Portrait Susanne Hahn

Seit 2006 noch für jedes Großereignis der Leichtathletik qualifiziert

von Marcus Imbsweiler im Januar 2012

Zieleinlauf Frankfurt-Marathon 2011: Mit letzter Kraft erreicht Sabrina Mockenhaupt die Messehalle, sinkt zu Boden und muss minutenlang behandelt werden. Nur 40 Sekunden nach ihr, aber weitgehend unbeachtet von Kameras und Berichterstattung, läuft eine weitere Deutsche ein: Susanne Hahn. Sie hat nicht nur die Olympianorm geknackt, sondern ganz nebenbei auch eine neue persönliche Bestzeit erzielt. Und anders als ihre teaminterne Konkurrentin steht sie den wissbegierigen Reportern sofort Rede und Antwort.

Frankfurt: Hahn! – so könnte man das Comeback der 33-Jährigen kalauernd auf den Punkt bringen. Nun ist es zwar nicht so, dass niemand die Athletin des SV schlau.com Saar 05 auf der Rechnung gehabt hätte. Dass sie am Main zur Attacke auf die Olympianorm (2:30 h) blasen würde, war von den Agenturen zuvor pflichtschuldig vermeldet worden. Auch sie selbst zeigte sich auf ihrer Homepage "guten Mutes", dass es klappen würde. Und warum sollte sie, die sich seit 2006 noch für jedes Großereignis der Leichtathletik qualifiziert hatte, es nicht erneut schaffen?

Die Antwort liegt auf der Hand: weil sie seit der WM 2009 in Berlin international nicht mehr in Erscheinung getreten war; weil sie anschließend aufgrund von Ischiasbeschwerden hatte pausieren müssen; und weil sie 2010 Mutter eines Sohnes geworden war. Offenbar reichte die eineinhalbjährige Abstinenz von der Leichtathletikbühne, um durch das Aufmerksamkeitsraster der Sportjournalisten zu fallen. Trotzdem war die Totalmissachtung der Olympiaaspirantin Hahn durch den Hessischen Rundfunk eine veritable Blamage, für die sich die Kommentatoren des Senders immerhin live entschuldigten.

Wie beurteilt sie selbst ihre Darbietung? "Vorm Start war ich guter Dinge, brauchte dann aber zwei Kilometer zum Reinkommen. Insgesamt war der Lauf kontrolliert, nur nach zwei Dritteln der Strecke hatte ich kleinere Probleme. Vorher waren wir konstant 3:30 Minuten pro Kilometer gelaufen, von diesem Puffer konnte ich bis ins Ziel zehren. Dass Mocki so kurz vor mir war, wusste ich gar nicht." Und die mangelnde Aufmerksamkeit des Fernsehens? Da lächelt sie: "Das bin ich gewohnt …"

 

Susanne Hahn lebt in Troisdorf, was geographisch einen guten Kompromiss zwischen ihrer eigenen Heimat und der ihres Mannes darstellt. Während Frank Hahn aus der Nähe von Saarbrücken stammt, wuchs sie in Barienrode bei Hildesheim auf; im dortigen SC ist sie noch immer Mitglied. Kennengelernt haben sich die beiden in der Troisdorfer Trainingsgruppe von Thomas Eickmann. Susanne hatte es zum Studium nach Bonn verschlagen, Berufssoldat Frank war von Schleswig-Holstein an den Rhein versetzt worden. Dessen Karriere, gekrönt durch eine Marathonzeit von 2:19, neigte sich damals dem Ende zu, und so gab er seine gesammelte Erfahrung an die aufstrebende junge Läuferin weiter. "Er kann mich besser einschätzen als ich mich selbst", sagt Susanne über ihren Mann und Trainer.

Sportbegeisterung und läuferische Qualität kommen nicht von ungefähr, betrieben doch auch ihre Eltern Leichtathletik. Was heißt betrieben? Vater Siegfried, von Haus aus Sprinter, tritt noch immer über 400 und 800 Meter an. Wie ihre Brüder probierte Susanne als Jugendliche alle möglichen Disziplinen aus, turnte auch, bis sie schließlich beim Laufen "hängen blieb". Ihre ersten Sporen verdiente sie sich auf Crossstrecken; lange Distanzen waren noch tabu.

Ein paar Stationen ihrer Laufkarriere, nachzulesen auch auf ihrer Homepage:

2006

Deutsche Crossmeisterin, Regensburg
Marathondebüt, Rotterdam
Marathon EM, Göteborg

2007

Marathon WM, Osaka

2008

Deutsche Meisterin im Marathon (Mainz) und Halbmarathon (Calw)
Marathon Olympische Spiele, Peking

2009

Siegerin Düsseldorf Marathon
Marathon WM, Berlin
Deutsche Meisterin über 10 km, Otterndorf

2010

Babypause

2011

Vizemeisterin über 10 km (Oelde) und Halbmarathon (Griesheim)
Bestzeit Marathon (2:28:49), Frankfurt

2012

Marathon Olympische Spiele, London
Bestzeit 10 km (32:10), Tessenderlo (Belgien)

Sechs Jahre ist es her, dass Susanne Hahn auf die Marathondistanz umzusteigen begann. Neben individuellen Vorlieben und Qualitäten spielte ihre Pollenallergie eine wesentliche Rolle. So stehen sommers weniger Tempoeinheiten an, welche bevorzugt in den frühen Morgen- und späten Abendstunden stattfinden. Wöchentlich kommen so zwischen 70 (Regenerationsphasen) und 220 km (Intensivtraining) zusammen. Dass man auch durch Umfänge die Grundschnelligkeit nicht komplett verliert, beweist ihre Bestzeit über 10 km, die sie 2009 aus dem Marathontraining heraus erzielte (32:28).

 

Die Konzentration auf Grundlagenausdauer ist nicht die einzige Besonderheit des Hahnschen Trainingsalltags. In der Höhe etwa wird man Susanne nicht antreffen. Nicht mehr, genauer gesagt; drei Mal in den letzten zehn Jahren hat sie es versucht und kehrte drei Mal ohne erkennbaren Fortschritt aus den Bergen zurück. Darum wird es auch 2012 Garmisch-Partenkirchen statt St. Moritz oder Flagstaff heißen. Auch auf Bahnläufe verzichtet sie mittlerweile weitestgehend, um stattdessen lieber an Crossläufen teilzunehmen. Zuletzt holte sie im slowenischen Velenje mit dem deutschen Damenteam EM-Bronze.

Ihren ersten Marathon lief sie 2006 in Rotterdam in 2:32:32 h, was gleichbedeutend mit dem Ticket zur EM in Göteborg war. Bis 2009 behielt sie diesen Rhythmus bei: im Frühjahr Qualifikation für eine internationale Meisterschaft, bei der sie im Spätsommer oder Herbst die deutschen Farben vertrat. 2010 dann die Babypause, bevor ihr neunter Marathon die Bestzeit und erneute Olympiaquali bringen sollte.

Apropos Olympia. Susanne ist froh, dass die Spiele 2012 quasi um die Ecke stattfinden. Peking 2008, das bedeutete nicht nur Zeit- und Klimaumstellung, sondern auch eine komplett andere Kultur, erhebliche Verständigungsprobleme, Beschränkungen aller Art sowie extrem lange Wege. Den Wunsch einer Streckenbesichtigung zwei Tage vor dem Marathon konnte bzw. wollte ihr von Seiten des DLV niemand erfüllen. Am Ende unternahmen sie und Melanie Kraus den Trip auf eigene Faust. Unhaltbar auch, dass ihr Trainer und Ehemann privat nach Peking reisen und sich als Einzelkämpfer durch die Megametropole schlagen musste, um sie zu coachen; den A-Schein hatte er damals noch nicht gemacht.

 

Reibungsfrei ist das Verhältnis der Hahns zum DLV also nicht. Susanne sieht den Verband in der Pflicht, mehr und vor allem zielgenauer in die Betreuung seiner Athleten zu investieren. In ihrem Fall geht es um den generellen Konflikt zwischen Bundes- und Heimtrainertätigkeit. Weil Letzterer seinen Schützling aus dem Effeff kennt, kann er als Einziger spezifische, punktgenaue Unterstützung gewährleisten. Warum sollte er dann nicht auch bei Olympia diese Rolle spielen? Vieles hat sich in den letzten Jahren gebessert, gibt Hahn zu, meint aber gleichwohl: "Deutschland hat im Laufbereich kein Athleten-, sondern ein Trainerproblem."

So wenig sie mit ihrer Meinung hinterm Berg hält, so wenig zieht sie sich in den Schmollwinkel zurück. Als 2010 die Wahl der DLV-Aktivensprecher anstand, erklärte sie sich bereit, mit an der Verbesserung der Strukturen und Inhalte zu arbeiten, und kandidierte erfolgreich. Noch bis Ende Februar fungiert sie im Bundesausschuss Leichtathletik und im Verbandsrat, dem Zusammenschluss sämtlicher Landesverbände, als Sprachrohr der Athleten. Für diese sportpolitische Tätigkeit bedeutete die Marathonzeit von Frankfurt allerdings mehr oder weniger das Todesurteil. Denn Olympiateilnehmerin und Mutter eines 17 Monate alten Knaben und Funktionärin – das ist nicht unter einen Sportlerhut zu bringen. Jedenfalls nicht ohne Qualitätsverlust.

Wobei sich die Frage stellt, ob besagter Hut nicht ohnehin schon zu klein bemessen ist. Anders formuliert: Ist der Traum von der sportlichen Höchstleistung im Bermudadreieck von Wickeltisch, Krabbelgruppe und Kinderkrankheiten nicht zum Untergang verdammt? Offenbar nicht zwangsläufig – man muss sich halt zu organisieren wissen. Für Susanne Hahn beginnt der Tag mit einer frühen Trainingseinheit, auf beleuchteter Laufstrecke oder im Schwimmbecken, anschließend ist sie für ihr Kind da. Erst nachdem Frank gegen fünf nach Hause kommt – derzeit arbeitet er im Personalbereich der Bundeswehr in Köln –, steht wieder Laufen auf dem Programm. Gleich hinterm Haus der Hahns beginnt das Naturschutzgebiet Wahner Heide, doch davon sieht Susanne in den Wintermonaten wenig. Stattdessen trainiert sie, wohl oder übel, auf dem Radweg nach Köln. Aber auch das Bewältigen eintöniger Strecken gehört zur Marathonvorbereitung ja dazu.

 

Grund zum Klagen hat Susanne Hahn jedenfalls nicht. Sicher, Michaels Großeltern wohnen einige hundert Kilometer entfernt, und die Option Kinderkrippe hat man bislang noch nicht gezogen. War ihr Mann früher bei praktisch jedem Lauf dabei, trainiert sie nun notgedrungen öfter allein. Andererseits genießt sie es, "nicht auf jeden Cent, den man bei irgendeinem Kirmesrennen verdient, angewiesen zu sein". Und die Großeltern springen bei den privat organisierten Trainingslagern als Babysitter ein.

Dass man nach Geburt eines Kindes automatisch einen Leistungssprung vollzieht, kann sie jedenfalls nicht unterschreiben. Eine gehörige Portion Effizienz und Konzentration auf das Wesentliche gehören dazu. Kreisten die Gedanken früher immer wieder ums Laufen, tun sie es jetzt nur noch dann, wenn Zeit dafür ist. Mag das Kind auch an erster Stelle kommen, muss man im Wettbewerb wiederum abschalten können. Vieles relativiert sich, der Sport verliert durch die Einschränkungen nicht seinen Wert, wohl aber seinen Fetischcharakter: "Man unterwirft ihm nicht alles." Und irgendwann wird Michael auch lernen, dass nicht alle Mütter Laufschuhe tragen und durch die Gegend rennen …

 

Ein Opfer hat die veränderte Situation allerdings doch gefordert, nämlich Susanne Hahns Ambitionen als Akademikerin. Ihre Doktorarbeit in Sprachwissenschaft musste sie vorerst auf Eis legen. Neben Kinderbetreuung und Trainingsalltag war die konsequente Arbeit an der Promotion nicht mehr gewährleistet. "Man kann nicht alles haben!" – diese Sichtweise mag ihr umso leichter fallen, als sie das erste Staatsexamen in Deutsch und Latein bereits abgelegt und so eine solide Basis für die Karriere nach der Laufkarriere geschaffen hat.

Die wiederum bietet mit London den eindeutigen Höhepunkt 2012. In Dreimonatszyklen bereitet sich Hahn auf den Marathon vor, demnächst stehen einige Crossläufe auf dem Programm, dann Halbmarathons, etwa die deutschen Meisterschaften in Griesheim. Hier erwartet der DLV mit einer Zeit unter 74 Minuten noch einen konkreten Leistungsnachweis. Einen Schlachtplan für das Rennen bei Olympia gibt es bislang nicht; der ist in erster Linie vom Verlauf der persönlichen Fitness und Vorbereitung abhängig. Generell will sie sich weniger an den anderen orientieren als ihr eigenes Rennen laufen.

 

Einen Teil der Vorbereitungszeit verschlingt übrigens nicht der Sport selbst, sondern sein bürokratischer Wurmfortsatz. Das elektronische Meldesystem Adams etwa, mit dem Athleten ihrer Meldeverpflichtung gegenüber der nationalen und internationalen Anti-Doping-Agentur nachkommen und das aus so manchem Betroffenen einen Wutbürger gemacht hat. "Wie oft habe ich mir schon eine Sekretärin gewünscht", meint auch Susanne Hahn. Alle drei Monate hat sie ihre persönliche Lebensplanung computergerecht aufzudröseln und ständig zu aktualisieren. Weil sie seit Frankfurt in der Adams-Hierarchie eine Stufe nach oben gerutscht ist, muss sie nun zusätzlich für jeden Tag eine Stunde angeben, in der man sie definitiv an einem bestimmten Ort antreffen kann. Mit der Datensicherheit des Programms hat sie weniger Probleme, sieht das Ganze als eine zwar lästige, aber notwendige Verwaltungsangelegenheit.

Gibt es einen konkreten Wunsch für die nähere Zukunft? In der Tat, den gibt es: Susanne Hahn hat derzeit keinen Ausrüster. Den goldenen Neunzigerjahren, als die Sponsoren Schlange standen, will sie gar nicht nachtrauern, und sie weiß auch, dass sie beileibe kein Einzelfall ist, trotzdem sollte seine Erfüllung jetzt, mit der Olympiaquali in der Tasche, nur eine Frage der Zeit sein. Gegen die Verpflichtung eines Managers haben sie und ihr Mann sich übrigens bewusst entschieden. Erstens soll der Sport im Mittelpunkt stehen, nicht das Geschäft drumherum, und zweitens "bin ich nicht der Typ, der alles mit sich machen lässt."

Und noch eine Aussage, die man nicht aus jedem Läufermund hört: Susanne Hahn sieht sich nicht als "Satellitenathletin". Als Sportler, der jede Wechselperiode am Jahresende nutzt, um sich einen neuen Verein anzulachen. Dem SV schlau.com Saar 05 hält sie bereits seit 2005 die Treue, schwört auf den Teamgedanken, der den Langstrecklerinnen 2011 zwei Teammedaillen auf nationaler Ebene eingebracht hat, und nimmt auch – wenn es die Wettkampfplanung zulässt – an Volksläufen in Saarbrücken teil. Das Engagement kam auf Empfehlung ihres Mannes Frank zustande, dessen Eltern im Saarland wohnen.

 

Zurück zum Frankfurt-Marathon und zu "Mocki", der Kollegin und Konkurrentin. Auch wenn die beiden Spitzenläuferinnen des DLV ganz unterschiedliche Typen sind, ist das Verhältnis gut, und Susanne freut sich ebenso auf den gemeinsamen Start in London, wie sie sich über die Teilnahme bei der Cross-EM freute. Die ja, im Team mit der Siegerländerin, Simret Restle und Verena Dreier, durch Bronze veredelt wurde. "Mocki", meint Susanne Hahn mit Blick auf deren Leistungen, "hatte vermutlich von Anfang an den richtigen Trainer." Aber den hat sie mittlerweile ja auch.

Das Porträt "Susanne Hahn" erstellte Marcus Imbsweiler
Fotos © Jens Priedemuth (Velenje) & LaufReport-Archiv

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