Ron Clarke

Weltklasse ohne Titel

von Ralf Klink im Juli 2020 

Vermutlich ist er einer der größten Läufer der Sportgeschichte, die nie einen bedeutenden internationalen Titel gewonnen haben. Mehr als eine olympische Bronzemedaille über 10000 Meter bei den Spielen von Tokyo im Jahr 1964 sowie vier Silbermedaillen bei den Commonwealth Games lässt sich nicht in den Listen für den Australier Ron Clarke entdecken. Selbst viele wirklich an der historischen Entwicklung dieser Sportart Interessierte kennen seinen Namen nicht mehr. Und doch war er in den Sechzigern wohl eines der prägendsten Gesichter des Langstreckenlaufens überhaupt.

Innerhalb von gerade einmal fünf Jahren knallte der Mann aus Melbourne insgesamt siebzehn Weltrekorde auf die damals noch aus Asche bestehenden Bahnen der Stadien in aller Welt. Über fünf und zehn Kilometer, aber auch über deren angelsächsischen Gegenstücke von drei und sechs Meilen. Auf eher seltene Distanzen wie zwei und zehn Meilen oder zwanzig Kilometer (auf der Bahn wohlgemerkt) steht er ebenfalls in den Rekordbüchern.

Zum ersten Mal im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit kam der 1937 geborene Clarke bereits mit neunzehn Jahren bei den Olympischen Spielen in seiner Heimatstadt. Jedoch nicht mit einem herausragenden Wettkampf. Vielmehr war er als Schlussläufer des olympischen Fackellaufes ausgewählt worden und durfte bei der Eröffnungsfeier im Melbourne Cricket Ground die Flamme entzünden.

Den olympischen Eid sprach damals der ebenfalls aus der Gastgeberstadt stammende John Landy, der als zweiter Mensch nach Roger Bannister die Meile unter vier Minuten gelaufen war und später Bronze über 1500 Meter gewinnen sollte. Clarke und Landy verbindet außer dieser Eröffnungsfeier in der gemeinsamen Heimat auch ein legendäres Meilenrennen bei den australischen Meisterschaften einige Wochen vor den Spielen.

In der dritten Runde des Laufes verlor Clarke nach einer leichten Rempelei die Balance und stürzte. Der hinter ihm laufende Landy versuchte noch auszuweichen, traf den Youngster dabei allerdings mit seinen Spikes am Arm. Während der Rest des Feldes weiterjagte stoppte Landy sofort ab, drehte sich um und ging sogar kurz zurück, um nach dem Gestürzten zu sehen und sich bei ihm zu entschuldigen.

Nachdem sich der mit einem Kratzer davon gekommene Clarke aufgerappelt hatte, setzten beide den inzwischen bereits zwanzig bis dreißig Meter enteilten Konkurrenten nach. Und während Clarke am Ende noch Fünfter wurde, konnte Landy in den verbleibenden eineinhalb Runden nicht nur wieder zur Spitze aufschließen sondern das Rennen sogar klar gewinnen. Vier Minuten und vier Sekunden zeigte die Uhr am Ende.

Sein eigener Weltrekord lag damals übrigens bei 3:58,0. Selbst wenn man das bei dieser Aktion entstandene Adrenalin außer Acht lässt, hätte Landy an diesem Tag vielleicht tatsächlich eine neue Bestmarke in den Beine gehabt, hatte sie aber ohne zu überlegen für seine sportliche Geste geopfert. Heute erinnert ein Denkmal in der Nähe des Stadions an dieses Ereignis.

Sieben Jahre später - Landy hatte seinen Rekord längst verloren und der Neuseeländer Peter Snell stand über die Meile an der Spitze - war wieder Melbourne der Schauplatz für die erste Weltbestmarke des inzwischen in die absolute Spitze aufgerückten Ron Clarke. Am 18. Dezember 1963 absolvierte er die fünfundzwanzig Runden in 28:15,6.

 

Mit diesem Weltrekord gehörte Clarke natürlich zum engsten Favoritenkreis für Olympia in Tokyo. Wie gewohnt schlug der Australier von Anfang an ein hohes Tempo an und hatte schon bei Halbzeit nur noch fünf Begleiter. Einen Kilometer vor dem Ziel konnten nur noch der Tunesier Mohammed Gammoudi und der im Rest der Welt nahezu völlig unbekannte US-Amerikaner Billy Mills mithalten. Beide waren nie zuvor unter 29 Minuten gekommen.

Und so schien für Clarke alles nach Plan zu laufen. Doch weder Gammoudi noch Mills ließen sich abschütteln. Und durch einen energischen Zielsprint setzte sich schließlich der Amerikaner mit einem neuen olympischen Rekord von 28:24,4 durch. Da er seine bisherige Bestzeit um rund fünfzig Sekunden steigern konnte, gilt dies bis heute als eine der größten Überraschungen im Langstreckenbereich. Für den spurtschwachen Ron Clarke blieb hingegen eine gute Sekunde dahinter nur Rang drei.

Mills überholt Clarke -
Foto © Archiv Olaf Brockmann

Vier Tage nach dieser Enttäuschung wurde er über die 5000 Meter in einem Lauf, bei dem der Münsteraner Harald Norpoth Silber gewann, nur Neunter. Und auch im Marathon zum Abschluss der Spiele kam der Australier beim zweiten Gold von Abebe Bikila auf dem gleichen Rang ins Ziel. Beide Rennen lief der Tempobolzer Clarke in seiner gewohnten Taktik von der Spitze. Während ihm über fünf Kilometer dann die Spritzigkeit für die Schlussrunde fehlte, mangelte es ihm im Marathon gegenüber den Spezialisten an Erfahrung.

Das Folgejahr wurde die wohl beste Saison von Ron Clarke. Gleich zu Beginn des Jahres erzielte er im Sommer der Südhalbkugel innerhalb von zwei Wochen gleich zwei Weltrekorde über 5000 Meter. Zuerst lief er in Hobart auf der Insel Tasmanien eine 13:34,8 und dann in neuseeländischen Auckland 13:33,6. Im Juni drückte er seine Marke in Compton, einem Vorort von Los Angeles noch ein weiteres Mal auf nun 13:25,8.

Und obwohl Clarke den Weltrekord Ende des Jahres an der Kenianer Kipchoge Keino (13:24,2, erneut in Auckland) verlor; holte er ihn sich im Sommer 1966 mit 13:16,6 in Stockholm zurück. Es sollte sechs Jahre dauern, bis mit Lasse Viren ein anderer Athlet schneller laufen konnte, wenn auch nur zwei Zehntelsekunden und auf inzwischen verbreiteten neuen Tartanbelag.

Am 10. Juli 1965 blieb der Australier über die knapp zweihundert Meter kürzere Distanz von drei Meilen mit 12:52,4 als erster Mensch unter der Marke von dreizehn Minuten. Wenig überraschend, dass dies in London geschah. Außerhalb des angelsächsischen Sprachraumes kann mit dieser Distanz schließlich niemand etwas anfangen. Und im Oktober steigerte er zum Ende einer langen Saison dann in Geelong, knapp hundert Kilometer südlich von Melbourne, auch noch die Weltrekorde über zwanzig Kilometer (59:22,8) und eine Stunde (20,232 km).

Doch seine sporthistorisch größte Leistung erzielte Ron Clarke wohl ohne Zweifel am 14. Juli 1965, also gerade einmal vier Tage nach seinem Rekordlauf von London bei den Bislett Games im norwegischen Oslo. An diesem relativ kühlen, aber doch etwas windigen Sommerabend hob er nämlich die zehn Kilometer auf ein vollkommen neues Niveau.

Ohne Tempomacher, schon ziemlich früh auch ohne jede Konkurrenz - es waren außer Clarke sowieso nur noch zwei weitere Läufer am Start - und einzig unterstützt von zwanzigtausend immer frenetischer werdenden norwegischen Zuschauern spulte der hochgewachsene Australier bei seinem Angriff auf den eigenen Rekord ganz alleine Runde für Runde mit einer unglaublichen Geschwindigkeit herunter.

Als er nach fünfundzwanzig Umkreisungen des Ovals das Zielband zerriss, zeigte die Uhr 27:39,4. Clarke hatte die Bestzeit regelrecht pulverisiert, war mehr als eine halbe Minute schneller gelaufen als bei seiner alten Marke. Nie zuvor und auch nicht mehr danach gab es jemals eine größere Verbesserung des Weltrekordes auf dieser Strecke.

Als erster Mensch hatte er zudem die zehn Kilometer in weniger als achtundzwanzig Minuten zurückgelegt. Und als kleines Nebenprodukt war er im Vorbeigehen eine Runde zuvor auch der Erste gewesen, der über sechs Meilen unter siebenundzwanzig Minuten geblieben war.

Erst sechs Jahre später knackte mit Dave Bedford - heute Renndirektor des London Marathon - der nächste Athlet die Achtundzwanzig-Minuten-Grenze. Und 1972 war es wie über 5000 Meter der Finne Lasse Viren, der bei seinem Olympiasieg in München Ron Clarke um eine Sekunde als Weltrekordhalter ablöste.

Bis weitere vierzig Sekunden von der Uhr genommen waren und damit die nächste Minutengrenze unterboten wurde, sollte es achtundzwanzig Jahre und acht Weltrekorde dauern. Am 10. Juli 1993 legte Yobes Ondieki dann eine 26:58,38 auf die Tartanbahn - und dies wieder bei den Bislett Games in Oslo, die durch William Sigei und Haile Gebrselassie alleine über zehn Kilometer noch zwei weitere Bestmarken erleben konnten.

Noch heute steht Clarke mit seiner Leistung übrigens auf Rang acht der ewigen australischen Bestenliste über 10000 Meter. Gerade einmal sieben seiner Landsleute waren in den nun bereits fünfundfünfzig Jahren, die seit dem historischen Lauf vergangen sind, schneller als er.

In Deutschland wäre er sogar Sechster. Und bis auf Richard Ringer, der 2018 drei Sekunden unter der Marke des Australiers blieb, stammen dabei alle anderen Ergebnisse ebenfalls noch aus dem letzten Jahrhundert. Auch die nationale Bestmarke von Dieter Baumann ist mit 27:21,53 keineswegs in völlig anderen Zeitregionen als Clarkes Rekord zu finden.

Doch was dem mit Abstand schnellsten Langstreckler seiner Generation weiterhin fehlte, war der große Titel. Denn ein Jahr nach seinem Rekordrennen musste er sich bei den Commonwealth Games im tropischen Jamaika über drei Meilen Kipchoge Keino und über die doppelte Distanz dessen Teamkollegen Naftali Temu geschlagen geben.

Und auch bei den Olympischen Spielen 1968 spielten die Umstände dem Australier keineswegs in die Karten. Schließlich fanden diese in Mexico auf einer Höhe von weit über zweitausend Metern statt. Während dies den Sprintern und Springern - man denke nur an den Rekordsatz von Bob Beamon - absolut entgegen kam, blieb den Läufern auf den langen Distanzen in dieser Höhe regelrecht die Luft weg.

Ein Nachteil für den auf Meeresniveau aufgewachsenen Mann aus Melbourne, ein großer Vorteil für die Sportler aus dem afrikanischen Hochland. Nachdem in Rom und Tokyo Abebe Bikila auf der Straße bereits die ersten Goldmedaillen nach Ostafrika geholt hatte, zeigten jene beiden Länder, die inzwischen die Laufwelt weitgehend dominieren - also Kenia und Äthiopien - auch auf der Bahn endgültig ihr Potential.

Die Höhenlage Mexicos sorgte über die wie üblich zuerst gelaufenen 10000 Metern für ein regelrechtes Bummelrennen mit Kilometerzeiten um die drei Minuten. Erst auf den letzten beiden Kilometern wurde das Tempo deutlich erhöht, was das Feld ziemlich schnell auseinander platzen ließ. Eine Vierergruppe ging an der Spitze gemeinsam in die entscheidende Phase.

 

Neben dem Weltrekordler waren mit Mohamed Gammoudi und Naftali Temu zwei Läufer, die ihn bereits bei vorherigen Titelkämpfen besiegt hatten, dabei. Der Vierte im Bunde war der Äthiopier Mamo Wolde. Als die beiden Ostafrikaner das Tempo auf der letzten Runde noch weiter verschärften, musste Clarke endgültig abreißen lassen. Und auch Gammoudi konnte nicht mehr mitgehen.

Im Spurt setze sich schließlich der Kenianer Temu gegen den Äthioper durch und gewann damit die erste olympische Goldmedaille für sein Land. Trotz eines schnellen letzten Kilometers wurden für den Sieger gerade einmal 29:27,4 gestoppt. Der um wenige Zehntel unterlegene Mamo Wolde sollte allerdings am Ende ebenfalls noch mit einer Goldmedaille nach Hause fahren. Denn er gewann später den Marathon der Spiele von Mexico. Auf Platz drei lief mit sechs Sekunden Rückstand der Tunesier Gammoudi ein.

10000m Olympische Spiele Tokio 1964: Gamoudi bedrängt Mills, rechts Clarke
Foto © Archiv Olaf Brockmann

Und der Weltrekordler Ron Clarke? Der torkelte völlig erschöpft als Sechste über die Linie. Er war auf der Schlussrunde noch vom Mexikaner Juan Martínez und dem Russen Nikolai Swiridow überholt worden. Im Ziel kollabierte der Australier dann endgültig und musste von seinem Mannschaftsarzt mit Flaschen-Sauerstoff behandelt werden, um wieder das Bewusstsein zu erlangen. Später gab Clarke zu Protokoll, dass er an die Schlussphase dieses Wettkampfes nicht mehr die geringsten Erinnerungen habe.

Dennoch stand er gerade einmal vierundzwanzig Stunden darauf schon wieder an Startlinie für seinen Vorlauf über 5000 Meter, den er dann doch tatsächlich als Zweiter hinter den Neu-Olympiasieger Temu beendete. Das Finale zwei Tage später verlief anfangs ähnlich ruhig wie das Rennen über die doppelt so lange Distanz.

Zwei Runden vor Schluss verschärfte Mohamed Gammoudi energisch das Tempo. Und erzeugte damit eine Spitzengruppe, die fast die gleiche Besetzung hatte wie über 10000 Meter. Mit dem Tunesier konnten nämlich nur noch Clarke, Temu und der Mexikaner Martínez mitgehen. Nur war als Fünfter Kipchoge Keino anstelle von Mamo Wolde, der auf den Fünfer verzichtete, um sich für den Marathon zu schonen, dabei.

Als es in die Entscheidung ging, machte sich wieder einmal das mangelnde Spurtvermögen von Ron Clarke bemerkbar. Denn während Gammoudi das Rennen mit einem langen Sprint von der Spitze in 14:05,0 knapp vor Keino - später noch Olympiasieger über 1500 Meter - und Temu nach Hause lief, verlor der Australier den Anschluss und kam mit sieben Sekunden Verspätung nur als Letzter des Führungsquintetts ins Ziel. Erneut blieb der amtierende Weltrekordmann also ohne Medaille.

Und auch bei seinem letzen internationalen Großereignis, den Commonwealth Spielen von 1970 im schottischen Edinburgh blieb ihm der oberste Platz auf dem Treppchen verwehrt. Über zehn Kilometer schnappte ihm der Schotte Lachie Stewart den Sieg weg, doch immerhin reichte es noch für Silber. Auf der halb so langen Strecke musste Clarke sich hingegen wieder einmal mit Platz fünf begnügen. Mit gerade einmal dreiunddreißig Jahren beendete Ron Clarke danach seine sportliche Karriere.

Später wurde er ein erfolgreicher Geschäftsmann und Politiker. Er betrieb eine große Ferienanlage an der Gold Coast im nördlichen Bundesstat Queensland. Und wurde in seiner neuen Heimat schließlich sogar zum Bürgermeister gewählt. Zwischen 2004 und 2012 stand der einstige Weltklasseläufer der zur Großstadt herangewachsenen Urlaubsregion vor. Fast genau fünfzig Jahre nach seinem größten Rennen starb Clarke im Juni 2015 im Alter von achtundsiebzig an Nierenversagen.

Eine olympische Goldmedaille hat er übrigens am Ende doch noch erhalten. Bei einer Begegnung mit seinem Idol Emil Zatopek gab ihm der Tscheche - bereits 1966 - ein kleines Päckchen mit der Vorgabe, dieses erst zu Hause zu öffnen. Es enthielt eine von Zatopeks vier goldenen Trophäen mit der Widmung: "Nicht aus Freundschaft, sondern weil du es verdienst".

Das Portrait über Ron Clarke zur Serie Heroes erstellte Ralf Klink
Grafik Ursula Güttsches - Fotos Archiv Olaf Brockmann

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