Steve Cram

Im Schatten von Coe und Ovett

von Ralf Klink im Juli 2020 

In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern wurde der Mittelstreckenlauf von zwei Briten dominiert, die sich in ihrer legendären Rivalität gegenseitig zu immer neuen Rekorden und großen Titeln trieben. Sie hießen Sebastian Coe und Stephen Ovett. Diese beiden Sätze dürfte wohl nahezu jeder ohne Zögern unterschreiben, der sich auch nur ein bisschen für Sportgeschichte interessiert.

Würde man allerdings etwas genauer in die alten Ergebnis- und Rekordlisten blicken, könnte man entdecken, dass dieses irgendwie ziemlich tief eingebrannte Bild so gar nicht stimmt. Es waren nämlich nicht zwei sondern vielmehr drei Briten, die in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts Erfolg an Erfolg reihten. Der dritte und jüngste Mann aus diesem Trio ist jedoch ein wenig in Vergessenheit geraten. Sein Name ist Steve Cram.

Wobei dieser seine Rennen durchaus auch in einem anderen Nationaltrikot hätte bestreiten können, was er angesichts der Dominanz von Coe und Ovett angeblich sogar einige Zeit erwogen hatte. Schließlich stammte die Mutter des im Oktober 1960 im nordenglischen Gateshead geborenen Athleten aus Deutschland.

Aufgewachsen in einer Leichtathletik-Hochburg mit einem internationalen Sportfest praktisch direkt vor der Haustür, kam der junge Steve schon früh mit dem Mittelstreckenlauf in Kontakt. Dabei blieb er dem Jarrow and Hebburn Athletics Club, für den er in der Jugend startete, während seiner Karriere treu und trug dessen gelb-schwarzes Trikot in vielen großen Stadien um die Bahn.

An lokalen Vorbildern mangelte es in Gateshead ebenfalls nicht. Brendan Foster zum Beispiel war immerhin Europameister von 1974 über 5000 Metern. Beim ersten großen Meeting in seiner Heimatstadt erzielte er im gleichen Jahr auch noch einen Weltrekord auf den 3000 Metern. Und zwei Jahre darauf kehrte Foster mit Olympiabronze über zehn Kilometern aus dem kanadischen Montréal zurück - wohlgemerkt als einziger britischer Medaillengewinner in der Leichtathletik überhaupt. Er wurde in der Folge so etwas wie der Mentor des jungen Burschen.

Steve Cram war noch keine achtzehn Jahre alt, als er im Juli 1978 im Londoner Crystal Palace Stadion die Meile in 3:57,42 lief, was damals ein Weltrekord für diese Altersgruppe darstellte - aktueller Rekordhalter inzwischen ist der Norweger Jakob Ingebrigtsen mit einer 3:52,28 - und ihm schon als Junior seine erste Nominierung für die Commonwealth Games einbrachte.

Insgesamt lief Cram im Laufe seiner eineinhalb Jahrzehnte andauernden Karriere zwei Dutzend Mal unter jenen vier Minuten, die noch ein Vierteljahrhundert zuvor als kaum zu bezwingende Schallmauer standen. Also im Schnitt jede der etwas mehr als vier Runden unter einer Minute oder anders ausgedrückt sechzehnmal einhundert Meter in weniger als fünfzehn Sekunden.

Bei den Spielen des früheren britischen Empire im kanadischen Edmonton schied das aufstrebende junge Talent über fünfzehnhundert Meter allerdings noch sang- und klanglos im Vorlauf aus. Im gleichen Rennen einen Platz hinter ihm landete übrigens mit Steve Jones ein Läufer, der wenige Jahre später einmal für einige Monate die Weltbestzeit im Marathon halten sollte.

Ernsthaft zur längsten olympischen Distanz wechselte Steve Cram dagegen nie, auch wenn er sich später nach seiner leistungssportlichen Laufbahn auf dieser Strecke ebenfalls versuchte. Er blieb der Bahn und der Mittelstrecke treu. Selbst die 3000 Meter, über die er ein Jahr nach den Commonwealth Games bei den Junioren-Europameisterschaften in Polen den Titel gewann, lief er in der Folge eher selten.

Seine ersten Olympischen Spiele erlebte Cram noch als Teenager in Moskau. Die etablierten Coe und Ovett waren für die 1500 Meter von vorne herein gesetzt. Und da sich Dave Moorcroft - zu jener Zeit die eigentliche Nummer drei - dafür entschied, die fünf Kilometer zu laufen, vielleicht auch um den beiden großen Rivalen aus dem Weg zu gehen war noch ein Platz im Team frei.

Um ihn bewarben sich Steve Cram und der nur unwesentlich ältere Schotte Graham Williamson. Ausgerechnet bei dem als Ausscheidungsrennen deklarierten Meilenlauf der Bislett Games von Oslo war Williamson, der in den Jahren zuvor eigentlich stets noch ein wenig besser als Cram gewesen war und sowohl über die 1500 Meter wie die Meile noch immer die nationalen Juniorenrekorde hält, leicht erkältet und musste zudem noch in geborgten Schuhen starten, da ihm sein Gepäck bei der Anreise abhanden gekommen war.

Hinter dem in 3:48,8 einen neuen Weltrekord laufenden Ovett wurde Cram schließlich Zweiter, während der junge Schotte erst einige Sekunden nach seinem Konkurrenten ins Ziel kam. Cram bekam die Olympia-Nominierung und Williamson ging leer aus. Mit diesem Wettkampf kippte auch das Kräfteverhältnis der beiden Alterskollegen. Steve Cram lief in den Folgejahren zu Titeln und Rekorden, Graham Williamson gelang der Durchbruch in die absolute Weltklasse trotz seines enormen Talentes dagegen nie wirklich.

In Moskau überstand der Youngster dann tatsächlich sowohl den Vorlauf wie auch das Halbfinale, wenn er auch jedes Mal gerade so noch den letzten für die nächste Runde ausreichenden Platz sichern konnte. Im denkwürdigen Endlauf spielte Cram dann aber endgültig keine Rolle mehr und wurde Achter von neun gestarteten Läufern. Zwei andere Briten waren die Hauptpersonen, die erbitterten Konkurrenten Coe und Ovett.

Erstmals seit langer Zeit standen sich die beiden bei den Spielen direkt gegenüber. Jahrelang waren sie sich durch die Wahl unterschiedlicher Strecken und Startmöglichkeiten fast schon systematisch aus dem Weg gegangen. Eigentlich galt Coe dabei als der etwas bessere Achthundert-Meter-Läufer. Ovett dagegen hatte man im Vorfeld über die lange Mittelstrecke ein wenig mehr zugetraut.

Doch sechs Tage vor dem Finale über 1500 Meter hatte Ovett den amtierenden Weltrekordler in dessen Spezialdisziplin düpiert. Denn genau in dem Moment, als nach einer langsamen ersten Runde an der Spitze das Tempo verschärft wurde, lag Coe an einer ungünstigen Position hinten im Feld und musste anschließend einen extrem langen Weg gehen, um zumindest noch zu Silber spurten. Zum Goldmedaillengewinner Ovett klaffte allerdinge eine Lücke von mehreren Metern.

Dem traute man nun natürlich den doppelten Olympiasieg zu. Doch Coe drehte den Spieß um und siegte seinerseits auf Ovetts Schokoladenstrecke. Diesmal machte er nämlich nicht noch einmal den gleichen Fehler, hielt sich immer in vorderen Positionen und konnte sofort kontern, als Jürgen Straub im blauen DDR-Trikot von der Spitze weg das Tempo immer höher zog.

Ausgangs der letzten Kurve flog Sebastian Coe vorbei und legte schnell zwei, drei Meter zwischen sich und die Konkurrenz. Auch Ovett kam auf der Zielgerade wieder näher heran. Doch Straub hielt energisch dagegen. Und so blieb für den Angelsachsen statt des erhofften zweiten Goldes diesmal nur die Bronzemedaille. Der dritte Brite Steve Cram lief hingegen erst dreieinhalb Sekunden später ins Ziel. Doch zumindest an Erfahrung hatte er gewonnen.

Bei den nächsten Großereignissen 1982 spielte der mit noch nicht einmal zweiundzwanzig Jahren immer noch ziemlich junge Bursche dann schon im Konzert der Großen um die Medaillen mit. Dass ihm bei seinen ersten Erfolgen ein wenig Verletzungen und Krankheiten der sich auch nach Moskau weiter gegenseitig die Rekorde abjagenden Überflieger Coe und Ovett halfen, kann diese kaum schmälern.

Erstmals konnte Steve Cram sich seit August dieses Jahres auch "Weltrekordhalter" nennen. Doch brauchte er dabei noch drei andere britische Mittelstreckenasse. Denn gemeinsam mit Seb Coe, Peter Elliott und Garry Cook absolvierte er die eher selten gelaufene Staffel von 4 x 800 Metern mit 7:03,89 so schnell wie niemand zuvor.

Der Lauf war als Abschlusstest für die wenige Tage später in Athen beginnenden Europameisterschaften gedacht, von denen auch alle Beteiligten bis auf den neunzehnjährigen Eliott mit Edelmetall nach Hause kamen. So gewann Garry Cook mit der britischen Staffel über die halb so lange Distanz Silber hinter Deutschland und kam zudem über achthundert Meter auf Rang vier.

Im gleichen Rennen trat natürlich auch Sebastian Coe an. Doch erneut konnte der Mann, der zwischen 1979 und 1987 fast genau acht Jahre lang ununterbrochen den Weltrekord hielt, nicht gewinnen. Ziemlich überraschend wurde er im Endspurt von Hans-Peter Ferner geschlagen und bekam nur die Silbermedaille ab. Am Tag darauf gab die britische Mannschaftsleitung bekannt, dass Coe an Drüsenfieber erkrankt sei und auf seinen Start über 1500 Meter verzichten würde.

Stephen Ovett war nach einer Verletzung im Winter nicht wieder in Topform gekommen und bereits im Vorfeld nicht nominiert worden. So lag nun die komplette Last der großen britischen Mittelstreckentradition auf den Schultern von Steve Cram und seinem ewigen Konkurrenten aus Jugendtagen Graham Williamson - der eine noch nicht ganz, der andere gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt geworden.

Beide qualifizierten sich sicher fürs Finale. Cram lief praktisch während des gesamten Rennens ununterbrochen in erster Reihe, Williamson etwas mehr in der Mitte des Feldes. Etwa sechshundert Meter vor dem Ziel machte sich der Schotte energisch auf den Weg Richtung Spitze. Und gerade, als mit Cram auf gleicher Höhe lag, bekam er die Spikes des Spaniers José Manuel Abascal in die Hacken und stürzte.

Steve Cram nutzte das entstandene Chaos zu einem energischen Antritt und riss augenblicklich eine Lücke, die er bereits auf mehr als zehn Meter ausgebaut hatte, als die Glocke zur letzten Runde läutete. Ausgangs der nächsten Kurve war der Abstand zu seinen Verfolgern sogar noch etwas größer geworden.

Und Cram drückte weiter aufs Gaspedal, gab alles, was er hatte, um seinen Vorsprung zu verteidigen. Selbst wenn dem Briten bei seinem schier endlos langen Spurt am Ende die Beine dann doch etwas schwer wurden und die Konkurrenz deutlich näher kam, rettete er nach 3:36,49 eine halbe Sekunde vor Mikalaj Kirau und Abascal ins Ziel.

Während Cram sich auf der Ehrenrunde für seinen ersten großen Titel feiern ließ, schlich Graham Williamson bedröppelt von der Bahn. Erneut waren Glück und Pech für die beiden extrem dicht beieinander gewesen. Und erneut hatte Cram in der Lotterie das Glück und Williamson das Pech gezogen.

Eine Monat später standen sich die beiden erneut in einem großen Finale gegenüber. Nur wurde diesmal hinter ihren Namen nicht der Union Jack eigeblendet. Vielmehr lief Cram unter der englischen Flagge mit dem Georgs- und Willamson für das blaue Tuch mit dem schottischen Andreaskreuz. Denn bei den Commonwealth Games - diese fanden im Oktober 1982 im australischen Brisbane statt - starten die vier Bestandteile des Vereinigten Königreichs mit jeweils eigenen Teams.

Erneut waren weder Coe noch Ovett am Start, so dass die Konkurrenz durchaus offen erschien. In einem deutlich langsameren Rennen als in Athen setzte der sich wieder taktisch clever stets im Vorderfeld aufhaltenden Cram als Erster dem Kenianer Mike Boit nach, als dieser in der letzten Runde begann das Tempo zu verschärfen. Zusammen mit dem Neuseeländer John Walker lag er eingangs der Zielgrade direkt hinter dem Ostafrikaner.

Doch während der Kiwi sich damit auf der Innenbahn eingekeilt hatte, konnte Cram außen vorbei ziehen und sogar einen kleinen Vorsprung heraus laufen. Nachdem der Raum auf der zweiten Bahn wieder frei war, scherte auch Walker aus und spurtete ebenfalls noch an Boit vorbei. An den enteilten Burschen aus Gateshead kam er allerdings nicht mehr heran. Nach 3:42,37 durfte Steve Cram seine zweite goldene Medaille innerhalb von vier Wochen bejubeln. Dem unglücklichen Graham Williamson blieb der undankbare vierte Platz.

Im Jahr darauf hatte die IAAF erstmals Leichtathletik-Weltmeisterschaften im altehrwürdigen Olympiastadion von Helsinki angesetzt. Und während Coe sich weiter mit Krankheiten herumplagte und die Saison früh beendete, stand Ovett diesmal wieder im britischen Aufgebot. Als dritter Mann über die 1500 Meter war Graham Williamson nominiert. Doch für den Schotten war bei seiner letzten großen Meisterschaft bereits im Halbfinale Schluss.

Ohne den großen Durchbruch geschafft zu haben und immer wieder von Verletzungen geplagt, beendete er seine aktive Laufbahn bereits mit Mitte Zwanzig. Noch immer ist er schottischer Rekordhalter über die Meile und auf dieser Distanz auch der achtbeste Läufer der britischen Leichtathletik-Geschichte überhaupt. Sein großes Pech war einfach nur, dass er zur falschen Zeit aktiv war. Denn fünf der sieben vor ihm Platzierten liefen mehr oder weniger genau in der gleichen Ära wie er selbst.

Seine Teamkollegen schafften es allerdings problemlos in den Endlauf. Dass der jüngere von beiden dabei das gemeinsame Semifinal-Rennen locker für sich entschied und den Routinier und amtierenden Weltrekordler auf Platz zwei verwies, war zwar noch nicht entscheidend aber eben doch schon ein kleiner Fingerzeig dafür, dass die Favoritenrolle längst nicht mehr so eindeutig bei Ovett lag.

Im Gegensatz zu den vorangegangenen Meisterschaftsrennen lief Cram in Helsinki erst einmal in hinteren Positionen. Doch hatte er sich in der dritten Runde genau rechtzeitig nach vorne gearbeitet, um dem Marokkaner Said Aoutia mit raumgreifenden Schritten hinterher zu stiefeln, als dieser fünfhundert Meter vor dem Ziel zu einem lang gezogenen Spurt ansetzte.

An der Zweihundert-Meter-Marke war er an Aouita vorbei. Und während der Nordafrikaner auch noch von Steve Scott aus den USA abgefangen wurde, zeigte Cram erneut seine Tempohärte und sicherte sich mit 3:41,59 das dritte Gold innerhalb von wenig mehr als elf Monaten. Der dritte Steve im Endlauf, jener mit dem eigentlich größten Namen, nämlich Ovett, musste auf Rang vier dagegen mit der Holzmedaille Vorlieb nehmen.

Drei von vier großen Titeln hatte Steve Cram nun mit noch nicht einmal dreiundzwanzig Jahren bereits in seinen Händen. Zudem wurde er in der BBC auch zum britischen Sportler des Jahres 1983 gekürt. Einzig der wichtigste fehlte ihm noch, der Olympiasieg. Die Spiele von Los Angeles im nächsten Jahr boten ihm jedoch die Gelegenheit, seine Sammlung endgültig zu komplettieren.

Allerdings durfte man sich angesichts der Qualität der britischen Mittelstreckler zu jener Zeit sogar als der amtierende Welt- und Europameister keinerlei Schwäche erlauben, um überhaupt in den Genuss einer Nominierung zu kommen. Schließlich war neben Ovett in dieser Saison auch Sebastian Coe wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Die zwei Superstars starteten wie schon in Moskau über beide Strecken. Auf den 1500 Metern vervollständigte Cram das Team, für die 800 Meter war Peter Elliott der dritte Mann.

Während Eliott aufgrund einer Verletzung zum Halbfinale nicht mehr antrat, erreichten Coe und Ovett standesgemäß das Finale über die doppelte Stadionrunde. Doch Ovett musste dazu bereits alles aus sich heraus holen und sicherte sich den letzten freien Platz in seinem Semifinallauf nur um sechs Hundertstelsekunden.

Auch im Finale kam er mit der schlechten Luft von Los Angeles überhaupt nicht zurecht, kämpfte mit Atemproblemen, wurde abgeschlagen Letzter und klappte im Ziel sogar völlig zusammen. Allerdings konnte sich Coe die schon in Moskau verpasste Goldmedaille ebenfalls nicht sicher. Mit dem Brasilianer Joaquim Cruz war ein anderer Läufer eindeutig stärker. Immerhin blieb für den heute längst zum Chef des Leichtathletik-Weltverbandes aufgestiegenen Briten zum zweiten Mal in Folge Silber.

Über 1500 Meter standen dann tatsächlich alle drei nominierten Männer von der Insel im Endlauf. Und hinter dem führenden Spanier Abascal fein säuberlich aufgereiht gingen sie auf den Positionen zwei bis vier in die letzte Runde. Kurz nach dem Ertönen der Glocke trat Ovett jedoch plötzlich und für alle völlig überraschend nach innen von der Bahn. Er hatte wieder Atemprobleme und zog es vor auszusteigen.

Die verbliebene Dreiergruppe setzte sich dadurch ein wenig vom Feld ab. Steve Cram versuchte vor der Schlusskurve am Spanier vorbei an die Spitze zu gehen, doch Sebastian Coe ließ ihn nicht in die Führungsposition und zog das Tempo von vorne immer höher. Gegen diesen Schlussspurt war der Welt- und Europameister insbesondere nach einer aufgrund kleiner Verletzungen nicht optimal gelaufenen Vorbereitung dann doch ziemlich machtlos.

Coe wiederholte mit 3:32,53 auch auf der zweiten Distanz seine Medaille von Moskau und ist damit bis heute der einzige Doppelolympiasieger auf dieser Strecke. Steve Cram blieb der letzte fehlende Titel zum kompletten Quartett versagt. Allerdings war er zuvor auch erst zweimal in seinem Leben überhaupt schneller gelaufen als jene 3:33,40, mit denen er sich in Los Angeles Silber holte.

Da die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in ihrer Anfangszeit noch im Vier-Jahres-Rhythmus ausgetragen wurden, gab es 1985 keine weiteren Titel für die britischen Mittelstreckenasse zu gewinnen. Coe und Ovett nutzen dies dann auch, um sich ein wenig von ihren jahrelangen intensiven Rekord- und Medaillenjagten zu erholen - ob freiwillig oder doch eher gezwungenermaßen sei dabei dahin gestellt.

Steve Cram schaffte es hingegen auch in dieser Saison ohne Meisterschaften, seinen Namen in die goldenen Bücher der Sportgeschichte einzutragen. Schon als allererster Weltmeister über 1500 Meter hatte er etwas besonders erreicht. Doch am 16.Juli 1985 gelang ihm im Stadion von Nizza dann endgültig ein einzigartiger, ein historischer Lauf.

Das 1500-Meter-Rennen an der Côte d'Azur war von vorne herein auf ein hohes Tempo ausgelegt. Steve Ovetts zwei Jahre alter Weltrekord von 3:30,77 gab die Richtung vor. Und mit Steve Cram und Said Aouita waren gleich zwei Asse dabei, denen man zutrauen konnte, diese Marke nicht nur ernsthaft sondern auch erfolgreich zu attackieren.

Doch als die beiden Schrittmacher ein wenig zu energisch nach vorne stürmten, setzte sich erst einmal nur Cram an die Spitze und versuchte das beim ersten Zieldurchlauf rund zehn Meter große Loch zu schließen. Aouita lief dagegen mitten im sich wieder langsam heran schiebenden Feld.

Nach achthundert Meter verabschiedete sich der erste Hase. Und weiterhin war es Steve Cram, der dem verbliebenen Tempomacher als Erster aus der bereits recht lang auseinander gezogenen Läuferkette folgte. Vierhundert Meter vor dem Ziel war der Mann mit dem gelben Trikot und dem schwarzen Diagonalstreifen des Jarrow and Hebburn Athletics Club endgültig alleine in Front.

In seiner durchaus typischen Art suchte Cram schon früh die Entscheidung und riss eine kleine Lücke zu seinen Verfolgern. Mit zehn Metern Vorsprung ging er in die letzte Kurve. Aouita hatte inzwischen den Spanier Gonzalez, der den größten Teil des Rennens die Position hinter Cram eingenommen hatte, passiert und versuchte mit allen noch vorhandenen Kräften, sich wieder an den Führenden heran zu schieben.

Obwohl fast einen Kopf kleiner schienen die Schritte des Marokkaners dabei beinahe noch länger als die des hochbeinigen Briten zu werden. Immer näher kam Aouita, spurtete im Stile eines Viertelmeilers. Doch auch Cram mobilisierte alles, was sich noch irgendwie abrufen ließ, und rettete in diesem grandiosen Rennen die Winzigkeit von vier Hundertstelsekunden über die Linie. 3:29,67 zeigte die Uhr in diesem Augenblick.

Steve Cram hatte an jenem Tag vor nun ziemlich genau fünfunddreißig Jahren als erster Mensch die 1500 Meter unter dreieinhalb Minuten zurück gelegt. Dass Auiota die Schallmauer ebenfalls geknackt hatte, half ihm in diesem Moment wenig. Der Brite war ihm eben genau vier Hundertstelsekunden zuvor gekommen und damit neuer Weltrekordler. Aouita verbesserte die Marke zwar fünf Wochen später in Berlin auf 3:29,46. Doch der Ruhm der Erste gewesen zu sein, war Steve Cram nicht mehr zu nehmen.

Nur elf Tage nachdem er Ovetts Zeit über 1500 Meter unterboten hatte, jagte Cram auch dem anderen britischen Mittelstreckensuperstar Sebastian Coe einen Weltrekord ab. Denn in Oslo unterbot er auch die Bestmarke über eine Meile. Dass dies sogar im direkten Duell mit dem dabei entthronten Inhaber geschah, macht den Erfolg sogar noch ein bisschen wertvoller.

Erneut war der hochaufgeschossene Blondschopf in Gelb-Schwarz der erste Mann hinter den beiden Tempomachern. Und erneut zog er seinen langen Spurt von der Spitze. Doch diesmal kam sein Verfolger Coe nicht wie Aouita am Ende wieder näher heran, sondern musste sogar noch José Luis Gonzalez passieren lassen. Fast eineinhalb Sekunden Vorsprung hatte Cram am Ende und drückte mit seiner 3:46,32 den Weltrekord wie schon auf dem metrischen Gegenstück der Meile um rund eine Sekunde.

Als beste Leistung weltweit sollte diese Zeit acht Jahre lang stehen, bevor es 1993 dem Algerier Noureddine Morceli gelang, sie zu unterbieten, als britische Bestmarke ist sie sogar noch immer gültig. Eine weitere Woche später legte Cram sogar noch einmal nach und erzielte in Budapest auch auf der selten gelaufenen Zwei-Kilometer-Distanz mit 4:51,39 eine neue Bestmarke, sein dritter Weltrekord innerhalb von neunzehn Tagen.

Leistungsmäßig war Steve Cram in diesen Sommertagen des Jahres auf seinem absoluten Höhepunkt. Doch auch im Folgejahr schrieb er weiter an seiner Erfolgsgeschichte. Denn fast auf den Tag genau zwölf Monate nach seiner Rekordhatz sicherte es sich bei den Commonwealth Spielen in Edinburgh den Doppelsieg über 800 und 1500 Meter.

Weder Coe, der wegen Verletzung zum Finale über die zwei Stadionrunden nicht antrat und auf die lange Distanz ganz verzichtete, noch Ovett, der in der schottischen Hauptstadt über fünf Kilometer Gold gewann, hatten so etwas je geschafft. Einzig den Heroen der späten Fünfziger und frühen Sechziger Herb Elliott aus Australien und Peter Snell aus Neuseeland war ein solches Kunststücke - wenn auch zu ihrer Zeit noch über die Meile - geglückt.

Für die kurz darauf folgenden Europameisterschaften in Stuttgart plante Cram ebenso den Doppelstart. Über die 800 Meter spurteten dann drei Briten Brust an Brust um die drei zu vergebenden Medaillen. Am Ende hatte schließlich der wieder erstarkte Seb Coe die Nase vorn. Es war übrigens das einzige EM-Gold seiner Karriere. Steve Cram musste sich hinter dem Schotten Tom McKean, den er in dessen Heimat noch geschlagen hatte, mit Rang drei Vorlieb nehmen.

Doch auf "seiner" Strecke drehte Cram den Spieß um und zeigte Coe ein weiteres Mal die Hacken. Auch im Schwabenland lief der Brite dabei in seiner bekannten Manier, hielt sich während des gesamten Rennens in vorderen Positionen auf und verschärfte schon eingangs der Schlussrunde zu einem langen Spurt. Und wie üblich zog er damit das Feld weit auseinander. Coe kam auch auf der Zielgeraden nicht mehr heran und der Niederländer Han Kulker lag als Dritter schon über eine Sekunde zurück.

Seine erste große Meisterschaft ohne Medaille seit den Spielen von Moskau erlebte Cram bei der WM 1987 in Rom. Nach einem ziemlich langsamen Beginn, war sein Versuch, das Rennen wie gewohnt von der Spitze zu gewinnen, diesmal nicht von Erfolg gekrönt, da die Konkurrenz auf der Zielgeraden noch kontern konnte. So blieb dem Titelverteidiger beim Sieg von Abdi Bile aus Somalia nur Rang acht.

Und der große Traum, doch noch olympisches Gold zu holen, endete für den Mann aus Gateshead in Seoul nach einem engen Vierkampf hinter Peter Rono aus Kenia, seinem Landsmann Peter Elliott und Jens-Peter Herold nur auf Rang vier. Zum Sieg fehlten weniger als drei Zehntel, zu Bronze nur drei Hundertstel einer Sekunde.

Immer häufiger von Verletzungen geplagt hatte Steve Cram seinen letzten großen Auftritt in einem Finale bei dem EM 1990 in Split, wo er hinter Goldmedaillengewinner Jens-Peter Herold noch einmal Fünfter werden konnte. Bei den Weltmeisterschaften in Tokyo ein Jahr darauf war dann bereits im Halbfinale Schluss. Und auch in Stuttgart 1993 - die IAAF hielt ihre Weltmeisterschaft nun alle zwei Jahre ab - scheiterte er schon in der Vorschlussrunde.

Zum Ende seiner Laufbahn schien Steve Cram jenes Glück, das ihm anfangs doch so gewogen war, dann irgendwie ein wenig abhanden gekommen zu sein. Die Olympiasaison von Barcelona und damit seine wirklich letzte Chance auf den noch fehlenden Titel in der Sammlung hatte er schließlich zuvor sogar mehr oder weniger komplett sausen lassen müssen.

Man könnte trefflich darüber diskutieren, ob es vielleicht tatsächlich diese mangelnde olympische Goldmedaille ist, die dafür gesorgt hat, dass sich an Steve Cram außerhalb seines Heimatlandes - wo er im Fernsehen weiterhin als Leichtathletik-Kommentator tätig ist - kaum noch jemand erinnert, während die beiden Erzrivalen Coe und Ovett noch immer weithin bekannt, ja sogar legendär sind.

In der Summe hat Cram eigentlich mehr gewonnen als seine Landsleute. Und spätestens durch seinen Lauf unter die Traumgrenze von 3:30 sollte er eigentlich unvergessen sein. Doch trotzdem rutscht er auch wirklich Interessierten regelmäßig durch, wenn sie aus dem Kopf eine Liste mit den wichtigsten Mittelstrecklern der letzten Jahrzehnte erstellen sollen.

Um aus dem langen Schatten von Coe und Ovett heraus treten zu können, hätte sich Steve Cram zu Beginn seiner Karriere eventuell doch für ein anderes Nationaltrikot entscheiden müssen. Ob er dann allerdings auch genauso erfolgreich gewesen wäre, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt.

Das Portrait über Steve Cram zur Serie Heroes erstellte Ralf Klink
Grafik Ursula Güttsches

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