrenz absetzen konnte sich keiner der Läufer. Das Tempo war aber auch ziemlich hoch und lag unterstützt von einem spürbaren Rückenwind im Bereich von Browns Streckenrekord.

Tarzan selbst hatte lange an der Spitze auf das Gaspedal gedrückt. Doch als es bei Newton in die ersten Hügel ging, wurden die Beine schwerer und es überkam ihn plötzlich der Hunger. Ein Zuschauer bot ihm ein Eis an. Und Brown griff zu. Weil es so gut schmeckte nahm er nach dem ersten gleich noch ein zweites. Inzwischen waren die anderen vorbeigezogen. Er kam auch nie wieder an sie heran und wurde wie Kelley im Vorjahr Dreizehnter.

Durch die Hügel kämpften anschließend Kelley und Rankine lange um die Führung. Und als Johnny seinen Begleiter endlich abgeschüttelt hatte, glaubte er bereits, seinem zweiten Sieg entgegen zu laufen. Doch nun blies Gerard Côté, der sich das Duell aus ein- bis zweihundert Meter in aller Ruhe angeschaut hatte zur Attacke. Vier Meilen vor dem Ziel hatte er den Führenden gestellt und zog unerbittlich vorbei.

Kelley fehlten wie so oft auf den letzten Kilometern die Kräfte, um noch einmal dagegen halten zu können. Côté hingegen lief bis zum Ziel locker weiter, hatte zum Schluss sogar die Zeit, den Zuschauern zuzuwinken und verbesserte trotzdem den Streckenrekord auf 2:28:28. Er hätte eigentlich auch noch ein bisschen weiterlaufen können, diktierte er nach seinem Sieg den Reportern in die Blöcke.

Es dauerte dreieinhalb Minuten, bis auch Johnny Kelley nach 2:32:00 über die Linie lief. Und viel länger hätte die Strecke auch nicht mehr sein dürfen. Denn Don Heinicke, der wie sein tödlich verunglückter Lehrmeister Dengis seine Marathons eher defensiv anlegte, war bis auf einundzwanzig Sekunden herangerückt. Und auch Les Pawson als Vierter lag nur etwas über eine Minute hinter seinem alten Freund und Konkurrenten.

Von diesem stammte auch die schöne Erläuterung, Kelley sei eindeutig der beste Marathonläufer der Welt auf den ersten zwanzig Meilen. Die nächsten drei Meilen würde er aufgrund seines Kampfgeists und seines unbändigen Willens im Zweifel auch das Innerste nach außen kehren. Aber niemand verstünde, wie er es danach noch über das letzte Teilstück tatsächlich bis ins Ziel schaffen könne.

Der so Beschriebene hatte sich damit zum zweiten Mal für Olympia qualifiziert. Die Spiele waren ursprünglich nach Tokyo vergeben worden, wurden dann aber von den Japanern zurückgegeben und sollten nun in Helsinki stattfinden. Doch aus dem olympischen Traum wurde nichts. Denn in Europa tobte bereits der Zweite Weltkrieg. Und im Frühsommer sagte das IOC die Veranstaltung endgültig ab.

Kelley lief deswegen im September in Salisbury Beach und kam dort gleich noch einmal auf Platz zwei. Diesmal musste er sich Tarzan Brown geschlagen geben, der sich nach der Enttäuschung von Boston in 2:27:30 eindeutig rehabilitierte. Allerdings steht hinter seiner Zeit genau wie hinter der 2:28:18 von Kelley ein dickes Sternchen, denn der Kurs war wohl um einiges zu kurz geraten.

Gérard Côté wurde in diesem Rennen nur Fünfter, siegte dafür aber im November mit 2:34:06 in Yonkers, wo wiederum Kelley nach 2:44:56 mit Platz sieben deutlich hinterher lief. Ziemlich häufig tauchten in jenen Tagen bei den keineswegs seltenen Marathons im Nordosten Amerikas die gleichen Läufer in immer wieder neuen Reihenfolgen in den Listen auf.

Allerdings erschienen nun immer weniger Kanadier bei den Rennen. Während die USA bis zum japanischen Überfall auf Pearl Harbour im Dezember 1941 nicht aktiv in die Kampfhandlungen involviert waren, stand der nördliche Nachbar als Teil des britischen Commonwealth militärisch fest an der Seite des Königreichs und schickte immer mehr Truppen zur Verstärkung ins frühere Mutterland.

Zum Boston Marathon kamen so nur noch der "Titelverteidiger" Gérard Côté und Scotty Rankine über die Grenze. Und diese beiden waren ebenfalls bereits beim Militär. Allerdings hatten sie aufgrund ihrer herausragenden sportlichen Leistungen in der Vergangenheit von ihren Vorgesetzten für den Lauf Urlaub erhalten - natürlich in der Hoffnung, dass im Erfolgsfall ein bisschen Ruhm für die jeweilige Einheit hängen bleibt.

Wie drei Jahre zuvor zeigte das Thermometer auch diesmal weit mehr als zwanzig Grad. Nachdem die unerfahrenen Schnellstarter wieder eingeholt waren, versammelten sich dann auch schon relativ früh die bekannten Namen an der Spitze. Les Pawson lief von ihnen erst einmal am defensivsten los, begann auf dem Weg zur Halbzeitmarke aber langsam einen nach dem anderen seiner Hauptkonkurrenten einzusammeln.

Dabei setzte der erfahrenste und mit sechsunddreißig Jahren auch älteste unter den Topläufern bewusst auf die Taktik, mit energischen Überholvorgängen schnell vorbei zu ziehen, um den Eingeholten überhaupt nicht die Chance zu geben, sich anzuhängen und das Tempo mitzugehen. Mehrfach wirkte dieser psychologische Überraschungseffekt optimal.

Doch als er Johnny Kelley genau auf die gleiche Art passieren wollte, hielt dieser sofort dagegen. Der Lokalmatador war zwar inzwischen auch schon fast vierunddreißig Jahre alt und zum ersten Mal verheiratet - drei weitere Ehen sollten noch folgen. Doch wirklich ruhiger war der kleine, große Kämpfer deswegen aber noch lange nicht geworden.

Ab Wellesley lagen Pawson und Kelley alleine an der Spitze. Erneut teilten sich die beiden Wasser und Obst, das sie von ihren jeweils auf der Strecke verteilten und in Autos mitfahrenden Sekundanten angereicht bekamen. Andererseits versuchten sie sich aber gegenseitig mit hoch gehaltenem Tempo zu zermürben. Alle anderen hatten längst passen müssen und waren schon außer Sichtweite, als die zwei Kontrahenten in den Newton Hills um den Sieg kämpften.

Hinter dem letzten Hügel, dem Heartbreak Hill konnte sich Pawson schließlich tatsächlich ein wenig absetzen. Und da Kelley nicht unbedingt für seine Stärke auf den letzten Kilometern bekannt war, schien es auf den dritten Sieg des Mannes aus Rhode Island hinaus zu laufen.

Doch einer seiner Oberschenkel begann sich zu melden. Und eine Meile vor dem Ziel wurden die Schmerzen so stark, dass Pawson sogar einige Meter gehen musste. Kelley kam noch einmal etwas näher heran. Doch nachdem sich der Muskel durch den veränderten Schritt ein wenig entspannt hatte, konnte Les Pawson wieder antraben und die hart erkämpfte Führung auch ins Ziel bringen. Trotz der Wärme lieferte er mit 2:30:38 die bisher zweitschnellste Siegerzeit auf dieser Strecke ab.

Doch auch Kelleys 2:31:26 hätte in vielen Jahren zuvor mehr als ausgereicht, um ganz oben zu stehen. Nun war er zum vierten Mal in neun Austragungen Zweiter geworden. Pawson sortierte sich hingegen mit seinem dritten Erfolg nun direkt hinter Clarence DeMar ein. Denn niemand außer dem auf Rang zwanzig einlaufenden Altmeister hatte den Boston Marathon bisher mehr als zweimal gewonnen.

Schon ziemlich abgeschlagen kam Don Heinicke nach 2:35:40 als Dritter ins Ziel. Bevor Vorjahressieger Côté den vierten Platz belegt musste man noch weitere zwei Minuten warten. Jock Semple erreichte in diesem Jahr mit Rang acht in 2:47:26 übrigens das beste Ergebnis für die den Lauf ausrichtenden Club "Boston Athletic Association" seit mehr als drei Dekaden.

In Salisbury Beach einige Monate später musste sich Johnny Kelley erneut Les Pawson geschlagen geben. Diesmal war der Abstand von 2:31:27 zu 2:43:08 deutlich größer. Und auch Gérard Côté und Don Heinicke kamen zwischen den beiden noch ins Ziel. Im November kam Kelley in Yonkers nach 2:38:26 auf Platz drei. Dort lagen mit Bernard Joseph Smith und Fred McGlone zwei aufstrebende Läufer vor ihm, die zuvor noch nicht so im Rampenlicht gestanden hatten.

Einen Monat nach diesem Rennen befanden sich auch die USA im Krieg. Und der Boston Marathon im nächsten April fand aus diesem Grund erstmals an einem Sonntag statt. Denn das übliche Verschieben des Patriot's Day auf den folgenden Montag entfiel, damit den Rüstungsfabriken kein Tag in der Produktion verloren ging. Auch waren entlang der gesamten Strecke Wachposten verteilt, um im Falle eines Luftangriffes die Zuschauer so schnell wie möglich zu evakuieren.

Vorjahressieger Les Pawson fehlte, denn er war bei einem Rennen im Herbst von einem Auto angefahren worden. Von den heute gewohnten Vollsperrungen der belaufenen Straßen konnte zu jener Zeit nicht die Rede sein. Noch immer laborierte er an seinen schweren Verletzungen aus dem Unfall und konnte erst 1943 wieder in Boston antreten.

Gérard Côté war weiterhin bei der kanadischen Armee. Zwar hatte er erneut für den Lauf frei bekommen, doch war die Vorbereitung nicht wirklich optimal. Und so bestimmten erst einmal frische Namen das Rennen. Fred McGlone, der aus Natick stammte, führte das Feld bei ziemlich frischen Temperaturen von etwa fünf Grad durch seinen Heimatort.

Nach der Halbzeitmarke übernahm in Newton dann der junge John Coleman. Dieser lief mit dem Einhorn der BAA auf der Brust und schien als erster Läufer des ausrichtenden Clubs überhaupt, den Boston Marathon gewinnen zu können. Immerhin hatte er beim klassischen Testrennen in Medford mit Kelley, Heinicke, McGlone und "Joe" Smith fast alle anderen Asse geschlagen und damit schon einmal eine deutliche Duftmarke gesetzt.

Johnny Kelley setzte ihm ohne viel Zögern hinterher. Und auch McGlone gab den Kampf noch lange nicht auf. Die drei Läufer aus dem Großraum Boston rieben sich im Ringen um die Führung in den Newton Hills mit immer neuen Attacken gegenseitig auf. Zuerst fiel Kelley zurück, dann ging Coleman von der Strecke und ließ sich mit dem Auto ans Ziel bringen.

Und auch bei Fred McGlone ging nicht mehr viel. Nach etwa fünfunddreißig Kilometern zog Lou Gregory, ein vierzigjähriger Lehrer aus dem Norden des Bundesstaats New York an ihm vorbei. Und wenig später wurde er auch von Smith eingesammelt. Dieser war am Cleveland Cyrcle eine Meile später auch an Gregory herangelaufen und von da an endgültig nicht mehr zu stoppen.

Obwohl er bis dahin an keinem der klassischen Zwischenzeit-Messpunkte in Rekordzeit vorbeigekommen war, pulverisierte er Côtés Streckenrekord regelrecht. So schnell wie Joe Smith hatte noch niemand die letzten Kilometer des Boston Marathons zurückgelegt. 2:26:51 zeigte die Uhr, als der Milchmann aus North Medford die Linie überquerte.

Lou Gregory blieb mit 2:28:03 ebenfalls noch unter der alten Bestmarke. Überraschend auf Rang drei kam nach 2:36:13 Carl Maroney, der zwölf Monate zuvor noch als Achtunddreißigster eingelaufen war. Johnny Kelley hatte sich nach einigen Gehpausen inzwischen wieder etwas erholt und wurde nach 2:37:55 Fünfter.

Fred McGlone war hingegen so erschöpft, dass er auf dem Schlussabschnitt mehrmals hinfiel. Mit der Geschichte von Dorando Pietri bei den Olympischen Spielen 1908 im Hinterkopf versuchte er, jegliche Eingriffe von Zuschauern zu verhindern, um bloß nicht disqualifiziert zu werden. Doch nach seinem dritten Sturz half ihm trotz Protest ein Polizist wieder auf die Beine. Und obwohl er das Ziel dann aus eigener Kraft als Siebter erreichte, wurde prompt ein "DSQ" in der Liste vermerkt.

Während Kelley im Sommer auf seine Einberufung zum Militär wartete, starb nach gerade einmal zwei Jahren Ehe plötzlich seine Frau. Johnny stürzte sich anschließend noch stärker als zuvor ins Training, was hauptsächlich seiner mentalen, aber auch seiner körperlichen Verfassung gut tat. Im November lief er in 2:42:21 hinter Fred McGlone in Yonkers noch einmal auf Platz zwei.

Wenig später wurde Kelley dann allerdings zu einer Einheit nach Alabama tief im Süden der USA geschickt. Immerhin konnte er im dortigen Fort McClellan einigermaßen weiter trainieren. Während viele andere Rekruten Probleme hatten, die langen Märsche in der Ausbildung zu bewältigen, hatte Kelley eher Bedenken, dass die Belastungen nicht ausreichten, um in Form zu bleiben.

Wie viele andere Läufer, die nun bei der Armee oder der Marine dienten, hob er sich seinen spärlichen Urlaub für den Boston Marathon auf. Das Vorbereitungsrennen in Medford sah deswegen ein ziemlich kleines Feld. Allerdings verbesserte der inzwischen wieder genesene Les Pawson dort Johnny Kelleys alten Streckenrekord dennoch recht deutlich.

Damit lief er sich natürlich ein wenig in die Favoritenrolle für den Marathon einen Monat später. Doch war er eben nun auch bereits achtunddreißig Jahre alt, weswegen er andererseits auch erst einmal nicht zum Militär einrücken musste. Außerdem machte sein beim Unfall so schwer verletztes Bein noch immer gelegentlich Probleme. Und sie wurden umso größer je länger die Distanz war.

Erneut wurde das Rennen in Boston sonntags ausgetragen. Private John A. Kelley reiste die komplette Ostküste der USA hinauf, um teilnehmen zu können. Sergeant Gérard Côté hatte wieder Urlaub von der kanadischen Armee erhalten, Bootsmann Jock Semple von der US Navy. Der Vorjahreszweite Lou Gregory stand sogar im Rang eines Leutnants. Doch trotz der schwierigen Umstände hatten sich fast alle wieder zum Start eingefunden.

Nur der neue Streckenrekordhalter Joe Smith fehlte in der Liste. Er diente bei der Küstenwache, hatte wie die anderen ebenfalls Probleme sich wie gewohnt vorzubereiten und verzichtete dann aufgrund fehlender Form auf eine Teilnahme. Nach seinem Sieg war ihm allerdings auch die Motivation für das harte Training ein wenig abhandengekommen.

Statt der üblichen Vereinslogos trugen die meisten nun die Namen ihrer Teilstreitkräfte oder Arbeitgeber auf der Brust. Bei kräftigem Gegenwind liefen Côté mit dem Schriftzug "Army" und einem kanadischen Ahornblatt sowie Kelley, bei dem anstelle des Wappens noch ein "U.S." die "Army" ergänzte, schon bald vorweg. Knapp dahinter folgte Les Pawson mit "Walsh Kaiser", der Schiffswerft, in der er nun als Kranführer tätig war.

Pawson verlor hinter Wellesley den Anschluss. Côté plagte sich zwar mit üblen Achillessehnenschmerzen herum, denn wenige Tage vor dem Rennen war er unglücklich in ein Schlagloch getreten, drückte aber unerbittlich weiter aufs Tempo. Kelley hielt dagegen und fand sich wieder einmal in einem direkten Zweikampf Mann gegen Mann. Doch da er auch mit dem Frankokanadier menschlich ziemlich gut zurechtkam, teilte man sich trotz des harten Ringens ebenfalls die Erfrischungen.

An der Kuppe des Heartbreak Hill hatte Côté einige Schritte Vorsprung herausgearbeitet. Doch im anschließenden Gefälle flog Kelley an ihm vorbei und versuchte sich abzusetzen. Einen Kilometer später hatte sich der Mann aus Québec noch einmal heran gesaugt und ging seinerseits wieder in Führung. Diesmal konnte Kelley nicht mehr gegenhalten und musste Côté endgültig ziehen lassen.

Obwohl er auf den letzten Kilometer seine schmerzenden Fuß kaum noch belasten konnte und mehr humpelte als lief, war Gérard Côté mit 2:28:26 genau zwei Sekunden schneller als bei seinem ersten Erfolg drei Jahre zuvor und erzielte damit die bis dahin zweitbeste Siegerzeit. Ohne den Gegenwind hätte der Rekord vielleicht sogar gewackelt.

Auch Johnny Kelley war mit 2:30:00 so gut wie nie zuvor beim Boston Marathon. Und auch in späteren Jahren kam er nie wieder an dieses Ergebnis heran. Nur auf der vermutlich erheblich zu kurzen Strecke von Salisbury Beach lief er jemals schneller. Doch er war trotzdem wieder einmal - nun schon zum fünften Mal in zehn Jahren - nur Zweiter geworden.

Den dritten Platz sicherte sich in ebenfalls ziemlich überzeugenden 2:30:41 der amtierende amerikanische Marathonmeister Fred McGlone, der in der Anfangsphase ein bisschen zu lange gewartet hatte und danach trotz guter zweiter Hälfte die Lücke zu den beiden Führenden nicht mehr schließen konnte. Les Pawson kam 2:35:58 auf Rang fünf und erklärte am Ende des Jahres seinen Rücktritt vom aktiven Wettkampfsport.

Zuvor war er in Yonkers hinter seinem Kumpel Johnny Kelley noch einmal Fünfter geworden. Auch dieses Rennen wurde von Gérard Côté gewonnen. Diesmal lief er 2:38:35, Kelley war mit 2:39:53 sogar ein wenig näher am Mann aus Kanada dran als im Frühjahr. Doch zwischen den beiden langjährigen Konkurrenten waren noch Fred McGlone und der erst einundzwanzigjährige Clayton Farrar im Ziel.

Auch ein Jahr später stand der Boston Marathon im Zeichen des Zweiten Weltkriegs. Und je länger und blutiger die Kämpfe wurden, umso weniger waren viele militärische Vorgesetzte bereit, Läufer für das Rennen freizustellen. Gérard Côté, der zum Beispiel noch im Vorjahr einen längeren Sonderurlaub erhalten hatte, um sich vorzubereiten und nach Massachusetts zu reisen, musste diesmal wie die meisten anderen nun ebenfalls seine wenigen freien Tage opfern.

Da 1944 zudem wieder am 19. April gelaufen wurde und dieser auf einen Mittwoch fiel, wurde es noch schwieriger, an der Startlinie zu stehen. Und so fiel das Feld noch einmal etwas kleiner aus als ein Jahr zuvor. Johnny Kelley war aber bei seinem Heimrennen selbstverständlich wieder dabei. Und gerade weil er trotz meist großen Kampfes so oft nur als Zweiter angekommen war, hatte er sich längst die Rolle des Publikumslieblings erlaufen.

Ein bisschen ruhiger war der inzwischen Sechsunddreißigjährige mit der Zeit dann aber doch geworden. So ließ er diesmal den sich erneut früh an der Spitze setzenden Côté erst einmal ziehen und lief ein etwas defensiveres Rennen. Bei Halbzeit in Wellesley lag er jedenfalls nur auf Rang vier. Durch Newton und seine Hügel arbeitete er sich auf Platz zwei vor.

Und schließlich hatte er Côté vor sich. Dieser hatte sich die ganze Zeit schon gewundert, wo Kelley, den er für seinen Hauptkonkurrenten hielt, denn abgeblieben war. Drei Meilen waren noch zu laufen, als der Lokalmatador endgültig zum Führenden aufgeschlossen hatte. Dort wo ihn sonst fast immer die Kräfte verlassen hatten, fand sich Kelley nun auf einmal in der Offensive.

Doch Johnnys Hoffnung, dass der eingeholte Québecquois nun den Kopf hängen lassen würde und er in einem Zug vorbei gehen könne, trog. Côté gab sich nicht geschlagen und hängte sich erst einmal an Kelley an. Und nun gingen dem kleinen irischen Temperamentbündel doch wieder die Gäule durch. Statt wie sein Kontrahent erst einmal abzuwarten und etwas Kraft für die Schlussphase zurück zu halten, versuchte er die Entscheidung mit Gewalt zu erzwingen.

Mehrfach attackierte Kelley, zog das Tempo immer wieder nach oben. Côté ließ ihn aber nicht von der Leine, sondern klebte an seinen Hacken. Irgendwann gingen Johnny dann langsam die physischen und vor allen die psychischen Kräfte aus. Genau in diesem Moment setzte der Kanadier nun seinen eigenen Angriff.

Eine kleine Lücke ging auf, die bis zum Ziel nicht mehr zu schließen war. Ganze dreizehn Sekunden lagen zwischen dem in 2:31:50 gestoppten Sieger und dem wieder einmal auf Platz zwei einlaufenden Kelley. Der Dritte Charley Robbins lag mit 2:38:31 schon deutlich zurück.

Robbins war übrigens bei der Navy und wurde von Jock Semple, der in seinem Camp aus Ausbilder tätig war, trainiert. Nachdem Semple, jahrelang erfolglos versucht hatte, mit seinem BAA-Team die Mannschaftswertung gegen die Erzrivalen aus North Medford zu gewinnen, gelang ihm dies nun endlich mit seiner Trainingsgruppe aus der Sampson Naval Base. Auch Jock selbst landete im Alter von einundvierzig Jahren als Neunter wieder einmal unter den ersten Zehn.

Im November eroberte sich Charles Robbins in Yonkers, wo zwischen den späten Dreißigern und den Sechzigern traditionell die US-Marathonmeisterschaften ausgetragen wurden, in 2:40:49 seinen ersten Titel. Johnny Kelley kam nach 2:46:26 auf den vierten Platz. Insgesamt neunundzwanzig Mal war der unverwüstliche Haudegen im Laufe seiner langen Karriere auch bei dieser Veranstaltung dabei.

Im Gegensatz zu vergangenen Jahren kam Côtés Erfolg bei seinen Vorgesetzten diesmal überhaupt nicht gut an. Dass er - ausgerechnet auch noch als Angehöriger einer Spezialeinheit - mitten im Krieg trotz anderslautender Vorgaben der Armee in Boston am Rennen teilgenommen hatte, sorgte für einigen Ärger. Wenig später wurde Côté nach Europa verlegt, wo die kanadischen Truppen dann in der zweiten Jahreshälfte in Frankreich, Belgien und den Niederlanden eingesetzt wurden.

Überhaupt waren immer mehr junge Männer aus Nordamerika nun in Übersee. Und so fiel das Starterfeld des Boston Marathon 1945 noch kleiner als im Vorjahr aus. Gerade einmal siebenundsechzig Sportler machten sich am Patriot's Day in Hopkinton auf den Weg nach Boston. Man musste bis ins Jahr 1903 zurückgehen, um eine Austragung zu finden, in der weniger Läufer gemeldet hatten.

Johnny Kelley war hingegen aufgrund seines Alters nun wieder Zivilist - und zudem zum zweiten Mal verheiratet. In Abwesenheit des Mannes, der die letzten beiden Auflagen jeweils knapp vor ihm gewonnen hatte, galt er als Favorit für das Rennen. Doch mit Charley Robbins und dem inzwischen auch schon recht erfahrenen Don Heinicke waren zwei Läufer gemeldet, die ihn einige Monate zuvor in Yonkers geschlagen hatten.

Keiner von ihnen übernahm jedoch an diesem kühlen, aber sonnigen Tag anfangs die Initiative. Und so war es Clayton Farrar, der sich an die Spitze setzte und die Führung zeitweilig auf einen halben Kilometer ausbauen konnte. Doch der immer noch recht junge Farrar hatte sein Pulver zu früh verschossen, musste am dritten Anstieg in Newton in den Gehschritt wechseln und beendete das Rennen schließlich vorzeitig.

Der sogar noch ein Jahr jüngere Lloyd Bairstow, ein Matrose der Küstenwache, der nach einigen Monaten auf See nun wieder an Land war, übernahm. Kelley lag zu diesem Zeitpunkt noch ein ganzes Stück zurück. Doch wie schon beim vergangenen Boston Marathon, hatte er sich das Rennen wirklich gut eingeteilt und kam langsam, aber sicher näher.

Fast genau an der gleichen Stelle wie im Vorjahr, drei Meilen vor dem Ziel schloss er auf. Und im Gegensatz zu Côté leistete Bairstow auch keine Gegenwehr, als Johnny an ihm vorbei ging. Der zweite Sieg war in Reichweite. Die letzten Kilometer genoss der Publikumsliebling regelrecht, saugte den Jubel auf, winkte in die Menge und lief sich dabei fast schon in einen Rausch. Unter Druck wollte Kelley meist zu viel und scheiterte deswegen häufig. Aber nun zeigte er wieder einmal seine wahre Klasse.

Mehr als zwei Minuten nahm er Bairstow bis zum Ziel noch ab und erreichte mit 2:30:40 seine zweitbeste Zeit in Boston. Zehn Jahre nach seinem ersten Erfolg hatte er noch ein weiteres Mal bei seinem Heimrennen triumphiert. Und selbst, dass viele starke Konkurrenten aus vergangen Rennen bei diesem Lauf fehlten, schmälert diese Leistung kaum.

Hinter dem überglücklichen Johnny Kelley und Lloyd Bairstow, der mit 2:32:50 gestoppt wurde, lief nach 2:36:28 wieder einmal Don Heinicke als Dritter aufs Treppchen. Fast ein Jahrzehnt lang schaffte es der Mann aus Maryland beständig in vordere Positionen, ohne den Boston Marathon jemals gewinnen zu können.

Auch ein Marathon-Meistertitel blieb Heinicke während seiner ganzen Karriere versagt, obwohl er mehrfach auf dem Treppchen stand. Im Jahr 1945 sicherte sich in Yonkers erneut Charley Robbins den ersten Platz, während Heinicke mit einem vierten Rang im Gesamteinlauf Bronze gewann, da in der offenen Wertung noch der Kanadier Rankine vor ihm lag. Drei Minuten nach dem Sieger war Johnny Kelley in 2:40:28 wieder einmal als Zweiter ins Ziel gekommen.

Nach dem Kriegsende stiegen die Meldezahlen für den Boston Marathon wieder an. Doch bis das alte Niveau wieder erreicht war, sollten noch ein paar Jahre vergehen. Nach der offiziellen Zählung der BAA stand zudem nun die fünfzigste Auflage an. Etwas diskutabel ist diese Angabe jedoch. Denn während in den Vierzigern durchgängig weitergelaufen wurde, hatte man 1918, nachdem die USA in den Ersten Weltkrieg eingetreten waren, nur eine Staffel für Militärteams ausgetragen, die man mitzählt.

Neben den "üblichen Verdächtigen" stand ein Mann im Blickpunkt, der eine weite Anreise hinter sich hatte. Stylianos Kyriakidis war aus Griechenland gekommen. Bei den Olympischen Spielen von Berlin hatte er sich mit dem leutseligen Johnny Kelley angefreundet und war auf dessen Einladung bereits 1938 in Boston gestartet. Mit Blasen an den Füßen musste er damals zehn Kilometer vor dem Ziel aussteigen.

Das Versprechen, zurück zu kommen, konnte er wegen des Krieges erst einmal nicht wahr machen. Nun acht Jahre nach seinem ersten Versuch war der Hellene tatsächlich wieder in Massachusetts. Es ging ihm dabei nicht nur um den Marathon. Er wollte zudem auf die schwierige Lage in seinem nach mehrjähriger Besetzung und heftigen Kämpfen ziemlich angeschlagenen Heimatland aufmerksam machen.

Kyriakidis' Auftreten zeigte den gewünschten Erfolg. Rund eine Viertelmillion Dollar wurden in Boston als Unterstützung für Griechenland gesammelt. Und gleich zwei Schiffsladungen an Sachspenden kamen in den nächsten Monaten insbesondere durch griechischstämmige Amerikaner zusammen. Man könnte Kyriakidis also fast als einen Urvater des "Charity Running" - jenes im englischen Sprachraum so beliebte Absolvieren eines Marathons mit dem Ziel Geld zu sammeln - bezeichnen.

An einem kühlen Tag übernahm in der Anfangsphase erst einmal der "alte" Lou Gregory mit seinen fast vierundvierzig Jahren die Führung. Doch weiter als jene knappe halbe Minute, die er in Framingham vorne lag, kam er nicht weg. In Natick war er wieder ins Feld zurückgefallen und mit John Kernason ging ein anderer an die Spitze.

Und der Vierunddreißigjährige, der erst zum zweiten Mal in Boston lief, konnte sich bis zur Halbzeit etwas weiter absetzen. Erster Verfolger blieb Gregory, dann kamen mit Kelley, Kyriakidis, Côté, Robbins und Bairstow die eigentlichen Favoriten. Bis Newton hatte der gegenüber Kernason deutlich erfahrenere Gregory den Ausreißer wieder eingesammelt. Doch in den Hügeln übernahmen schließlich Kelley und Kyriakidis das Kommando.

Für Kelley war das folgende Duell eine durchaus bekannte Situation, nur der Gegner war wieder mal ein anderer. Von der Papierform her war der Lokalmatador zudem klar höher einzuschätzen. Er kannte die Strecke wie seine Westentasche. Und war hier schon eine 2:30:00 gelaufen. Die Bestzeit des Griechen auf einem regulären Kurs war mehr als zehn Minuten langsamer. Doch lief dieser nicht nur für sich, sondern für sein Land. Er hatte mehr zu gewinnen, aber auch mehr zu verlieren.

Und so trieben sich die beiden in hoher Geschwindigkeit durch Newton, Boston, die Gemeinde Brookline, die wie ein Keil in das Stadtgebiet von Boston hineinragt, und wieder durch Boston. Erst in der Schlussphase des Rennens gelang Kyriakidis nach etwa vierzig Kilometern dann der entscheidende Angriff.

Johnny Kelley wusste in diesem Moment, dass es vorbei war und er erneut nur Zweiter werden würde. Und deswegen nahm er auch den Fuß komplett vom Gas. Der Mann aus Griechenland lief hingegen die letzten Meter, als ob ihm Flügel gewachsen wären und überquerte nach 2:29:27 die Ziellinie. Kelley trottete genau zwei Minuten später auf seinem "Stammplatz" ein.

Auf Rang drei folgte mit 2:36:34 schon deutlich abgeschlagen Gérard Côté. Der Kanadier hatte in den Monaten nach Ende des Krieges, in denen die kanadischen Truppen noch in Europa stationiert waren, in England zwei Marathons in Wolverhampton und Rugby gewonnen. Nun war er aber wieder in der Heimat und meldete sich auch in Boston zurück. Der mutige Lou Gregory wurde knapp dahinter immerhin Vierter, Kernason kam auf Platz sechs.

Bei aller Enttäuschung über seinen siebten Vizeplatz konnte Kelley mit dem Erfolg von Stylianos Kyriakidis einigermaßen gut leben. Wenn schon er selbst nicht gewinnen konnte, dann war der im Ziel von seinen Emotionen übermannte Grieche angesichts der Hintergründe eindeutig der richtige Sieger.

Dafür gewann er im September in 2:42:21 einen Marathon in Montréal und schlug dabei ausgerechnet vor dessen eigener Haustür jenen Gérard Côté, der ihm selbst mehrfach den Sieg bei seinem Heimmarathon weggeschnappt hatte. Im November drehte der Québecquois in Yonkers mit 2:47:53 zu 2:50:28 den Spieß dann wieder um und verwies seinerseits Kelley auf Platz zwei. Dennoch gelang Johnny damit ein weiterer großer Erfolg.

Da der Kanadier nicht in die Wertung genommen wurde, gewann er nämlich im gesetzten Alter von neununddreißig Jahren seinen ersten US-Meistertitel über die Marathondistanz. Allerdings hatte er sich zuvor bereits einige Male "National Champion" über kürzere Straßenlaufstrecken nennen dürfen. So durfte er sich zum Beispiel nach seinem Sieg in 1:29:58 beim "Around Cape Ann" in Gloucester / Massachusetts im Herbst 1944 auch Titelträger über 25 Kilometer nennen.

War es 1946 ein Grieche gewesen, der die etablierten Boston-Cracks aufmischte, sollte es ein Jahr später ein Koreaner sein. Nachdem die Japaner sich mit dem verlorenen Krieg aus dem jahrzehntelang besetzten Korea zurückziehen mussten, lebte die Marathontradition im Land wieder auf. Die im Süden der Halbinsel stationierten amerikanischen Truppen waren davon fasziniert.

Und so wurde Geld aufgetrieben, um damit drei Sportler nach Boston zu schicken. Einer von ihnen war Sohn Kee-chung, der Olympiasieger von 1936. Ein anderer war der Nam Sung-yong, der im gleichen Rennen in Berlin Bronze gewonnen hatte. Als Dritten hatte man den vierundzwanzigjährigen Suh Yun-bok ausgewählt, der von Sohn trainiert wurde.

Doch nicht nur Koreaner waren aus Übersee angereist. Auch zwei Finnen, zwei Griechen - darunter Vorjahressieger Kyriakidis - und ein Türke waren am Start. Der Boston Marathon wurde von nun an internationaler. Die Zeiten, in denen alleine die Läufer von der amerikanischen Ostküste das Rennen unter sich ausgemacht hatten, waren endgültig vorbei.

Sohn Kee-chung hatte im Vorfeld seinen Schützling Suh auf den Favoritenschild für den Sieg gehoben. Und vielleicht lag es sogar daran, dass der Olympiasieger seine eigene Meldung zurückzog. So konnte die in asiatischen Augen extrem schwierige Situation vermieden werden, dass ein Schüler den eigenen Lehrer überholt. Eventuell war er aber auch nur verletzt oder fühlte sich außer Form. Zu den Hintergründen seines Startverzichts äußerte er sich jedenfalls nie.

Tatsächlich zeigte sich der junge Koreaner von Anfang an weit vorne im Feld und übernahm sogar nach der Halbzeitmarke gemeinsam mit dem Finnen Mikko Hietanen die Spitze. Kyriakidis konnte nicht mithalten. Charley Robbins lag bereits noch weiter zurück. Nicht anders erging es Don Heinicke. Auch von Kelley war nichts zu sehen. Und der auf Rang drei laufende Lloyd Bairstow wurde von einem Fahrrad angefahren und musste verletzt aufgeben.

So machten erstmals zwei Läufer aus Übersee den Sieg alleine unter sich aus. Suh Yun-bok konnte sich schließlich von seinem Kontrahenten lösen, stürmte nach 2:25:39 über die Ziellinie und verbesserte damit nicht nur den alten Streckenrekord von Joe Smith deutlich. Nie zuvor war überhaupt jemand einen Marathon schneller gelaufen als der Koreaner an diesem Tag.

Der Finne Hietanen blieb mit 2:29:39 ebenfalls unter zweieinhalb Stunden. Nur einunddreißig Sekunden dahinter folge nach einer großen Aufholjagd Theodore "Ted" Vogel von der ausrichtenden BAA. Damit legte auch er den Grundstein für den Mannschaftssieg. Mit dreiundvierzig Jahren hatte der als Siebzehnter einlaufende Jock Semple nach vielen erfolglosen Versuchen endlich das Ziel erreicht, einmal mit dem Team seines Clubs ganz oben zu stehen.

Vogel war einer von nur zwei US-Amerikanern unter den ersten zwölf Läufern im Ziel. Zu dritt waren die Kanadier - unter anderen mit Gérard Côté auf Rang vier. Dazu kamen zwei Finnen, zwei Griechen, zwei Koreaner und ein Türke. Publikumsliebling Kelley landete in 2:40:55 hinter dem Zehnten Stylianos Kyriakidis und dem Zwölften Nam Sung-yong auf Rang dreizehn.

Es war ohnehin nicht unbedingt das Jahr des Johnny Kelley. Denn auch in Yonkers - diesmal schon Ende Oktober - kam der inzwischen Vierzigjährige mit 2:47:24 nur auf Platz sieben. Dennoch war die leistungssportliche Karriere von Kelley noch lange nicht an ihrem Ende angekommen. Ganz im Gegenteil, ihn erwartete im Jahr 1948 noch einmal ein weiterer Höhepunkt.

Allerdings drängte nun eine neue Generation von Läufern in den Vordergrund, die den altgedienten den Rang ablaufen wollten. Einer von ihnen war der Collegestudent Ted Vogel, der nach seinem dritten Rang in Bosten dann in Yonkers gewonnen hatte. Andere hießen Tom Crane oder Jesse van Zant. Und alle waren fünfzehn oder mehr Jahre jünger als Johnny Kelley.

Der Titelverteidiger fehlte bei der zweiundfünfzigsten Auflage. Suh Yun-bok hatte bei den Organisatoren angefragt, ob diese die Reiskosten übernehmen könnten. Alleine konnte er sie nämlich nicht aufbringen. Doch seine Bitte wurde abgelehnt. Einfach zu hoch war die benötigte Summe. Noch war Marathon schließlich für die jeweiligen Veranstalter kein Geschäft, mit denen sie das große Geld verdienen konnten.

Auch sonst war der Lauf weniger international besetzt, als im Jahr zuvor. Ein Grund dafür waren die Olympischen Spiele, die dreieinhalb Monate später in London stattfinden sollten. Natürlich ging es dabei auch um eine vernünftige Vorbereitung. Doch hauptsächlich waren damals eben zwei große Reisen für die wenigsten Sportler weder zeitlich noch finanziell machbar.

Wie schon häufiger war der Boston Marathon andererseits als Ausscheidungsrennen für die Amerikaner angesetzt. Und so fehlte kaum ein Läufer aus der nationalen Elite an der Startlinie in Hopkinton. Als eindeutiger Favorit galt nach seinen letzten Auftritten allerdings der noch nicht einmal dreiundzwanzigjährige Vogel. Auf ihm ruhten zudem die Hoffnungen der ausrichtenden BAA, den Marathon endlich einmal auch in der Einzelwertung gewinnen zu können.

Doch schon früh im Rennen hatte der junge Bursche Gesellschaft von Gérard Côté bekommen. Der erfahrene Kanadier wich ihm nicht von der Seite, während sich beide langsam an die Spitze arbeiteten. Mit allen Wassern gewaschen, machte der Mann aus Québec den längst nicht so abgeklärten Vogel durch Wechseln der Straßenseite, kleinen Tempowechsel, enges Nebeneinanderlaufen und ähnlichen taktischen Spielchen sowie den dazu passenden Bemerkungen immer nervöser.

Schließlich drohte ihm der gereizte Vogel sogar Prügel an. Aber genau durch diese Erregung, die ein wenig Energie aus den Beinen abzog, war Côté den entscheidenden Zug vorne. Seine erste Attacke nach dem Heartbreak Hill konnte Vogel noch parieren und die Lücke wieder schließen. Beim zweiten Mal war es um ihn geschehen. Gérard Côté lief in 2:31:02 zu seinem vierten Sieg.

Der sichtlich angefressene Ted Vogel folgte in 2:31:46 als Zweiter. Auf Rang drei kam dessen Teamkollege Jesse van Zant. Und da mit dem gebürtigen Finnen Ollie Manninen schon der nächste Läufer der BAA auf Rang fünf einlief, ging die Teamwertung auch ohne Jock Semple klar an den Ausrichter. Zwischen die beiden Mannschaftskollegen hatte sich allerdings noch ein gewisser "John Adalbert Kelley" geschoben, der sich als Gesamtvierter mit 2:37:52 erneut für Olympia qualifizierte.

In London traf Kelley im Sommer dann ein weiteres Mal auf Stylianos Kyriakides, der zwölf Jahre nach seinem ersten Olympiamarathon ebenfalls wieder am Start stand. Und auch der Südafrikaner Johannes Coleman war schon in Berlin dabei gewesen. Beide waren aber drei Jahre jünger als Kelley, der mit seinen fast einundvierzig Jahren zu den absoluten Senioren im Feld gehörte. Nur der Argentinier Guiñez und der Brite Holden waren noch einige Monate vor ihm geboren.

Das Rennen, für das auf amerikanischer Seite neben Kelley schließlich noch Vogel und Manninen nominiert worden waren, fand nicht auf dem Kurs zwischen Schloss Windsor und dem Stadtzentrum statt, der bei den ersten Spielen in London 1908 gelaufen worden war und dessen Länge das heute gültige Maß für einen Marathon vorgegeben hat. Vielmehr wurde vom Wembley-Stadion eine große Runde durch die Vororte absolviert, die dann auch wieder an gleicher Stelle endete.

Trotzdem waren die Ereignisse jedoch ähnlich dramatisch, wie vier Dekaden zuvor. Schon früh hatte der Belgier Étienne Gailly, der noch nie zuvor einen Marathon gelaufen war, die Führung übernommen. Er verteidigte sie auch als der Koreaner Choi Yun-chil nach mehr als dreißig gelaufenen Kilometern kurzzeitig zu ihm aufschloss. Und einen weiteren Angriff durch den Argentinier Delfo Cabrera konnte er ebenfalls abwehren.

Es sah beinahe so aus, als ob der weitgehend unbekannte Belgier einen Überraschungserfolg landen könne. Denn auch das Stadion erreichte er noch in der Führungsposition. Doch auf der letzten Runde um die Bahn begann er zu torkeln wie sein legendärer Vorgänger Dorando Pietri vierzig Jahre vor ihm. An Laufen war nicht mehr zu denken. Völlig erschöpft wankte er um das Oval.

Von hinten kann erneut Cabrera heran und zog vorbei, um ihm die fast schon sicher geglaubte Goldmedaille auf den letzten Metern noch abzunehmen. Als zweiter Argentinier nach Juan Carlos Zabala in Los Angeles 1932 sicherte sich Delfo Cabrera nach 2:34:51 den Olympiasieg. Der Brite Tom Richards überholte Gailly ebenfalls noch und wurde in 2:35:07 Zweiter.

Erst eine knappe halbe Minute später schleppte sich der Belgier mit 2:35:33 zu Bronze und konnte damit immerhin Johannes Coleman in Schach halten, der nach Platz sechs in Berlin nun Vierter wurde. Danach war Gailly so am Ende, dass er nicht einmal mehr an der Siegerehrung teilnehmen konnte. Wieder einmal hatte ein olympischer Marathon einen tragischen Helden produziert. In seiner Heimat wurde er für seinen Mut und Kampfgeist allerdings gefeiert, als hätte er tatsächlich gewonnen.

Weit weniger überzeugend präsentierten sich die Nordamerikaner. Ted Vogel erreichte als Schnellster von ihnen in 2:45:27 Rang vierzehn. Sein "spezieller Freund" Gérard Côte kam einen Platz vor Kyriakides als Siebzehnter ins Ziel. Manninen landete auf Rang vierundzwanzig. Noch schlechter lief es für den Boston-Sieger von 1947 Suh Yun-bok, der sich als Siebenundzwanzigster gerade noch unter drei Stunden ins Ziel rettete.

Veteran Johnny Kelley beendete seinen zweiten Marathon bei Olympia nach 2:51:56 als Einundzwanzigster, ohne irgendwie in die Entscheidung eingreifen zu können. Vielleicht war der Marathon von Salisbury Beach, den er zwischen Boston und Olympia Ende Mai auch noch eingeschoben und in 2:39:20 als Zweiter hinter Tom Crane beendet hatte, dann angesichts in zunehmendem Alter nachlassender Regenerationsfähigkeit doch etwas zu viel gewesen.

Andererseits konnte er sich allerdings nur Wochen nach dem enttäuschend verlaufenen olympischen Rennen in Yonkers, wo man mit der Veranstaltung im Kalender noch einmal einen Monat nach vorne gewandert war, seinen zweiten nationalen Marathontitel sichern und dabei die Zeit von London mit 2:48:32 unterbieten. Ausgerechnet beim Saisonhöhepunkt hatte er also seine schlechteste Leistung abgeliefert.

Der Boston Marathon 1949 wurde erneut von einem Mann aus Übersee dominiert. Diesmal war es der Schwede Gösta Leandersson, der auf Einladung eines schwedischen Auswanderers nach Boston kam. Zwar war er von seinem NOK nicht für Olympia nominiert worden, doch hatte nach den Spielen im Herbst dann sowohl die nationalen Meisterschaften als auch den traditionsreichen - er ist der älteste noch bestehende in Europa -und stets gut besetzten Marathon von Kosice gewonnen.

Schon früh lief er dem Rest des Feldes deutlich davon, lag dabei an einigen Zwischenzeitmarken sogar noch vor der Marschtabelle des Koreaners Suh. Am Ende war der Streckenrekord zwar dann doch in weiter Ferne, aber Leandersson siegte sicher mit 2:31:30 und hatte im Ziel mehr als drei Minuten Vorsprung auf Victor Dyrgall.

Allerdings hatte er dabei auch das Glück, dass keiner seiner Konkurrenten bei diesem Lauf einen wirklich guten Tag erwischt hatte. Nur eine Woche vor dem Rennen war der Skandinavier die Strecke zwischen Hopkinton und Boston nämlich nicht nur komplett abgelaufen, sondern hatte dabei sogar nicht einmal 2:28 benötigt - eine nicht nur aus heutiger Sicht völlig unsinnige Aktion, die ihn eine Menge Kraft gekostet hatte und im eigentlichen Wettkampf dann sogar langsamer laufen ließ.

Dritter wurde mit Lou White erneut ein Sportler aus dem Team des Ausrichters BAA. Ironischerweise war damit ausgerechnet ein Mann mit dem Nachnamen "White" der erste schwarze Läufer, der es in Boston aufs Podium schaffte. Etwas mehr als eine Minute später lief Johnny Kelley mit 2:38:07 als Vierter ein weiteres Mal auf einer vorderen Position ins Ziel. Auf den Plätzen hinter ihm folgten mit Joe Smith und Gérard Côté zwei weiter ehemalige Sieger.

Und Kelley legte gleich noch zweimal innerhalb kürzester Zeit nach. Vier Wochen nach Boston wurde er beim nun in den May verlegten Marathon in Yonkers in 2:39:30 hinter Victor Dyrgall Zweiter. Und zwei weitere Wochen danach holte er sich in Salisbury Beach nach 2:36:32 mit gerade einmal zwei Sekunden Vorsprung auf Lou White einen weiteren Marathonsieg.

Im Sommer durfte Kelley dann mit einem größeren US-Team auf eine mehrwöchige Skandinavien-Reise aufbrechen, wo er mehrere Straßen- und Bahnrennen in Norwegen und Schweden absolvierte. In Oslo wurde er in einem von Gösta Leandersson gewonnen Marathon Vierter. In einem ebenfalls vom Schweden gewonnen Fünfundzwanziger in dessen Heimatland kam Johnny Kelley auf Rang drei.

Beim Boston Marathon 1950 waren erneut drei koreanische Athleten am Start. Und mit Ham Kee-Yong, Song Gil-Yun und Choi Yun-Chi - drei junge Burschen um die zwanzig - war auch ihr Trainer Sohn Kee-chung wieder zurück nach Massachusetts gekommen. Gösta Leadersson war ebenfalls wieder dabei und wollte diesmal ohne vorherigen Testlauf eine deutlich bessere Zeit als bei seinem Vorjahreserfolg abliefern.

Als größter lokaler Favorit galt, nachdem Ted Vogel seine eigentlich noch junge Karriere inzwischen aufgegeben hatte, um sich auf sein berufliches Fortkommen zu konzentrieren, dessen Teamkamerad Jesse Van Zant. Doch auch auf Johnny Kelley richteten sich noch immer die Augen der Journalisten, wenn es im Vorfeld um die Auflistung aussichtsreicher Läufer ging.

Van Zant erfüllte praktisch vom ersten Schritt die in ihn gesetzten Hoffnungen und übernahm gleich die Führung. Doch so sehr er auch aufs Tempo drückte, die drei Männer aus Ostasien konnte er nicht wirklich abschütteln. Müde, erschöpft und zermürbt von der geduldigen Taktik der Koreaner sowie dem Druck der öffentlichen Erwartungen stieg der Mann, von dem Teamchef Semple den ersten Sieg für die BAA erhofft hatte, nach zwei Dritteln der Distanz aus.

Leandersson ging wenig später ebenfalls aus dem Rennen. Und so war der Weg frei für die Koreaner, von denen sich schließlich Ham Kee-Yong als Stärkster heraus kristallisierte. Obwohl er auf den letzten Meilen mehrere Gehpausen einlegen musste, konnte er seinen klaren Vorsprung nach 2:32:39 ins Ziel retten. Denn seine beiden Teamkollegen litten hinter ihm noch mehr. Song wurde mit 2:35:58 Zweiter. Choi sorgte in 2:39 für das erste komplett internationale Podium in Boston.

Viel hätte aber nicht gefehlt und der dritte Mann aus Fernost wäre noch von John Lafferty abgefangen worden. Er war sogar an Choi praktisch schon vorbei, ohne dass dieser ihn bemerkt hatte, weil er kurz vor dem Ziel einen Krampf massierte und der Amerikaner auf der anderen Straßenseite lief. Erst ein laut rufender koreanischer Zuschauer warnte seinen Landsmann und dieser spurtete John Lafferty doch noch davon. Ganze fünf Sekunden trennten die beiden schließlich.

Auf Rang fünf lief Johnny Kelley erneut im absoluten Vorderfeld. Doch die Zeiten, in denen er um den Sieg mitkämpfen konnte schienen nach seinen 2:43:45 langsam wirklich zu Ende zu gehen. Ein nach 2:44:41 erlaufener zweiter Platz hinter Lafferty in Fort Fairfield im Bundesstaat Maine im Juli zeigte allerdings noch einmal, dass er auch weiterhin längst nicht zum alten Eisen gehörte.

Und in Yonkers hatte er Ende Mai mit 2:45:55 sogar zum dritten Mal gewonnen. Kurz vor dem Ziel hatte Kelley den fast die komplette Strecke führenden, auf den letzten Kilometern aber total einbrechenden Jesse Van Zant noch abgefangen. Gerade einmal acht Sekunden Vorsprung hatte der Altmeister auf den eineinhalb Jahrzehnte jüngeren Hoffnungsträger der "Boston Athletic Association". Damit sicherte sich Kelley seinen dritten nationalen Marathontitel.

Obwohl das Rennen eigentlich als nationale Qualifikation für die panamerikanischen Spiele angesetzt worden war, die im kommenden Februar in Buenos Aires beginnen sollten, wurde Kelley schließlich doch nicht nominiert. Man zog Jesse Van Zant vor, der auch über zehn Kilometer auf der Bahn laufen konnte, während Kelley praktisch ein reiner Straßenspezialist war. Dass er davon aus der Zeitung erfuhr und keiner der Funktionäre es für nötig hielt, ihn zu informieren, machte die Wunde nur noch größer.

Auf die Koreaner 1950 folgten 1951 in Boston die Japaner. Gleich vier von ihnen waren angereist, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen oder vielleicht sogar noch zu verbessern. Van Zant, der weiter dem ganz großen Erfolg hinterherlief, und John Lafferty, der inzwischen ebenfalls für den ausrichtenden Verein antrat, wurden von den heimischen Läufern am höchsten eingeschätzt.

Johnny Kelley hingegen hatte bei seinem nun schon einundzwanzigsten Start beim Boston Marathon keinen Druck mehr. Niemand erwartete einen Sieg von ihm - auch er selbst nicht. Doch mit all seiner Routine lief er sich erneut unter die ersten Zehn. Gemeinsam mit dem am Ende einen Platz hinter ihm landenden Gérard Côté begann er defensiv, um dann etliche der jungen Heißsporne, die so aggressiv angingen wie er selbst früher, einzusammeln und in 2:39:09 schließlich Sechster zu werden.

Vorne bestimmten auf der zwei Dritteln der Strecke tatsächlich erst einmal die Japaner im Block das Geschehen. Doch mit einem Dreifach- oder gar Vierfacherfolg wurde es nichts. Der lange an der Spitze liegende Shunji Koyanagi wurde, nachdem er von seinem Kollegen Shigeki Tanaka überholt worden war, noch auf Platz fünf durchgereicht. Yoshitaka Uchikawa und Hiromi Haigo wurden hinter Kelley und Côté nur Achter und Neunter.

Tanaka konnte seine hinter dem Heartbreak Hill eroberte Führung allerdings sicher ins Ziel bringen und in 2:27:25 gewinnen. John Lafferty, der als Zweiter folgte, hatte bereits volle dreieinhalb Minuten Rückstand. Den dritten Platz eroberte sich noch einmal mehr als vier Minuten später der Grieche Athanassios Ragazos, der vier Jahre zuvor bei seiner ersten Teilnahme mit fast identischer Zeit nur Sechster geworden war.

Ganz ähnlich, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen erging es Johnny Kelley dann im Mai in Yonkers. Obwohl er mit 2:42:27 schneller lief als im Vorjahr wurde er nur Siebter. Van Zant kam dagegen diesmal durch und wurde zum ersten und einzigen Mal US-Marathonmeister. Im Juni war Kelley als Dritter des Marathons von Old Orchard Beach in Maine mit 2:37:34 sogar noch schneller.

Ein Jahr darauf lief es weit weniger gut für den Mittvierziger. In Boston lieferte er zum ersten Mal seit fast zwei Dekaden mit 3:04:59 wieder eine Zeit über drei Stunden ab. Dass er in einem Hitzerennen, das von Mateo Flores aus Guatemala in 2:31:53 vor Victor Dygall und Luis Velásquez, einem weiteren Guatemalteken gewonnen wurde, dabei immerhin noch Zwölfter wurde, sollte aber nicht vergessen werden.

Doch bei der nächsten Auflage knallte der Fünfundvierzigjährige bei kühlen Temperaturen und heftigem Rückenwind noch einmal eine richtig gute Zeit auf den Bostoner Asphalt. Das Rennen sollte allerdings auch das schnellste werden, das in der schon damals mehr als fünf Jahrzehnte alten Geschichte des Marathons je gelaufen worden war. Schon das Starterfeld deutete darauf hin. Nie zuvor standen mehr Läufer mit Bestzeiten unter 2:30 an der Linie.

Auch Gösta Leandersson war zurück, um endlich zu zeigen, dass er die Strecke nicht nur im Alleingang sondern auch mit Konkurrenz in Rekordzeit bewältigen konnte. Und genauso ging er den Lauf auch an. In Wellesley lag er volle vier Minuten vor der Durchgangszeit, mit der sechs Jahre zuvor der Koreaner Suh bei dessen Bestmarke passiert hatte.

Am nächsten Kontrollpunkt waren es bereits fast sechs Minuten. Und auch die von Tarzan Brown gehaltene beste Zeit, die je an dieser Stelle gestoppt war, hatte er um mehrere Minuten unterboten. Doch wirklich weit absetzen konnte er sich trotzdem nicht. Und in den Hügeln von Newton schloss der Japaner Keizo Yamada mit dem Finnen Veikko Karvonen im Schlepptau zu ihm auf und ging sogar an ihm vorbei, um die nächsten Durchgangsrekorde regelrecht zu pulverisieren.

Auch der Finne zog vorbei. Doch Leandersson gab sich nicht geschlagen. Alle drei hielten das Tempo, keiner nahm den Fuß vom Gas. Und so siegte Yamada in unglaublichen 2:18:51, Karvonen lief als Zweiter 2:19:09 und Leandersson knackte in 2:19:36 spielend die Zeit seines Testlaufes, kam aber trotzdem nur auf Rang drei. Das Siegertrio war damit schneller als die bisherige Bestmarke für den schnellsten Marathon aller Zeiten, die der Brite Jim Peters mit 2:20:42 hielt.

Der fast schon stürmische Schiebewind hatte die Ergebnisse natürlich erheblich verfälscht. Und genau wegen solcher Wetterkapriolen gibt es heute die Regel, dass ein Straßenweltrekord nur auf einer Strecke erzielt werden kann, bei denen Start und Ziel nicht mehr als fünfzig Prozent der Renndistanz auseinander liegen.

Damit wäre übrigens auch die Leistung von Peters nicht rekordfähig gewesen. Denn sie wurde beim traditionsreichen Polytechnic Marathon erzielt, dessen Kurs sich an der Olympiastrecke von 1908 zwischen Windsor und London orientierte und der seit 1909 regelmäßig ausgetragen wurde. Nach mehr als achtzig Jahren wurde die Veranstaltung, auf der Strecke, die den Marathon endgültig zu seiner seltsamen Zahlenkombination verhalf, in den Neunzigern leider eingestellt.

Es gab allerdings noch einen anderen Grund für die Rekordflut in Boston. Denn nachdem auch in den Folgejahren bei deutlich weniger Wind Fabelzeiten erzielt wurden und schließlich der Finne Antti Viskari 1956 sogar eine 2:14:14 erzielte, wurde die Strecke noch einmal nachkontrolliert. Und sie stellte sich um einen vollen Kilometer zu kurz heraus.

Das seltsame daran war, dass sich Start und Ziel überhaupt nicht verändert hatten, seit man den Kurs in den Zwanzigern festgelegt und genau vermessen hatte. Allerdings war in den letzten knapp drei Jahrzehnten die Bedeutung des Autos enorm gewachsen. Und deswegen waren die Straßen zwischen Hopkinton und Boston erheblich ausgebaut, begradigt und verbreitert worden.

Statt eines kurvigen, staubigen Sträßchens war eine mehrspurige Asphaltpiste entstanden, die auf der Ideallinie belaufen deutlich kürzer ausfiel als die einst ausgemessene Originalstrecke. Im Jahr 1957 wurde der Bostoner Kurs entsprechend verlängert und seitdem regelmäßig überprüft, um ähnliche Vorfälle für die Zukunft zu verhindern.

Hinter Yamada, Karvonen und Leandersson sowie einem weiteren Japaner namens Nishida kam als Fünfter John Kelley ins Ziel. Doch war es eben nicht "John Adalbert Kelley" sondern "John Joseph Kelley" - ein Zweiundzwanzigjähriger aus dem Staat Connecticut, der in Boston studierte und nun für die BAA startete. Mit 2:28:19 lief er gleich bei seiner Premiere schneller als sein Namensvetter, mit dem er nicht einmal entfernt verwandt war, während dessen gesamter Karriere.

Um die Verwirrung noch zu vergrößern, folgte der mehr als doppelt so alte "Johnny" bereits zwei Plätze dahinter in starken 2:32:46. Zur Unterscheidung der beiden gab man seitdem praktisch immer den Zusatz "the Elder" bzw. "the Younger" mit. Denn "der Jüngere" wurde ebenfalls ein ziemlich erfolgreicher Läufer, der achtmal in Folge in Yonkers gewann, dabei jedes Mal und ebenso oft amerikanischer Meister wurde sowie 1956 und 1960 zweimal an Olympischen Spielen teilnahm.

Auch zwölf Monate später war der jüngere Johnny wieder bester Amerikaner und lief trotz deutlich weniger Rückenwind und zwanzig Grad Wärme mit 2:32:51 eine keineswegs schlechte Zeit. Doch in einem noch besser als bei der letzten Ausgabe besetzen Feld wurde er nur Siebter. In 2:20:39 gewann der Vorjahreszweite Veikko Karvonen vor Jim Peters, der inzwischen auch in Turku und Enschede auf Rund- und Wendepunktstrecken unter 2:20 geblieben war.

Hinter dem zweiten Finnen Erkki Puolakka auf Rang drei und den beiden Japanern Kurao Hiroshima und Katsuo Nishida landete der Olympiasieger von 1948 Delfo Cabrera nur auf Rang sechs. Es war aber nicht der erste und nicht der letzte Goldmedaillengewinner der in Boston nicht siegen konnte. Vor ihm waren zum Beispiel schon der Finne Albin Stenroos, der 1924 in Paris Marathongold gewonnen hatte, unverrichteter Dinge wieder nach Hause gefahren.

Abebe Bikila, Mamo Wolde oder Frank Shorter gewannen trotz zum Teil mehrerer Teilnahmen nie. Erst 1990 brach Gelindo Bordin den Fluch. Doch bis heute ist er der einzige Mann, der sowohl bei Olympia als auch in Boston siegte. Das sieht bei den Frauen mit Rosa Mota und Fatuma Roba schon etwas anders aus. Und Joan Benoit ließ zumindest in umgekehrter Reihenfolge zwei Boston-Erfolgen dann Olympiagold folgen.

Der "alte" Kelley landete mit all seiner Erfahrung nach 2:50:25 immerhin noch auf Platz sechzehn. Im Jahr darauf ließ er beim Sieg des Japaners Hideo Hamamura (2:18:22) als Vierundzwanzigster eine 2:45:22 folgen, musste sich dabei aber seinem alten Freund und sportlichen Rivalen Gérard Côté um gut zwanzig Sekunden geschlagen geben.

Dreiundzwanzig Mal in Folge war Johnny Kelley nun jedes Mal im Ziel angekommen und hatte dabei meist auch einen vorderen Platz belegt. Doch bei dem Rennen, in dem 1956 wegen der Fabelzeit von Antti Viskari endgültig klar wurde, dass mit der Strecke in Boston etwas nicht stimmen konnte, tauchte er mit seinem dritten "DNF" in der Liste auf.

Kelley war schon mit einem lädierten Bein gestartet. Und während des Laufes wurden die Schmerzen keineswegs kleiner, sondern immer größer. Als er von immer mehr Sportlern überholt wurde, die mehrere Klassen schlechter waren als er, sah der während seiner gesamten Karriere selten verletzte Altmeister ein, dass es an diesem Tag keinen Sinn mehr haben würde, sich bis zum Ende durchzukämpfen. Nach siebzehn Meilen gab er auf.

Ausgerechnet zu diesem Marathon war der inzwischen seit einigen Jahren geschiedene Kelley erstmals von seiner neuen Flamme begleitet worden. Bald darauf heiraten die beiden. Und diese Verbindung hielt rund vier Jahrzehnte bis zum Tod seiner dritten Frau im Jahr 1996. Im Alter von fünfundneunzig Jahren ging der ewig junge Johnny dann tatsächlich noch ein weiteres Mal den Bund der Ehe ein.

Gefeiert wurde an jenem Patriot's Day 1956 aber dennoch ein John Kelley. Denn mit 2:14:33 wurde "der Jüngere" nur knapp geschlagen Zweiter. Bei Olympia in Melbourne konnte er die dadurch im laufverrückten Boston entstandenen Erwartungen aber nicht wirklich erfüllen und wurde beim Sieg des Franzosen Alain Mimoun mit 2:43:40 nur Einundzwanzigster. Vier Jahre später kam er in Rom auf Rang neunzehn und hatte damit fast die gleiche Olympiabilanz wie der alte Johnny.

Kurzzeitig spielte er danach mit dem Gedanken aufzuhören. Aber genauso wie sein Namensvetter, der nach seinem Ausstieg keineswegs gewillt war, seine Laufbahn einfach zu beenden, berappelte er sich und versuchte es in Boston besser zu machen. Den Abend vor dem Marathon 1957 aßen die beiden Kelleys und ihre Frauen zusammen und stimmten sich für den folgenden Tag ein.

Es sollte ein gutes Omen für den Ostersamstag, auf den man das Rennen diesmal verschoben hatte, um es nicht erneut am Karfreitag, auf den der Patriot's Day ein weiteres Mal gefallen war, durchzuführen. Denn "the Younger" hielt sich von Anfang an in der sich nach und nach ausdünnenden Spitzengruppe. Und schließlich schüttelte er mit Veikko Karvonen - Boston-Sieger von 1954 und Olympia-Bronzemedaillengewinner - auch seinen letzten Begleiter ab.

Danach lief er einem sicheren Sieg entgegen und setzte mit 2:20:05 auf der nun neu vermessenen, deutlich längeren Strecke eine erste Marke. John J. Kelley konnte damit als erster Läufer der Boston Athletic Association überhaupt den Boston Marathon gewinnen. Jock Semples so lange gehegter Traum war endlich wahr geworden. Kelley war auch erster US-Amerikaner nach einem Dutzend Jahren, der ganz oben auf dem Treppchen stand.

Der letzte Einheimische, dem dies gelungen war, trug zufällig fast denselben Namen. Das war nämlich 1945 John Adalbert "Johnny" Kelley. Und selbst wenn er über eine halbe Stunde länger als "the Younger" benötigte, lief sich auch "the Elder" mit beinahe fünfzig Jahren noch einmal weit in vordere Plätze. Auf Rang dreizehn findet sich nämlich mit einer Zeit von 2:53:00 zum zweiten Mal der Name "Kelley" in der Liste.

Sogar noch etwas weiter vorne landete Johnny, nachdem er die fünf Jahrzehnte endgültig vollgemacht hatte. An einem sommerlichen Tag im April 1958, an dem das Thermometer fast bis dreißig Grad kletterte, lieferte sich ganz vorne der jüngere Kelley ein langes und - im wahrsten Wortsinne - heißes Duell mit Franjo Mihalic. Der Mann aus Belgrad, der in Melbourne Silber gewonnen hatte, konnte sich schließlich allerdings klar absetzen und in 2:25:54 triumphieren.

Kelley "the Younger" wurde erst fünf Minuten danach mit 2:30:51 gestoppt. Eino Pulkinnen aus Finnland lag als Dritter bereits mehr als elf Minuten hinter dem Sieger. Während viele unerfahrene Läufer angesichts der Bedingungen heftig einbrachen, absolvierte der "alte" Kelley ein absolut solides Rennen und wurde in 2:52:12 tatsächlich noch einmal auf Rang neun in der Ergebnisliste geführt.

Allerdings war er eigentlich nur der Zwölfte, der ins Ziel gekommen war. Denn inzwischen wurden alle Teilnehmer vor dem Rennen von Ärzten untersucht. Gleich drei amerikanische Topläufer - zwei davon ausgerechnet von der BAA - hatten von ihnen aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen keine Starterlaubnis erhalten. Doch alle drei liefen einfach dem Feld hinterher und beendeten den Marathon schließlich unter den ersten Zehn - ohne allerdings dann gewertet zu werden.

Auf die von Reportern im Ziel gestellte Frage, wann er denn "endlich" aufhören wolle, hatte Johnny Kelley halb im Scherz "vielleicht mit hundert" geantwortet. Völlig daneben lag er mit seiner Aussage am Ende aber auch nicht. Selbst wenn es in den Folgejahren "nur" noch Positionen um Rang zwanzig reichte, ließ er damit weiterhin einen großen Teil des in jenen Jahren durchschnittlich zwei- bis dreihundert Köpfe zählenden Starterfeldes hinter sich.

Und nach der von Kelley zwischen 1959 und 1962 gelaufenen Serie mit Zeiten von 2:47:52, 2:44:39, 2:44:53 sowie 2:44:36 würde sich so mancher Läufer heutiger Tage, der zum regionalen Star nach oben geschrieben wird oder sich sogar selbst entsprechend inszeniert, vermutlich alle zehn Finger lecken. Erst 1963 fiel das Ergebnis mit 3:14:00 dann etwas schwächer aus.

Sein junger Namensvetter wurde in diesem Zeitraum übrigens dreimal Zweiter, einmal Vierter und beendete das Rennen einmal nicht. Es blieb für "the Younger" bei einem Sieg in Boston. Doch mit insgesamt fünf zweiten Plätzen verpasste er kaum seltener die oberste Treppchenstufe als der alte Kelley und wurde auch in dieser Hinsicht dessen würdiger Nachfolger.

Die zweiunddreißig Boston Marathons, die "der Jüngere" innerhalb von vier Jahrzehnten absolvierte, sind ebenfalls durchaus beachtlich und würden - genau wie die vierunddreißig Teilnehmen von Clarence DeMar - vielleicht sogar noch mehr gewürdigt, gäbe es da nicht jenen "Johnny", der alles andere absolut in den Schatten stellt. Beide Kelleys liefen übrigens am gleichen Tag ihren letzten Marathon in Boston. Der eine mit einundsechzig, der andere mit vierundachtzig Jahren.

Noch drei weitere Male knackte Johnny Kelley während der Sechziger die Drei-Stunden-Marke in Boston. Und 1965 lief er als Siebenundfünfzigjähriger mit 2:48:00 sogar noch im Schnitt jeden Kilometer unter vier Minuten - was ihm als in Meilen denkenden Amerikaner allerdings wohl nicht einmal bewusst war.

Drei Jahre später zwang ihn ein Leistenbruch zu einem Aufenthalt im Krankenhaus. Wie sehr es Johnny Kelley zusetzte, dass der Boston Marathon erstmals seit dreieinhalb Jahrzehnten ohne ihn stattfinden würde, lässt sich daran erkennen, dass er einen Moment lang mit dem Gedanken spielte, die Operation noch einmal zu verschieben und mit einem Bruchband in Hopkinton an den Start zu gehen.

Aber natürlich stand Kelley bei der folgenden Auflage seines Lieblingsrennens dann wieder an der Linie. Nicht nur weil er inzwischen langsamer wurde und bei Zeiten etwas über drei Stunden angekommen war, sondern auch wegen der immer größer werdenden Starterfelder - innerhalb einer Dekade verzehnfachten sich die Meldezahlen - wurden auch seine Platzziffern nun allerdings doch deutlich höher.

War Johnny 1970 noch unter die ersten Zweihundert gelaufen, sprang 1980 nur noch ein Rang jenseits der Dreitausend heraus. Doch auch im Alter von zweiundsiebzig erreichte Kelley dabei noch eine Zeit von 3:35:21. Ohnehin war er längst endgültig zur lebenden Legende geworden - ein Mann, den man mindestens genauso feierte wie Sieger Bill Rodgers, der in jenen Jahren das Rennen dominierte und der der nächste große Lokalmatador nach den beiden Kelleys war.

Er liefe hauptsächlich, um all seinen alten Freunden an der Strecke zuzuwinken, gab Kelley irgendwann zu Protokoll. Und mit einem Augenzwinkern meinte er zudem, es ginge ihm auch darum, im Ziel möglichst viele der "Mädels" hinter sich zu lassen. Denn diese durften ja nun auch teilnehmen. Er würde es einfach lieben zu laufen und wolle damit einfach nicht aufhören. Noch fühle er sich viel zu gut. Und der Boston Marathon sei sowieso das Allergrößte.

Im gleichen Jahr, nämlich 1980 wurde Johnny Kelley ganz offiziell in die "Hall of Fame" der amerikanischen Leichtathletik - einer jener oft vor allem virtuellen Ruhmeshallen, die insbesondere in Nordamerika weit verbreitet sind - aufgenommen. Er war nach Dutzenden von Stadionathleten der erste Straßenläufer, dem diese Ehre zu Teil wurde. Und eigens für ihn setzte man sich über eine der Regeln hinweg. Denn eigentlich darf ein Sportler zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aktiv sein.

Kelley war dies aber definitiv noch und dachte auch weiterhin gar nicht daran aufzuhören. Zwölf weitere Teilnahmen bei seinem Hausmarathon sollten noch kommen. Und selbst mit achtzig Jahren lief er die Strecke in Boston noch unter fünf Stunden. Erst als er am 20. April 1992 die Ziellinie nach 5:58:00 erreichte, fand die lange Liste von Kelleys Teilnahmen wirklich ihr Ende.

Doch ganz beendet war die Geschichte damit noch immer nicht. Denn die nächsten beiden Jahre lief Johnny Kelley zumindest die letzten Kilometer vom Heartbreak Hill bis zum Ziel. Und danach fuhr Kelley noch mehrfach als sogenannter "Grand Marshall" des Laufes in einem offenen Wagen vor dem Läuferfeld her und nahm von dort die Ovationen des Publikums entgegen.

Bei der hundertsten Auflage des Boston Marathon im Jahr 1996 hielt er eine kleine Rede zu den auf den achtunddreißigtausend auf dem Sportgelände von Hopkinton versammelten Läufern und stimmte danach jenes von Frank Sinatra bekannt gemachte Lied an, das ihm nicht nur am allerbesten gefiel, sondern ihn andererseits auch gut beschreibt: "Young at heart". Genauso heißt auch die Biographie, die seine lange, beispiellose Karriere beschreibt.

Und "Young at heart" steht auch unter der Statue, die 1993 zu Ehren Kelleys am dritten Hügel - und nicht wie oft behauptet direkt am Heartbreak Hill - errichtet wurde. Sie zeigt zwei Läufer, die Hand in Hand gemeinsam Jubeln. Der eine von ihnen ist der siebenundzwanzigjährige junge Johnny bei seinem ersten Sieg, der andere in einem Zeitparadoxon der alte Kelley bei seinem letzten Marathon.

Ein Besuch dieses Denkmals ist für viele ein Muss, wenn sie zum ältesten Marathon der Welt kommen. Und meist sind die beiden Läufer, die ja dieselbe Person darstellen, mit Medaillen geschmückt, die ihnen irgendjemand umgehängt hat. Insbesondere in seiner Heimat, in Boston und in Massachusetts ist Kelley eine regelrechte Ikone. Aber auch im Rest von Nordamerika wurde und wird der hierzulande eher Unbekannte hoch verehrt.

Als die Zeitschrift Runner's World zum Jahrtausendwechsel in den USA den "Runner of the Century" kürte, kamen nicht etwa Olympiasieger wie Frank Shorter oder Billy Mills auf den ersten Platz. Nein, Johnny Kelley wurde als Jahrhundertläufer benannt. Er konnte es noch miterleben, denn erst mit siebenundneunzig Jahren schloss die größte Legende, das Herz und die Seele des Boston Marathon am 6. Oktober 2004 für immer die Augen.

Johnny Kelley war aber auch der "König der Amateure". Er trainierte vor oder nach seiner Arbeit im Elektrizitätswerk. Und von jenen Preisgeldern, die sich heute auf der Straße aufsammeln lassen, konnte er auch zu seinen besten Zeiten nur träumen. Allerdings gewann Kelley im Lauf seiner Karriere über hundert Armbanduhren als Siegprämie. Denn mehr war als Sachpreise zu jener Zeit nicht erlaubt. Vom Laufen leben konnte er deswegen nie. Doch sein Leben war trotzdem das Laufen.

Das Portrait über Johnny Kelley zur Serie Heroes erstellte Ralf Klink
Grafik Ursula Güttsches

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