Ernst van Aaken zum Gedenken

von Werner Sonntag im Mai 2010

Am 16. Mai 2010 jährt sich der Geburtstag Ernst van Aakens zum hundertsten Mal. Für viele aus der heutigen Laufbewegung ist es nur noch ein Name aus der Geschichte des Laufens. Wie haben seine Zeitgenossen ihn erlebt? Bei der Durchsicht von Texten ist mir der Gedenkartikel in die Hände gefallen, den ich nach seinem Tode in der "Condition" (3/1984) veröffentlicht habe. Er scheint mir für ein Porträt, das Emotionen nicht ausspart, brauchbar zu sein (geringfügige Kürzungen zeitbedingter Passagen sind gekennzeichnet).

Wenige Monate vor seinem vielleicht größten Triumph, dem olympischen Marathon der Frauen, ist Ernst van Aaken gestorben. Die Laufbewegung der Welt hat einen ihrer bedeutendsten Pioniere, ihren philosophisch-sportmedizinischen Mentor und Anreger, einen ihrer unermüdlichen Kämpfer verloren. ...

Als es darum ging, wer portraitiert Ernst van Aaken in einem Nachruf, wurde schlagartig klar, wie breit das Spektrum dieses Mannes gewesen ist. Für jede Facette seines Lebens und Lebenswerkes hätten wir einen Autor gehabt, aber nur für dieses eine Spezialgebiet – den Verfechter der Waldnieler Ausdauermethode, den Vorkämpfer für den Langstreckenlauf der Frauen und der Kinder, den Propagandisten des langsamen Gesundheitslaufes, des LSD (long slow distance), den aktiven Sportler, den Trainer, den Sportmediziner, den intuitiven Theoretiker, den Empiriker der Sprechstunde, den Philosophen und Schriftsteller, den Musiker. Auch das wäre möglich gewesen, alle diese Facetten von Fachleuten beleuchten zu lassen. Aber dann wäre ein Buch entstanden, eines, das schwerlich die Gefühle, die uns jetzt in einer Zäsur der Laufbewegung erfüllen, hätte bündeln können.

 

Wie nun sich der Persönlichkeit eines solchen Mannes nähern? Ich bringe keine Qualität des Spezialisten mit – außer der einen, ein Erbe Ernst van Aakens, eines von mehreren, zu verwalten, nämlich die "Condition" der von ihm begründeten IGÄL (1984 - 1988), und vielleicht noch etwas, was Ernst van Aaken von seiner Umwelt, der wissenschaftlichen und der gesellschaftlichen, nach meiner Meinung zu wenig zuteil geworden ist: Empathie, nämlich Einfühlungsvermögen.

Dr. Ernst van Aaken gratuliert Christa Vahlensieck zum Weltrekord

Mehr als andere erfordert ein solcher Mensch, der seinen Weg als Außenseiter gehen muß, ohne Außenseiter zu sein, Einfühlsamkeit, wenn man ihm gerecht werden will. All die Nachrufe über den "Jogging-Papst", "Pionier des Laufens", "Laufdoktor" und "Laufprofessor" gar, "Begründer des Alterssports in der Leichtathletik", "Erneuerer" täuschen darüber hinweg, daß es die Mitwelt ihm schwerer gemacht hat, als es kritische Wachsamkeit gegenüber Neuem erfordert hätte.

Wenn man sich in diese Situation einfühlt, begreift man auch, weshalb Ernst van Aaken so sein mußte, wie er war. Ohne selbstbewußte Überzeugung von der Richtigkeit seiner Ansichten hätte er seelisch nicht überleben können. Drastisch: Im Zweifelsfall ist es besser, anderen gegen den Nerv zu treten als an eigener Depression zugrunde zu gehen. Zu Frustrationen hätte es genügend Ursache gegeben. Vielleicht liegt die Tatsache, daß das Band um den Laufdoktor und uns Läufer immer enger gewesen ist als das Band zur Wissenschaft, darin begründet: Wir Läufer mochten ihn. Er hat uns motiviert, an den Laufsport herangeführt und uns immer geholfen, wenn wir Rat brauchten. Er war ein wissenschaftlicher Außenseiter – Gottseidank! – , aber er war kein Außenseiter der Laufbewegung. Er ist unser Sportkamerad gewesen – von Anfang an schon, als die Medizin noch im weißen Mantel ging, später dann ein Sportkamerad, zu dem man ein bißchen ehrfürchtig aufblickte, bei dessen Begegnung man sich aber auch darin sonnte, daß so einer mit zu der Gemeinschaft zählte, die sich über Straßen und durchs Gelände kämpfte und dies nachher unter der Dusche genoß. Wir Läufer und Ernst van Aaken verstanden einander. ...

Die Marathon-Idee: Wir haben gesiegt!

Hat es zur Einfühlung gehört, daß es mich drängte, mir über mein Verhältnis zu Ernst van Aaken auch emotionale Klarheit zu verschaffen ... ? Anlaß – man sollte auch hinter rationalen Entscheidungen nach dem emotionalen Motiv suchen – Anlaß war das Erscheinen des letzten und gewaltigsten Werkes van Aakens, das nun Vermächtnis geworden ist: "Alternativ-Medizin durch Ausdauer", eines Buches, dessen Hast mir bereits begreiflich war, dessen Hast nun völlig – um den Preis des Todes – begründet ist.

Es gibt viele Ziele im Leben. Ernst ist nach einem Zieleinlauf, einem wichtigen Ziel, tödlich zusammengebrochen. Vielleicht ist das die poetische Idee des legendären Marathon. Irgendwann sind wir, auch wenn wir "Programmiert für hundert Lebensjahre" sind – um mit Ernst van Aakens bekanntestem Buchtitel zu sprechen – angekommen, leise, ausgeschöpft oder dramatisch zusammenbrechend vor einem Ziel, nach einem Ziel.

 

Keiner ist unsterblich, allenfalls daß er sich – wie Ernst – seiner Nachwelt unsterblich gemacht hat. Ernst van Aaken hat jene poetische Marathon-Idee von Plutarch – denn gegen die reale Möglichkeit tödlicher Gefährdung beim Marathon würde er sich zu Recht verwahren – mit seinem Leben und mit seinem Tode verwirklicht: Wir haben gesiegt. Wir haben eine Erkenntnis gewonnen – physisch zunächst und dann psychisch – und sehen nun, daß diese Erkenntnis richtig ist. Ernst van Aaken hat gesiegt. In diesem Jahrhundert, fürs nächste Jahrhundert? Irgendwer wird das beurteilen.

Auch im Rollstuhl war Dr. Ernst van Aaken ein beliebter Interviewpartner bei vielen Laufveranstaltungen

Irgendwer wird in der "Condition" nachschlagen, dem Blatt, mit dem Ernst sich identifizieren konnte. Und wir müssen die Frage beantworten: Wer war Ernst van Aaken? Er macht es uns nicht allzu schwer. "Alternativ-Medizin durch Ausdauer" enthält die biographischen Angaben, Informationen von letzter Hand, sachlich, selbstbewußt – wer einen Marathon hinter sich hat, den Marathon des Lebens, ist das, kann selbstbewußt sein –, authentisch. Es gibt keine bessere Quelle.

Wir müssen zitieren: Ernst van Aaken wurde am 16. Mai 1910 in Emmerich geboren, besuchte dort das humanistische Gymnasium und kam 1931 an die Universität Bonn. Wer Ernst van Aaken gelesen hat, weiß, daß er dort zuerst Astronomie, Philosophie und Pädagogik studierte. Ein Zielkanal: Realität, Spekulation, Vermittlung. Hinterher wird einem vieles klar. 1932 nahm er das Medizin-Studium auf. Mir drängt sich eine fürchterliche Erkenntnis auf: Da ist einer fast fünfzig Jahre Mediziner, und die Lehrmedizin hat ihn nicht akzeptiert (ich habe förmlich beantragt, Dr. Van Aaken zum Professor ehrenhalber zu ernennen – abgelehnt). Was muß das für eine Medizin sein! Wie stolz muß man werden, wenn man trotzdem wer ist!

Ernst van Aaken trieb Sport. Er war in seiner Jugend Geräteturner – ich kann es nicht nachvollziehen, und das ist ja das Schöne, daß man einander dennoch begegnen kann –, war Mittelstreckler, wurde westdeutscher Meister der Studenten im Stabhochsprung mit einer Bestleistung von 3,64 Meter und Olympiakandidat im Gewichtheben 1934. Ist das wichtig? Überhaupt nicht. Aber für Ernst muß es wichtig gewesen sein, so wie es für uns wichtig ist, in einer der drei- oder vierhundert Volkslaufveranstaltungen einen Halbmarathon halbwegs gut zu bestehen.

Durch die Leistungen Nurmis wurde er schon mit 14 Jahren zum Mittel- und Langstreckenlauf angeregt. Als Student lief er 1000 Meter in 2:37,4 Minuten, und nach dem Krieg – er war in jenen Kriegsjahren Chirurg – kam er nach Waldniel, heute einem Ortsteil von Schwalmtal. Ich zitiere Ernst posthum: Er erfand eine eigene Trainingsmethode des Mittel- und Langstreckenlaufes, die sich seit 1947 nach und nach in der Welt durchsetzte, gegen schwerste Widerstände von seiten der Sportmedizin. Er gründete 1953 den weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannten Verein "Olympischer Sportclub Waldniel", der im Laufe von 25 Jahren 16 Deutsche Meister hervorbrachte. Selbstverständlich – wer van Aaken gekannt hat, kennt die Kräche – kam es zum Krach. Es leben die Kräche! Denn in ihnen profiliert sich die Persönlichkeit. Nur die Lauen oder dummen Angepaßten scheuen Kräche.

Der Krebsforscher

Bei seinen Studien in Bonn, so hat Ernst von sich geschrieben, wurde er mit den Forschungen des Nobelpreisträgers Professor Otto Warburg ... bekannt und vervollständigte – eine echte van-Aaken-Formulierung – Warburgs Theorie der letzten Ursache des Krebses dahingehend, daß bei Sauerstoffmangel der Wasserstoff- und Elektronenüberschuß die Atmung der Zelle störe, dabei die Erbsubstanz verändere und durch Öffnung eines Operators in der Zelle ein hemmungsloses Wachstum der Eiweiße der Zelle zur Folge habe und dadurch die Zelle zum Wuchern komme.

Wir Läufer kennen "runner's high", jenes Hochgefühl, das viele euphorisch nennen. So ein Hochgefühl mag sich auch bei Entdeckungen einstellen. Verständlich, daß die kritische Ratio dann dabei zurückgedrängt wird. Ernst van Aaken hat die Entdeckung gemacht, daß der Mensch allergrößten Wert auf die Sauerstoffzufuhr zu legen habe und daß Laufen ein solches Lebenselixier sei. Die Hypothese im Hochgefühl des Entdeckers, eines Praktikers, daß Laufen genüge, dem Krebs davonzulaufen, läßt sich in dieser apodiktischen Art nicht halten. Soviel wissen wir nun. Aber was in dieser Hypothese an Wahrheit steckt, werden wir wohl erst erfahren, wenn wir viel mehr über den Krebs wissen. Sicher ist, daß er multifaktorielle Ursachen hat. Dann aber kann man ihn auch nicht eindimensional bekämpfen, weder nur durch Chemie noch nur durch Laufen. Ernst van Aaken ist sicherlich soweit recht zu geben, daß das Laufen, nämlich die optimale Sauerstoffversorgung, eine Krebsprophylaxe darstellt, wenn auch keine ausschließliche.

 

Dr. Ernst van Aaken mit einem Enkel im Arbeitszimmer

Es wird das Verdienst Ernst van Aakens bleiben, den Aspekt des Sauerstoffs hervorgehoben und durchforscht zu haben. Die Leute, die alles Heil in Stahl und Strahl gesehen haben, sind inzwischen offensichtlich bescheidener geworden. Das Gegenteil freilich, völlig darauf zu verzichten – Ernst van Aaken tendierte dazu –, erweist sich ebenso als gefährlich. Vielleicht hätte sich unser Laufdoktor nicht in diese ausschließliche Position verrannt, wenn eine Diskussion zwischen dem Selfmade-Forscher und der etablierten Medizin stattgefunden hätte. Die Initiative von Frau Dr. Veronika Carstens, der Frau des (ehemaligen) Bundespräsidenten, Erfahrungsmedizin und Schulmedizin zu versöhnen – in der Fördergemeinschaft für Erfahrungsheilkunde "Natur und Medizin" – ist überfällig gewesen. Wäre Ernst van Aaken heute ein junger Mediziner, würde er von dieser Versöhnung profitieren können.

Van Aakens historische Rolle in der Krebsforschung läßt sich vielleicht mit einem Bild definieren: Ernst van Aaken hat einen Zipfel der Wahrheit über den Krebs in der Hand gehalten; er selbst hat gemeint, es sei das ganze Gewand. Seine Gegner haben nur gesehen, daß ein Zipfel eben kein Gewand sei, und so hielten sie den Zipfel der Wahrheit für einen der üblichen Lumpen, die von Sensationsmachern als Schutzkleidung ausgegeben werden. Die Nachwelt wird auch in dieser Beziehung gerechter gegen Ernst van Aaken sein als die Umwelt. Wir Läufer haben in der Krebstheorie van Aakens eigentlich immer nur ein Nebenprodukt gesehen – möglicherweise zu Unrecht.

Der sportmedizinische Trainer

 

Wer in den fünfziger und sechziger Jahren zum Laufen kam oder nach dem Krieg dazu zurückgekehrt war, gelangte mitten hinein in die Schlacht zwischen Intervalltraining und Waldnieler Ausdauertraining. Der Name Harald Norpoth steht für die praktische Effizienz dieser Methode. Die ersten Rundbriefe der Interessengemeinschaft Älterer Langstreckenläufer sind voll von der Auseinandersetzung van Aakens mit dem Intervalltraining Freiburger Prägung, das er geradezu zornig bekämpfte. In Erinnerung ist mir eine synoptische Darstellung van Aakens, in der er Intervalltraining und Ausdauertraining in submaximaler Belastung eindrucksvoll gegenüberstellte.

Dr. Ernst van Aaken und Harald Norpoth

Die Folgerung wirkte absolut überzeugend: Es kam nur das Ausdauertraining, das lange, relativ langsame Laufen in Frage. Für uns, die wir aus gesundheitlichen Gründen mit dem Lauftraining begannen, war dies der Königsweg. Er führte zurück zum Jahn'schen "Lauf ohne Schnauf" und vorwärts zum Trimm-Trab des Lauftreffs. Nicht auszudenken, was angerichtet worden wäre, hätten Übungsleiter ihre Gesundheitsläufer durch den Wald gehetzt! Mancher Lauftreffleiter, der von der alten Leichtathletik herkam, ist ohnehin von dieser Gefahr nicht frei gewesen.

Inzwischen wird alles differenzierter gesehen – die Gegensätze existieren nicht mehr. Und auch Ernst van Aaken hat differenziert: Auch er hat in seinen Anleitungen für Anfänger ein "Intervalltraining" beschrieben, nur eben ein sanftes, den Wechsel von Gehen und Laufen. Leistungsläufer streben heute nicht mehr eine Trainingseinheit von 60 Kilometern in langsamem Tempo an, wenn sie Marathon laufen wollen; sie trainieren weit kürzere Strecken, aber in hohem Tempo. Sie tasten sich an die Schwelle der maximalen Belastung heran, und sie variieren das Tempo. Das ändert nichts daran, daß Ernst van Aaken mit der Erarbeitung seiner Theorie wertvolle sportmedizinische Grundlagenarbeit geleistet hat, die möglicherweise in den USA – in der Formel LSD = long slow distance – schärfer beleuchtet worden ist als bei uns.

 

Was die Dauer der Belastung angeht, so hat die offizielle Kreislaufforschung, profiliert vertreten von Prof. Hollmann, einen Schritt auf van Aaken zu machen müssen. Van Aaken hat immer den Wert der langen Strecke, der langen Trainingseinheit, hervorgehoben, wobei er sicher die orthopädischen Probleme unterschätzt hat. Die Theoretiker der Kreislaufforschung hielten 10 Minuten submaximale Belastung am Tag für ausreichend. Jeder von uns Läufern wußte es besser. Das war aber kein Kunststück. Es muß Ernst van Aaken, der gar kein examinierter Facharzt für Sportmedizin war, schockartig berührt haben, als er auf Sportärztekongressen beobachtete, daß die wenigsten Sportärzte Sport trieben. Und wir selbst erfuhren es ja auch: Vom Laufen zumindest verstanden sie nichts. Wir schwiegen und suchten uns Ärzte, die vom Laufen zumindest eine Ahnung hatten. Van Aaken schwieg nicht. Er geißelte, daß sich Sportärzte auf der Weinkarte besser auskannten als in den biochemischen Prozessen beim Laufen. Freunde erwirbt man sich damit nicht.

Wie die Urkunde vom 100jährigen Jubiliäum der TG Neuss 1848 zeigt, war Dr. Ernst van Aaken auch im Stabhochsprung der Zeit voraus

Mögen die biochemischen Forschungen des Landarztes Dr. van Aaken nicht allen wissenschaftlichen Kriterien standgehalten haben, – er hat uns jedenfalls das komplexe Geschehen der Energiebereitstellung und Energieverwertung erhellt. Und er hat es auf eine verständliche Art getan. Wer vor lauter Wissenschaftlichkeit die logische Aussage in fachspezifischer Terminologie versteckt, hat es leicht, sich aus der Affäre zu ziehen. Schlimmstenfalls ist er "mißverstanden" worden. Van Aaken konnte keiner mißverstehen. Seine logischen Schlüsse lagen in klarer Sprache offen – und damit bot er Angriffsflächen. Seine historische Einordnung: Ernst van Aaken war der erste Arzt der jüngeren Sportgeschichte, der die physiologischen Prozesse des Laufens auf ganz breiter Basis erforschte. Kenneth Cooper kam mit seinen "Aerobics" sehr viel später.

Der Promoter des Frauen- und Jugendlaufs

 

Van Aakens Verdienst um die Frauen auf der Langstrecke ist allgemein anerkannt. 1954 wurde – eine Frucht seiner Bemühungen – der 800-Meter-Lauf der Frauen wieder eingeführt. Van Aakens Kampf um den Frauenmarathon, der nun (1984) seine olympische Krönung erfährt, ist ein gesondertes Thema. Läuferinnen, die auf internationaler Ebene Marksteine setzten, wie Christa Vahlensieck, sind von ihm aufgebaut oder gefördert worden. Mit dem Marathonlauf allein für Frauen am 28. Oktober 1973 hat er ein Zeichen gesetzt. Darauf wird man sich einigen können; denn dem "ersten Frauenmarathon" war bereits ... ein inoffizieller Frauenmarathon beim Schwarzwaldmarathon vorausgegangen. Seine These, daß die Frau ausdauernder sei als der Mann, versuchte er auch in der Praxis zu demonstrieren. In Erinnerung ist der erste 100-Meilen-Lauf allein für Frauen, den er am 27. März 1983 veranstaltete.

Wie Barfußläuferin Anja Albrecht besuchten viele Teilnehmer an Waldnieler Veranstaltungen das Grab von Dr. Ernst van Aaken

Noch in den letzten Monaten (seines Lebens) trug er sich mit dem Gedanken, einen Vergleichskampf von Frauen und Männern zu organisieren. "Ich hoffe aber", so schrieb er mir im Dezember (1983), "im Oktober 1985 bei einem 24-Stunden-Lauf in Waldniel zu beweisen, daß von den gemeldeten Frauen und Männern prozentual die Frauen die meisten Durchhalter haben."

Wesentliche Impulse hat Ernst van Aaken dem Laufen von Kindern und Jugendlichen gegeben. Die Beweise, die er für seine These sammelte: Kinder seien die geborenen Dauerleister, beginnen, Früchte zu tragen. Die Schulen zeigen sich aufgeschlossener für den Ausdauersport. Wobei man auch berücksichtigen muß, daß es im Verbandswesen – häufig auch eine personelle Frage – immer auch retardierende Momente geben wird.

Der Gründer der IGÄL

All diese Aktivitäten und Initiativen schlugen sich in Hunderten von Veröffentlichungen und in der Verbindung zur Praxis, zum Beispiel zum OSC Waldniel, nieder. Der wichtigste Multiplikator seiner Ideen auf breiter Bass ist die Interessengemeinschaft Älterer Langstreckenläufer geworden, die van Aaken 1961 gegründet hat. Der jüngste Multiplikator, der das wissenschaftliche und sportmedizinische Vermächtnis van Aakens übernommen hat, ist der 1978 von ihm nach amerikanischem Vorbild gegründete Deutsche Verband langlaufender Ärzte (und Apotheker).

Die IGÄL war ursprünglich ein Sammelbecken von aktiv gebliebenen Langstrecklern, bis von Mitte der sechziger Jahre an wir Gesundheitssportler dazukamen. Van Aaken war der Motor; die Kraftübertragung besorgten häufig andere. Sie potenzierte Initiativen van Aakens, und in diesem Zusammenhang ist auch ihnen, den Mitarbeitern und Partnern van Aakens, zu danken.

Um den organisatorischen Aufbau der IGÄL machte sich Meinrad Nägele verdient ... 1964 nämlich erschienen die ersten "Rundbriefe älterer Langstreckenläufer", herausgegeben von Ernst van Aaken und Meinrad Nägele, der auch hier die praktische Arbeit leistete. Fünf Jahre später entstand aus den Rundbriefen die "Condition". Als es dann 1974 zur großen Krise kam und personelle Konflikte zur Trennung van Aakens und Arthur Lamberts führten, schuf van Aaken mit Manfred Steffny, den er zur Olympiareife gefördert hatte, und mit Unterstützung durch Eugen Brütting sofort wieder ein anderes Organ, "Spiridon", das freilich nur vorübergehend die publizistische Bleibe van Aakens war. Es war nicht einfach, mit ihm zu arbeiten. Aber man konnte mit ihm arbeiten, jedenfalls wenn man einen Vertrauensbonus von ihm erhielt. Dazu gehörte – es ist schon gesagt – Einfühlungsvermögen. Mit anderen Worten: Respekt vor der ungewöhnlichen Persönlichkeit, Respekt vor dem Genius dieses Mannes. Es ist leicht, Respekt vor Toten zu haben.

Das Schicksal

Respekt auch vor dem Schicksal des Läufers van Aaken. 1972, das war nicht irgend ein bedauerlicher Unfall, das war eine Katastrophe, die über Ernst van Aaken hereinbrach. Wohl nicht nur ich allein hatte die Befürchtung, daß Ernst nach dem Verlust der Beine nicht mehr leben wollte. In Briefen und Gesten versuchten wir, seinen Lebenswillen anzufachen. Bis dahin lag noch keines der größeren Bücher van Aakens vor. Wir beschworen ihn, das Buch zu schreiben, das die Summe seiner Arbeit enthielt. Er hat uns reichlich belohnt. "Programmiert für hundert Lebensjahre" erschien; es ist in 8. Auflage und in mehreren Sprachen verbreitet. Wer von uns eine Verletzung erlitt, schlug in der "Schonungslosen Therapie" nach. Über das Krebsproblem publizierte er. Und sein letztes Buch beendete er fast im Wettlauf mit dem Tode: "Alternativ-Medizin durch Ausdauer".

Die meisten seiner 23 Buchveröffentlichungen sind Anthologien, Sammlungen von Aufsätzen. Van Aaken liebte es nicht, an seinen Texten zu feilen oder Bücher zu konzipieren. Er hat mir gestanden, er müsse zu Papier bringen, wie es komme, und dann heraus damit. Wenn man diese Arbeitsweise berücksichtigt – vielfach ein Diktat direkt für die Textverarbeitung –, überrascht es, wie sehr diese Aufsätze Bestand haben. Da sind zwar Zeitbezüge zu erkennen, aber man kann alte Veröffentlichungen von ihm noch heute mit Gewinn lesen. Ihre Substanz hat an Aktualität nichts eingebüßt.

 

Über seine Lebensweise hat er kein Hehl gemacht; er genoß seine physiologischen Kraftakte. Die Reduzierung seiner Lebenskraft – dadurch, daß er an den Rollstuhl gefesselt war – kompensierte er durch ein immenses Arbeitspensum. Das war schon vor dem Unfall nicht gering. Er hatte eine Familie von sieben Kindern zu ernähren. Sein Selbststudium der Biochemie, seine Forschungsarbeit, seine Veröffentlichungen, seine Vorträge, seine Arbeit als Trainer und Organisator – all das geschah neben seiner ärztlichen Tätigkeit.

Und wenn dann die Läufer kamen mit ihren Problemen, half er. Wechselnde Telefon-Geheimnummern waren der Riegel, mit dem er sich des ärgsten Ansturms zu erwehren versuchte. Aber wenn es darauf ankam, war er für Läufer immer zu sprechen. Viele behandelte er in Briefen. Über Zahlen mag man streiten. Tatsache ist, daß er eine nahezu übermenschliche Korrespondenz betrieb, und leider hat nicht jeder ein schlechtes Gewissen gehabt, der ihn mit nicht so Wesentlichem behelligte.

Dr. Ernst van Aaken (1973) bei der Junioren-EM in Duisburg

Trotz seiner schweren Behinderung reiste er zu Vorträgen, Hunderten allein im Ausland, in den USA, in Japan. Die Menschen, die ihm durch Fürsorge diese Reisen ermöglichten, verdienen ebenso unseren Dank, darunter die Familie Pede.

In seiner Lebensweise ordnete er schließlich alles seiner Arbeit unter. Und dabei hat er in vielen Veröffentlichungen das Bild eines physisch und psychisch gesunden, allseits interessierten und gebildeten Menschen entworfen. Dazu gehörten, wie er betonte, die emotionalen Werte – er selbst spielte Klavier, er liebte Musik –, und dazu gehörte die Sexualität – auch das betonte er. Ich habe diese Sensibilität für menschliche Bedürfnisse, die das Wesen des Menschen ausmachen, gerade deshalb erstaunlich gefunden, weil er so häufig mit exakten Zahlen operierte. Einmal verblüffte er mich dadurch, daß er mir eine meiner Wettkampfzeiten nannte, die ich selbst schon vergessen hatte.

Er, der einen der wichtigsten Beiträge zur Volksgesundheit geleistet hat, lebte seit einigen Jahren ziemlich ungesund. Er rühmte sich, mit wenigen Stunden Schlaf auszukommen; er stimulierte sich – jeder geistig Tätige wird Verständnis dafür haben – mit Kaffee. Er trainierte zwar auf dem Hometrainer; aber die Stunde Lauf kann das Gerät nicht ersetzen. Ernährungsdiskussionen kümmerten ihn nicht. Familienleben fand nicht statt. Die Existenz wurde kurzatmiger. Es war noch so viel zu tun. Das Buch "Alternativ-Medizin durch Ausdauer", das sein eigenes Schicksal hat. Jedes Jahr wolle er zwei Bücher veröffentlichen, ließ er mich wissen. Er praktizierte – eine seiner letzten Patientinnen war Prof. Liselott Diem –, er schrieb, er diktierte.

Wenn wir über ihn sprachen, gab es besorgte Blicke. Sein Aussehen hatte sich verschlechtert. Wir wissen nicht, was in ihm vorging. Ich meine, er war in riesengroßer Eile. Es war zuviel zu tun. Am 24. März (1984) brach er zusammen – Hinterwandinfarkt, hieß es. Krebs wird nicht ausgeschlossen. Die exakte Information fehlt. Eine Woche lag er auf der Intensivstation. Dann wurde er im Krankenhaus in ein Einzelzimmer plaziert. Dort ist er am Montag, dem 2. April (1984), gestorben. Der Mann, der Millionen Menschen bekannt ist, war allein.

Wir verneigen uns in respektvoller Trauer vor einem großen Unbequemen, aber eben einem Großen. Werner Sonntag

Oben: Medaille zur Erinnerung an den Hundert-Meilen-Lauf für Frauen im Jahr 1983 (Foto Werner Sonntag)

"Ernst van Aaken" von Werner Sonntag
Fotos © Gustav E. Schröder

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