Waldemar Cierpinski

Einer von zweien

von Ralf Klink am 1. August 2020 

Geht es darum, in der Historie Olympischer Spiele interessante Geschichten, große Dramen, bedeutende Sieger, tragische Helden, herausragende Sportler zu finden, ist ein Blick auf den jeweiligen Marathon meist nicht die schlechteste gute Idee. Nicht nur, dass es sich um eine der traditionsreichsten Disziplinen überhaupt handelt, spielt dabei eine Rolle. Auch die für die meisten Betrachter nahezu unvorstellbare Distanz macht Marathonläufer und insbesondere Marathonolympiasieger zu etwas Besonderem.

Schon der allererste von ihnen Spiridon Louis wurde 1896 als einziger griechischer Sieger bei den ersten Spielen von Athen in seiner Heimat fast zum Nationalhelden. Sein Vorname diente und dient der Laufbewegung auch über Griechenland hinaus manchmal sogar ganz allgemein als Symbol für lange Distanzen. Vereine, Veranstaltungen, Zeitschriften wurden nach ihm benannt.

Auch der Italiener Dorando Pietri ist eine prägende Persönlichkeit für den Marathonsport - dabei wurde er nicht einmal Olympiasieger. Er gehört eher in die Kategorien "tragische Helden" und "große Dramen". Obwohl Pietri 1908 in London als Erster das Ziel erreichte, wurde er danach disqualifiziert, weil er zuvor zusammengebrochen war und von Helfern über die Linie geführt wurde. Zum Sieger erklärte man den US-Amerikaner John Hayes.

In der Folge wurden "Revanche-Rennen" zwischen Pietri und Hayes über die exakt gleichen 42,195 km, die in London erstmals gelaufen worden waren und sich ursprünglich eigentlich eher zufällig ergeben hatten, organisiert. Und nach und nach setzte sich diese krumme Distanz dann als offizielle Streckenlänge für den anfangs nicht genormten sondern einzig und allein ungefähr vierzig Kilometer betragenden Marathon durch.

Da gibt es den Argentinier Juan Carlos Zabala, der 1932 in Los Angeles mit gerade einmal zwanzig Jahren der bisher jüngste Marathonolympiasieger wurde. Sechzehn Jahre später gewann mit Delfo Cabrera sogar noch ein zweiter Sportler aus diesem heute wahrlich nicht mehr als Läuferhochburg bekannten Land olympisches Gold über diese Distanz.

Oder man erwähnt den 1936 in Berlin siegreichen Koreaner Sohn Kee-chung, der sich in vielen Listen aber trotzdem nicht finden lässt. Denn er konnte nicht für sein - zu jener Zeit nicht unabhängiges - Heimatland antreten sondern musste für die Besatzungsmacht Japan starten. Sogar sein Name wurde dabei japanisiert. Deswegen wird er dann auch meist unter "Son Kitei" bzw. in der westlichen Anordnung mit dem Vornamen zuerst und dem Familiennamen am Ende als "Kitei Son" geführt.

Dass Emil Zátopek in diese Aufzählung gehört, dürfte ziemlich unstrittig sein. Mit drei Langstreckengoldmedaillen über fünf und zehn Kilometer sowie dem Marathon innerhalb einer Woche machte er sich 1952 bei den Spielen von Helsinki endgültig zur Sport-Legende.

Abgesehen vom in der Nähe von Athen auf die Welt gekommenen Spiridon Louis gibt es nur einen einzigen Marathonolympiasieger der in seiner Geburtsstadt Gold gewann. Nur sieht man dies bei Frank Shorter und München nun wirklich nicht auf den ersten Blick. Der kleine Frank erblickte jedoch tatsächlich als Sohn eines US-Soldaten in der bayerischen Hauptstadt das Licht der Welt.

Wie sein Landsmann John Hayes wurde er Olympiasieger ohne als Erster die Ziellinie zu überqueren und dafür entsprechend gefeiert werden zu können. Denn ein sechzehnjähriger Schüler hatte sich zuvor mit einer selbstgebastelten Startnummer auf die Strecke geschmuggelt, war ins Stadion eingelaufen und hatte als vermeintlicher Sieger den Jubel des Publikums absorbiert.

Der Zufall will es, dass auch der dritte amerikanische Goldmedaillengewinner Thomas Hicks dieses Schicksal teilt. Denn ihm kam 1904 in St. Louis sein Konkurrent Frederick Lorz zuvor, der sich unterwegs ein ganzes Stück von einem Auto hatte mitnehmen lassen. Ein Jahr später zeigte Lorz mit einem regulären Sieg in Boston allerdings noch, dass er nicht nur ein Schummler sondern tatsächlich ein guter Läufer war.

Ebenfalls eher unglücklich ist die Geschichte von Vanderlei de Lima aus Brasilien, der in Athen als Führender des olympischen Marathons 2004 fünf Kilometer vor dem Ziel von einem Zuschauer von der Strecke gezerrt wurde und dadurch seinen Rhythmus verlor.

Wenig später zogen der spätere Sieger Stefano Baldini aus Italien und Meb Keflezighi an ihm vorbei. Immerhin sicherte sich da Lima noch Bronze. Und zwölf Jahre später wurde ihm die Ehre zuteil, bei den Spielen von Rio de Janeiro das olympische Feuer zu entzünden.

Es gibt Hwang Young-cho, der 1992 in Barcelona nun wirklich für Korea Olympiasieger wurde und dabei ausgerechnet einen Japaner auf den zweiten Platz verwies. Da wäre Josia Thugwane, der vier Jahre später in Atlanta als erster Schwarzer überhaupt eine Goldmedaille für Südafrika holte. Mit Ken McArthur steht für 1912 allerdings Anfang des Jahrhunderts bereits ein Landsmann hellerer Hautfarbe in der Auflistung.

In jenem Jahr nahm Portugal erstmals an Olympischen Spielen teil. Doch bis zum ersten Gold musste das Land ganz im Südwesten Europas bis 1984 warten, als Carlos Lopes den Marathon gewann. Mit 37 Jahren ist er als ältester Sieger zudem auch das Gegenstück zu Juan Carlos Zabala.

Alle Genannten haben gemein, dass sie nur ein einziges Mal olympisches Marathongold gewinnen konnten. Und bis auf Emil Zátopek konnte bisher auch nur der 1920 erfolgreiche Finne Hannes Kohlemainen in einer anderen Disziplin Olympiasieger werden - im Gegensatz zum Tschechen allerdings bei zwei verschiedenen Spielen.

Doppelolympiasieger im Marathon sind wahrlich dünn gesät. Es gibt nämlich genau zwei. Einer davon ist Abebe Bikila, der 1960 barfuß in Rom und 1964 mit Schuhen in Tokyo gewann. Mit seinen Erfolgen brachte er Äthiopien auf die Landkarte des Sports und legte andererseits auch die Basis für eine sportliche Entwicklung, die seine Heimat zum neben Kenia wichtigsten Läuferland machte.

Und im Gegensatz zum Nachbarn im Süden, für den durchaus auch schon einmal Boxer, Langsprinter oder Speerwerfer erfolgreich sind, wurden tatsächlich alle olympischen Medaillen Äthiopiens ausschließlich im Langstreckenbereich der Leichtathletik gewonnen.

 

Der zweite Doppelolympiasieger heißt Waldemar Cierpinski und kommt aus Halle. Sein erster Erfolg liegt nun fast auf den Tag genau vierundvierzig Jahre zurück, seit dem zweiten sind beinahe exakt vier Jahrzehnte vergangen. Und da er wenige Tage nach dem Jahrestag auch noch siebzig wird, kann man den einzigen deutschen Herren, der überhaupt je einen großen internationalen Marathontitel - und das dann sogar gleich doppelt - holte, ja durchaus einmal ein paar Zeilen widmen.

Cierpinski wuchs im heute zur Stadt Nienburg gehörenden Dörfchen Jesar auf und kam, nachdem man sein großes Ausdauertalent erkannt hatte, als Jugendlicher in die Kaderschmiede der Kinder- und Jugendsportschule von Halle - heute ein Sportgymnasium. Schon damals sei Abebe Bikila sein großes Vorbild gewesen, gibt er immer wieder gerne zu Protokoll. Dessen barfuß erzielter Olympiasieg von Rom habe in ihm dem Wunsch geweckt, es ihm gleich zu tun.

Auch nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn ist Waldemar Cierpinski dem Sport eng verbunden geblieben. 2005 kurz vor dem Start des Volksbank Münster Marathon gab´s Motivation vom Meister

Doch Marathon war erst einmal kein Thema, zuerst einmal wurde Cierpinski in der Langstreckengruppe des SC Chemie Halle auf die Bahn geschickt. Neben den flachen Strecken startete er anfangs auch über 3000 Meter Hindernis. Selbst wenn er in der DDR dabei in beiden Disziplinen durchaus zur absoluten Spitze gehörte und 1972 sogar Hindernismeister wurde, konnte er sich international weder in der einen noch in der anderen wirklich durchsetzen.

Im Oktober 1974 trat der Vierundzwanzigjährige dann beim traditionsreichen Marathon von Košice in der damals noch vereinten Tschechoslowakei an. Schon damals hatte der älteste noch immer regelmäßig ausgetragene Marathon Europas eine fünfzigjährige Geschichte, inzwischen nähert sich das Rennen in der östlichen Slowakei seinem hundertsten Geburtstag.

Knapp hinter dem Briten Keith Angus und dem zwar noch ein Jahr jüngeren, aber mit bereits rund einem Dutzend Marathons in den Beinen deutlich erfahreneren Thüringer Hans-Joachim Truppel würde der Debütant in 2:20:28 gleich einmal Dritter. Dies war zwar noch kein Sensationserfolg, aber Cierpinski hatte sich damit zumindest ein weiteres sportliches Standbein geschaffen.

Zunächst wurde er aber wieder zurück zu den kürzeren Strecken beordert, lief im Winter 1974/1975 Cross und im darauf folgenden Sommer erneut auf der Bahn. Erst ein Jahr nach seinem ersten Marathon trat er in Košice ein weiteres Mal in einem Wettkampf über 42,195 Kilometer an.

Mit 2:17:30 war Cierpinski dabei deutlich schneller als zwölf Monate zuvor. Und die Reihenfolge des letzten Einlaufes kehrte sich zwar ebenfalls um, denn der Hallenser kam diesmal mit fast identischen Zeitabständen vor seinen damaligen Konkurrenten Truppel und Angus ins Ziel.

Doch die Gesamtplatzierung fiel am Ende mit Rang sieben trotzdem schlechter aus. Alleine vier Läufer aus Nordkorea waren an diesem Tag nämlich schneller als Cierpinski. Die Positionen auf dem Treppchen machten die Sportler aus der fernöstlichen Familiendiktatur sogar völlig unter sich aus.

Da weder über 3000 Meter Hindernis noch über 10.000 Meter eine Nominierung realistisch schien, setzte Cierpinski gemeinsam mit seinem Trainer Walter Schmidt im Olympiajahr 1976 dann vollständig auf die Karte Marathon. Schließlich wollte er es zumindest seiner Frau gleichtun. Schon seit 1973 war der Hallenser nämlich mit der gleichaltrigen Mittelstrecklerin Maritta Politz verheiratet, die in München über 800 Meter am Start war, dort aber bereits im Vorlauf ausgeschieden war.

Im April lief der Hallenser im damaligen Karl-Marx-Stadt, das den von der SED verordneten Namen längst wieder abgeschüttelt hat und heute wie zuvor Chemnitz heißt, zu seinem ersten Sieg auf dieser Distanz und steigerte sich zudem erneut deutlich auf nun 2:13:57. Zweiter hinter Cierpinski wurde in 2:14:13 Günther Mielke, der als einziger Läufer aus dem Westteil des geteilten Deutschland im Süden von Sachsen am Start war.

Während Mielke damit seine Olympianominierung für den DLV in der Tasche hatte, musste Waldemar Cierpinski sechs Wochen später genau wie sein Clubkollege Bernd Arnhold und der Magdeburger Jürgen Eberding, die Dritter und Vierter geworden waren, in Wittenberg zu einem weiteren Ausscheidungsrennen über die volle Distanz antreten.

Gerade einmal sechs Teilnehmer waren dort am Start. Denn im elitären Sportsystem des Ostens gab es eine recht klare Trennung zwischen den sorgsam ausgewählten und professionell betreuten Athleten der Sportclubs, die international mit ihren Medaillen die Überlegenheit des Sozialismus zeigen sollten und dafür Privilegien wie die Möglichkeit zu Auslandreisen erhielten, und den Sportlern aus den Betriebssportgemeinschaften.

Im Westen waren spätestens durch die genau zu jener Zeit entstehende Laufbewegung die Grenzen hingegen schon deutlich fließender. Spitzen- und Breitensport vermischten sich. Nicht nur der von vorne herein als Volkslauf konzipierte Schwarzwaldmarathon sondern ebenso Rennen wie Boston, wo ein Spitzenfeld aus der absoluten Weltklasse am Start stand, warteten bereits mit vierstelligen Teilnehmerzahlen auf.

Auch den Lauf in Wittenberg konnte Waldemar Cierpinski für sich entscheiden. Und wieder lief er dabei eine persönliche Bestzeit, denn die Zeitmesser durften für ihn eine 2:12:21 notieren. Erst knapp eineinhalb Minuten danach kam mit Hans-Joachim Truppel der Zweite ins Ziel. Den Platz im Aufgebot für die Olympischen Spiele von Montréal hatte sich der Hallenser damit eindrucksvoll sichert.

Doch auch diesmal war die Zeit für einen vernünftigen Neuaufbau der Form ziemlich knapp. Denn fast auf den Tag genau zwei Monate nach dem Qualifikationsrennen stand am 31. Juli das bereits der Olympiamarathon in der frankokanadischen Metropole auf dem Programm.

Mehr als zehnmal so groß als in Wittenberg war das Starterfeld, das sich am späten Nachmittag auf der Laufbahn des Olympiastadions versammelte, um nach zwei Runden auf der Tartanbahn eine große Schleife in der Stadt zu absolvieren. Neben Frank Shorter, der vier Jahre zuvor in München mit Gold dekoriert worden war, stand auch Lasse Virén aus Finnland an der Linie, der in Montréal zum zweiten Mal in Folge das olympische Double über fünf und zehn Kilometer gewonnen hat.

Nun wollte er es Emil Zátopek gleich tun und mit drei goldenen Medaillen nach Hause fahren. Der Tscheche hatte allerdings bei seinem Triumph von Helsinki drei Tage zur Regeneration gehabt. Virén hatte dagegen weit weniger Zeit zur Vorbereitung auf die längste Distanz. Denn nur vierundzwanzig Stunden vor seinem ersten Marathonwettkampf hatte der Finne über die 5000 Meter gesiegt.

Das Tempo war - durchaus ungewöhnlich für ein Meisterschaftsrennen - von Anfang an hoch. In 30:48 wurde Kilometer zehn passiert. Man ging also auf eine Endzeit um oder gar knapp unter 2:10 an - wohlgemerkt in einer Epoche, in der gerade einmal eine Handvoll Läufer diese Marke überhaupt jemals unterboten hatte.

Einer von ihnen, Bill Rodgers, der diese Grenze bei seinem Heimrennen in Boston im Jahr zuvor durchbrechen konnte, gehörte zur etwa zwanzigköpfigen Kopfgruppe, die sich nach etwa einem Viertel der Strecke formiert hatte. Neben Rodgers, der in den späten Siebzigern je viermal in Boston und New York gewinnen konnte, zeigten sich auch Shorter und Virén immer wieder an der Spitze.

Mit den dem kanadischen Lokalmatadoren Jerome Drayton und dem Australier David Chettle waren weitere Läufer aus den besten zehn der ewigen Weltbestenliste dabei. Den Belgier Karel Lismot, Europameister 1971 und Silbermedaillengewinner 1972, musste man ebenfalls auf dem Zettel haben. Und auch der später als Leichtathletik-Manager bekannte Jos Hermens aus den Niederlanden, hatte sich mit wilder Lockenpracht und imposantem Bart noch im Führungspulk festgebissen.

Nicht aufgezählt werden können Sportler aus Afrika - selbst wenn zu jener Zeit eigentlich nur die Äthiopier im Marathon zu beachten waren und Kenia seine Stärken noch nahezu ausschließlich auf der Bahn hatte. Doch praktisch der komplette Kontinent boykottierte die Spiele von Montréal, weil man den Ausschluss des neuseeländischen Teams erzwingen wollte.

Deren Rugby-Nationalteam, die All Blacks, hatte nämlich im Juni eine Tour durch das damals wegen der Apartheid-Politik international geächtete Südafrika begonnen und nicht nur gegen regionale Teams gespielt sondern war auch gegen ihre alten Rivalen, die Spingboks angetreten. Da Rugby allerdings nicht zu den olympischen Sportarten gehörte, hatte das IOC keine Handhabe.

Schon vor der Halbzeitmarke hatte sich die Gruppe angesichts des weiter extrem hohen Tempos halbiert. Nicht nur Hermens, später nur Fünfundzwanzigster, sondern auch der später aussteigende Chettle waren bereits zurück gefallen. Dafür hielten sich in der Szene weitgehend Unbekannte wie der Inder Shivnath Singh und eben Waldemar Cierpinski bei beständigen Regen weiter vorne.

Doch als Shorter beim Anstieg zum Mont Royal, jenem Hügel dem die Stadt ihren Namen verdankt, eine Attacke lancierte, waren es ausgerechnet diese beiden, die am energischsten Widerstand leisteten. Der Versuch des Inders, dessen Landesrekord inzwischen mehr als vier Jahrzehnte überdauert hat, dem Ausreißer nachzusetzen, wurde am Ende nicht wirklich belohnt und endete auf Rang elf.

Was aber immerhin noch deutlich besser war als die Platzierung von "Boston Billy" Rodgers, der in der ersten Hälfte hauptsächlich für das Tempo verantwortlich war. Mit muskulären Problemen wurde der Mann aus Neu-England noch bis auf Platz vierzig durchgereicht. Lasse Virén musste ebenfalls beißen und kämpfte sich aber immerhin als Fünfter ins Ziel.

Cierpinski wich Shorter allerdings nicht von der Seite und ging jeden Tempowechsel des Amerikaners mit. Dieser kannte den Hallenser nicht wirklich - selbst wenn die beiden schon einmal bei der Cross-WM 1975 gegeneinander angetreten waren. Und dass Cierpinski in einem neutralen weißen Trikot ohne Schriftzug oder Wappen lief, machte ihm die Zuordnung seines Begleiters noch schwerer.

In seinen Memoiren schrieb Shorter später, er habe lange geglaubt, den amtierenden Crosslauf-Weltmeister Carlos Lopes aus Portugal neben sich zu haben, der eine Woche zuvor über 10.000 Meter Silber gewonnen hatte und auch für den Marathon gemeldet war, aber dann doch nicht antrat.

Tatsächlich ließen sich auf Fotos aus jenen Jahren bei oberflächlichem Blick gewisse Ähnlichkeiten in Statur und Frisur zwischen den beiden entdecken. Und ganz so falsch lag Shorter hinsichtlich der Fähigkeiten des Portugiesen auf der Straße ja auch nicht. Nur sollte es eben noch acht Jahre dauern, bis Lopes in Los Angeles zum Olympiasieg lief.

Nachdem sich die beiden Läufer an der Spitze kilometerlang mit wechselseitigen Antritten zu zermürben versuchten, gelang es schließlich Waldemar Cierpinski an einem Gefälleabschnitt bei der McGill Universität nach ungefähr 35 Kilometern eine kleine Lücke zu reißen. Und auf der langen Gerade aus dem Stadtzentrum zurück zum Olympiastadion wurde sie immer größer. Der Vorsprung wuchs schließlich auf fast eine Minute an.

Als Frank Shorter das Oval durch das Marathontor betrat, war Cierpinski bereits auf der Gegengerade und hatte nur noch gut zweihundert Meter zu laufen. Doch anstatt nach der Zielpassage seine Goldmedaille zu bejubeln, spurtete der Hallenser aufgrund eines Missverständnisses mit dem Kampfrichtern noch eine zweite Runde um die Tartanbahn.

Shorter hingegen wusste wo das Ziel war, ließ es nach einer Umrundung des Rasens gut sein und wartete auf den neuen Olympiasieger, um ihm direkt nach dem Einlauf zu gratulieren. Dass der Silbermedaillengewinner zuerst im Ziel steht und dort den eigentlichen Ersten empfängt, gehört sicher auch zu den vielen ungewöhnlichen Geschichten in der olympischen Marathonhistorie.

Ohne die überflüssige Runde hatte Cierpinski als sechster Läufer überhaupt die Marke von 2:10 unterboten und mit 2:09:55 einen neuen olympischen Rekord erzielt. Innerhalb von nicht einmal zehn Monaten hatte er sich um kaum glaubliche siebeneinhalb Minuten verbessert. Shorter wurde mit 2:10:46 gestoppt und blieb damit nur wenige Sekunden über seiner Bestzeit.

Und der drittplatzierte Karel Lismont und der Vierte Don Kardong aus den USA liefen an diesem verregneten Abend in einem spannenden Duell um den letzten freien Treppchenplatz, das der Belgier schließlich mit 2:11:13 zu 2:11:16 knapp für sich entscheiden konnte, ebenfalls so schnell wie nie zuvor in ihrem Leben - und auch nie mehr danach.

Zu Hause wurde der Überraschungsolympiasieger natürlich entsprechend empfangen. Das SED-Regime verlieh ihm den Vaterländischer Verdienstorden in Silber. Dessen goldene Variante folgte dann vier Jahre später nach dem Erfolg in Moskau. Und selbst wenn es mit heutigen Maßstäben natürlich nicht vergleichbar ist, lohnte sich die Goldmedaille für den Hallenser auch finanziell ein wenig. Die staatliche Siegprämie investierte Cierpinski in einen neuen Trabant.

Den vierten und letzten Marathon des Jahres lief Waldemar Cierpinski dann im Dezember im japanischen Fukuoka - ein Klassiker, der schon damals seine dreißigste Auflage erlebte und auch heute noch als reiner Elitelauf für Männer ausgetragen wird. Zum ersten Mal stand er dabei nicht ganz oben. Beim Sieg des Kanadiers Jerome Drayton bleib ihm nach 2:14:56 Platz drei.

Im Jahr darauf machte sich der Olympiasieger eher rar, wurde Zweiter bei der DDR-Meisterschaft über 10.000 Meter und startete im Herbst ein weiteres Mal in Košice. Wieder reichte es nicht zum ersten Platz. Hinter zwei Nordkoreanern wurde er in 2:16:01 Dritter. Bei insgesamt fünf Starts in der Slowakei bleib zweimal Rang drei die beste Platzierung für Cierpinski. Den Erfolg in Košice hat ihm sein Idol Abebe Bikila, der den Lauf 1961 gewann, noch eindeutig voraus.

Nach einer meisterschaftsfreien Saison standen 1978 mit der EM in Prag wieder internationale Titelkämpfe auf dem leichtathletischen Wettkampfkalender. Und erneut absolvierte Cierpinski, vollkommen entgegen den heute üblichen Ansätzen zu Vorbereitung und Periodisierung vor großen Rennen, drei Marathons innerhalb von vier Monaten.

Schon im Mai siegte er in Prag. Doch war dies eben leider noch nicht der Europameisterschaftslauf sondern der jährlich ausgetragene Prag Marathon, den er in 2:14:51 vor drei weiteren DDR-Läufern - nämlich Jürgen Eberding, Martin Schröder und Hans-Joachim Truppel - für sich entscheiden konnte. Keine sieben Wochen später traf er bei den eigenen Meisterschaften erneut auf Eberding und Truppel. Und in fast identischer Zeit von 2:14:58 siegte Cierpinski ein weiteres Mal und wurde wie die beiden anderen für Prag nominiert.

Im Gegensatz zu zwei Jahren zuvor wurde es für Waldemar Cierpinski dann aber zum Saisonhöhepunkt nichts mit dem dritten Marathonsieg in direkter Folge. Nach einem neunzehnten Platz über 10.000 Meter zum Auswärmen lief der Hallenser Anfang September in seiner Spezialdisziplin nach 2:12:20 als Vierter knapp an einer Medaille vorbei. Zwölf Sekunden zuvor ging sie wieder an Karel Lismont.

Zu Gold und Silber liefen in 2:11:58 und 2:11:59 nach hartem Zweikampf ein wenig unerwartet Leonid Mossejew und Nikolai Penzin. Denn während Cierpinski in Montréal der große Unbekannte war, zählte er als Olympiasieger diesmal natürlich zum engsten Favoritenkreis. Mossejew hatte dagegen kaum jemand ganz oben auf dem Zettel. Völlig aus dem Nichts kann der neue russische Europameister dann aber auch wieder nicht. Immerhin war er beim Olympiamarathon Siebter gewesen.

Mit dem Start in Fukuoka im Dezember lehnte sich Waldemar Cierpinski ebenfalls noch einmal an das Olympiajahr an. Doch der Saisonabschluss verlief mit einem zweiunddreißigsten Platz in 2:22:49 fast zwölf Minuten hinter Sieger Toshihiko Seko nicht wirklich erfolgreich.

Im Folgejahr gab es wieder keine internationalen Großereignisse. Und Cierpinski machte sich wieder eher rar. Neben seinem ersten DDR-Titel über 10.000 Meter war der erneute Sieg im Karl-Marx-Stadt-Marathon nach 2:15:50 der größte Erfolg und der einzige beendete Lauf über die längste olympische Distanz. Denn bei seinem dritten Start im fernen Japan stand in Fukuoka diesmal ein DNF für den Hallenser in der Liste.

Im Olympiajahr 1980 war Waldemar Cierpsinki dann aber wieder in Topform und lief Anfang Mai bei seinem dritten Erfolg beim Karl-Marx-Stadt-Marathon mit 2:11:17 sein bisher zweitschnellstes Rennen über 42,195 Kilometer. Mitte Juli verteidigte er zwei Wochen vor dem olympischen Marathon von Moskau, der für den 1. August angesetzt war, in Cottbus dann noch seinen Titel über zehn Kilometer.

Wie in Montréal war auch in Moskau nicht die komplette Weltelite am Start. Hatten in Kanada fast alle Afrikaner gefehlt, boykottierten wegen des Einmarsches der Roten Armee in Afghanistan diesmal neben den USA und der Bundesrepublik Deutschland unter anderem auch Kanada und Japan die Spiele. Zudem nahmen auch viele afrikanische Nationen erneut nicht teil, womit insbesondere in Kenia eine ganze Läufergeneration ohne Chance auf olympisches Edelmetall bleiben musste.

Das erneute Duell mit Frank Shorter fiel also definitiv aus. Allerdings war der Amerikaner zu jener Zeit auch längst nicht mehr in der Form der frühen Siebziger. Doch der seit Herbst 1977 bei den Marathons von New York und Boston ungeschlagene Bill Rodgers wäre sicher ein Kandidat für Edelmetall gewesen.

Und auch Toshihiko Seko, den mehrfachen Sieger von Fukuoka, und Shigeru So, der schon über mehrere Jahre konstant Ergebnisse zwischen 2:09 und 2:12 ablieferte, sowie dessen kaum langsameren Zwillingsbruder Takeshi hätte man vermutlich auf der Rechnung haben müssen.

Immerhin war mit dem Niederländer Gerard Nijboer der Weltjahresbeste dabei. Er hatte im Frühjahr in Amsterdam mit 2:09:01 die zweitbeste Leistung aller Zeiten erzielt. Wieder am Start stand zudem Lasse Virén, der einige Tage zuvor versucht hatte, dreimal in Folge Gold über zehn Kilometer zu gewinnen, beim Sieg von Miruts Yifter aus Äthiopien im Spurt einer fünfköpfigen Spitzengruppe aber nur Fünfter geworden war.

Nicht wirklich überraschen konnte, dass Europameister Leonid Mossejew in seiner Heimat um Medaillen kämpfen wollte. Und Dauerbrenner Karel Lismont - zwischen seinem EM-Titel von 1971 und der Bronzemedaille bei den europäische Titelkämpfen 1982 lagen immerhin elf Jahre - war wie stets auch in Moskau wieder zu den Anwärtern auf eine Medaille zu zählen.

Doch zuerst einmal übernahm an diesem heißen und sonnigen Tag der zweiundzwanzigjährige Vladimir Kotov das Kommando und setzte sich noch im Stadion einige Meter vom Rest des Feldes ab. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks tingelte er später etliche Jahre durch die Marathons der Welt, war immer für Platzierungen aber eher selten für Siege gut.

Das änderte sich, als er zur Jahrtausendwende erstmals bei Ultraläufen in Südafrika antrat. Denn gleich dreimal - nämlich 2000, 2002 und 2004 - konnte er den traditionsreichen Comrades Marathon gewinnen, das letzte Mal im stolzen Alter von sechsundvierzig Jahren. Dabei blieb er dann auch endgültig an der Südspitze Afrikas hängen und betreibt jetzt seit vielen Jahren einen Laufladen in Kapstadt.

Der vielleicht eher auf Publikum und Kameras zielende Ausreißversuch war jedoch schnell beendet und Kotov reihte sich wieder ins Feld ein, das anschließend angesichts der Temperaturen lange zusammen blieb. Doch wirklich langsam war das Tempo dennoch nicht. Und die Sommerhitze sorgte in der Folge dafür, dass fast ein Drittel der Gemeldeten nicht ins Ziel kam. Prominentester Aussteiger war der vierfache Olympiasieger Lasse Virén.

Erst nach an der Halbzeitmarke des größtenteils am Fluss Moskwa entlang führenden Wendepunktkurses kam auf dem Rückweg zum Olympiastadion wirklich Bewegung in die Sache. Der Mexikaner Rodolfo Gómez hatte die Initiative ergriffen und sich ein ganzes Stück von einer Verfolgergruppe abgesetzt, in der sich neben Cierpinski und Nijboer auch die drei einheimischen Starter Kotov, Mossejew und Satymkul Dschumanasarow befanden.

Mehr als zehn Kilometer lief der Mann aus Mexiko an der Spitze, bevor sich die Gruppe auf Höhe des Kremls wieder langsam von hinten näherte. Genau in diesem Moment trat Nijboer an, flog an Gomés heran und an ihm vorbei und übernahm nun selbst die Spitzenposition. Cierpinski - diesmal in einem blauen Trikot mit DDR-Wappen laufend - setzte energisch nach, lief zum Niederländer auf und blieb gar nicht lange bei ihm sondern ging seinerseits alleine in Führung.

Der Hallenser machte weiter Druck und absolvierte die letzten fünf Kilometer zum Stadion in einem Tempo unter drei Minuten pro Kilometer als Solist. Nijboer fiel dagegen erst einmal zurück in die schon ein wenig zerfledderte Gruppe der Verfolger. So groß wie in Montréal wurde die Lücke allerdings nie. Nur etwa eine Viertelminute betrug nach knapp vierzig Kilometern der Vorsprung auf Nijboer, Mossejew und Dschumanasarow, die Kotov und Gómez inzwischen verloren hatten.

Während Cierpinski weiter locker aussah und dynamisch, bröckelte hinter ihm als nächstes der amtierende Europameister ab und wurde noch von Vladimir Kotov eingesammelt. Als es vom Fluss weg Richtung Olympiastadion ging, wurde Nijboer auch seinen letzten Begleiter los und sicherte sich damit die Silbermedaille. Doch an den konstant laufenden Waldemar Cierpinski kam er einfach nicht mehr heran, selbst wenn dieser sich mehrfach nach ihm umblickte.

In Moskau wusste der angehende Doppelolympiasieger, wie weit er zu laufen hatte - nämlich eine Dreiviertelrunde. Und auf der Zielgerade spurtet er trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits sicheren Goldmedaille noch einmal, was die Beine hergaben. Für eine Zeit unter 2:11 reichte es trotzdem nicht ganz. Die Uhr zeigte 2:11:03 - doch nur in Montréal war Cierpinski bisher schneller gewesen. Genau zu den wichtigsten beiden Rennen seiner Karriere hatte er seine besten Leistungen gezeigt.

Gerard Nijboer folgte in 2:11:20 als Zweiter. Bronze ging nach 2:11:35 an Satymkul Dzhumanazarov. Vladimir Kotov und Leonid Moseyev schrammten genauso an den Medaillen vorbei wie der mutige Mexikaner Rodolfo Gómez, der aber immerhin noch Sechster werden konnte. Mitfavorit Karel Lismont kam knapp zweieinhalb Minuten nach dem Sieger als Neunter ins Ziel.

Nur zwei Monate gönnte sich der Doppelolympiasieger an Erholung, dann trat er schon wieder beim Marathon in Košice an, kam allerdings nicht ins Ziel. Dafür zeigte er dann aber im Dezember in Fukuoka, dass er auch abseits der fünf Ringe durchaus ziemlich schnell laufen konnte. Seine 2:10:24 war immerhin die elftbeste Marathonzeit des Jahres und eine der dreißig besten überhaupt.

Doch trotz dieser Tatsache und gerade einmal neununddreißig Sekunden Rückstand auf den Gewinner Toshihiko Seko reichte diese Leistung in Japan dennoch nur zu Platz sechs. Die Weltrangliste des Jahres 1980 wurde mit diesem Rennen jedenfalls noch einmal komplett umgekrempelt.

Der Saisonhöhepunkt des Folgejahres war für Cierpinski dann der Marathon-Europacup im französischen Kleinstädtchen Agen. Wirklich große Beachtung fand dieser Mannschaftswettbewerb, der anfangs eine eigene Veranstaltung war, schon damals nicht. Heutzutage ist er in die "normalen" Europameisterschaften integriert und entbehrt endgültig jeglicher Aufmerksamkeit.

Beim Sieg des Italieners Massimo Magnani, der mit seinen Kameraden aus der Squadra azzurra auch die Teamwertung gewinnen konnte, wurde der Hallenser in 2:15:44 Zweiter. In der Mannschaft ging er hingegen leer aus, da alle seine Kollegen erst mit Platzierungen jenseits der zwanzig ins Ziel kamen.

Ein weiteres DNF in Fukuoka beglich Cierpinski gleich in Januar mit einem überzeugenden Erfolg im philippinischen Manila. Bei seiner 2:14:27 betrug der Vorsprung auf den Zweiten nämlich rund fünf Minuten. Dass er auch bei tropischen Temperaturen ziemlich schnell laufen konnte, war nach zwei Olympiasiegen im Hochsommer nicht unbedingt eine Überraschung. Dem Sieg in der Ferne ließ er im Juni in Dresden mit 2:12:59 den zweiten und letzten DDR-Meistertitel im Marathon folgen.

Die Europameisterschaften des Jahres 1982 fanden auf jenem Kurs statt, dem der lange Lauf über mehr als vierzig Kilometer seine Existenz verdankt. Denn dieser war - wie eigentlich immer wenn es in der griechischen Hauptstadt über diese Distanz geht - zwischen Marathon und Athen abgesteckt. Das Ziel befand sich passend dazu im alten Olympiastadion von 1896.

Auf dem welligen Terrain zwischen dem Vorort und der Metropole hatte Cierpinski bereits früh den Kontakt zur Spitzengruppe mit seinem Moskau-Rivalen Nijboer und den Belgiern Armand Parmentier und Karel Lismont verloren. Als der Niederländer nach zwei Dritteln der Distanz das Tempo noch einmal verschärfte konnten auch die beiden Läufer aus dem südlichen Nachbarland nicht mehr mithalten.

Nach vierzig Minuten Alleinlauf an der Spitze überquerte Gerard Nijboer in 2:15:16 die Ziellinie im altehrwürdigen Marmorstadion. Parmentier sicherte sich eine Viertelminute vor seinem Landsmann Lismont Silber. Waldemar Cierpinski folgte hinter den Finnen Tiainen und Toivola mit 2:17:50 auf Rang sechs.

Im Winter lief er wieder in Japan, diesmal jedoch nicht in Fukuoka sondern im Februar beim Marathon von Tokyo, der damals noch nicht der Mega-Lauf heutiger Tage mit seinen vierzigtausend Teilnehmern sondern ein reines Eliterennen war. Noch lange Zeit sollte diese Art von Wettkampf im Land der aufgehenden Sonne dominieren.

Japanische Volksläufer liefen deswegen ihre Marathons meist anderswo. So galt Honolulu, wo rund die Hälfte des Feldes aus der fernöstlichen Inselnation angereist war, lange Zeit als größter japanischer Marathon. Erst in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends setzte das Umschwenken zu den überall sonst längst etablierten Massenmarathons ein.

Doch schienen die Japaner, die ihre Marathonbegeisterung zu Hause zuvor hauptsächlich passiv als Zuschauer am Streckenrand ausleben mussten, nur darauf gewartet zu haben. Binnen eines einzigen Jahrzehnts stieg das Land zur in der Breite absolut führenden Nation auf.

Nirgendwo sonst in der Welt absolvieren mehr Menschen einen Marathon als in Japan. In den letzten Jahren wurden jeweils weit mehr als eine halbe Million Zieleinläufe gezählt. Und die meisten Veranstaltungen sind bis auf den letzten Platz ausgebucht. Nur dass die Hauptsaison weiter im Winterhalbjahr zwischen November und März liegt, ist unverändert.

Im Februar 1983 sah dies allerdings noch deutlich anders aus. Im auch international gut besetzten Feld wurde Waldemar Cierpinski in 2:12:40 Siebter. Um aufs Treppchen zu kommen hätte er allerdings auch eine neue persönliche Bestmarke hinlegen müssen. Denn Toshihiko Seko und Takeshi So blieben mit 2:08:38 und 2:08:55 unter der Marke von 2:09. Und auch Rodolfo Gómez legte als Dritter noch eine 2:09:12 auf den Asphalt der Megametropole.

Im Juni stand der zweite europäische Marathoncup im spanischen Laredo an, einem Städtchen, das sogar noch kleiner ist Agen in Frankreich, wo es die Premiere dieses Wettbewerbs gab. Die Beteiligung war eher mäßig, denn nur zwei Monate später waren die ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Helsinki angesetzt. Viele Nationen traten deswegen nicht in absoluter Top-Besetzung an.

Das soll den Erfolg Cierpinskis, der das Rennen zeitgleich mit seinem Teamkollegen Jürgen Eberding in 2:12:26 gewann, aber nicht schmälern. Gianni Poli - einige Jahre später immerhin New York Sieger - lag in einem hauchdünnen Finale gerade einmal zwei Sekunden hinter den beiden.

Gemeinsam mit Eberding und Hans-Joachim Truppel, die beide seine Karriere ein Jahrzehnt lang begleitet und etliche Rennen mit bzw. gegen ihn bestritten hatten, sowie dem einer neuen Generation angehörenden Michael Heilmann siegte der Doppelolympiasieger zudem in der Teamwertung vor Italien, das als einziges ebenfalls mit all seinen Top-Läufern am Start war.

Die WM von Helsinki sollten - selbst wenn er es zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte - die letzten großen Titelkämpfe für Waldemar Cierpinski werden. Erstmals seit über einem Jahrzehnt traf in der finnischen Hauptstadt wieder die komplette Weltelite aufeinander. Über achtzig Teilnehmer aus allen Kontinenten starteten an diesem ziemlich warmen 14. August.

Natürlich stand Doppelolympiasieger Cierpinski erneut weit oben auf der Liste der möglichen Medaillenkandidaten. Doch noch höher gewettet war eigentlich der Australier Rob der Castella, der eineinhalb Jahre zuvor in Fukuoka den - damals noch inoffiziellen - Weltrekord auf 2:08:18 gedrückt, im Oktober 1982 in seiner Heimat mit 2:09:18 bei den Commonwealth Games von Brisbane triumphiert und im April auch die aktuelle Jahresbestzeit von 2:08:37 in Rotterdam erzielt hatte.

Auf dem Kurs, der über mehrere Brücken und Inseln in großem Bogen und einem fast geschlossen Kreis vom Stadion in die eigentlich gar nicht weit entfernte Innenstadt und dann auf gleichem Weg wieder zurück führte, blieb das Feld lange zusammen. Bei Halbzeit lagen noch über dreißig Läufer an der Spitze. Und auch zehn Kilometer später hatte sich der Pulk nur unwesentlich verkleinert.

Erst dann wurde es wirklich ernst. De Castella drückte aufs Tempo, der Äthiopier Kebede Balcha folgte, verlor aber irgendwann doch den Anschluss. Dahinter formierte sich eine dreiköpfige Gruppe mit Waldemar Cierpinski, Agapius Masong aus Tansania und dem bereits siebenunddreißigjährigen Schweden Kjell-Erik Ståhl, der in Deutschland vor allem als Premierensieger beim Frankfurt Marathon sowie wegen Erfolgen bei den Läufen in München und Bremen bekannt ist.

Der australische Favorit mit dem markanten Schnauzbart leistete sich keine Schwäche, zog sein Rennen von der Spitze durch und siegte in jenem Stadion, in dem der große Emil seinen Dreifachtriumph feiern konnte, mit 2:10:03. Auch Kebede Balcha kam nicht mehr in Gefahr und holte nach 2:10:27 Silber.

Dahinter spurtete Cierpinksi mit Ståhl - Masong hatte kurz zuvor schon abreißen lassen müssen - auf der Zielgerade um den letzten freien Platz auf dem Podium und hielt den Schweden um eine Sekunde nieder. Dessen 2:10:38 blieben übrigens über sechsunddreißig Jahre schwedischer Rekord und wurden erst im Dezember 2019 von David Nilsson unterboten. Auf den nächsten Plätzen folgten mit Armand Parmentier, Gianni Poli, Hugh Jones und Karel Lismont weitere bekannte Namen.

Mit einer weiteren Goldmedaille war es für Waldemar Cierpinski zwar nichts geworden. Doch erneut hatte der Hallenser gezeigt, dass er punktgenau zu den ganz großen Titelkämpfen in absoluter Topform sein konnte. Das große Ziel waren nun natürlich die dritten Olympischen Spiele in Los Angeles und die Chance am großen Vorbild Abebe Bikila sogar vorbei zu ziehen.

Doch zwei vorbereitende Winter-Marathons in Fernost - Fukuoka mit einem fünfzehnten Platz in 2:15:13 und Tokyo mit einem achten Rang in 2:12:00 - waren am Ende Muster ohne Wert. Denn wie schon befürchtet kam die Retourkutsche des Ostblocks. Abgesehen von Rumänien reisten sämtliche Staaten des Warschauer Paktes wegen "Sicherheitsbedenken" nicht nach Kalifornien.

Waldemar Cierpinskis Hoffnungen auf weiteres Edelmetall unter den fünf Ringen hatten sich damit in Luft aufgelöst. Er musste aus der Ferne zusehen, wie Carlos Lopes vor dem Iren John Treacy und dem Briten Charlie Spedding die Goldmedaille holte und ihm in 2:09:21 auch den olympischen Rekord abnahm.

Der Doppelolympiasieger, der immerhin inzwischen dreifacher Vater war, beschloss seine Leistungssportkarriere zu beenden. Elf Jahre nach seiner Premiere in Košice lief er an gleicher Stelle im Herbst 1985 noch einmal im Wettkampf über die klassische Distanz und wurde mit 2:19:52 Fünfter.

In dieser Zeit war Waldemar Cierpinski achtundzwanzig Mal bei einem Marathon angetreten, hatte fünfundzwanzig davon beendet, bei allen bis auf den ersten eine Zeit unter 2:20 erzielt und zudem fast die Hälfte auch noch gewonnen. Schneller als bei seinem ersten Olympiasieg lief er nie wieder. Doch bis zum heutigen Tag konnten mit Arne Gabius, Jörg Peter, Michael Heilmann, Christoph Herle und Stephan Freigang nur fünf deutsche Athleten diese Zeit unterbieten.

Nach seiner Karriere wurde Cierpinski, der Sport studiert hatte, erst einmal Trainer beim SC Halle. Mit dem Zusammenbruch des "real existierende Sozialismus" stand er dann ohne Job da und entschloss sich als Sportartikelhändler weiter zu machen. Aus bescheidenen Anfängen mit Konzentration auf den Läufermarkt ist inzwischen ein großer Laden mit breitem Sortiment geworden.

Waldemar Cierpinski mitSohn Falk bei der Deutschen Straßenlaufmeisterschaft 2007 in Mannheim

Auch als Organisator von Laufveranstaltungen engagierte sich Waldemar Cierpinski. Doch der von ihm ins Leben gerufene Mitteldeutsche Marathon in Halle schaffte genau wie der ein Jahrzehnt später initiierte Himmelsweg Marathon von Nebra im Gegensatz zu ihrem Erfinder irgendwie nie den Durchbruch in die Eliteklasse.

Von den Söhnen hatte insbesondere der mittlere Falk das ja bei beiden Elternteilen vorhanden Talent geerbt - selbst wenn er nicht ganz an die Leistungen des Vaters heran kann. Nach seinem Wechseln vom Duathlon und Triathlon zum Marathon lief er aber immerhin eine 2:13:30. Viele Vater-Sohn-Kombinationen auf diesem Niveau dürfte es nicht geben.

Zu Olympia reichte es für Falk zwar nie, doch bei der WM 2009 in Berlin startete er im Nationaltrikot, konnte sich aber nicht im Vorderfeld platzieren. Inzwischen hat auch der Junior seine Karriere beendet und ist genau wie einer seiner Brüder in das Sportgeschäft der Familie eingestiegen. Der andere ist als Geschäftsführer des Mitteldeutschen Marathons ebenfalls im Laufbereich tätig.

Selbst wenn die Jungen also in der Zukunft den Stab vollständig übernehmen werden, denkt Vater Waldemar, dem man sein Geburtsdatum nicht unbedingt ansieht, aktuell noch nicht daran aufzuhören. Nur mit dem aktiven Laufen hatte es der Marathonolympiasieger nach unzähligen Trainingskilometern irgendwann dann nicht mehr so. Zum fit halten dient inzwischen eher das Kicken in einer Altherrenfußball-Mannschaft.

Das Portrait zur Serie Heroes über Waldemar Cierpinski erstellte Ralf Klink
Grafik Ursula Güttsches - Fotos © LaufReport-Archiv

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